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Die Mitbestimmung des Betriebsrats bei Dienstkleidung

von Alexandra Borz (Autor:in)
©2017 Dissertation 296 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch untersucht die Mitbestimmung des Betriebsrats bei Dienstkleidung, welche angesichts steigender Anzahl betriebseinheitlicher Kleidervorgaben zunehmend an Bedeutung gewinnt. Bisher wurde die zwingende Beteiligung des Betriebsrats bei Einführung und Ausgestaltung einer Dienstkleidungsordnung sowie im Hinblick auf den arbeitszeitbezogenen Umkleidevorgang in erster Linie mit der Bedürfnisbefriedigung des Arbeitgebers und der damit entstehenden Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer begründet. Die vorgenommene Interessengewichtung erscheint unter Berücksichtigung der vermuteten Motivlage und der verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten unzureichend. Ziel der Autorin ist es, dem Ausmaß an mangelnder Argumentation in gerichtlichen Entscheidungen, verbunden mit dem pauschalen und einfach handhabbaren Verweis auf den Mitbestimmungszweck, mit einer angemessenen Untersuchung und Bewertung von Dienstkleidungsangelegenheiten entgegenzutreten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Teil. Einleitung
  • § 1. Problemstellung
  • I. Interesse des Arbeitnehmers
  • II. Interesse des Arbeitgebers
  • III. Lösung des Spannungsverhältnisses im Betriebsverfassungsrecht
  • § 2. Ziel der Untersuchung
  • § 3. Aufbau der Untersuchung
  • 2. Teil. Abgrenzung der Kleidungsarten
  • § 4. Arbeitskleidung
  • § 5. Berufskleidung
  • § 6. Schutzkleidung
  • I. Rechtsgrundlagen
  • II. Kostenverteilung
  • § 7. Dienstkleidung
  • I. Rechtsgrundlagen
  • II. Kostenverteilung
  • III. Zielvorstellung als Differenzierungsgarant
  • 3. Teil. Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats
  • § 8. Einführung und Ausgestaltung gemäß § 87 I Nr. 1 BetrVG
  • I. Grundlagen des Mitbestimmungsrechts
  • 1. Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich
  • 2. Tatbestandsvarianten
  • II. Teleologische Reduktion des Regelungsbereichs
  • 1. Eingeschränkter Wortlaut
  • 2. Explizite Normfassung
  • 3. Würdigung
  • 4. Ergebnis
  • III. Kleiderordnung als mitbestimmungsfreies Arbeitsverhalten
  • 1. Bestandsaufnahme
  • a) BAG vom 15.12.1961
  • b) BAG vom 08.06.1999
  • c) BAG vom 18.04.2000
  • d) BAG vom 13.02.2007
  • e) Ansicht von Kaiser
  • f) Zwischenergebnisse
  • 2. Beurteilungsmaßstäbe für das abzugrenzende Mitbestimmungsrecht
  • a) Zweckkopplung
  • b) Persönlicher Anwendungsbereich
  • c) Sachlicher Anwendungsbereich
  • 3. Würdigung
  • a) Objektiver Regelungszweck
  • b) Auswahl der dienstkleidungspflichtigen Arbeitnehmer
  • aa) Berufsfelder
  • bb) Leiharbeitnehmer
  • cc) Betriebsratsmitglieder
  • c) Inhaltliche Reichweite
  • aa) Erlass
  • bb) Gestaltungsmodalitäten
  • d) Zwischenergebnisse
  • 4. Ergebnisse
  • § 9. Umkleidezeit gemäß § 87 I Nr. 2 BetrVG
  • I. Grundlagen des Mitbestimmungsrechts
  • II. Kleiderwechsel als Erbringung der Arbeitsleistung
  • 1. Entwicklung der gegenwärtigen Rechtsauffassung
  • a) BAG vom 22.03.1995
  • b) BAG vom 11.10.2000
  • c) BAG vom 10.11.2009
  • d) BAG vom 17.01.2012
  • e) Zwischenergebnis
  • 2. Würdigung
  • a) Fremdnützigkeit auf dem Dienstweg
  • b) Fremdnützigkeit im Betrieb
  • aa) Ortsgebundene Umkleidepflicht
  • bb) Gestaltungsbedingungen des Kleiderwechsels
  • c) Zwischenergebnisse
  • 3. Ergebnisse
  • 4. Teil. Ausübung der Mitbestimmungsrechte
  • § 10. Initiativrechte
  • § 11. Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats gemäß § 50 I 1 Hs. 1 BetrVG
  • I. Grundlagen der Zuständigkeitsnorm
  • 1. Sachlicher Geltungsbereich
  • 2. Tatbestandsvoraussetzungen
  • II. Kleidervorgaben als unternehmenseinheitliche Regelung
  • 1. Einführung und Ausgestaltung
  • 2. Umkleidezeit
  • 3. Ergebnis
  • § 12. Regelungsbefugnis und Regelungsumfang der Einigungsstelle
  • § 13. Rechtsfolgen mitbestimmungswidrigen Verhaltens
  • I. Auswirkungen im Betriebsverhältnis
  • II. Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung
  • III. Ergebnisse
  • 5. Teil. Schranken der Mitbestimmungsrechte
  • § 14. Reichweite der Betriebsautonomie
  • I. Gesetzesvorrang und Tarifvorrang gemäß § 87 I Eingangssatz BetrVG
  • 1. Gesetzliche Regelungen
  • a) Verhältnis von Persönlichkeitsrecht und Mitbestimmungsrecht
  • aa) Unabhängigkeit der Rechtspositionen
  • bb) Exklusivität der Grundrechtsverletzung
  • cc) Würdigung
  • dd) Ergebnis
  • b) Staatliche Bestimmungen des Arbeitszeitrechts
  • 2. Tarifliche Vorschriften
  • 3. Ergebnisse
  • II. Arbeitgeberpflichten im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
  • 1. Benachteiligungsverbot gemäß §§ 7 I, 1 AGG
  • 2. Realisierung organisatorischer Schutzmaßnahmen gemäß § 12 I AGG
  • 3. Ergebnisse
  • § 15. Schutzauftrag und Förderpflicht des § 75 II 1 BetrVG
  • I. Grundlagen der freiheitssichernden Norm
  • 1. Sachlicher Geltungsbereich
  • a) Allgemeines Persönlichkeitsrecht
  • b) Erweiterter Regelungsinhalt
  • 2. Amtspflichten
  • 3. Rechtsfolgen des Normverstoßes
  • II. Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts durch Kleidervorgaben
  • 1. Verhältnismäßige Gestaltungsmodalitäten
  • 2. Korrekturmöglichkeiten von Überregulierungen?
  • a) Legitimer Zweck
  • b) Geeignetheit
  • c) Erforderlichkeit
  • d) Angemessenheit
  • aa) Freie Persönlichkeitsentfaltung des Arbeitnehmers
  • bb) Betriebliche Belange des Arbeitgebers
  • cc) Herstellung praktischer Konkordanz
  • e) Zwischenergebnis
  • 3. Ergebnisse
  • § 16. Unternehmensautonomie
  • I. Grenzuntauglichkeit
  • II. Letztverantwortlichkeit des Arbeitgebers
  • III. Würdigung
  • IV. Ergebnis
  • 6. Teil. Konkurrenz zu vertraglichen Regelungsinstrumenten
  • § 17. Arbeitsvertrag
  • § 18. Tarifvertrag
  • 7. Teil. Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis

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1. Teil. Einleitung

„An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, (…). (…) Das Fechten fiel ihm äußerst schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich, weil er über seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges war, einen weiten dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwarzem Sammet ausgeschlagen, der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh, zumal dessen lange schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig gepflegt waren und er sich blasser, aber regelmäßiger Gesichtszüge erfreute. Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne daß er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte; (…) lieber wäre er verhungert, als daß er sich von seinem Radmantel und von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte.“1 Am Ende der Novelle des Schweizer Dichters Gottfried Keller wird gegen den Schneidergesellen Wenzel Strapinski aufgrund seines „zweifelhaften“2 Auftretens ein rechtliches Verfahren vor Personen von höherem Rang eröffnet3. Für die Beteiligten stellte sich die Frage, ob Kleider Leute machen, das heißt, ohne Zutun des Betroffenen und/oder Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse eine standesgemäße Zuordnung, Verleihung einer Identität und Wertzuschreibung der Person ausschließlich erfolgen kann und darf. Der Radmantel des Wenzel Strapinski war demnach nicht nur ein Kälteschutz an einem ungemütlichen Herbsttag. Seine öffentliche Erscheinung ebnete ihm einerseits den Weg in eine höhere Gesellschaftsschicht; andererseits engte dieses Auftreten den Schneidergesellen in seiner freien Entfaltung und in seinem Umgang mit anderen Menschen ein. „(…) Also ging der Mantelträger ohne Widerspruch (…) dort hinein und schloß ordentlich hinter sich zu. Dort lehnte er sich bitterlich seufzend an die Wand und wünschte der goldenen Freiheit der Landstraße wieder teilhaftig zu sein, welche ihm jetzt, so schlecht das Wetter war, als das höchste Glück erschien. Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbsttätige Lüge, weil er in dem verschlossenen Raume ein wenig verweilte, und er betrat hiermit den abschüssigen Weg des Bösen.“4 Diese bereits 1874 von Keller illustrierte Zwiespältigkeit zwischen Freiheit und Einschränkung bei der Kleiderwahl prägt bis heute die gesellschaftliche Denkweise.

So empfiehlt gegenwärtig der Business-Knigge folgenden Orientierungsmaßstab für die erfolgreiche Beantwortung der Kleiderfrage im Geschäftsalltag eines Arbeitnehmers: „Es geht vor allem darum, was Ihr Betrachter von Ihnen denkt, wenn er Sie sieht. (…) Ich kann meine Kleidung also nutzen, um Botschaften zu senden. (…) Machen Sie nicht jede Mode mit, sondern finden Sie Ihren eigenen Stil (…).“5 ← 11 | 12 →

Es besteht, salopp formuliert, der Anspruch und zugleich die Erwartung, dass Kleider auch Betriebe machen, indem mit Hilfe der äußeren Erscheinung die eigens auferlegte Unternehmensphilosophie übermittelt und der gewünschte Wiedererkennungswert in der Gesellschaft erzeugt wird. Bei näherer Betrachtung des zu realisierenden unternehmensbezogenen Handelns des Personals zeigt sich die bereits in der Novelle konturierte Gegensätzlichkeit von Kleidung im Arbeitsleben: Es kann eine Diskrepanz zwischen der Individualität eines Arbeitnehmers und dessen Verpflichtung gegenüber dem Arbeitgeber bestehen. Wenn an den Mitarbeiter herangetragen wird, sich im Sinne seiner Umgebung und somit des von ihm repräsentierten Unternehmens zu kleiden, aber auch der eigenen Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen, begünstigt dies einen individuellen Konflikt des Betroffenen. Jener Zwiespalt kann sich sogleich auf den anderen Beteiligten und die Umwelt auswirken. Muss deshalb das Arbeitnehmerinteresse hinter den Vorstellungen des Arbeitgebers anstehen oder kann die Persönlichkeitsentfaltung der Angestellten auf Kosten des Betriebs Geltung erlangen? Inwieweit steht die Rechtsordnung, insbesondere das Betriebsverfassungsrecht, den Betroffenen als ebenso für den Schutz des Einzelnen verstandener „Radmantel“ zur Verfügung? In welchem Ausmaß kann die Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Betriebsrat zu einer für beide Seiten berechtigten Ausgleichslösung beitragen? Wie wird schlussendlich eine Vereinbarkeit der Gegensätze erreicht?

§ 1. Problemstellung

Das Arbeitsverhältnis prägt das Leben des Arbeitnehmers zu einem nicht unwesentlichen Teil und definiert dessen Persönlichkeit.6 Die Art und Weise, Arbeit zu leisten, wird so entscheidend für die Bestimmung des eigenen Selbstwertgefühls und der individuellen Wertschätzung, die der Mitarbeiter in seinem Lebenskreis erfährt.7 Die persönliche Kleiderwahl im Berufsleben kann diese Werte täglich maßgebend beeinflussen.

Demgegenüber hat der Arbeitgeber ein Interesse daran, dass Kleidungsvorschriften eingehalten und Grenzen des Individualinteresses, resultierend aus der Berufsausübung und dem Kundenkontakt, beachtet werden.8 Eine vom Arbeitgeber vorgegebene Einheitskleidung kann die „Visitenkarte“ des Unternehmens sein und als Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg, der die Gewinnchancen am Markt bestimmt, dienen.9 ← 12 | 13 →

Ausgehend von der Annahme des BAG10, dass das Arbeitsverhältnis die Person des Arbeitnehmers in seiner Gesamtheit erfasst, ist der Arbeitgeber angehalten, alles zu unterlassen, was die Würde des Betroffenen aus Art. 1 I GG und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit gemäß Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG einschränken kann. Dieses berechtigte Interesse des Arbeitnehmers kollidiert auf verfassungsrechtlicher Ebene mit der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers gemäß Art. 12 I GG, unabhängig und frei wirtschaftlich tätig zu werden.

I. Interesse des Arbeitnehmers

Wird eine Kleidungsregelung vom Arbeitgeber eingeführt, verändert sich der Arbeitsalltag der Arbeitnehmer sichtbar.11 Die einheitliche Kleidung wird von verschiedenen Mitarbeitern differenziert wahrgenommen und beurteilt.12 Ästhetische Einschätzungen haben deshalb sowohl unter den Arbeitnehmern als auch im Verhältnis zum Arbeitgeber Konfliktpotential.13 Die Bereitschaft zum Tragen der Kleidungsstücke ist abhängig von mehreren Faktoren, wie der Kleidung selbst, der betrieblichen Organisation und dem Verhalten Einzelner.14

Eine einheitliche Bekleidungsvorschrift stellt einen gezielten Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers dar, die Bekleidung nach eigenem Geschmack auszuwählen.15 Die Rechtfertigungsbedürftigkeit von entsprechenden Vereinbarungen, die aus verschiedenen Rechtsquellen resultieren können, hängt von der Intensität der Begrenzung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheit ab.16 Zur Sicherstellung der Freiheitsrechte der Arbeitnehmer dürfen aus diesem Grund keine bedeutsameren betrieblichen Interessen vorliegen, die stärker als individuelle Persönlichkeitsbelange zu gewichten sind. ← 13 | 14 →

II. Interesse des Arbeitgebers

Der Arbeitgeber kann allein über den öffentlichen Unternehmensauftritt bestimmen; der Arbeitnehmer muss sich in dieses gewählte Marketingkonzept einfügen.17 Das Image und die glaubhafte Darstellung des Unternehmens werden maßgeblich durch dessen Präsentation, unter anderem mithilfe des Erscheinungsbilds des Arbeitnehmers, verwirklicht.18 Das Verlangen nach einer unternehmenseinheitlichen Kleidung wird daher vielfach als Teil einer gemeinsam gelebten Unternehmensphilosophie, der Förderung der Corporate Identity und mit der Vermittlung von Kompetenzqualität und Servicequalität für den Kunden begründet.19 Zudem können durch einen solchen dominanten unternehmensspezifischen Auftritt neu eingestellte Mitarbeiter schneller und problemlos integriert werden.20 Letztendlich wird das äußere Auftreten der Arbeitnehmer somit zum Wettbewerbsfaktor für das Unternehmen.21

Die betroffene Berufsfreiheit des Arbeitgebers schützt eben diese Darstellung der unternehmerischen Tätigkeit in der Öffentlichkeit und mithin die Art und Weise der Berufsausübung im Sinne des Art. 12 I GG. Aufgrund dessen entsteht ein berechtigtes Arbeitgeberinteresse, die Störung des Betriebsfriedens zu verhindern und die damit einhergehende Gefahr einer nicht ordnungsgemäßen Erfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten abzuwenden. Hierbei handelt es sich zugleich um eine Ausformung des Organisationsrechts des Arbeitgebers im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Betriebs gemäß Art. 12 I GG und Art. 14 I GG.22

III. Lösung des Spannungsverhältnisses im Betriebsverfassungsrecht

Die Persönlichkeitsinteressen der Arbeitnehmer und die unternehmensbezogenen Werte der Arbeitgeber sind in Ausgleich zu bringen. Als geeigneter Anknüpfungspunkt dafür dient der Betrieb, weil der Arbeitnehmer in diesem seine vertraglich ← 14 | 15 → geschuldete Arbeitsleistung innerhalb einer vom Arbeitgeber vorgegebenen, geplanten und geleiteten Arbeitsorganisation erbringt23. Der soeben beschriebene Interessenkonflikt in Bezug auf eine betriebseinheitliche Kleidervorgabe wird daher seine Wirkung sachlich und persönlich in der Betriebsstätte entfalten. Demnach stellt das Betriebsverfassungsrecht für einen sachnahen Interessenausgleich einen, wenn nicht gar den entscheidenden Rechtsbereich dar. Es verspricht – zum einen durch die Berücksichtigung der Grundrechte und zum anderen im Rahmen der Mitbestimmung an sich – eine Auflösung des Spannungsverhältnisses mit Hilfe dieser Mechanismen.

Im Individualarbeitsrecht und im kollektiven Arbeitsrecht befürwortet der überwiegende Teil von Rechtsprechung und Lehre die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte.24 Durch die Abkehr von der Annahme einer unmittelbaren Grundrechtswirkung25 wird der Rechtsgehalt der Grundrechte vor allem über die Konkretisierung von Generalklauseln und der sonstigen wertungsoffenen Zentralbegriffe des bürgerlichen Rechts vermittelt.26 Ein Einfallstor für die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG und dessen weitere Spezifizierungen bildet § 75 II 1 BetrVG.27 Sinn und Zweck dieser Norm ist die freiheitssichernde Funktion, sowohl im gesetzlich legitimierten Bereich als auch in der freiwilligen nicht erzwingbaren Mitbestimmung.28 Dadurch erfolgt auf betrieblicher Ebene eine Abwägung zwischen den Grundrechten der Arbeitnehmer und den grundrechtlich geschützten Arbeitgeberwerten im Rahmen einer praktischen Konkordanz.29 ← 15 | 16 →

Neben diesem Interessenausgleich über den gesetzlich festgelegten Schutzauftrag und die Förderpflicht der Betriebsparteien aus § 75 II 1 BetrVG ist der Betriebsrat im Hinblick auf den gemeinsamen Abschluss einer Betriebsvereinbarung im Sinne von § 77 BetrVG möglicherweise mit der Aufgabe betraut, eine vom Arbeitgeber vorgelegte Kleiderordnung auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen und etwaige Unstimmigkeiten anzuzeigen. Die in Frage kommenden Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats sollen das Spannungsverhältnis nach Maßgabe einer repräsentativen Arbeitnehmerbeteiligung unter Einschränkung der Regelungsbefugnis des Arbeitgebers lösen.30 Im Falle einer Nichteinigung von Arbeitgeber und Betriebsrat besteht der vorstehend erörterte Anspruch im Rahmen der Ermessensausübung einer angerufenen Einigungsstelle gemäß § 76 V 3 BetrVG.

§ 2. Ziel der Untersuchung

Die Betriebsverfassung ist anlässlich aufkommender Reformbedürfnisse im Hinblick auf strukturelle betriebliche Veränderungen in den Jahren 1952 und 197231 umfassend weiterentwickelt worden und stellt sich heute als ein gewachsenes Regelwerk dar.32 Die aus diesen Gründen zuletzt vorgenommenen nachhaltigen Änderungen im Jahr 200133 umfassten Festschreibungen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts beziehungsweise Konkretisierungen zur Flexibilisierung einzelner Handlungsmöglichkeiten des Betriebsrats34. Im Rahmen dieser Erweiterung der Beteiligungsrechte ist ein gesteigertes Selbstbewusstsein der Betriebsräte zu verzeichnen, welches zu einer umfassenden Ausschöpfung der durch das Betriebsverfassungsgesetz eingeräumten Teilhabemöglichkeiten führt.35 Auf diese Weise wird die gleichsam gewünschte Machtbegrenzung des Arbeitgebers und damit die geforderte Stärkung der Betriebsräte36 umgesetzt.37 Die aufgeführten Zielrichtungen bedingen die vermehrte Anrufung der Einigungsstelle gemäß § 76 V BetrVG, die Einleitung arbeitsgerichtlicher Beschlussverfahren nach §§ 2a I Nr. 1, II, 80 ff. ArbGG sowie die Geltendmachung des einstweiligen Rechtsschutzes. Dabei wird auch deutlich, dass die rechtspraktische Bedeutung der Dienstkleidung im Arbeitsalltag ← 16 | 17 → zugenommen hat.38 Die mannigfaltigen Ausgestaltungsmöglichkeiten dieser Kleidungsart lassen im betriebsverfassungsrechtlichen Bereich und in Unternehmen ohne Betriebsrat verschiedene Regelungen einer Dienstkleidung entstehen. Ebenso fordert die Vielgestaltigkeit der Berufsbranchen von den Vereinbarungsadressaten der entsprechenden Maßnahmen betriebsbezogene Individualität zu realisieren. Anlässlich dieser Entwicklungen hat sich eine überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Lehre bezüglich etwaiger Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats im Rahmen des § 87 I BetrVG herausgebildet, welche umfassend und vollständig der Teilhabeförderung mittels des Betriebsverfassungsgesetzes Rechnung trägt. Demnach ist der Betriebsrat bei der Einführung39 und Ausgestaltung40 einer Dienstkleidungsordnung sowie im Hinblick auf den arbeitszeitbezogenen Umkleidevorgang41 zwingend zu beteiligen. Regelmäßig bezwecken diese Dienstkleidungsangelegenheiten ein einheitliches Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit und erfassen aus diesem Grund die kundenrepräsentativ tätige Belegschaft des Betriebs als Kollektiv. Insbesondere wird dabei auf die in erster Linie erfolgende Bedürfnisbefriedigung des Arbeitgebers durch Schaffung einer auf den Betrieb bezogenen Ordnungsregel verwiesen und insofern die Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer begründet. Dieses sich stetig wiederholende Begründungsmuster wirkt auffällig in Anbetracht dessen, dass die mit den rechtlichen Streitigkeiten befassten Institutionen gehalten sind, eine konkrete und einzelfallbezogene Entscheidung zu treffen. Die vorgenommene Interessengewichtung unter Zugrundelegung des betroffenen Arbeitnehmerverhaltens im Betrieb erscheint angesichts der vermuteten Motivlage und der verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten unzureichend. Es wird auf diese Weise der Eindruck erweckt, dass die Sachverhalte in ihrer rechtlichen Behandlung mittlerweile einer Allgemeingültigkeit unterliegen. Im Bereich der einheitlichen Bekleidungsvorschriften bedeutet dies eine restriktive Handhabung überwiegend aus Arbeitnehmersicht und damit eine vorschnelle Annahme etwaiger Beteiligungsrechte des Betriebsrats. Unberücksichtigt bleibt dabei stets eine etwaige Diskrepanz zwischen den Interessen des Einzelnen und denjenigen des Betriebsrats selbst. Womöglich stellen ← 17 | 18 → sich Arbeitnehmer vor, beispielsweise von Kleidungsvorgaben durch ihren Repräsentanten vollständig oder zumindest in der Ausgestaltung verschont zu bleiben. Die verfassungsrechtliche Prägung des Betriebsverfassungsgesetzes soll zwar eine Gefährdung der Arbeitnehmergrundrechte vermeiden, aber gleichsam darf dies nicht als Aufforderung zu einer intensiveren Beeinträchtigung der Einschätzungsprärogative des Arbeitgebers verstanden werden.42 Eine Verlangsamung des ökonomisch geprägten Bedürfnisses des Arbeitgebers nach einer effizienten, flexiblen und rationalen Gestaltung der innerbetrieblichen Entscheidungsprozesse durch die Mitbestimmung des Betriebsrats43 ist auch angesichts des zulässigen Teilhabegedankens zu verhindern. Daher ist es Ziel, dem vorliegenden Ausmaß an mangelnder Argumentation in gerichtlichen Entscheidungen, verbunden mit dem pauschalen und gleichzeitig einfach handhabbaren Verweis auf den Mitbestimmungszweck, mit einer angemessenen Untersuchung und Bewertung von Dienstkleidungsangelegenheiten entgegenzutreten.

Zur Klärung der vorstehend angeführten Problematik werden die vorhandenen Judikate und wissenschaftlichen Literaturbeiträge kritisch beurteilt, weitere untersuchungsbedürftige Aspekte aufgezeigt und diese im Hinblick auf die bestehende Interessenlage betrachtet. Die Berücksichtigung von betriebsverfassungsrechtlichen Vorgaben und gesellschaftlichen Anforderungen begründet die Notwendigkeit für Anpassungen und Empfehlungen zur praktischen Umsetzung von Dienstkleidungsangelegenheiten.

§ 3. Aufbau der Untersuchung

Nach der einleitenden Problemdarstellung wird nun im folgenden zweiten Teil der Untersuchungsgegenstand „Dienstkleidung“ konkretisiert. Die Kleidungsarten im Arbeitsleben sind dafür voneinander abzugrenzen und zu definieren.

Im dritten Teil, der einen Schwerpunkt der Bearbeitung bildet, wird untersucht, ob Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats alle Berufe und Gewerbe erfassen oder ob ein mitbestimmungsfreier Bereich besteht, in dem der Arbeitgeber allein und unabhängig über die Einführung und Ausgestaltung einer betriebseinheitlichen Kleidervorgabe entscheiden darf. Danach kann es sich in allen übrigen Fällen und im Hinblick auf den entsprechend notwendigen Kleiderwechsel um eine mitbestimmungspflichtige soziale Angelegenheit gemäß §§ 87 I Nr. 1, 2 BetrVG handeln. Bei der Darstellung des breiten Meinungsspektrums und dessen betriebsverfassungsrechtlicher Wertung muss die Vielzahl von Einzelfällen berücksichtigt werden. Im Gleichlauf mit der Frage nach dem Bestehen erzwingbarer Mitbestimmungsrechte ist zu erörtern, ob den Interessen der Arbeitnehmer und damit des Betriebsrats mit Hilfe der abgestuften Beteiligungsrechte ausreichend Rechnung getragen werden könnte. ← 18 | 19 →

Nach der Festlegung dieser generellen Beurteilungsmaßstäbe der Mitbestimmung des Betriebsrats wird darauf aufbauend im vierten Teil deren Durchführung betrachtet. Insbesondere handelt es sich dabei um folgende Aspekte: die Analyse des Umfangs vorliegender Initiativrechte, das Zuständigkeitsverhältnis von Einzelbetriebsrat und Gesamtbetriebsrat für eine etwaige betriebsübergreifende Kleiderordnung, die Befugnis und Reichweite der Regelungsmöglichkeit durch die Einigungsstelle sowie die Rechtsfolgen im Fall des mitbestimmungswidrigen Verhaltens der Betriebspartner.

Im Anschluss werden im fünften Teil die Grenzen, die dem Betriebsrat in der Ausübung der Mitbestimmungsrechte durch die Belange des Arbeitgebers gesetzt sind, erörtert. Im Rahmen dieses weiteren Schwerpunkts der Arbeit spielen der in § 87 I BetrVG angeordnete Gesetzesvorrang und Tarifvorrang, das Verhältnis von Mitbestimmungsrechten und Persönlichkeitsrechten sowie der Unternehmensgegenstand eine ausschlaggebende Rolle. Zur vereinfachten und praxisbezogenen Veranschaulichung dieser ausgewählten rechtlichen Vorgaben erfolgt die Darstellung anhand von regelmäßig in der Praxis verwendeten sowie untersuchungsrelevanten Formulierungen einer Dienstkleidungsordnung. Hierbei können nur diejenigen Regelungen herangezogen werden, welche eine Niederlegung in den jeweiligen Entscheidungsbegründungen der Rechtsprechung gefunden haben.

Bevor eine thesenhafte Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt, werden Leitlinien für die Auflösung eines denkbaren Konkurrenzverhältnisses zwischen abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen und etwaigen vertraglichen Gestaltungen in Form von Arbeitsvertragsregelungen oder Tarifvertragsklauseln entwickelt.


1 Keller, Die Leute von Seldwyla, S. 280.

2 Keller, Die Leute von Seldwyla, S. 324.

3 Keller, Die Leute von Seldwyla, S. 324.

4 Keller, Die Leute von Seldwyla, S. 284.

5 Quittschau/Tabernig, Business-Knigge, S. 34.

6 BAG 10.11.1955 BAGE 2, 221, 224.

7 BAG 10.11.1955 BAGE 2, 221, 224; BAG 27.02.1985 BAGE 48, 122, 131; LArbG Düsseldorf 14.11.2005 LAGE Nr. 2 zu § 87 BetrVG 2001 Betriebliche Ordnung, zu B. V. 2. b) der Gründe.

Details

Seiten
296
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631721131
ISBN (ePUB)
9783631721148
ISBN (MOBI)
9783631721155
ISBN (Paperback)
9783631721124
DOI
10.3726/b11020
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Kollektives Arbeitsrecht Dienstkleidungsarten Arbeitsleben Umkleidezeit Betriebsautonomie Kleiderordnung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 296 S.

Biographische Angaben

Alexandra Borz (Autor:in)

Alexandra Borz studierte Rechtswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist als Richterin tätig. Ihre Schwerpunkte sind europäisches und deutsches Arbeits- und Sozialrecht mit Fokus auf dem kollektiven Arbeitsrecht.

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