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Fachlexeme in Konstruktion

Linguistischer Beitrag zur Erkenntnisarbeit

von Grzegorz Pawłowski (Autor:in)
©2017 Monographie 475 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch liefert eine neue Erkenntnisperspektive zur Deutung und Untersuchung der Fachlexik. Grundlage dafür stellen die anthropozentrische Linguistik und der epistemologische Ansatz zur Semantik dar. Aus dieser Perspektive zeigt der Autor, wie Fachlexeme entstehen und was ihnen an Prinzipien, Motiven oder Prioritäten zugrunde gelegt wird, wenn darüber entschieden wird, ein bestimmtes Fachlexem zu konstruieren und dieses als Fachneologismus durchzusetzen. Die Untersuchung stützt sich dabei auf eine empirische Studie zu Fachneologismen aus dem Fachgebiet «Byzantinische Hymnographie und Musik».

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsübersicht
  • 1. Grundsatz
  • 1.1 Forschungsanlass
  • 1.2 Zielsetzung
  • 2. Subjekt und Objekte der Erkenntnisarbeit
  • 2.1 Erkenntnisgegenstand
  • 2.1.1 Das Subjekt der Erkenntnisarbeit
  • 2.1.2 Objekte der Erkenntnisarbeit
  • 2.2 Erkenntnisbasis
  • 2.2.1 Genetische Formanten
  • 2.2.2 Kulturelle Formanten
  • 2.2.3 Axiologische Formanten
  • 2.3 Erkenntniserfahrung
  • 2.4 Erkenntnisperspektive
  • 2.4.1 Idiozentrische Erkenntnisperspektive
  • 2.4.2 Polyzentrische Erkenntnisperspektive
  • 2.5 Erkenntnisziel
  • 2.6 Erkenntnisakt
  • 2.7 Erkenntnisergebnis
  • 3. Linguistische Diskussion zu Neologismus und Terminus
  • 3.1 Das Problem ‚Neologismus‘
  • 3.1.1 Neulexem
  • 3.1.1.1 Neubildung
  • 3.1.1.2 Neuentlehnung
  • 3.1.1.3 Neuschöpfung
  • 3.1.2 Neubedeutung
  • 3.1.3 Terminologische Vagheit
  • 3.1.4 Offene Fragen
  • 3.2 Das Problem ‚Terminus‘
  • 3.2.1 Terminologischer Aspekt
  • 3.2.2 Ontologischer Aspekt
  • 3.2.3 Formaler Aspekt
  • 3.2.3.1 Deutung
  • 3.2.3.2 Definitionen
  • 3.2.4 Funktionaler Aspekt
  • 3.2.4.1 Benennungsfunktion
  • 3.2.4.2 Relationale Funktion
  • 3.2.4.3 Erkenntnisfunktion
  • 3.2.5 Offene Fragen
  • 4. Linguistisch-epistemisch ausgerichtete Deutung von Fachneulexem (ein Vorschlag)
  • 4.1 Zum Status
  • 4.1.1 Wirklicher Status
  • 4.1.2 Relativer Status
  • 4.1.3 Formaler Status
  • 4.2 Zur Deutung von ‚Fachneulexem‘
  • 4.2.1 Alt oder neu?
  • 4.2.2 Allgemein oder fachlich?
  • 4.2.3 Deutung
  • 4.3 Zur den Funktionen
  • 4.3.1 Epistemische Funktionen
  • 4.3.2 Kognitive Funktionen
  • 4.3.3 Kommunikative Funktion
  • 4.3.4 Diskursive Funktion
  • 4.4 Zu den Prinzipien der Motiviertheit
  • 4.4.1 Analogie
  • 4.4.1.1 Ähnlichkeit
  • 4.4.1.2 Abhängigkeit
  • 4.4.1.3 Funktionalität
  • 4.4.2 Wertung
  • 4.5 Zur epistemischen Konzeptualisierung
  • 4.5.1 Fachkulturelle Konzeptualisierung
  • 4.5.2 Fachsprachliche Konzeptualisierung
  • 4.5.3 Relationale Konzeptualisierung
  • 4.6 Zur Sanktionierung
  • 4.6.1 Ist Sanktionierung der Fachneulexeme möglich?
  • 4.6.2 Ist Usus entscheidend?
  • 4.6.3 Ist Fachneulexem ein Terminus?
  • 5. Linguistisch-epistemisch ausgerichtete Reflexion zu Erkenntnisakten am Beispiel der polnischen Fachneologismen
  • 5.1 Aufstellung der Hypothesen
  • 5.1.1 Motiviertheit der Erkenntnisarbeit
  • 5.1.2 Identifikation der Leerstellen
  • 5.1.3 Konstruktion der Fachneulexeme
  • 5.1.4 Fachneulexem als Wertungsergebnis
  • 5.1.5 Neukonzeptualisierung durch Fachneulexeme
  • 5.1.6 Rekonstruktion der Erkenntnisakte
  • 5.2 Methodischer Grundsatz
  • 5.2.1 Evidenz
  • 5.2.2 Fachtextanalyse
  • 5.2.3 Wortschöpfer
  • 5.2.4 Intensivinterview
  • 5.2.5 Gesprächsanalytische Instrumente
  • 5.2.6 Feintranskript GAT 2
  • 5.3 Erkenntnisakte bei der Konstruktion von Fachlexemen und bei der Durchsetzung von Fachneologismen
  • 5.3.1 Das Subjekt: psalta (ψάλτης)
  • 5.3.2 Minejοny (Μηναῖα)
  • 5.3.3 Stychiron (στιχηρόν)
  • 5.3.4 Kratymat (κράτημα)
  • 5.3.5 Izon (ἶσον)
  • 5.3.6 Znaki prozodyczne (προσῳδίαι)
  • 5.3.7 Znaki cheironomiczne (χειρονομία)
  • 5.4 Liste der im Translat durchgesetzten Fachneologismen
  • 5.4.1 Hymnologische Fachneologismen
  • 5.4.2 Musikologische Fachneologismen
  • 5.5 Verifizierung der Hypothesen
  • 6. Synthetische Zusammenstellung der Ergebnisse der Reflexion zur Konstruktion von Fachlexemen
  • 7. Bibliographie
  • 8. Anhang
  • 8.1 Gesprächsinventar IMK01
  • 8.2 Gesprächsinventar IMK02
  • 8.3 Gesprächsinventar IMK03
  • 8.4 Gesprächsinventar IMK04
  • 8.5 Gesprächsinventar IMK05
  • 8.6 Gesprächsinventar IMK06
  • 8.7 Gesprächsinventar IMK07
  • 8.8 Gesprächsinventar IMK08
  • 8.9 Charaktere des Notationssystems

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1. Grundsatz

Die vorliegende Studie stützt sich auf drei Säulen, und zwar auf dem ‚wer‘, ‚was‘ und ‚wie‘ dessen, was hier mit dem Titel ‚Fachlexeme in Konstruktion‘ gemeint ist. Es geht mit einem Wort um (a) Subjekt, (b) Objekte und (c) Erkenntnisakte, deren Ziel es ist, ein neues Fachlexem zu konstruieren. Diese Säulen lassen die Studie nicht genügend legitimieren, solange sie unbestimmt bleiben. Es ist nämlich undenkbar, von einem Subjekt, von Objekten oder Erkenntnisakten zu sprechen, ohne dass man sich auf bestimmte Eigenschaften bezieht, die dieses Subjekt, diese Objekte und diese Erkenntnisakte konstituieren. Damit ist gesagt, dass die Eigenschaften jeweils einen klaren Status implizieren, den das Subjekt, die Objekte und die Erkenntnisakte zum Zeitpunkt der Beobachtung aufweisen. Nicht ohne Begründung sind die Säulen mit dem bestimmten Artikel versehen. Dieser gilt in erster Linie als Hinweis dafür, dass es sich hier keineswegs um modellhafte, kollektive oder sogar abstrakte ‚Säulen‘ handelt, sondern um Säulen, denen das Attribut ‚konkret‘ zusteht. Mithin stellen konkretes Subjekt, konkrete Objekte und konkrete Erkenntnisakte den Grundsatz dar, auf dem diese Studie gebaut ist.

1.1 Forschungsanlass

Der Ausdruck ‚konkret‘ wurde seit der Veröffentlichung der Monographie Zagadnienia metalingwistyki von Franciszek Grucza in 1983 das Schlüssel- und Programmwort der Linguistik, die bereits über eine Dekade lang durch den Ideenstifter selbst und durch die Vertreter der Warschauer Schule als ‚Anthropozentrische Linguistik‘ bezeichnet wird. Ins Visier rückt dabei, kurz gesagt, ein konkreter Mensch in Hinsicht auf seine konkreten (phylo-)genetischen, kulturellen, darunter sprachlichen und kommunikativen Eigenschaften. Handelt der Mensch als konkretes Subjekt, so stehen ihm genauso konkrete Objekte zur Verfügung, die er je nach Handlungsziel beschreiben, benennen oder konstruieren kann. Konkrete Akte, darunter Erkenntnisakte, die er dabei ausführt, sind buchstäblich das mentale ‚Instrument‘ seiner Handlung, darunter seiner Erkenntnishandlung (vgl. F. GRUCZA 2012b).

Wie heißt dieser konkrete Mensch? Welche konkreten Eigenschaften hat er? Mit welchen konkreten Objekten setzt er sich auseinander? Welche konkreten Erkenntnisakte führt er aus, um Erkenntnisziele zu erreichen, die er sich vorgenommen hat? Diese Fragen sind all zu offensichtlich, als dass man sie in einer Studie wie dieser, die aus der Tradition der anthropozentrischen Linguistik geboren wurde, ← 11 | 12 → einfach ignorieren könnte. Vielmehr stellten sie schon lange, bevor diese Studie gestartet wurde, einen Stimulus dar, um den Grundsatz empirisch zu prüfen.

Den Forschungsanlass lieferten Ergebnisse einer kritischen Reflexion zum polnischen Translat der Monographie mit dem Titel A History of Byzantine Music and Hymnography von Egon Wellesz, einem Professor für Musikologie der Universitäten in Wien und Oxford. Bei dieser Monographie, die von vielen Autoritäten zu den besten weltweit gezählt wird, handelt es sich um einen wissenschaftlichen Fachtext, welchem eine komplexe kritische Reflexion über die Genese, Entwicklung und Funktionen dessen, was seit ungefähr siebzehn Jahrhunderten als ‚Byzantinische Hymnographie und Musik‘ bezeichnet wird. Dieser Fachtext handelt mithin von einem Fachgebiet mit Tradition. Die Tradition der byzantinischen Hymnographie und Musik, analogisch wie die der griechischen Sprache, zeichnet sich vor allem durch seine Kontinuität aus. Diese äußert sich prinzipiell, jedoch nicht nur, in der ununterbrochenen mündlichen Überlieferung der Hymnen- und zugleich Gesangtradition (vgl. MAGDALINO 2012: 33) sowie, was an dieser Stelle besonders hervorzuheben ist, in der kaum zu überschätzenden über tausend Jahre langen Schrift-/ Notationstradition, die sich mit einer Zahl von etwa sieben Tausend Manuskripten ausweisen kann (vgl. ALEXANDROU 2006: 114–115, WANEK 2013: 7, BANEV 2015: 138, WELLESZ 2000: 6, WOLFRAM 2000: 58, ENGBERG 1982, SCHLÖTTERER 1982: 21, NIKOLAKOPOULOS 2015: 449–451).

Als Wissenschaft reicht die byzantinische Hymnographie und Musik auf das 14. Jh. des vergangenen Jahrtausends zurück, also auf die Zeit, wo sie kurz vor dem Niedergang des Byzantinischen Reiches in 1453 ihre Hochzeit erlebt, was schon allein der hoch raffinierten Koukouselianischen Notation zu entnehmen ist. In der Neuzeit setzt das wissenschaftliche Interesse an diesem Fachgebiet um den Beginn des 19. Jhs. an mitsamt der sogenannten Reform der ‚Drei Lehrer‘, die in 1814 von Chrysanthos von Madytos (Χρυσανθός εκ Μαδύτων), Churmuzios Chartophylax (Χουρμούζιος Χαρτοφύλαξ) und Gregorios Protopsaltes (Γρηγόριος Πρωτοψάλτης) durchgeführt wurde (vgl. CHRYSANTHOS 1821, 1832). Moderne griechischsprachige Studien seit dem Beginn des 20. Jhs. verdankt die byzantinische Hymnographie und Musik vor allem Konstantinos Psachos (Κωνσταντίνος Ψάχος) und Grigorios Th. Stathis (Γρηγόριος Θ. Στάθης) (vgl. PSACHOS u. a. 1917, STATHIS u. a. 1982, 1989). Seit dem Anbruch des 21. Jhs. ist ein rasanter Aufschwung der wissenschaftlichen Studien zu beobachten, die im Rahmen dieses Fachgebiets weltweit aufgenommen werden. Seinen Verdienst hatte dabei sogar Roman Jakobson, der sich 1957 an der Ausgabe von Sticherarium und Hirmologium Chillandaricum beteiligte (vgl. ALEXANDROU 2011: 70, HANNICK 2007: 178). ← 12 | 13 →

Der Aufschwung ist jedoch an Polen spurlos vorbeigegangen. Es ist bemerkenswert, dass bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des polnischen Translats, also bis 2006, soviel wie keine polnischsprachige wissenschaftliche Literatur vorhanden war, die dem Problem der byzantinischen Hymnographie und Musik griechischer Provenienz gewidmet wurde. In der Tat hat sich mithin keine kohärente griechisch ausgerichtete Fachsprache herausgebildet, in der es möglich wäre, darüber im Rahmen eines wissenschaftlichen Fachdiskurses zu diskutieren. So stützte sich die Fachkommunikation zunächst meist auf das Russische und Englische. Zu erwähnen sei hier beispielsweise die erste internationale wissenschaftliche Tagung Musica Antiqua Europae Orientalis, die dazu beigetragen hat, dass Studien zur byzantinischen Hymnographie und Musik nach meinem Wissen zu ersten Mal in Polen präsentiert werden konnten. Die Tagung fand zuerst in 1966 statt und wurde durch die Initiatoren aus dem Institut für Musikologie der Universität Warschau und aus der Paderewski-Philharmonie in Bydgoszcz als Tagung und Festival konzipiert. Gesprochen wurde zuerst von der Hymnographie serbischer, rumänischer, bulgarischen und russischer Provenienz. Griechischsprachige Hymnographie war auf der Tagung erst in den 1980er Jahren vertreten, wobei der Fachdiskurs weiterhin auf Russisch oder Englisch geführt wurde (s. detailliert dazu bei PAWłOWSKI 2015e).

Der heutige polnischsprachige Fachdiskurs ist fast ausschließlich auf die Hymnographie und Musik fokussiert, die ihren Ursprung in der Rus hat. So ist die Fachsprache ‚notwendigerweise‘ durch die ‚Provenienz‘ des Kirchenslawischen geprägt. Zu den Ausnahmen gehört ohne Weiteres eine in 2016 verfasste Studie mit dem Titel Typologia biblijnych motywów muzycznych w hymnografii prawosławnej von Marcin Abijski. Abijski knüpft an seine Erkenntniserfahrung als einer in Athen ausgebildeter Psaltes an und greift auf sie in seiner wissenschaftlichen Arbeit als Hymnologe zurück. Das Besondere daran ist, dass in dieser Studie direkter Bezug genommen wird auf den hymnographischen und musikologischen Fachwortschatz griechischer Provenienz, die für dieses Fachgebiet unmissverständlich die ursprüngliche ist. An der Normung des polnischen Fachwortschatzes in diesem Fachgebiet wird allerdings noch gearbeitet (Oktober, 2016). Ein entsprechender Thesaurus mit dem Arbeitstitel Pisownia i Terminologia Cerkwi Prawosławnej soll bald herausgegeben werden.

Wie soeben angedeutet stellten die Ergebnisse der Reflexion zum polnischen Translat den Stimulus zur Aufnahme der Forschung dar. Warum? Die einführende Analyse ergab, dass es sich bei Historia muzyki i hymnografii bizantyjskiej um einen Fachtext handelt, der eine Reihe von Fachneologismen enthält. Infolge der detaillierten Analysen wurden insgesamt 148 Fachneologismen erhoben ← 13 | 14 → (vgl. PAWłOWSKI 2015d, 2015e). Ihre Evaluation stellte die Grundlage zur Formulierung der Hypothesen dar. Es war von vornherein klar, dass es sich hier eigentlich um Fachneulexeme handeln muss, d. h. mentale Muster, deren Konstruktion umfangreiches Fachwissen zugrunde gelegt wurde. Es stellte sich auch heraus, dass die Fachneologismen, und genauer, ihre morphologische Struktur und Funktionen, auf eine Terminologie schließen lassen, die eindeutig griechisch, und nicht englisch, geprägt ist. Außerdem ließen sich deutliche Wortbildungsmuster identifizieren, denen das konkrete ‚wer‘ folgen musste. Es blieb in diesem Zusammenhang nichts anderes übrig, als in Erfahrung zu bringen, ‚wie‘ es eigentlich dazu gekommen ist und ‚was‘ genau den eigentlichen mentalen Mustern, und zwar den Fachneulexemen, an konkreten Objekten, Motiven und Erkenntnisakten zugrunde gelegt wurde.

Um dies zu realisieren, war es zunächst einmal nötig zu bestimmten, ob und wenn ja, dann inwiefern sich das konkrete ‚wer‘, d. i. Maciej Kaziński, der Verfasser des Translats und zugleich der Wortschöpfer, zur Teilnahme am Forschungsprojekt überzeugen lässt. Seine Zustimmung löste demnächst die Frage auf nach einer passenden Erhebungsmethode und einem zumindest genauso passenden Erhebungsinstrument. Im Zuge eines Auswertungsverfahrens wurden endgültig Intensivinterview und Leitfragen gewählt.

Das Forschungsmaterial stellen nun das Translat, die Fachneologismen und Audioaufnahmen mit dem Wortschöpfer dar (s. Methodischer Grundsatz in 5.2).

1.2 Zielsetzung

Ist es möglich zu erfahren, wie Fachlexeme, also konkrete mentale ‚Objekte‘, konstruiert werden? Ist es möglich zu erfahren, worauf ihre Konstruktion wirklich gestützt ist? Das Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass dies nicht nur möglich ist, sondern auch empirisch nachgewiesen werden kann.

Im Fokus sind mithin Kazińskis Erkenntnisakte, die der Entscheidung über die Konstruktion jeweiliger Fachlexeme sowie über die Durchsetzung entsprechender Fachneologismen vorausgehen. Die Erkenntnisakte eines ‚fremden‘ Erkenntnissubjekts zu diagnostizieren, ist prinzipiell keine leichte Aufgabe. Ihr nachzukommen, indem bloß ein fertiger Fachtext, hier das Translat, ‚konsultiert‘ wird, heißt Vagheit und Spekulation akzeptieren zu müssen. Der Wahrscheinlichkeitsgrad der Spekulation steigt in der Tat mitsamt einer schriftlichen Rechtfertigung, die sich im Falle dieses Translats konkret im Nachwort des Übersetzers äußert (s. Posłowie tłumacza bei WELLESZ 2006: 506). Abgesehen davon, dass eine solche Rechtfertigung mit Blick auf die Zielsetzung dieser Studie weitgehend unzureichend ist, stellt sich hier ein Linguist vor die Aufgabe, Objekte, Motive und Erkenntnisakte ← 14 | 15 → des Verfassers buchstäblich konstruieren zu müssen. Wie aussagekräftig eine solche Konstruktion auch immer sein mag, so stößt sie jeweils auf Einschränkungen, und das sowohl aufseiten des Verfassers des Translats als auch aufseiten des Linguisten. Dagegen liefert die soeben angesprochene Erhebungsmethode neben vielen anderen vor allem den Vorteil, dass im Rahmen eines Intensivinterviews wirkliche Rekonstruktion initiiert wird. Um so mehr gibt es keine „rationalen Gründe“, solche Erhebungsmethode, wie diese, die schließlich den Sozialwissenschaften entnommen ist, aus dem Repertoire der linguistischen Erkenntnisarbeit auszuschließen (vgl. F. GRUCZA 1983: 315–316). Im Gegenteil. Die reale Zeit, in der die Rekonstruktion im jeweiligen Intensivinterview vollzogen wird, und der Freiraum zu Rückfragen helfen den Interviewten auf das vorgeschriebene Forschungsziel simultan hinsteuern. Textkorpus, welches infolge dieser Rekonstruktion erhoben wird, ist weitgehend transparenter und trägt dazu bei, dass die endgültige Diagnose entsprechend begründet werden kann.

Mit dem Forschungsvorhaben, das in dieser Arbeit präsentiert wird, wird ein Ziel verfolgt, das im Rahmen der anthropozentrischen Fachsprachenforschung als „zentral“ bezeichnet wird, und zwar die „Rekonstruktion der Fachidiolekte“. Gemeint ist damit die Diagnose derjenigen Konstituenten eines konkreten „Fachidiolekts“, die es einem konkreten Subjekt/ Fachmann, möglich machen, Fachtexte, darunter Fachlexeme, zu konstruieren sowie Fachtexte anderer Subjekte adäquat zu verstehen (vgl. S. GRUCZA 2012a: 133). Dies ist bei Weitem noch nicht alles. Die Diagnose soll vielmehr auf weitere Aspekte erweitert werden und neben diversen Fachfunktionen von Fachtexten auch konkrete Eigenschaften derjenigen Subjekte erfassen, die diese Fachfunktion aktivieren. Zu den Aufgaben der Fachsprachenlinguistik gehört mithin in Erfahrung zu bringen, wie das Fachwissen eines konkreten Subjekts organisiert ist, wie dieses konkrete Subjekt sein Fachwissen evaluiert und, nicht zuletzt, wie die Ergebnisse dieser Evaluation letztendlich genutzt werden, wenn ein konkretes Erkenntnisergebnis, z. B. ein Fachneulexem, intendiert wird (4.2, 5.3). Im Zentrum der fachlinguistischen Reflexion stehen mithin seine epistemischen Eigenschaften und Fähigkeiten, die es voraussetzen, dass überhaupt etwas Neues erzeugt werden kann (vgl. S. GRUCZA 2012b: 110–111, PAWłOWSKI 2015a: 71–72).

Neues kann bekanntlich nicht entstehen, solange das Alte vorherrscht (4.2.1). So kann auch kein neues Fachwissen erzeugt werden, ohne dass epistemische Eigenschaften und Fähigkeiten aktiviert werden. Genauso ist es unmöglich, das Neue mit dem Alten zu bezeichnen, ohne dass dabei Inadäquatheit und Kommunikationsstörungen hergestellt werden (vgl. F. GRUCZA 2008: 22). Neues Fachwissen erfordert mit einem Wort neue Möglichkeiten, es mental zu erfassen und ← 15 | 16 → ggf. nach außen zu kommunizieren. Solche Möglichkeiten liefert ohnehin die Konstruktion von Fachlexemen.

***

Diese Arbeit ist auf einem Grundsatz gestützt, der nicht nur als Ausgangspunkt für die Reflexion über die Konstruktion der Fachlexeme, sondern auch als Grundstein zu verstehen ist, ohne dessen die im dritten Kapitel präsentierte Diskussion sowie die in weiteren Kapiteln vorgenommene Deutung der Designate des Ausdrucks ‚Fachneulexem‘, falsch oder gar völlig missverstanden werden können. Ohne diesen Grundstein lassen sich außerdem weder die Hypothesen noch die Methodik nachvollziehen. Beide sind idiozentrisch profiliert, woraus das induktive Schließen resultiert. Bezweckt wird anagnostisches und diagnostisches Wissen. Vom prognostischen Wissen, das den Forschungsergebnissen ohnehin zu entnehmen ist, wird hier prinzipiell abgesehen.

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2. Subjekt und Objekte der Erkenntnisarbeit

Bei der Auseinandersetzung um die menschliche Erkenntnisarbeit, wenigstens in dem Aspekt, unter dem sie in dieser Arbeit erläutert wird, sollen von vornherein notwendige Konstituenten berücksichtigt werden, die es möglich machen, dass eine bestimmte, zeitlich beschränkte Erkenntnisarbeit überhaupt eintreten kann. Genannt seien in erster Linie das ‚wer‘, d. h. das Subjekt, und die Erkenntniserfahrung, die ontogenetisch ‚gesammelt‘, epistemisch verarbeitet und im jeweiligen (Fach-)Gebiet — etwa bei der Konstruktion der (Fach-)Lexeme gezielt im internen (Fach-)Wissensrahmen — verbegrifflicht wird (s. Deutung der Wissensrahmen bei BUSSE 2009b: 85). So wie es keine Erkenntnisarbeit ohne Subjekt und seine Erkenntniserfahrung gibt (vgl. GIPPER 1987: 14 nach KANTs Kritik der reinen Vernunft 1787), so gibt es auch keine Erkenntniserfahrung, ohne dass eine bestimmte Erkenntnisbasis vorhanden ist, welcher interozeptive, exterozeptive und neuronale Stimuli zugrunde liegen (s. neurobiologische Veranlagung bei NORTHOFF 2013: 173–175, s. a. 2.2).

Das Subjekt, die Erkenntniserfahrung und die Erkenntnisbasis sind mithin die unveräußerlichen Voraussetzungen für die menschliche Erkenntnisarbeit überhaupt (2.2 u. 2.3). Was man von der Erfahrung und Basis der Erkenntnisarbeit zuallererst sagen kann, ist dies die Tatsache, dass sowohl das eine als auch das andere konkretes Wissen ist, das ontologisch jeweils individuell fundiert ist (vgl. BAUDOUIN DE COURTENAY u. a. 1904: 10, 29, SZOBER 1924: 1, F. GRUCZA 1983: u. a. 303, 2012b: 304–308, FILLMORE 1982: 112). Ohne individuelles Wissen kann bekanntlich gar keine Erkenntnisarbeit ausgeführt werden, und das sowohl auf der Ebene der perzeptiven als auch der epistemischen Wissensverarbeitung. Will nun das Subjekt ein bestimmtes Erkenntnisergebnis erzielen (2.7), so wird es dabei auch seinem Wissen nicht entgehen können; dem Wissen, das übrigens in der Zeit quantitativ und qualitativ variiert. Das aktuelle Wissen des Subjekts ist mithin die Grundlage, die es befähigt, epistemisch zu handeln.

Die Erkenntnisarbeit an einem Erkenntnisergebnis und genauer die gezielten Erkenntnisakte (nach F. GRUCZA 2012b: 299, s. a. 2.6), mit denen wir bei der Konstruktion der Fachlexeme zu tun haben, implizieren außer den bereits genannten auch weitere Konstituenten, nämlich einen klar umrissenen Erkenntnisgegenstand (2.1) und ein zumindest genauso klar festgelegtes Erkenntnisziel (2.5). Ist nun ein Subjekt zur Zeit der Erkenntnisarbeit darum bemüht, ein (wissenschaftlich) begründetes Erkenntnisziel zu erreichen, dann soll es zuallererst das ‚was‘, d. h. konkrete Objekte, definieren, und das sowohl ← 17 | 18 → in Bezug auf den eigentlichen Gegenstand als auch mit Blick auf das eigentliche Ziel der Erkenntnisarbeit. ‚Wie‘ das Subjekt dabei verfahren wird, und zwar, welchen methodischen Prinzipien es seine Erkenntnisarbeit unterordnet (s. etwa SCHUMANN 2013: 204), hängt jeweils davon ab, aus welcher Perspektive an das Erkenntnisziel herangegangen wird. Die gezielten Erkenntnisakte, die es auszuführen sucht, sollten deshalb gleich zu Beginn der Erkenntnisarbeit epistemisch unmissverständlich profiliert sind, d. h. sie sollten aus einer ‚definierten‘ Erkenntnisperspektive ausgeführt werden (vgl. PAWłOWSKI 2012a: 260, 2015b: 79–80, s. a. 2.4), damit das Erkenntnisergebnis, hier: Fachneulexem, von der Fachschaft als Erkenntniserfolg, hier: Fachneologismus, akzeptiert und von einem zuständigen Normungsausschuss eventuell als neuer Terminus sanktioniert werden kann (4.2.3 u. 4.6).

Dass mit einem Erkenntnisergebnis nicht unbedingt und nicht notwendigerweise ein neues Sprachwissen generiert ist, wird noch an einigen Beispielen nachzuweisen sein. Werden dagegen Fachneologismen intendiert, so ist unter anderem die sogenannte „fachliche Formationskompetenz“, hier: Konstruktionskompetenz, unerlässlich (s. specjalistyczna kompetencja formacyjna bei S. GRUCZA 2013a: 109–113, s. a. 4.2.2), ohne deren die epistemische Konstruktion der neuen Fachelemente im Allgemeinen, und die epistemische Konstruktion der Fachneulexeme im Besonderen, ganz und gar unmöglich ist (zur detaillierten Unterscheidung zw. Fachelement, Fachlexem, Fachneulexem, Fachneubedeutung, Fachneologismus etc. s. Kap. 2.7).

Im folgenden Kapitel wird auf die grundlegenden Aspekte der sprachlichen Erkenntnisarbeit eingegangen, die der Konstruktionskompetenz zugrunde liegen. Zu reflektieren seien entsprechend: Erkenntnisgegenstand, Erkenntnisbasis, Erkenntniserfahrung, Erkenntnisperspektive, Erkenntnisziel, Erkenntnisakt und Erkenntnisergebnis. Ergebnisse dieser Reflexion stellen eine Grundlage für die idiozentrische Forschungsperspektive dar, die in dieser Arbeit vertreten und verfolgt wird. ← 18 | 19 →

2.1 Erkenntnisgegenstand

Die linguistisch geprägte Reflexion über den Erkenntnisgegenstand lässt neben dem offensichtlichen ‚was‘ auch, oder besser gesagt vor allem, das eigentliche ‚wer‘ der Erkenntnisarbeit hervorheben.

Details

Seiten
475
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631715529
ISBN (ePUB)
9783631715536
ISBN (MOBI)
9783631715543
ISBN (Hardcover)
9783631715512
DOI
10.3726/b10661
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Januar)
Schlagworte
Erkenntnisarbeit Neologismus Terminus Fachlexik Neuerung Byzantinistik
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 475 S., 2 s/w Abb., 8 s/w Tab.

Biographische Angaben

Grzegorz Pawłowski (Autor:in)

Grzegorz Pawłowski arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Angewandte Linguistik der Universität Warschau, Institut für Fach- und Interkulturelle Kommunikation. Er studierte Germanistik an der Universität Luxemburg und an der Katholischen Universität zu Lublin. Seine Forschungsschwerpunkte sind (Fachsprachen-)Semantik, (Fachsprachen-)Kommunikation, Angewandte und Kontrastive Linguistik.

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