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Visualisierungen von Gewalt

Beiträge zu Film, Theater und Literatur

von Dagmar von Hoff (Band-Herausgeber:in) Brigitte Jirku (Band-Herausgeber:in) Lena Wetenkamp (Band-Herausgeber:in)
Konferenzband 252 Seiten

Zusammenfassung

Ästhetische Ausdrucksformen wie Literatur, Theater, Film aber auch vermehrt digitale Medien wenden sich dem Thema der Gewalt in all ihren ausdifferenzierten Wahrnehmungsformen zu. Dabei heben sie oftmals gewaltsam unterdrückte oder ausgegrenzte Diskurse hervor und fungieren gleichzeitig als Gewaltreflexion und Gewaltkritik. Gewalt setzt dabei eine Adressierung voraus und zielt auf den Zuschauer, der sich in diesem Gewaltgefüge verorten muss. Die einzelnen Beiträge des Bandes entschlüsseln die komplexen Konstellationen der unterschiedlichen Visualisierungen von Gewalt in filmischen und literarischen Narrationen und machen diese sichtbar.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Ambivalenzen der (De)Subjektivierung. Methodische Überlegungen zur Analyse von Gewaltdarstellungen (Sergej Seitz)
  • M – wie Menschenjagd. Fritz Langs filmische Gewaltreflexion (Dagmar von Hoff)
  • Zeuge seiner eigenen Handlungen werden: Über Joshua Oppenheimers The Act of Killing (2012) und The Look of Silence (2014) (Reinhold Görling)
  • Cary Fukunagas Film Beasts of No Nation – der Zuschauer und die destabilisierende Ambivalenz der Perspektive (Lena Seauve)
  • „An einem Tag wie jeder andere“ … in einem Film wie kein zweiter. Michael Hanekes Funny Games (1997) als Reflexion auf Gewalt, den Film und den Zuschauer (Günter Helmes)
  • „Alles, was ihr passiert, hat man so noch nicht im Kino gesehen.“ Verhoevens Elle und (vermeintlich) neue Perspektiven auf sexualisierte Gewalt (Urania Milevski)
  • Ambivalenz verspüren: Musik, Gewalt und der Körper in Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin und Anthony Burgess’ A Clockwork Orange (Beate Schirrmacher)
  • Zur Gewalt des Theatertextes. Elfriede Jelinek als „Triebtäterin“ (Artur Pełka)
  • Vom Zitat zur Resignifikation. Strukturelle und verbale Gewalt in Elfriede Jelineks Der Tod und das Mädchen III (Rosamunde) (Ana Giménez Calpe)
  • Akte der Gewalt: Zur paradoxalen Verkörperung von Tod auf der Bühne der Moderne (Nicole Haitzinger)
  • Zwischen Wunderblock und Diskursmaschinengewehr: Inszenierungen der Schrift in Marianne Fritz’ Dessen Sprache du nicht verstehst (Lukas Schmutzer)
  • Fiktionale Zeugnisse von Verlust und Trauer? Esther Dischereits Klagelieder über die Opfer des ‚Nationalsozialistischen Untergrunds‘ (NSU) (Anna Brod)
  • Tatort Schule. Über die Möglichkeiten der Narrativierung von Gewaltphänomenen in ausgewählten Prosatexten zum Thema Amok, Schulmassaker und School Shooting (Marta Wimmer)
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Vorwort

READING VIOLENCE – diesem Anspruch haben wir uns seit Jahren verschrieben. Immer wieder stellten wir uns dabei die Fragen: Kann man Gewalt überhaupt lesen? Sollte das Thema Gewalt Gegenstand eines interpretierenden Rezeptionsvorgangs werden? Und wenn ja, wie könnte eine tragfähige Lektüre konkret aussehen? Dass literarische Werke den Raum der Gewalt durchqueren, ist ein Allgemeinplatz. Ästhetische Ausdrucksformen wie Literatur, Film, aber auch vermehrt digitale Medien wenden sich dem Thema der Gewalt in all ihren ausdifferenzierten Wahrnehmungsformen zu. Gleichzeitig kann auch in den Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten eine verstärkte Hinwendung zu Fragen der Gewalt verzeichnet werden. Analysen zu Ursachen, Nachwirkungen und Ausformungen von Gewalt bilden dabei ein zentrales Forschungsfeld verschiedener Disziplinen, die vielschichtige und vielseitige Bereiche der Gewaltforschung umfassend abstecken. Auffallend ist dabei, dass sich die Schwerpunktsetzungen in den letzten Jahren verschoben haben: Die gegen Ende der 1990er Jahre einsetzende Diskussion in der Gewaltforschung stellte zu Recht die Frage, ob Ursachen von Gewalt überhaupt auszumachen sind, ob es weiterführend ist, nach den Gründen und Motiven von Gewalt zu fragen. Zum Beispiel etwa hat Wolfgang Knöbl, Nachfolger von Jan Philipp Reemtsma im Hamburger Institut für Sozialforschung, diesen Zusammenhang auf die treffende Formulierung gebracht: „Was – so die Kritiker einer auf Ursachensuche fixierten Mainstream-Forschungstradition – lerne ich über Gewalt, wenn ich weiß, dass soziale Ungleichheit in Gesellschaften ein besserer Prädikator für hohe Mordraten ist als etwa Armut […]. Die Antwort: Nicht viel!“1 Das Nachdenken über Ursachen und Motive von Gewalt zeigt demnach nicht, was Gewalt im Kern ausmacht, das heißt, wie der Akt der Gewalt sich vollzieht und wie die Gewalt zu beschreiben wäre. Vorrangig ist nicht mehr das Interesse und nicht mehr die Frage danach, was hinter Gewalthandlungen steht, sondern wie sich die Gewalt jeweils konkret darstellt und wie sie phänomenologisch zu fassen ist. Hinter diesem Perspektivenwechsel steht letztlich die Auffassung, dass Gewalt nicht begründbar sein muss, dass sie nicht aufgrund von verstehbaren und nachvollziehbaren Motiven verübt wird, sondern dass das Wesen der Gewalt besser erfasst werden kann, wenn die jeweiligen Ausgestaltungen von Gewalthandeln phänomenologisch entschlüsselt werden. Dieser sich in der ← 7 | 8 → Forschung vollziehende Paradigmenwechsel lässt sich auch in den ästhetischen Ausdrucksweisen von Literatur, Film und anderen Medien nachzeichnen. Auch im Kosmos der Literatur geht es nicht mehr nur in erster Linie darum, Motive der Gewalt zu präsentieren, sondern literarische Texte verfügen über das Potenzial, genau diese feinen Verästelungen der Gewalt figürlich und handlungsorientiert narrativ in Szene zu setzen. Ästhetische Ausdrucksformen können dem Phänomen der Gewalt in all seinen Ausdifferenzierungen habhaft werden, wenn sie Struktur und Organisation von Gewalt in Räumen und Systemen aufdecken, nach individueller Täter- und Opferschaft fragen und hierbei unterschiedliche und differente Perspektiven einnehmen. Der aktuelle literaturwissenschaftliche Diskurs zeichnet diese Literarisierungen und Visualisierungen von Gewalt nach. Auch für uns gilt: vordringlich nach dem „wie“ der Gewalt zu fragen, die genauen Ausformungen aufzudecken und darzulegen. Dies ist für uns: READING VIOLENCE.

Diesem Anspruch gehen die Autorinnen und Autoren dieses Bandes in Einzelanalysen nach und nehmen das destabilisierende Potential der literarischen und allgemeinen ästhetischen Ausdrucksformen in den Blick, widmen sich dabei aber immer auch der Frage, inwiefern ästhetische Prozesse selbst Duplikatoren und Produzenten von Gewalt sind. Die hier vorliegenden Beiträge gehen auf die Ergebnisse der Internationalen Tagung READing Violence: Ambivalenzen der Gewalt zurück, die vom 24.–26. Oktober 2016 an der Universitat de València stattfand. Dabei liegt der Fokus des Bandes auf Visualisierungen der Gewalt in Texten und Filmen aus dem 20. und 21. Jahrhundert.

Ästhetische Visualisierungen der Gewalt heben unterdrückte oder ausgegrenzte Diskurse hervor und können damit sowohl als Gewaltreflexion als auch Gewaltkritik fungieren. Die Beiträge von Sergej Seitz und Reinhold Görling zeigen, dass Gewalt immer eine Adressierung voraussetzt und damit auf den Zuschauer zielt. Damit führt die Ästhetik der Gewalt immer auch zu ethischen Fragen, bei denen das Spannungsfeld von Empathie und Mitgefühl eine wesentliche Rolle spielt. Zudem wird evident, dass die Kinematographie in der Lage ist, eine kritische Gewaltreflexion vorzunehmen. In den Studien von Dagmar von Hoff und Urania Milevski wird deutlich, wie eine spezifische Gewaltdynamik in filmischen Inszenierungen sichtbar wird. Gerade filmische Gewaltdarstellungen zielen dabei oftmals auf eine emotionale Beteiligung oder Überwältigung der Zuschauer, der sich im komplexen Gewaltgefüge verorten muss und teilweise durch die Kameraperspektive gezwungen wird, die Täterperspektive einzunehmen, wie es u.a. in den Beiträgen von Lena Seauve und Günter Helmes zum Ausdruck kommt. Aber auch unterdrückte Diskurse wie Phänomene der strukturellen Gewalt gegen Frauen, der marginalisierten Perspektiven der Betroffenen oder auch dem ← 8 | 9 → tabuisierten Diskurs über Tod und Sterben werden in den Beiträgen von Ana Giménez Calpe, Anna Brod und Nicole Haitzinger beispielhaft in den Blick genommen. Theaterinszenierungen und literarische Texte arbeiten ebenfalls mit diesen Mechanismen, wie die Beiträge von Artur Pełka und Lukas Schmutzer verdeutlichen. Dem Theater aber auch dem Film als Medienkombination stehen dabei unterschiedliche Verfahren zur Verfügung, Gewalt zu repräsentieren. So legt etwa der Beitrag von Beate Schirrmacher dar, wie Gewalt durch die Tonspur im Film verstärkt oder neu konnotiert wird. Mediale Repräsentationen von Gewalt verändern die Wahrnehmung der RezipientInnen und können damit für neue Gewalttaten prägend wirken, wie in der Analyse von Martha Wimmer zum Ausdruck kommt. Diese komplexen Konstellationen der unterschiedlichen Visualisierungen von Gewalt werden im Sinne eines READING VIOLENCE entschlüsselt und sichtbar gemacht.

Der vorliegende Band wurde gefördert vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amtes (AA), bei dem wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken wollen. Ebenso gebührt Natalie Wilke, Juanjo Monsell Corts und Susanne Manstein ein großer Dank für Korrekturen und die vorgenommene formale Anpassung der Beiträge.

Dagmar von Hoff, Brigitte E. Jirku, Lena Wetenkamp


1 Wolfgang Knöbl: Perspektiven der Gewaltforschung. In: Mittelweg 36 (Juni/Juli 2017) H. 3, S. 4–27, hier S. 5.

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Sergej Seitz

Universität Wien

Ambivalenzen der (De)Subjektivierung. Methodische Überlegungen zur Analyse von Gewaltdarstellungen

Abstract: The article investigates the relationship between violence, subjectivity, and representation. It reconstructs Emmanuel Levinas’s and Judith Butler’s approaches to violence and subjectivation in order to shed light on some of the methodical foundations of the analysis of literary representations of violence.

Einleitung: Zur Analyse von Gewalt und ihrer Darstellung – eine Frage der Methode?

Nicht erst seit der sogenannten „ethischen Wende“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften bildet das Problem des Verhältnisses von Gewalt und ihren (literarischen, künstlerischen, dokumentarischen und journalistischen) Darstellungsweisen einen zentralen Fokus kritischer Analysen.1 Angesichts der notorischen „Bilderflut“ und der gegenwärtigen Omnipräsenz von Gewaltdarstellungen in den sozialen Medien ist die Frage nach dem Status, der Bewertung und dem Umgang mit diskursiven und medialen Gewaltrepräsentationen gegenwärtig zweifelsohne von besonderer Dringlichkeit. Dabei scheint die Gewaltdarstellung heute, im Zeitalter digitaler technischer Reproduzierbarkeit und im Zuge der fortschreitenden Etablierung und Implementierung neuer medialer Distributions- und Repräsentationstechniken unvorhergesehene Formen anzunehmen und – in moralischer, sozialer und politischer Hinsicht – Effekte zu zeitigen, die nicht zuletzt nach geeigneten methodischen Zugängen, Beschreibungsmöglichkeiten und Problematisierungsweisen verlangen.

So werden wir im Kontext der Flüchtlingskrise, der Kriege in Syrien und im Irak sowie der terroristischen Anschläge in Europa, den USA und im Nahen Osten beinahe täglich mit neuen Darstellungen, Bildern und Narrativen der Gewalt und ← 11 | 12 → des Katastrophischen konfrontiert, die sich immer auch mit kulturellen, ethischen und politischen Problemlagen verknüpft erweisen.2 Dass dies auch noch für fiktionale Darstellungen gilt, zeigen nicht zuletzt die in den letzten beiden Jahrzehnten mit anhaltender Vehemenz geführten Debatten um die Frage, inwiefern Gewaltdarstellungen die Kraft und die Macht haben, unsere ethische und politische Sensibilität anzusprechen und aufzurufen, zu mobilisieren oder zu unterdrücken. Was hier zur Diskussion steht, sind gerade die Arten und Weisen, in denen reale und/oder fiktionale Gewaltdarstellungen daran mitbeteiligt sind, Affektivität, Empfänglichkeit und Aufmerksamkeit für das Leiden anderer zu lenken.3 Mit in den Blick kommt dabei das komplexe Verhältnis zwischen den diversen Phänomenen von Gewalt, wie sie in der sozialen Wirklichkeit auftreten, den medialen und literarischen Repräsentationen, Narrativierungsweisen und rhetorischen Figurationen von Gewalt sowie den Auswirkungen dieser Darstellungspraktiken auf deren Rezipient*innen.4

Kulturwissenschaftliche Analysen von Gewaltdarstellungen sehen sich darüber hinaus mit dem Problem konfrontiert, dass die verschiedenen Formen der jeweils dargestellten Gewalt stets in komplexer Weise mit einem Moment der Gewalt der ← 12 | 13 → Darstellung verknüpft sind.5 Denn latent ist Gewalt immer auch da am Werk, wo Ereignisse, Phänomene und Handlungen in einer spezifischen Weise gerahmt, perspektiviert und inszeniert werden, wodurch stets bestimmte Aspekte ausgeblendet und andere betont werden. So kann es in extremen Fällen eine spezifische Darstellungsweise sogar verunmöglichen, dass gewisse Existenzweisen überhaupt noch als ethisch relevante Subjekte bzw. als Menschen – und damit als mögliche Adressat*innen von Gewalt – zu erscheinen vermögen.6

Ich möchte in den folgenden Ausführungen auf einige methodisch-terminologische Grundlagen der Analyse von Gewaltrepräsentationen zu sprechen kommen und aufzuzeigen versuchen, inwiefern die Analyse von Gewaltphänomenen und -darstellungen auch etwas dazu beitragen könnte, die komplexen Mechanismen der Gewalt der Darstellung zu entschlüsseln. Dabei gehe ich davon aus, dass jedes Vorhaben einer Analyse literarischer und künstlerischer Gewaltdarstellungen in methodischer Hinsicht zwei unterschiedlich gelagerten Fallstricken bzw. Gefahren begegnet; und zwar einerseits der Gefahr, die Differenz zwischen der Gewalt und ihrer Darstellung herunterzuspielen (wodurch die Gewalt zu einem Text wird, der umstandslos gelesen werden kann); und andererseits der gegenläufigen Gefahr, diese Differenz als schlechthin unüberschreitbare festzuschreiben (wodurch die Gewalt als undarstellbare gedacht wird, die sich jeder möglichen Deutung und ‚Lektüre‘ entzieht). Im ersten Fall ließe sich von einer Textualisierung von Gewalt sprechen, im zweiten Fall von einer Hypostasierung von Gewalt.

In der Folge beziehe mich (1.) auf Judith Butlers und Emmanuel Levinas’ Denken der Gewalt, um deutlich zu machen, wie diese beiden Gefahren im Rahmen einer Analyse von Gewaltdarstellungen vermieden werden können. Denn in Auseinandersetzung mit den Positionen von Butler und Levinas lässt sich zeigen, dass Gewalt stets in komplexer Weise mit sprachlichen und repräsentativen Praktiken der Anrede und der Adressierung, der Verleihung und des Entzugs von Anerkennung sowie mit Momenten der Subjektivierung und der Desubjektivierung verbunden ist, ohne dass die Differenz zwischen Gewalt und Darstellung dabei verwischt würde. Um die Produktivität eines solchen Gewaltverständnisses für die Analyse von Gewaltrepräsentationen aufzuzeigen, rekonstruiere ich davon ausgehend (2.) Butlers an Levinas orientierte Konzeption einer Analyse der gewaltsamen Subjektivierungs- und Desubjektivierungsprozesse im Kontext gegenwärtiger medialer Gewaltdarstellungen. Abschließend möchte ich skizzieren, inwiefern ← 13 | 14 → (3.) das dargelegte Verständnis des Verhältnisses von Gewalt und Darstellung für literaturwissenschaftliche Herangehensweisen anschlussfähig sein könnte. Dazu beziehe ich mich exemplarisch auf Franz Kafkas Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ im Widerspiel der Lektüren von Adorno, Benjamin und Butler.

1. Gewalt und Adressierung bei Butler und Levinas

Obwohl Butler und Levinas ihre Thesen und Ausführungen zur Gewalt aus unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln und mit zum Teil beträchtlich divergierenden philosophischen wie auch ethisch-politischen Interessen artikulieren, lassen sich in ihren Analysen von Phänomenen der Gewalt doch eine Reihe von Übereinstimmungen aufweisen. Sowohl Butler als auch Levinas gehen davon aus, dass der Begriff der Gewalt aus seiner traditionellen dichotomischen Entgegensetzung zum Begriff der Sprache zu lösen ist. Während beispielsweise Hannah Arendt oder Jan-Philipp Reemtsma davon ausgehen, dass die Gewalt „nicht spricht“, wie Reemstma formuliert,7 und stumm ist, wie es bei Arendt heißt,8 machen sowohl Butler als auch Levinas geltend, dass weder von einer gänzlich sprachlosen, der symbolischen Ordnung schlechthin entzogenen Gewalt, noch von einer völlig gewaltlosen Sprache ausgegangen werden kann. Damit wenden sie sich zugleich gegen ein Verständnis, das Sprache und Gewalt im Sinne einer trennscharfen binären Opposition gegenüberstellt sowie gegen einen Gewaltbegriff, der die Wirkweise von Gewalt in erster Linie als Entsubjektivierung und Verdinglichung versteht.9 Denn eine Gewalt, die sich ohne jeden Bezug zur Sprache – und folglich ohne jeden Bezug zu unserer Seinsweise als sprachliche Wesen – vollzöge, würde denjenigen, den sie trifft, in der Tat umstandslos zum Objekt machen. Somit wäre die Gewalt eine bloße Geste der Objektivierung.

Entgegen diesem Gewaltverständnis lässt sich unter Rückgriff auf Butler und Levinas zeigen, dass gerade auch jenen Formen „stummer“ Gewalt, die ihre Adressat*innen scheinbar bloß noch zum Objekt degradieren, mithin entsubjektivieren und verdinglichen, strukturell ein Moment der Anrufung bzw. der Adressierung eingeschrieben ist, das stets einen (wenn auch minimalen) subjektivierenden ← 14 | 15 → Aspekt in sich trägt. Damit wird eine Perspektive auf Gewalt möglich, die deutlich zu machen vermag, inwiefern Gewalt stets in komplexer Weise sowohl mit Prozessen der sprachlichen Subjektivierung als auch der Desubjektivierung verbunden ist.

1.1 Butler: Sprachliche Gewalt, Hate Speech und das Moment der Adressierung

Details

Seiten
252
ISBN (PDF)
9783631747421
ISBN (ePUB)
9783631747438
ISBN (MOBI)
9783631747445
ISBN (Hardcover)
9783631717639
DOI
10.3726/b13369
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Film Theater Literatur Ambivalenz Körper Elfriede Jelinek
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 252 S., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Dagmar von Hoff (Band-Herausgeber:in) Brigitte Jirku (Band-Herausgeber:in) Lena Wetenkamp (Band-Herausgeber:in)

Dagmar von Hoff ist Professorin für Neuere Deutsche Literaturgeschichte mit dem Schwerpunkt Germanistische Medienwissenschaft und Ästhetik der textorientierten Medien am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren Forschungsgebieten gehören unter anderem Gewalt in der Literatur und anderen Medien, Intermedialität, Transmedialität und Filmphilologie. Brigitte E. Jirku ist Professorin für Germanistik an der Universität Valencia. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Gender Studies, Literatur von Frauen im 20./21. Jahrhundert, deutschsprachiges Gegenwartsdrama mit Schwerpunkt auf den Theatertexten von Elfriede Jelinek sowie Fragen von Macht, Gewalt und Grenzerfahrungen. Lena Wetenkamp ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die deutschsprachige Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, insbesondere Gegenwartsliteratur, Film, inter- und transmediale Fragestellungen.

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