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Wider die Informalisierung des Verfalls

Zugleich ein Beitrag zur Konturierung des materiellen und strafprozessualen Verfallsrechts

von Jakob Ordner (Autor:in)
©2017 Dissertation 246 Seiten

Zusammenfassung

In der Verfahrenspraxis wird in den seltensten Fällen Vermögen im streitigen subjektiven beziehungsweise objektiven Verfallsverfahren abgeschöpft. Neben der Verständigung über Abschöpfungsmaßnahmen spielt vor allem der Verzicht auf gesicherte Vermögenswerte im Vorfeld einer gerichtlichen Entscheidung eine gewichtige Rolle. Hauptanliegen des Buchs ist es, die Durchsetzung des Verfalls in die strafprozessual vorgesehenen Bahnen zu lenken, um einer willkürlichen, die Rechtssicherheit beeinträchtigenden Abschöpfung vorzubeugen. Daher leitet der Autor aus der Struktur des Strafprozesses die Unzulässigkeit informeller Vermögensabschöpfung ab. Zusätzlich versucht er im Wissen darum, dass die derzeitige Ausgestaltung des Abschöpfungsrechts eine zunehmende Informalisierung begünstigt, das Sicherstellungs- und Verfallsverfahren einer Korrektur zuzuführen und die uneinheitliche materielle Verfallsbestimmung dogmatisch konsistent aufzulösen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Forschungsfrage
  • 1. Gang der Untersuchung
  • 2. Terminologische Grundlegung
  • II. Empirische Erkenntnisse zum Forschungsgegenstand
  • 1. Vorgehensweise
  • 2. Rechtstatsächliche Ausgestaltung konsensualer und informeller Abschöpfungsmechanismen
  • a) Der Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände
  • aa) Verzicht im Rahmen der Hauptverhandlung
  • bb) Motivation der Verfahrensbeteiligten hinsichtlich der Verzichtslösung
  • cc) Der Verzicht auf Verfallsgegenstände außerhalb der Hauptverhandlung
  • dd) Der Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände als Teilgeständnis
  • b) Der Verfall als Verständigungsgegenstand
  • c) Vermögensabschöpfung über §§ 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2 StPO
  • d) Abschöpfung bei juristischen Personen über § 73 Abs. 3 StGB bzw. §§ 30 Abs. 3, 17 Abs. 4 OWiG
  • e) Abschöpfung über § 40, § 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 4, § 59a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StGB und § 407 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 4 StPO
  • f) Der Einsatz des Sicherstellungsinstrumentariums
  • aa) Der Zugriff auf den Kautionsrückzahlungsanspruch
  • bb) Alternativen zur Sicherstellung
  • cc) Apokrypher Einsatz des Sicherstellungsinstrumentariums
  • 3. Zwischenfazit
  • B. Der Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände
  • I. Differenzierung zwischen verfalls- und einziehungsgeeigneten Gegenständen
  • 1. Darstellung der außergerichtlichen Einziehung
  • 2. Darstellung des vermögensabschöpfungsrechtlichen Instrumentariums
  • a) Die Einziehung
  • b) Der Verfall
  • c) Differenzierungsbedarf
  • II. Grundlagen der Verzichtspraxis
  • 1. Rechtliches Spannungsfeld
  • 2. Rechtsnatur und Rechtsfolgen des Verzichts
  • a) Die Rechtsnatur des Verzichts
  • b) Erfüllungsgeschäft
  • c) Weitere Rechtsfolgen des Verzichts
  • 3. Das rechtliche Verlangen nach einer Verzichtslösung
  • a) Der Verzicht im subjektiven Verfallsverfahren
  • b) Der Verzicht im objektiven Verfallsverfahren
  • 4. Die Ausgestaltung der Verzichtspraxis
  • III. Weitere rechtliche Grenzen der Verzichtspraxis
  • 1. Verständigungsspezifische Einordnung des Verzichts
  • a) Der Verzicht als Verfahrensabsprache
  • aa) Kategorisierung des Verzichts als Verfahrensabsprache
  • bb) Die Verständigungsbestandteile der Verzichtslösung
  • b) Sensibilisierung hinsichtlich absprachespezifischer Problemlagen
  • c) Der Verfall als Verständigungsgegenstand
  • aa) Wortlaut
  • bb) Historische und systematische Auslegung
  • cc) Teleologische Auslegung
  • dd) Auslegungsergebnis
  • 2. Die Unwirksamkeit und Nichtigkeit des Verzichts
  • a) Unwirksamkeit des Verzichts analog § 136a StPO
  • aa) Die Unwirksamkeit des Verzichts analog § 136a Abs. 1 S. 3 Alt. 2 StPO bei Versprechen einer Strafmilderung
  • bb) § 136a Abs. 1 S. 3 Alt. 1 StPO analog bei Vorliegen einer verfallsspezifischen Sanktionsschere
  • cc) Die Disposition über die Verfallshöhe als gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil analog § 136a Abs. 1 S. 3 Alt. 2 StPO
  • b) Nichtigkeitsbegründung der vertraglichen Verzichtslösungen
  • aa) Fehlen einer vertraglichen Gestaltungs- und Verfügungsmacht hinsichtlich des Verfallsgegenstandes
  • bb) Die Nichtigkeit der Verzichtslösungen gemäß § 134 BGB i.V.m Art. 14 GG
  • (1) Grundrechtseingriff oder privatautonomer Verzicht auf Eigentumspositionen: „Volenti non fit iniuria“?
  • (2) Rechtfertigung des Eingriffs
  • c) Nichtigkeit nach § 138 BGB wegen struktureller Unterlegenheit des Verzichtenden
  • IV. Rückabwicklung und Revisibilität der Verzichtspraxis
  • 1. Die zivilrechtliche Rückabwicklung der selbstständigen Verzichtslösung
  • 2. Revisibilität der subsekutiven Verfallsanordnung im Urteil
  • a) Die Rechtsmittelbefugnis hinsichtlich der subsekutiven Verfallsanordnung
  • aa) Verfassungsrechtliche Herleitung einer rechtsmittelfähigen Verfallsentscheidung
  • bb) Die Auswirkungen der Unwirksamkeit und Nichtigkeit des Verzichts auf die Rechtsmittelbefugnis
  • b) Revisible Überschreitungen von Verständigungsgrenzen im Rahmen einer subsekutiven Verfallsanordnung
  • aa) Der Verstoß gegen die Dokumentationspflicht des § 273 Abs. 1a StPO
  • bb) Verfahrensrüge bei Überschreiten der Verständigungsgrenzen des Verfalls
  • cc) Die Aufklärungsrüge im Falle einer „anorektischen Verfallsanordnung“
  • V. Schlussbemerkung und Überleitung zum nächsten Themenbereich
  • C. Weitere informelle Möglichkeiten der Vermögensabschöpfung
  • I. Abschöpfung des „erlangten Etwas“ bei opferlosen Delikten
  • 1. Abschöpfung nach § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO
  • a) Problemaufriss
  • b) § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO als geeignetes Abschöpfungsinstrument?
  • aa) Allgemeine Einwände
  • bb) Systematische und teleologische Einwände
  • c) Verzicht auf Verfallsgegenstände als Voraussetzung einer Einstellung nach § 153a StPO
  • 2. Durchsetzung des Verfalls über §§ 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 4, 59a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StGB
  • 3. Durchsetzung des Verfalls über §§ 40, 41 StGB
  • 4. Verfallsanordnung über das Strafbefehlsverfahren nach § 407 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 4 StPO
  • II. Konsensuale Erledigungsformen bei individualschädigenden Delikten
  • 1. Die Fallgruppe des vorweggenommenen staatlichen Auffangrechtserwerbs
  • 2. Die außergerichtliche Rückgewinnung
  • a) Prognostisches Defizit der außergerichtlichen Rückgewinnung
  • b) Autonomiedefizit der außergerichtlichen Rückgewinnung
  • 3. Wiedergutmachungsauflagen
  • III. Schlussbemerkung und Überleitung zum nächsten Themengebiet
  • D. Formalisierungs- und Domestizierungsversuch der informellen Vermögensabschöpfung
  • I. Formalisierung durch strafrechtliche Sanktionierung der Verzichtsbeteiligten
  • 1. Rechtsbeugung nach § 339 StGB
  • 2. Strafvereitelung im Amt § 258a StGB
  • 3. Weitere strafrechtliche Implikationen der Verzichtsabschöpfung
  • a) Weitere relevante Straftatbestände
  • b) Strafbare Beteiligungsformen der Verzichtsparteien
  • II. Alternative Verfahrensgestaltungen zur Unterbindung informeller Abschöpfungsmechanismen
  • 1. Ermittlungsverfahren
  • a) Die Behebung der Gefahr der Doppelabschöpfung
  • b) Die organisatorische Ausgestaltung von Finanzermittlungen
  • 2. Alternative Hauptverfahrensgestaltung
  • III. Schlussbemerkung und Überleitung zum nächsten Themengebiet
  • E. Konturierung des materiellen und strafprozessualen Verfallsrechts
  • I. Präzisierungen des materiellen Verfallsrechts
  • 1. Der Verfall als strafähnliche Maßnahme?
  • 2. Bestimmung des „erlangten Etwas“ i.S.d. § 73 StGB
  • a) Fallgruppenspezifische Bestimmung des „erlangten Etwas“ (§ 73 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB)
  • aa) Korruptive Auftragserlangung
  • (1) Kölner Müllskandal
  • (2) Hildesheimer Korruptionsfall
  • bb) „Erlangtes Etwas“ bei UWG-Strafbarkeit
  • (1) „Erlangtes Etwas“ im Fall strafbarer Werbung
  • (2) „Erlangtes Etwas“ bei Verwertung fremder Geschäftsgeheimnisse
  • cc) „Erlangtes Etwas“ aus WpHG-Straftaten
  • (1) Strafbare Insidergeschäfte
  • (2) Marktmanipulation und „erlangtes Etwas“
  • dd) „Erlangtes Etwas“ im Falk-Verfahren
  • (1) Fallspezifische Erörterung
  • (2) Übertragung der angestellten Überlegungen auf weitere Versuchskonstellationen
  • (3) Weitere abschöpfungsrelevante Betrugsgestaltungen
  • (4) Vergleich mit den anderen Fallgruppen
  • ee) Die per se Bemakelung der Geschäftsausführung
  • ff) Ersparte Aufwendungen gemäß § 73a S. 1 Alt. 1 StGB als „erlangtes Etwas“
  • (1) Genehmigungsloses Handeln
  • (2) Fälle unterlassener Umweltschutzinvestitionen
  • (3) Die Fallgruppe der umweltgefährdenden Abfalllagerung
  • (4) Korrekturbedarf
  • gg) Vermögensabschöpfung bei illegalem Glücksspiel
  • b) Friktionen im Bereich der Verfallsgegenstandsbestimmung
  • aa) Die Zurechnungslösung des 3. und 5. Senates und deren Friktionen
  • (1) Friktionen der Zurechnungslösung im Kontext der Sanktionsbelastung
  • (2) Dogmatische Friktionen der Zurechnungslösung
  • [i] Die Aporie des Prinzips der unmittelbaren Unrechtsspiegelung
  • [ii] Die Inbezugnahme fiktiver Vermögenspositionen aufgrund der Normativierung der Verfallsbestimmung
  • [iii] Der Makelgedanke als modernem Strafrechtsdenken widersprechender Atavismus
  • [iv] Dogmatische Negation des Zurechnungsgedankens: Antinomie zwischen Vermögensabschöpfungsrecht und Schutzzweckerwägungen
  • [v] Rechtmäßiges Alternativverhalten als verfallsdogmatisch abzulehnende Rechtsfigur
  • [vi] Die inkonsistente Differenzierung zwischen den verschiedenen Bemakelungsarten
  • [vii] Die Mär von der engen Verwobenheit der Wirtschaftsdelinquenz mit legalen Geschäftsvorfällen
  • [viii] Desavouierung der legislatorischen Intention des Verfalls
  • [ix] Verstoß gegen die Wortlautgrenze und das kondiktionelle Vorbild
  • [x] Die Unzulänglichkeit der Zurechnungslösung bei Betrugsdelikten
  • bb) Die Kritik gegenüber dem 1. Strafsenat aufgrund der unterlassenen Differenzierung zwischen Verfallsgegenstand und Verfallsumfang
  • (1) Die Differenzierung als verfallsrechtliche Chimäre?
  • (2) Die Übertragung des Verschleifungsgedankens
  • c) Verbesserungsvorschläge und alternative Lösungsmodi
  • aa) Präzisierung des Begriffs „Etwas“
  • bb) Bereicherungsrechtsakzessorischer Ansatz
  • cc) Verfallstatbestandlicher Ansatz des Verfassers
  • (1) Methodische Untermauerung eines extensiven Bereicherungszusammenhangs
  • (2) Die Anwendung des Kausalitätsgrundsatzes auf die objektive Verfallsgegenstandsbestimmung
  • [i] Der Kausalitätsgrundsatz und die Fälle strafbarer Vertragsanbahnung
  • [ii] Die Orientierung an der Quasi-Kausalität bei ersparten Aufwendungen
  • (3) Der Versuch der Etablierung eines neuakzentuierten Zurechnungszusammenhangs
  • (4) Intentionales Element § 16 StGB de lege lata?
  • 3. Kriminalpolitische Aporie der Vermögensabschöpfung
  • a) Kriminalökonomische Theorien und deren verfallsrechtliche Rezeption
  • aa) Die Leistungsfähigkeit der Kosten-Variable
  • bb) Die Nutzen-Variable
  • b) Alternative Legitimation der Gewinnabschöpfung
  • 4. Zusammenfassung
  • II. Präzisierung der Sicherstellungsvorschriften §§ 111b ff. StPO
  • 1. Die faktisch exkludierenden Auswirkungen der Sicherstellungsvorschriften
  • 2. Die apokryphe Verwendung des Sicherstellungsinstrumentariums
  • 3. Prozessuales Overcharging durch den Up- bzw. Downgrade des materiellen Verfallsrechts im Sicherstellungsverfahren
  • a) Das Defizit der fehlenden Berücksichtigung des § 73c StGB im Sicherstellungsverfahren
  • b) Die personelle Ausweitung der Sicherstellung über die Anwendung der gesamtschuldnerischen Haftung
  • 4. Organisatorische Ausgestaltung der Finanzermittlungen und deren Auswirkung auf das Sicherstellungsverfahren
  • 5. Restriktive Auslegung der Sicherstellungsvorschriften §§ 111b ff. StPO
  • a) Verfassungsgerichtliche Restriktionen
  • b) Hochzonung des einfachen Tatverdachts hinsichtlich der Verfallsanordnung
  • c) Restriktive Auslegung des Sicherstellungsbedürfnisses bzw. Arrestgrunds
  • aa) Darstellung und kritische Reflexion bestehender Auslegungskriterien
  • bb) Korrektiv des Verfassers: Vermögenstransaktionsgefahr
  • cc) Weitere das Rückgewinnungshilfeverfahren betreffende Restriktionen
  • [i] Qualifiziertes Sicherstellungsbedürfnis
  • [ii] Subsidiarität der Rückgewinnungshilfe
  • d) Effektuierung der Verteidigungsmöglichkeit
  • aa) Das Recht auf Gehör und Akteneinsicht
  • bb) Verteidigerbeistand
  • e) Vergleichsbereitschaft des Beschuldigten aufgrund eines Anspruchs des Verletzten auf Rückgewinnungshilfe?
  • f) Die Behandlung der „aufgedrängten Rückgewinnungshilfe“ und die Auswirkung unternehmensinterner Amnestieregelungen
  • g) Restriktive Ansätze im Rahmen der Vollziehung der Sicherstellungsanordnung
  • h) Alternative Sicherungsformen als „minus“ zur Sicherstellung
  • aa) Sachwalter- oder Notgeschäftsführerlösung de lege ferenda?
  • bb) Alternative Sicherungsform de lege lata?
  • 6. Das Verhältnis der Untersuchungshaft zu den Sicherstellungsvorschriften
  • a) Reziprokes Verhältnis beider Maßnahmen
  • b) Der Zugriff auf den Kautionsrückzahlungsanspruch
  • aa) Einführende Erläuterung
  • bb) Mögliche Friktionen im Bereich des sicherstellenden Zugriffs auf den Kautionsrückzahlungsanspruch
  • cc) Proaktive Abwendung des sicherstellenden Zugriffs
  • (1) Die Abtretung des Kautionsrückzahlungsanspruchs
  • (2) Dritthinterlegung der Kaution
  • c) Die Kaution als Bezugspunkt einer vorweggenommenen Vermögensabschöpfung
  • 7. §§ 154 f. StPO und deren Auswirkung auf die Rückgewinnungshilfe
  • a) Problemaufriss
  • b) Zulassung gemäß § 111g Abs. 2 S. 1 StPO trotz Einstellung nach §§ 154 f. StPO
  • 8. Weiterer Korrekturbedarf der Sicherstellungsvorschriften de lege ferenda
  • a) Allgemeine Änderungs- und Korrekturvorschläge
  • b) Korrektur des Rückgewinnungsverfahrens
  • aa) Inkonsistenzen im Bereich der Zurückgewinnungshilfe
  • bb) Alternativen zur derzeitigen Ausgestaltung der Zurückgewinnungshilfe
  • (1) Einführung eines Nachverfahrens bei Eliminierung des § 73 Abs. 1 S. 2 StGB
  • (2) Insolvenzrechtliche Regulierung der Ansprüche Straftatgeschädigter im Nachverfahren
  • (3) Der Referentenentwurf des BMJV vom 8.03.2016
  • (4) Eigener Regelungsvorschlag
  • [i] Die materiell verfallsrechtliche Korrektur
  • [ii] Die Abolition der Rückgewinnungshilfe
  • 9. Zusammenfassung
  • F. Schlussbetrachtung
  • G. Literaturverzeichnis
  • H. Interviewleitfaden

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A. Einleitung

„Gar erst verwerflich wäre natürlich, den Strafprozeß nach der wirtschaftlichen Seite hin als eine Art Finanzquelle auszubeuten, wie wenn es sich um eine Art erwerbliches Unternehmen handelte.“

(Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, S. 27)

„…es muss offenbar schon immer sehr verlockend gewesen sein (…), sich durch den Verzicht auf eine umfassende und abgeschlossene Konfiskationsregelung das Tor zu augenblicksbedingten und dann meist maßlosen Eingriffen offenzuhalten.“

(Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, S. 2)

Während das Recht der Vermögensabschöpfung aufgrund seiner Komplexität lange Zeit als unübersichtlich galt und daher ein „Schattendasein“1 fristete, erfreut es sich heute großer Beliebtheit und ist immer wieder Gegenstand rechtspolitischer Diskussionen.2 Mit dem Zugriff auf inkriminierte Vermögenswerte ist vor allem die Hoffnung verbunden, die Triebfeder der organisierten Kriminalität, das ungehemmte Gewinnstreben, schwächen zu können.3 Es hat sich eine zunehmende Fiskalisierung des Strafverfahrens eingestellt, deren Leitbild der Strafverfolger ist, der Vermögen eintreibt.4 Das Strafverfahren wird – um mit Beling zu sprechen – zu einer „Art Finanzquelle“ für den Staat. Die Abschöpfung wird dabei vermehrt außerhalb des vorgesehenen Verfahrensweges, also informell durchgeführt, was die von Eser beschriebene Gefahr begründet, dass das Tor zu augenblicksbedingten und meist maßlosen Eingriffen in das Vermögen der Bürger aufgestoßen wird.5 Die Informalisierung geht bereits so weit, dass Vermögen über Verzichtslösungen, die keine gesetzliche Ermächtigung ← 1 | 2 → erfahren haben, abgeschöpft wird.6 Die Verzichtspraxis rückte unter dem Topos der außergerichtlichen bzw. formlosen Einziehung in das höchstrichterliche und literarische Blickfeld,7 wobei anzumerken ist, dass der Verzicht in der Hauptverhandlung oftmals von der Rechtsbedingung einer Verurteilung abhängig gemacht wird.8 Dabei ist zu konstatieren, dass nunmehr auch verfallsgeeignete Gegenstände durch Verzicht auf konsensualer Ebene aus dem Verfahren ausgeschieden werden.9 Seitens der Rechtsprechung fand die verfallsspezifische Verzichtspraxis eine beiläufige Tolerierung.10 Das Schrifttum weist zwar stellenweise auf die fehlenden empirischen Erkenntnisse bezüglich des Verzichts auf Verfallsgegenstände hin,11 konzediert diesem jedoch einen rechtstatsächlichen Anwendungsbereich.12 Die verfallsspezifische Verzichtspraxis wird gerade im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts durchgeführt.13 Der Verzicht findet entweder im Haupt- oder Vorverfahren statt und wird dabei zumeist seitens ← 2 | 3 → der Strafverfolgungsbehörden initiiert.14 Dabei wird den Verzichtslösungen im Ermittlungsverfahren folgender Inhalt zugeschrieben: „Der Beschuldigte erklärt unwiderruflich und unabhängig vom Ausgang des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens den Verzicht auf… (genaue Bezeichnung) zugunsten des Landes X, vertreten durch die Staatsanwaltschaft Y.“15 Häufig verspricht sich der Beschuldigte von einem Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände die Freigabe eines den Verzichtsbetrag übersteigenden arrestierten Vermögenswerts zur Deckung anfallender Verteidigungskosten und eine Berücksichtigung dessen im Rahmen der Strafzumessung.16 Durch den Verzicht auf Verfallsgegenstände kann der Beschuldigte dem Staat das Risiko des Wertverlustes aufbürden und einem Wertersatzverfall nach § 73a S. 2 StGB vorbeugen.17 Auch kann mit einem vorzeitigen Verzicht auf Verfallsgegenstände im Vorverfahren dem Verzichtenden eine proaktive Abwendung eines sicherstellenden Vermögenszugriffs gelingen.18 Trotz der prima facie auszumachenden Vorteilhaftigkeit des Verzichts wird dem Angeklagten oftmals nichts anderes als ein Verzicht übrig bleiben, da selbst bei einem Absehen von der Verfallsanordnung im Urteil die präventive Gewinnabschöpfung droht.19 Nachteilig wirkt sich der Verzicht für den Beschuldigten ← 3 | 4 → auch insofern aus, als dass dieser von den Strafverfolgungsbehörden als Teilgeständnis gewertet werden kann.20

Seitens der Strafverfolgungsbehörden wird die Verzichtspraxis vor allem deswegen geschätzt, da man sich auf diesem Wege intrikater Anwendungsprobleme des Vermögensabschöpfungsrechts und einer urteilsaufhebenden Rechtsmittelkontrolle entledigen kann.21 Auch liegt die Annahme nahe, dass eine zunächst absprachegenerierende, hypertrophe Anwendung der Sicherstellungsvorschriften durch die verzichtsbasierte Vermögensabschöpfung eine nachträgliche Legitimation erfahren soll.22 Neben der Verzichtspraxis haben sich weitere konsensuale Verfahrensbeendigungen mit Verfallsgegenständlichkeit etabliert. So wird beispielsweise der Verfall zum Inhalt von Verständigungen nach § 257c StPO gemacht.23 Ebenso wird der Verfall über Aushandlungsprozesse zwischen den Verfahrensbeteiligten nach § 153a StPO zu bewerkstelligen versucht.24

I. Forschungsfrage

1. Gang der Untersuchung

Die vorliegende Arbeit macht es sich nach Darstellung der rechtstatsächlichen Grundlage (A. II.) zur zentralen Aufgabe, die rechtlichen Grenzen des Verzichts auf Verfallsgegenstände aufzuzeigen (B.). Die Beurteilung der verfallsspezifischen ← 4 | 5 → Verzichtspraxis hat jedoch mit dem Umstand zu kämpfen, dass wissenschaftliche Abhandlungen zu dieser Verfahrensgestaltung nicht vorfindbar sind. Da die dargebotene erstmalige Würdigung des Verzichts auf Verfallsgegenstände nicht aus einem bestehenden wissenschaftlichen Fundus heraus entwickelt werden kann, wird somit auch nicht der Anspruch erhoben, eine abschließende Lösung anbieten zu können. Was verbleibt, ist die Hoffnung, dass die entwickelten Auslegungsparameter einen breiten wissenschaftlichen Diskurs zu entfachen vermögen. Jedoch soll nicht nur der Verzicht auf arrestierte oder beschlagnahmte Gegenstände in Gestalt eines formlosen Verfalls25 einer rechtlichen Beurteilung unterzogen werden, sondern auch weitere informelle Abschöpfungsinstrumentarien (C.). Hierbei stellt sich vor allem die Frage, ob über § 153a StPO26 oder über Geldstrafen und Geldauflagen gemäß §§ 40, 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StGB Vermögensabschöpfung betrieben werden kann. Sind die informellen Abschöpfungsinstrumentarien ausgemacht und ist deren Abschöpfungseignung zu verneinen,27 so soll der Nichtbeachtung dieser Grenzen über eine alternative Verfahrensgestaltung oder über ein Aufzeigen etwaiger Kriminalisierungsgefahren begegnet werden (D.). Nach dem zusätzlichen Bemühen konsensuale und informelle Abschöpfungstätigkeiten verfahrensgestaltend zu domestizieren, soll die divergierende Bestimmung des Verfallsgegenstands einer dogmatisch kohärenten Auslegung zugeführt werden (E. I.). Hierdurch soll für den Angeschuldigten die Rechtsfolgenbestimmung prognostizierbarer werden, was zumindest die Verhandlungsmacht der Strafverfolgungsbehörden und das Drohgebaren mit einer unsicher zu bestimmenden Rechtsfolge im Vorfeld konsensualer Verfahrensgestaltungen abzuschwächen vermag.28 Auch kann eine dogmatisch konsistente Bestimmungsmethode dazu führen, dass die Strafverfolgungsbehörden von informellen Abschöpfungstätigkeiten absehen und dazu übergehen werden, die Formenstrenge des Verfahrens einzuhalten, indem sie sich des dafür vorgesehenen objektiven bzw. subjektiven Verfallsverfahrens ← 5 | 6 → bedienen, um Vermögen für verfallen zu erklären. Aufgrund der niedrigen Eingriffsschwellen der §§ 111b ff. StPO ist es den Strafverfolgungsbehörden darüber hinaus ein Leichtes, bereits im Ermittlungsverfahren wirtschaftlichen Druck auf die Beschuldigten auszuüben, um sie für konsensuale Erledigungsformen mit Verfallsgegenständlichkeit empfänglich zu machen oder deren Geständnisbereitschaft zu fördern.29 So ist vorstellbar, dass sich der Beschuldigte durch das Aufzeigen eines sicherstellenden Zugriffs, welcher die Pfändung von Geschäftskonten nach sich ziehen kann, zu einem frühzeitigen, möglicherweise auch unüberlegten Verzicht auf Verfallsgegenstände verleiten lässt.30 Der Anwendung der §§ 111b ff. StPO sind daher de lege lata und ferenda Grenzen zu setzten (E. II.). Der beliebigen Bestimmung des „erlangten Etwas“ i.S.d. § 73 Abs. 1 StGB und den niedrigen Eingriffsschwellen der strafprozessualen Sicherstellungsvorschriften muss Einhalt geboten werden, um das durch die Drohkulisse hoher Konfiskationswerte entstehende strukturelle Ungleichgewicht der Verfahrensbeteiligten in der Abschöpfungspraxis auflösen zu können.31 Ist man sich dessen bewusst, dass in der Konturlosigkeit und Gesetzesgelöstheit der Konfiskation in der Vergangenheit die Gefahr eines „maßlosen Eingriff(s)“ begründet lag,32 so ist ein Versuch der Formalisierung und Konturierung des Verfallsrechts dringender denn je. Nur eine Rückkehr der Verfallsdurchsetzung in das gesetzlich vorgegebene Korsett kann einer willkürlichen, rechtsstaatswidrigen und die Voraussetzung der §§ 73 ff. StGB umgehenden Vermögenskonfiskation vorbeugen, ist doch seit Rudolf von Jhering bekannt, dass „die Form (…) die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“ ist.33

2. Terminologische Grundlegung

Wie bereits dargelegt, macht es sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe, bestehende informelle Verfallsdurchsetzungsinstrumentarien aufzuspüren, rechtlich zu würdigen und zu domestizieren. Dabei gilt es zunächst in terminologischer ← 6 | 7 → Hinsicht zu klären, was man unter einer informellen Verfallsdurchsetzung zu verstehen hat. In Fortentwicklung des seit der Einführung des Bruttoprinzips überholten Begriffs der informellen Gewinnabschöpfung34 hat man davon auszugehen, dass jede Abschöpfungstätigkeit, die außerhalb des objektiven oder subjektiven Verfallsverfahrens zu lozieren ist, als informell bezeichnet werden kann.35 Als hiervon erfasst kann man den gesetzlich nicht geregelten Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände, die Abschöpfung über eine Geldstrafe und die Abschöpfung über Auflagen nach § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO, § 56b Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StGB ansehen.36 Werden tatschuldbezogene Rechtsfolgeninstitute, wie die Geldstrafe oder Bewährungsauflage, zur Verfallsabschöpfung missbraucht, so kann man zusätzlich von einer „apokryphen Verfallsanordnung“ sprechen.37 Der einer ausführlichen rechtlichen Würdigung zu unterziehende Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände kann auch in Anlehnung an die außergerichtliche Einziehung als außergerichtlicher Verfall bezeichnet werden. Als Synonym für den Verzicht auf Verfallsgegenstände kann außerdem der Begriff des formlosen Verfalls Verwendung finden.38 Verzichtet der Beschuldigte auf Vermögenswerte, die der Rückgewinnungshilfe nach § 111b Abs. 5 StPO unterliegen, gegenüber einem überschaubaren Opferkreis, wird von einer außergerichtlichen Rückgewinnung die Rede sein.39 Dient eine zur Aussetzung der Untersuchungshaft hinterlegte Kaution der Befriedigung von Opferansprüchen, so wird von einer verdeckten Rückgewinnungshilfe gesprochen.40 Wird mangels zugriffsbereiten Opferkreises der Beschuldigte zu einem Verzicht gegenüber der Staatskasse aufgefordert, so liegt es nahe, diesen Verzicht zusätzlich als vorweggenommenen staatlichen Auffangrechtserwerb zu deklarieren.41 Ob die seitens des Schrifttums ← 7 | 8 → vermutete und nunmehr begrifflich ausgelotete Informalisierung des Verfalls auch rechtstatsächlich auszumachen ist, soll nachfolgend geklärt werden.

II. Empirische Erkenntnisse zum Forschungsgegenstand

1. Vorgehensweise

Zwar geht das Schrifttum von einer gewissen Verbreitung der Verzichtspraxis aus,42 jedoch sind deren Art und Umfang empirisch nicht hinreichend belegt.43 Um eine extensive rechtliche Beurteilung der Verzichtspraxis vornehmen zu können, ist man auf eine zuverlässige Darstellung der Rechtswirklichkeit angewiesen. Hierbei bietet es sich an, die Rechtswirklichkeit mittels qualitativ empirischen Vorgehens zu eruieren, da so die Komplexität informeller Verfahrensgestaltungen überzeugend dargestellt werden kann. Auch kann so dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Verzichtspraxis um ein weitestgehend unerforschtes wissenschaftliches Problem handelt.44 Mithilfe leitfadenorientierter Experteninterviews wurde versucht, die konsensuale und informelle Verfahrensbeendigung mit Verfallsgegenständlichkeit hypothesengenerierend abzubilden.45 Als Experten wurden 14 Verfahrensbeteiligte aus verfallsaffinen Strafrechtsgebieten ausgewählt. Interviewpartner waren 5 Richter, 6 Staatsanwälte und 3 Strafverteidiger, deren Tätigkeit sich auf das Wirtschafts- oder Betäubungsmittelstrafrecht bezog. Die Interviews dauerten zwischen 60 und 90 Minuten. Der Zeitraum der Erhebung erstreckte sich von November 2013 bis Januar 2015. Hierbei wurde darauf geachtet, dass der in thematischer Hinsicht gleichlaufend kategorisierte Fragebogen dem Kriterium der Offenheit entspricht und insofern ein gewisses narratives Gepräge erhält.46 Die Offenheit des leitfadenorientierten Interviews konnte dadurch gefördert werden, dass man auf eine hemmschwellenbildende ← 8 | 9 → Vertonung der Antworten verzichtete, indem die Antworten der Befragten unmittelbar handschriftlich mitgezeichnet wurden. Die Auswertung der generierten Informationen orientierte sich am Prinzip einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse, welche thematische Kategoriensysteme mittels Paraphrasierung und Selektion einer höheren Abstraktionsebene zuführt.47 Mithilfe der zusammenfassenden Inhaltsanalyse konnte aus dem gewonnenen Interviewmaterial eine 8-seitige tabellarische Übersicht angefertigt werden, die der Darstellung der Studie zugrunde gelegt wurde. Um der hypothesengenerierenden Erhebungsmethode eine gewisse Validität zu verleihen, wurde durch die Befragung verschiedener Verfahrensbeteiligter versucht, der Triangulation Rechnung zu tragen.48 Darüber hinaus sollte eine valide Aussage dadurch erreicht werden, dass Verfahrensbeteiligte verschiedener Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg) in die Befragung miteinbezogen wurden. Indem diese regionale Diversifikation vorgenommen wurde, konnte einem weiteren Triangulationsmechanismus nachgekommen werden.49

2. Rechtstatsächliche Ausgestaltung konsensualer und informeller Abschöpfungsmechanismen

a) Der Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände

aa) Verzicht im Rahmen der Hauptverhandlung

Der Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände im Strafverfahren ist nach Auskunft von Staatsanwälten und Richtern ein gängiges „Instrumentarium“ der Vermögensabschöpfung, das vor allem im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität zum Einsatz kommt. In wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren werde dagegen in den seltensten Fällen eine Verzichtslösung im Hauptverfahren durchgeführt, handele es sich doch zumeist um Delikte, deren Tatfrüchte der Rückgewinnungshilfe unterliegen. Vereinzelt werden jedoch nach Auskunft eines auf Rückgewinnungshilfe spezialisierten Verteidigers selbst bei rückgewinnungsgeeigneten Fallgestaltungen Verzichtslösungen zu Gunsten der Staatskasse realisiert, vor allem dann, wenn mit einer Inanspruchnahme des Täters durch den Verletzten nicht mehr zu rechnen sei. Die Annahme, dass auch bei Rückgewinnungshilfefällen Verzichtslösungen zugunsten des Staates realisiert und in Erwägung gezogen werden, ← 9 | 10 → konnte ein Vorsitzender Richter einer Wirtschaftsstrafkammer bestätigen. In einem rechtshängigen Verfahren sei seitens des Verteidigers ein Verzicht auf nach § 111b Abs. 5 StPO arrestierte Vermögenswerte zugunsten der Staatskasse angeregt worden, um die Freigabe von Geschäftskonten seines Mandanten erreichen zu können. Der Richter habe dieser Verfahrensgestaltung positiv gegenübergestanden, hätte so doch zumindest schneller ein im Tenor entlastetes Urteil erreicht und den Geschädigten ein zügiger rechtsfriedenstiftender Zugriff gewährt werden können. Lediglich die Staatsanwaltschaft habe durch diese seitens des Verteidigers angeregte außergerichtliche Einigung die Verletzteninteressen gefährdet gesehen und sich zum Zeitpunkt der Befragung mit dieser nicht „anfreunden“ können. Nach Auskunft eines Verteidigers in Wirtschafsstrafsachen entledige man sich der Rückgewinnungshilfe, welche einem Verzicht zugunsten der Staatskasse entgegenstehen könne, dadurch, dass man das opferträchtige Delikt einstellen lasse. Stünden beispielsweise eine strafbare Marktmanipulation und ein Betrug im Raume, so lasse man das opferbehaftete Delikt nach § 154 StPO einstellen, um lediglich die Marktmanipulation als Anknüpfungstat für den genuinen Verfall nach § 73 Abs. 1 S. 1 StGB aufrechterhalten zu können. Der Verfall könne sodann durch Verzicht zugunsten des Fiskus realisiert werden, ohne dass man sich um die Interessen der Verletzten weiter Sorgen machen müsse.

In den nach Auskunft von Justizangehörigen für Verzichtslösungen prädestinierten Betäubungsmittelverfahren sei folgende Verfahrensweise auszumachen: Auf Initiative der Staatsanwaltschaft, welche andernfalls Anträge zur Verfallsanordnung stellen müsste, werde der Angeklagte zu Beginn oder im Laufe der Hauptverhandlung dazu aufgefordert, auf sichergestelltes, vermeintlich inkriminiertes Vermögen zu verzichten. Schließe sich der Angeklagte diesem Vorschlag an, so werde der Verzicht, den man nicht nach § 273 Abs. Ia StPO als Verständigung ausweise, in das Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen. Ein Vorsitzender Richter einer Strafkammer am Landgericht konnte davon berichten, dass er den Verzicht im Protokoll vermerken lasse und zusätzlich den Verfall im Urteil nur dann anordnend absichere, wenn das vermeintlich inkriminierte Vermögen einen fünfstelligen Betrag erreicht habe. Zumeist bezieht sich nach Angabe von Staatsanwälten und Richtern die Höhe des Verzichtsbetrages auf das tatsächlich beschlagnahmte oder arrestierte Vermögen, auch wenn ein höherer Verfallsbetrag indiziert sei, wobei man von diesem keinen Abschlag mehr gewähre. Interessant hierbei ist ein von einem Richter am Landgericht geschilderter Fall der gewerbsmäßigen Bandenhehlerei, in dem gestohlene hochpreisige Automobile auffrisiert und verkauft worden seien. In einem osteuropäischen Land, das keine Verfolgung aufgenommen habe, seien sodann umgerechnet ← 10 | 11 → 100.000 Euro sichergestellt worden, wobei nach Angabe des Richters lediglich 50.000 Euro über eine Verzichtslösung in der Hauptverhandlung eine Abschöpfung erfahren haben. Die Differenz zwischen sichergestelltem Vermögen und Verzichtsbetrag war nach Auskunft des Richters dem Umstand geschuldet, dass § 73d StGB und dessen Subsidiarität zu § 73 StGB einen nicht realisierbaren Begründungsaufwand erfordert hätten und man daher zur Reduktion des Verzichtsbetrags angehalten gewesen sei. Selbiges wusste ein mit Betäubungsmittelstrafsachen beschäftigter Richter am Landgericht zu berichten, wonach es Gang und Gäbe sei, den sichergestellten Betrag beispielsweise von 100.000 Euro auf 70.000 Euro Verzichtsbetrag zu reduzieren. Das Ausscheiden des Differenzbetrages werde über eine Teilbetragseinstellung nach §§ 442 Abs. 1, 430 StPO verfahrensrechtlich abgesichert. Die Teilbetragseinstellung sei der Volatilität der Betäubungsmittelpreise und den schwer rekonstruierbaren Vermögenszuflüssen geschuldet. Interessant ist auch der Hinweis eines Richters darauf, dass man im Rahmen der Verzichtslösung nicht zwischen Verfalls- und Einziehungsgegenständen unterscheide, nehme man doch lediglich Bezug auf die der Asservatenliste zu entnehmenden sichergestellten Vermögenswerte. Erwähnenswert sind auch die Aussagen einiger Staatsanwälte, welchen ein gewisses Unbehagen gegenüber der Verzichtslösung zu entnehmen war. So wies ein Staatsanwalt darauf hin, dass immer dann, wenn eine Verzichtslösung im Raum gestanden habe, er auf eine Abschöpfung mit dem vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten Vermögensabschöpfungsinstrumentarium gepocht habe. Ein anderer Staatsanwalt hält einen Verzicht nur dann für gangbar, wenn er der Höhe nach dem im Urteil anzuordnenden Verfallsbetrag entspricht.

bb) Motivation der Verfahrensbeteiligten hinsichtlich der Verzichtslösung

Gerade die Strafverfolgungsbehörden schätzen das Instrumentarium des Verzichts auf Verfallsgegenstände, da auf die Anwendung intrikater vermögensabschöpfungsrechtlicher Normen verzichtet werden kann. Plakativ lässt sich der Vorteil der Verzichtsabschöpfung mit einer Äußerung eines befragten Richters umschreiben: „Er ist einfach in der Tasche zu haben.“ Diese, den Verzicht betreffende Motivationslage, wusste ein weiterer Richter mit folgender Formulierung zu bestätigen: „Was man hat, das hat man.“

Nach Auskunft einiger Richter und Staatsanwälte bringt ein Verzicht den Vorteil mit sich, dass der Begründungs- und Tenorierungsaufwand entfällt, Vollstreckungsproblemen vorgebeugt werden kann und bei beschlagnahmten Gegenständen die Unterstellungskosten wegfallen. Seitens zweier Richter wurde auch der Umstand für positiv befunden, dass die Verzichtslösung nicht revisibel ← 11 | 12 → sei und keiner Anfechtung über Rechtsmittel unterzogen werden könne. Vereinzelt wurde darauf hingewiesen, man praktiziere eine Verzichtslösung ungern, da sie gerade bei der Pensenberechnung keine Berücksichtigung erfahren könne.

Nach Auskunft der befragten Verfahrensbeteiligten kann der Angeklagte mit einem Verzicht dazu beitragen, eine verständnisvolle Verfahrensatmosphäre herbeizuführen, und unter Umständen kann der Verzicht sogar mit einer Strafmilderung flankiert werden. Ob der Verzicht des Angeklagten immer von einer Strafmilderung begleitet wird, ließ sich nicht passgenau feststellen, vielmehr oszillieren die hierzu getätigten Aussagen der Befragten zwischen einer angeblich erheblichen und einer mangels Strafe zu verneinenden Strafmilderung. Verbindet der Angeklagte keine positiven Folgen mit einem Verzicht, so bleibt ihm nach Auskunft eines Richters jedoch auch „nichts anderes übrig, als zu verzichten“, da ansonsten eine Verfallsanordnung im Urteil ergehen werde. Von einer weiteren Motivationslage der Angeklagten wusste ein Vorsitzender Richter eines Landgerichts zu berichten, dessen örtliche Zuständigkeit einen neuralgischen Verkehrsknotenpunkt erfasst, der oftmals von Betäubungsmittelhändlern als Transitort genutzt wird. An diesem Verkehrsknotenpunkt gefasste Betäubungsmitteldelinquenten verzichteten aufgrund ihrer Verteidigungstaktik, die darauf angelegt sei, nichts von den inkriminierten mitgeführten Tatfrüchten wissen zu wollen, da sie lediglich einem Trittbrettfahrer zum Opfer gefallen seien, freiwillig auf die vermeintlichen Tatfrüchte.

cc) Der Verzicht auf Verfallsgegenstände außerhalb der Hauptverhandlung

Neben der für Betäubungsmittelstrafsachen üblichen Verzichtspraxis im Rahmen der Hauptverhandlung, wussten gerade Akteure des Wirtschaftsstrafverfahrens davon zu berichten, dass bereits im Ermittlungsverfahren auf eigentlich dem Verfall unterliegende Vermögenswerte verzichtet wird. Ein Verteidiger gab beispielsweise zu erkennen, dass ein Kraftfahrzeug seines Mandanten zur Verfallssicherung beschlagnahmt gewesen sei, auf dessen Herausgabe der Mandant sodann im Ermittlungsverfahren verzichtet habe. Ein Kollege wusste zu berichten, dass man einen Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände bereits im Ermittlungsverfahren oftmals als Vorleistung für eine Einstellung des Tatvorwurfes nach § 153 f. StPO erbringe.

Jedoch ist der vorstehende Verzicht aus der Sicherstellung heraus offenbar nicht die einzige praktizierte Form des außergerichtlichen Verfalls im Ermittlungsverfahren, sondern es ist nach einer Schilderung eines mit Betäubungsmittelstrafsachen beschäftigten Richters durchaus schon vorgekommen, dass der Beschuldigte zwar eine Kaution zur Untersuchungshaftaussetzung eingezahlt, auf ← 12 | 13 → den sich hieraus ergebenden Rückzahlungsanspruch jedoch verzichtet hat. Diese Vorgehensweise wurde von einem Richter bestätigt. Nach dessen Auskunft war ein Beschuldigter vermutlich an Tatfrüchte gelangt, wobei ein sicherstellender Zugriff nicht möglich erschien, da die Vermögenswerte ins Ausland verbracht worden seien. Ein Rechtshilfeersuchen sei von Anfang an aussichtlos erschienen. Der Beschuldigte habe sodann auf Veranlassung der Strafverfolgungsbehörden dazu gebracht werden können, über seine Bank einen Teil seines im Ausland befindlichen Vermögens als Kaution zu hinterlegen. Auf den Kautionsrückzahlungsanspruch sei seitens des Beschuldigten unter der aufschiebenden Bedingung einer nachfolgenden Verurteilung verzichtet worden. Der Richter sieht den Vorteil einer solchen Verfahrensgestaltung darin, dass durch sie eine Sicherstellungsanordnung entbehrlich gemacht werde. Nach seiner Auskunft wird der Sicherungszweck der Kaution nicht konterkariert, bringe der Beschuldigte durch den Verzicht doch zum Ausdruck, für die Folgen seiner Tat einstehen zu wollen, was auch im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden müsse. Die vorstehenden richterlichen Angaben geben berechtigten Anlass zur Annahme, dass mit Hilfe der haftverschonenden Kautionsstellung eine vorweggenommene Verfallsanordnung oder außergerichtliche Rückgewinnung betrieben wird.

dd) Der Verzicht auf verfallsgeeignete Gegenstände als Teilgeständnis

Details

Seiten
246
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631715154
ISBN (ePUB)
9783631715161
ISBN (MOBI)
9783631715178
ISBN (Paperback)
9783631715147
DOI
10.3726/b10649
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Januar)
Schlagworte
Verzicht auf Verfallsgegenstände Verständigung über Verfall Verfall Vermögenssicherstellung Vermögensabschöpfung Konfiskation
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 262 S.

Biographische Angaben

Jakob Ordner (Autor:in)

Jakob Ordner hat an der Universität Passau Rechtswissenschaften studiert. Im Anschluss daran war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht in Augsburg.

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Titel: Wider die Informalisierung des Verfalls
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