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Beweisvereitelung im Zivilprozess

von Ina Lutz (Autor:in)
©2017 Dissertation 184 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch stellt zunächst die Begründung und Herleitung des Beweisvereitelungsverbotes dar. Dieses Verbot beansprucht für alle Beweisarten eine über die im Gesetz bereits bestehenden Regelungen hinausgehende Geltung. Die Autorin untersucht des Weiteren Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung. Unter Berücksichtigung der eingetretenen Änderungen durch das Patientenrechtegesetz und deren Auswirkungen auf die Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung beleuchtet sie diese im Arzthaftungsrecht. Sie überprüft, ob eine für alle Beweisarten einheitliche gesetzliche Regelung über die Beweisvereitelung erforderlich und sachdienlich ist. Die Autorin entwickelt zudem einen eigenen Formulierungsvorschlag für eine entsprechende neue Vorschrift in der ZPO und untersucht deren Verfassungsmäßigkeit.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Einführung in die Problemstellung
  • II. Gang der Untersuchung
  • B. Rechtsgrundlage des Verbotes der Beweisvereitelung
  • I. Einführung
  • II. Definition und gesetzliche Regelungen
  • III. Historische Entwicklung der Regeln zur Beweisvereitelung
  • IV. Beispiele für beweisvereitelndes Verhalten aus der Rechtsprechung
  • 1. Vorprozessuale Beweisvereitelung
  • 2. Prozessuale Beweisvereitelung
  • V. Überblick über die in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Rechtsgrundlagen
  • VI. Vorfrage: Bestehen einer Handlungspflicht als Voraussetzung
  • VII. Diskussion der möglichen Rechtsgrundlagen
  • 1. Rückgriff auf materiell-rechtliche Pflichten / Wertungen
  • a) Herleitung
  • b) Kritik
  • c) Ergebnis
  • 2. Grundsatz von Treu und Glauben (venire contra factum proprium)
  • a) Herleitung
  • b) Kritik
  • aa) Fehlen von klaren Kriterien für Voraussetzungen beweisvereitelnden Verhaltens
  • bb) Frage der Anwendbarkeit des § 242 BGB in Bezug auf die Beweislastverteilung
  • cc) Beweisvereitelung ohne Verschuldenserfordernis
  • dd) Eingriff in die Beweislastverteilung der ZPO
  • c) Ergebnis
  • 3. § 254 Abs. 1 Satz 1 BGB
  • 4. Prozessuale Mitwirkungs-/ Aufklärungspflichten u. ä.
  • 5. Grundsatz der Waffengleichheit und effektiver Rechtsschutz
  • a) Der Grundsatz der Waffengleichheit
  • b) Anspruch auf effektiven Rechtsschutz
  • 6. Faires Verfahren (Recht auf Beweis)
  • 7. Gesamtanalogie und Rechtsgedanke
  • a) Analogie
  • aa) Kurze Darstellung der vorhandenen Vorschriften
  • (1) § 371 ZPO Beweis durch Augenschein (Beweis durch Augenschein)
  • (2) § 427 ZPO Folgen der Nichtvorlegung durch Gegner (Beweis durch Urkunden)
  • (3) § 441 ZPO Schriftvergleichung (Beweis durch Urkunden)
  • (4) § 444 ZPO Folgen der Beseitigung einer Urkunde (Beweis durch Urkunden)
  • (5) § 446 ZPO Weigerung des Gegners (Beweis durch Parteivernehmung)
  • (6) § 453 ZPO Beweiswürdigung bei Parteivernehmung (Beweis durch Parteivernehmung)
  • bb) Voraussetzungen einer analogen Anwendung
  • (1) Regelungslücke
  • (2) Planwidrigkeit der Regelungslücke
  • (3) Vergleichbarer Sachverhalt
  • (4) Analogiefähige Vorschrift
  • cc) Analoge Anwendung der einzelnen Vorschriften
  • dd) Gesamtanalogie
  • b) Rechtsgedanke
  • 8. Ergebnis
  • C. Tatbestandsvoraussetzungen
  • I. Objektiv
  • 1. Erfordernis einer Handlungspflicht
  • a) Vorfrage: Bestehen einer Handlungspflicht als Voraussetzung
  • b) Ergebnis
  • 2. Beweisvereitelndes Verhalten
  • 3. Objektive Eignung des Beweismittels
  • 4. Verhinderung oder Erschwerung der Beweisführung
  • 5. Bezug zu entscheidungserheblichem Geschehen
  • 6. Beweisführung mit anderen Beweismitteln
  • II. Subjektive Voraussetzung: Verschulden
  • 1. Doppelter Verschuldensvorwurf
  • 2. Voraussetzungen für die fahrlässige Beseitigung der Beweisfunktion
  • 3. Problem: Beweis des Verschuldens
  • III. Unbeachtlichkeit einer an sich vorliegenden Beweisvereitelung
  • 1. Rechtfertigung
  • 2. Unverschuldete Notsituation der beweispflichtigen Partei
  • IV. Mitwirkungspflichten des Gerichts
  • V. Stellungnahme zu den Tatbestandsmerkmalen
  • VI. Beweislast für Vorliegen einer Beweisvereitelung
  • VII. Ergebnis
  • D. Rechtsfolgen der Beweisvereitelung
  • I. Überblick der denkbaren Rechtsfolgen
  • II. Darstellung der im Schrifttum vertretenen Ansichten
  • III. Die Behandlung der Rechtsfolgen in der Rechtsprechung und die Kritik im Schrifttum an der Rechtsprechung
  • 1. Die BGH-Formel „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr“
  • 2. Substantiierter Vortrag als Voraussetzung
  • 3. Schutz des Beweisvereitelnden durch gerichtlichen Hinweis
  • 4. Kritik an der Formel der Rechtsprechung
  • a) Beweislastumkehr oder Beweiswürdigung
  • b) Keine klaren und einheitlichen Begrifflichkeiten
  • c) Unzulässige Vermischung von Beweislast und Beweiswürdigung
  • d) Eingriff in die normativ festgelegte objektive Beweislastverteilung durch Beweislastumkehr
  • e) Eingriff in materiell-rechtliche Regelungen durch Annahme einer Beweislastumkehr
  • f) Aushebelung der richterlichen Überzeugung durch Beweislastumkehr
  • g) Rechtsunsicherheit
  • h) Ausufernder richterlicher Spielraum
  • i) Unbestimmtheit des Begriffs der „Beweiserleichterungen“
  • j) Alles – oder – nichts – Prinzip
  • k) Anknüpfungspunkt für Eingreifen der Beweislastumkehr
  • 5. Ergebnis der Kritik: Streichung der Beweiserleichterungen aus der Rechtsprechungsformel für den Bereich der Arzthaftung
  • IV. Diskussion der möglichen Rechtsfolgen
  • 1. Umkehr der Beweislast
  • 2. Annahme einer Vermutung
  • 3. Anscheinsbeweis unter erleichterten Voraussetzungen
  • 4. Senkung des Beweismaßes
  • 5. § 287 ZPO
  • 6. Erleichterte Parteivernehmung nach § 448 ZPO
  • 7. Beweissubstitution
  • 8. Freie Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO
  • a) Grundsatz
  • b) Kritik
  • V. Abwägung gegenüber dem Vorschlag der Berücksichtigung erst in einem folgenden Schadensersatzprozess
  • VI. Ergebnis
  • E. Sonderfall: Beweisvereitelung im Arzthaftungsprozess
  • I. Darstellung der Problematik im Arzthaftungsrecht vor der Einführung der §§ 630 a ff. BGB
  • II. Anforderungen an die Zulässigkeit einer Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler
  • 1. Anforderungen an den Behandlungsfehler
  • a) Erfordernis eines groben Behandlungsfehlers
  • aa) Definition: Grober Behandlungsfehler
  • bb) Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler
  • (1) Rechtsprechung
  • (2) Kritik aus der Literatur
  • cc) Beweislastumkehr ausnahmsweise auch bei einfachem Fehler
  • b) Geeignetheit
  • c) Kein atypischer Geschehensablauf
  • d) Unaufklärbarkeit im Risikobereich des Patienten
  • 2. Umfang bzw. Reichweite der Beweislastumkehr
  • III. Beweislastumkehr bei Verletzung der Dokumentationspflicht
  • IV. Ausdehnung der Beweislastumkehr auf Fälle außerhalb des Bereichs der ärztlichen Behandlung
  • V. Ergebnis zum Bereich des Arzthaftungsrechts
  • F. Zusammenfassende Würdigung der möglichen Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung
  • I. Auswirkung der Einführung der Beweislastumkehr in §§ 630 a ff. BGB auf die Rechtsprechungsformel
  • II. Auswirkung der Einführung der Beweislastumkehr in den §§ 630 a ff. BGB auf die Rechtsfolge einer Beweisvereitelung
  • G. Eigener Lösungsvorschlag: Einheitliche Regelung der Rechtsfolgen der Beweisvereitelung für alle Beweisarten der ZPO
  • I. Kritische Bestandsaufnahme im Hinblick auf die verbleibende Rechtsunsicherheit – jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite
  • II. Konsequenz: Vorschlag einer einheitlichen gesetzlichen Regelung der Beweisvereitelung für alle Beweisarten der ZPO
  • 1. Allgemeines
  • 2. Formulierungsvorschlag
  • 3. Streichung der bisher bestehenden Regelungen zur Beweisvereitelung
  • III. Herleitung des Ergebnisses
  • 1. Unterschied zwischen freier Beweiswürdigung und Beweislastumkehr
  • 2. Gesetzliche Regelungen über Beweisvereitelung lückenhaft
  • 3. Rechtsunsicherheit wegen fehlender Rechtsfortbildung und Unbestimmtheit des Begriffs der Beweiserleichterungen
  • 4. Mangelnde Berücksichtigung der Beweisvereitelung durch den Richter im Prozess
  • 5. Geeignetheit der Beweislastumkehr für Wahrung der Waffengleichheit
  • 6. Bindende Beweislastregeln bedenklich
  • 7. Erfordernis der freien Beweiswürdigung zur Vermeidung von Missbrauch
  • 8. Widerspruch der Beweislastumkehr zur Analogie
  • 9. Überschießende Tendenz der Beweislastumkehr
  • 10. Wahrung der Vorhersehbarkeit und Transparenz der prozessualen Risikoverteilung durch § 286 Abs. 2 ZPO n. F.
  • IV. Ergebnis
  • 1. Berücksichtigung bei freier Beweiswürdigung, Regelung in einem neuen § 286 Abs. 2 ZPO n. F.
  • a) Kommissionsvorschlag aus dem Jahre 1977: § 286 a ZPO n. F.
  • b) Regelung in einem neuen § 286 Abs. 2 ZPO n. F.
  • 2. Argumente gegen eine gesetzliche Regelung der Beweisvereitelung für alle Beweisarten der ZPO
  • H. Vereinbarkeit des § 286 Abs. 2 ZPO n. F. mit Verfassungsrecht
  • I. Einführung
  • II. Betroffene Rechte
  • 1. Art. 20 Abs. 3 GG iVm Art. 2 Abs. 1 GG, Justizgewährungsanspruch
  • 2. Art. 103 Abs. 1 GG, Anspruch auf rechtliches Gehör
  • 3. Art. 20 Abs. 3 iVm Art. 2 Abs. 1 GG, Recht auf ein faires Verfahren
  • 4. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Körperliche Unversehrtheit
  • 5. Art. 13 Abs. 1 GG, Unverletzlichkeit der Wohnung
  • 6. Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG, Allgemeines Persönlichkeitsrecht
  • 7. Art. 3 Abs. 1 GG, Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit
  • 8. Art. 20 Abs. 3 GG iVm Art. 2 Abs. 1 GG, Recht auf Beweis
  • 9. Zusammenfassung
  • III. Verfassungsmäßigkeit
  • 1. Formelle Verfassungsmäßigkeit
  • 2. Materielle Verfassungsmäßigkeit
  • a) Kein Verstoß gegen Bestimmungen außerhalb des Grundrechtekatalogs
  • b) Kein Verstoß gegen Grundrechte / grundrechtsgleiche Rechte
  • aa) Art. 20 Abs. 3 iVm Art. 2 Abs. 1 GG, Justizgewährungsanspruch
  • (1) Schutzbereich
  • (2) Eingriff
  • bb) Art. 20 Abs. 3 iVm Art. 2 Abs. 1 GG Recht auf ein faires Verfahren
  • cc) Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Körperliche Unversehrtheit
  • (1) Schutzbereich
  • (2) Eingriff
  • dd) Art. 13 Abs. 1 GG Unverletzlichkeit der Wohnung
  • (1) Schutzbereich
  • (2) Eingriff
  • ee) Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG Allgemeines Persönlichkeitsrecht
  • (1) Schutzbereich
  • (2) Eingriff
  • 3. Ergebnis
  • I. Schlussbetrachtung und zusammenfassende Thesen
  • I. Schlussbetrachtung
  • II. Zusammenfassende Thesen
  • 1. Begründung des Beweisvereitelungsverbotes
  • 2. Tatbestand der Beweisvereitelung
  • 3. Einführung einer allgemeinen Regelung über die Beweisvereitelung für alle Beweisarten der ZPO
  • 4. § 286 Abs. 2 ZPO n. F. ist mit Verfassungsrecht vereinbar
  • 5. BGH-Formel „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr“
  • Literaturverzeichnis

| 17 →

Abkürzungsverzeichnis

BGH Bundesgerichtshof

HRR Höchstrichterliche Rechtsprechung

iVm in Verbindung mit

JW Juristische Wochenschrift

KF KammerForum – Mitteilungen der Rechtsanwaltskammer Köln

MBO Musterberufsordnung für die deutschen

Ärztinnen und Ärzte

OGHZ Entscheidungen des Obersten Gerichtshof für

die Britische Zone in Zivilsachen

RegE PatRG Regierungsentwurf Patientenrechtegesetz

RG Reichsgericht

ROHG Reichsoberhandelsgericht

st. Rspr. ständige Rechtsprechung

WarnRspr Die Rechtsprechung des Reichsgerichts auf dem Gebiete des Zivilrechts, soweit sie nicht in der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts abgedruckt ist, Hrsg. Otto Warneyer

ZAkDR Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht

| 19 →

A. Einleitung

I. Einführung in die Problemstellung

Es kann nicht Aufgabe der staatlichen Gerichte sein, „der ungerechten oder gewissenlos geführten Sache zum Sieg zu verhelfen“.1 Diese Aussage bringt die Problemstellung der Beweisvereitelung sehr deutlich auf den Punkt.

Das Zivilprozessrecht dient der Herbeiführung richtiger Entscheidungen. Maßstab für die Richtigkeit einer Entscheidung ist das Gesetz. Im Rahmen dieser Vorgaben muss eine Entscheidung jedoch nicht nur richtig, sondern auch gerecht sein.2

Unabhängig davon, welchen Zweck man dem Zivilprozess zusprechen will, herrscht hier ein Spannungsverhältnis zwischen vollkommener Gerechtigkeit und Rechtssicherheit3. Grundsätzlich soll derjenige Recht bekommen, der tatsächlich Recht hat.4 Dies kann aber nicht immer der Fall sein. Recht muss man nicht nur haben, man muss es auch beweisen können.5 Schaut man auf die Beweislastregeln, sieht man sehr schnell, dass derjenige, der Recht hat, trotzdem nicht Recht bekommt, wenn er sein Recht bzw. seinen Anspruch im Prozess nicht nachweisen kann. Es kann auch deshalb zu Abweichungen von diesem Grundsatz kommen, weil sich eine Partei bei der Prozessführung ungeschickt verhält. Jedoch ist es nicht Aufgabe des Zivilprozesses, eine soziale Funktion dahingehend zu erfüllen, die schwächere Partei zu unterstützen. Dies ist bereits durch die Regelungen chancengleicher Zugangsvoraussetzungen durch Prozesskostenhilfe, den Anwaltszwang und die richterliche Hinweispflicht ausreichend verwirklicht.6 Ein darüber hinausgehender sozialer Zweck des Zivilprozesses existiert nicht.7 ← 19 | 20 →

Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit wird deshalb zu Gunsten der Rechtssicherheit entschieden, die eines der höchsten Rechtsgüter darstellt8. Denn das Ziel der Wahrheitsfindung9 im Prozess bedeutet nicht Wahrheitsfindung um jeden Preis.10 Insbesondere gewährt der Prozess nicht die absolute Wahrheit an sich, sondern nur „verfahrensgemäße“11 oder „prozessuale“12 bzw. „materielle“13 Wahrheit.

Das Ziel der Wahrheitsfindung darf nicht verabsolutiert werden,14 jedoch muss ein missbilligenswertes Verhalten in Bezug auf die Beweisführungsmöglichkeiten des beweisbelasteten Gegners im Rahmen des Möglichen berücksichtigt werden. Stürner hat dies einst sehr prägnant formuliert: „Im Prozeßverlust wegen Aufklärungserschwerung als Sanktion steckt mehr Gerechtigkeit als im Prozeßverlust des Opfers der Erschwerung wegen eines non liquet.“15

Die Unstreitigkeit eines Sachverhalts ist eine sehr seltene Ausnahme. Stellen die Parteien eines Rechtsstreites unterschiedliche Geschehensabläufe dar und sind entscheidungserhebliche Tatsachen damit streitig, kommt es für ein stattgebendes Urteil im Prozess in der Regel vor allem darauf an, ob der erforderliche Beweis durch die beweisbelastete Partei erbracht werden kann, denn bestrittene Tatsachen dürfen ohne Beweis grundsätzlich nicht berücksichtigt werden16. Dabei sind nach der grundsätzlichen ungeschriebenen Beweislastregel die Voraussetzungen derjenigen Normen, ohne deren Anwendung das Begehren einer Partei im Prozess nicht erfolgreich sein kann, von dieser zu beweisen.17 Es ist also festzuhalten, dass das Obsiegen im Prozess oftmals davon abhängt, ob die beweisbelastete ← 20 | 21 → Partei den erforderlichen Beweis im Prozess erbringen kann. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass die Gegenpartei eine Beweisführung, die zu ihrem Unterliegen im Prozess führen könnte, auf verschiedenste Art und Weise verhindert. Würde man ein solches Verhalten unberücksichtigt lassen, hätte das zur Folge, dass die beweisbelastete Partei den erforderlichen Beweis unverschuldet nicht erbringen kann, sodass es zu einem „non liquet“ kommt und die Gegenpartei durch unrechtmäßiges Verhalten den Prozess gewinnt. Grundsätzlich trägt die beweisbelastete Partei die Gefahr eines non liquet. Der Unterschied bei der Beweisvereitelung ist jedoch der, dass das non liquet durch ein Verhalten der Gegenpartei verursacht wurde. Der beweisbelasteten Partei in einem solchen Fall zu helfen, gebietet das Rechtsgefühl.18 Denn wer seinem an sich beweispflichtigen Gegner die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht, darf sich nicht dadurch verteidigen, dass er sich auf die Beweislast des Gegners beruft und geltend macht, die streitige Tatsache sei nicht bewiesen.19 Bei einer Entscheidung ohne Berücksichtigung einer Beweisvereitelung besteht die Gefahr einer ungerechten bzw. unrichtigen Entscheidung, da es immer sein kann, dass die unbewiesene Behauptung wahr ist, jedoch lediglich nicht bewiesen werden konnte.20 Dieses Risiko liegt bei jeder Beweislastentscheidung vor, denn es kann immer vorkommen, dass der dem Prozess zugrunde liegende Sachverhalt, der für die richterliche Entscheidung maßgeblich ist, nicht in allen Einzelheiten aufgeklärt werden kann.21 Insbesondere wegen des Justizgewährungsanspruchs darf das Gericht jedoch auch bei Unaufklärbarkeit des Sachverhaltes eine Sachentscheidung nicht verweigern.22

Die unterschiedliche Behandlung dieses Risikos bei der Beweisvereitelung im Vergleich zu sonstigen Beweislastentscheidungen hat ihren Grund jedoch darin, dass die durch das materielle Recht vorgegebene Beweislastverteilung und das dadurch intendierte Verfahrensergebnis zumindest gefährdet, möglicherweise sogar umgekehrt werden23. Die beweisbelastete Partei ist in einem solchen Fall schutzwürdig, sodass es auf der Hand liegt, dass beweisvereitelndes Verhalten berücksichtigt werden muss. Während die Vorenthaltung und Vernichtung von ← 21 | 22 → Beweismitteln im Strafprozess gewissermaßen üblich ist,24 stellt sich für den Zivilprozess die Frage, wie eine Berücksichtigung beweisvereitelnden Verhaltens aussehen kann. Eine „Aufklärungsgemeinschaft der Prozessparteien“25 ist abzulehnen, da die Prozessparteien gerade keine Gemeinschaft bilden, sondern vielmehr durch Gegensätzlichkeit gekennzeichnet sind.26 Eine Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung einer Duldung oder Mitwirkung bei der Beweisaufnahme gibt es nicht, es sei denn, es bestehen materiell-rechtliche Duldungs- oder Mitwirkungspflichten, die im Klagewege durchgesetzt werden können.27 In den wenigsten Fällen einer Beweisvereitelung wird ein solcher Anspruch jedoch bestehen. Ein genereller Prozessverlust der beweisvereitelnden Partei scheidet ganz offensichtlich aus, da er eine zu starre, zu unflexible und im Einzelfall ungerechte Folge darstellt.28 Gleichwohl kommt eine Berücksichtigung zu Lasten der beweisvereitelnden Partei in Betracht, wodurch ein teilweiser, aber auch ein vollständiger Prozessverlust der beweisvereitelnden Partei als Folge ihres Verhaltens möglich ist.29

II. Gang der Untersuchung

Die vorliegende Arbeit soll zunächst die Begründung bzw. Herleitung des Beweisvereitelungsverbotes darstellen, das eine über die im Gesetz bereits bestehenden Regelungen hinausgehende Geltung für alle Beweisarten beansprucht. Im Folgenden sollen die Tatbestandsvoraussetzungen und die Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung herausgearbeitet werden. Bei den Tatbestandsmerkmalen einer Beweisvereitelung soll das Augenmerk insbesondere darauf gerichtet sein, ob diese in einer Weise konkretisiert werden können, dass der Tatbestand eingeschränkt werden kann und dadurch von vornherein weniger Fälle darunter zu fassen sind, sodass ein ausufernder Anwendungsbereich und Ausschlusstatbestände vermieden werden können. Insbesondere im Hinblick auf die Gefahr einer Haftungsausuferung ist die Betrachtung einer Einschränkung des Tatbestandes der Beweisvereitelung geboten.30 ← 22 | 23 →

Die Beweisvereitelung im Arzthaftungsrecht soll im Hinblick auf die eingetretenen Änderungen durch das Patientenrechtegesetz und die Auswirkungen auf die Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung beleuchtet werden.

Im weiteren Verlauf der Untersuchung soll dann überprüft werden, ob eine für alle Beweisarten einheitliche gesetzliche Regelung über die Beweisvereitelung erforderlich bzw. sachdienlich ist.

Es soll darüber hinaus ein Formulierungsvorschlag für eine entsprechende Vorschrift entwickelt werden, deren Verfassungsmäßigkeit in einem letzten Schritt untersucht werden soll.


1 Baumbach / Lauterbach / Hartmann, ZPO, Einl. III, Rdnr. 54.

2 BVerfG NJW 1976, 1391 (1391); BVerfG NJW 1979, 1925 (1927); Schmidt, Teilbarkeit und Unteilbarkeit, S. 107.

3 Herschel, JZ 1967, 727 (732); Schilken, Zivilprozessrecht, Rdnr. 8; Siegert, NJW 1958, 1025 (1025).

4 Meyer, JR 2004, 1 (6).

5 Laumen, NJW 2002, 3739 (3743).

6 MünchKomm ZPO / Rauscher, Einl., Rdnr. 13; Schilken, Zivilprozessrecht, Rdnr. 16, ders., Kollektiver Rechtsschutz, S. 27.

7 Meyer, JR 2004, 1 (4); Schilken, Zivilprozessrecht, Rdnr. 16; ders., Kollektiver Rechtsschutz, S. 26 f.

8 Baumbach / Lauterbach / Hartmann, ZPO, Einl. III, Rdnr 43.

9 Adloff, S. 285; Schilken, Kollektiver Rechtsschutz, S. 24; Stürner, Aufklärungspflicht, S. 43.

10 Gaul, AcP 168, 28 (50).

11 Arens, ZZP 69 (1983), 1 (12).

Details

Seiten
184
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631714980
ISBN (ePUB)
9783631714997
ISBN (MOBI)
9783631715000
ISBN (Paperback)
9783631714973
DOI
10.3726/b10635
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Zivilprozessrecht Beweisrecht Arzthaftungsprozess Beweislast Beweislastverteilung Freie Beweiswürdigung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 184 S.

Biographische Angaben

Ina Lutz (Autor:in)

Ina Lutz hat Rechtswissenschaften in Marburg, Bonn und Valladolid, Spanien, studiert. Sie wurde an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn promoviert.

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