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Simpliciana XXXVIII (2016)

von Peter Heßelmann (Band-Herausgeber:in)
©2016 Dissertation 644 Seiten
Open Access
Reihe: Simpliciana, Band 38

Zusammenfassung

Dieser Jahrgangsband der Simpliciana enthält 19 Vorträge, die während der interdisziplinären Tagung zum Thema «Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit» vom 23. bis zum 25. Juni 2016 in Oberkirch und Renchen gehalten wurden. Darüber hinaus fanden zehn weitere Beiträge Eingang in das neue Jahrbuch. In der Rubrik «Rezensionen und Hinweise auf Bücher» werden wie gewohnt Besprechungen von Neuerscheinungen zum simplicianischen Erzähler, zu weiteren Autoren und zur Literatur- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit veröffentlicht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Editorial
  • Beiträge der Tagung „Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“
  • Scham in Grimmelshausens Simplicissimus (Dirk Niefanger)
  • Kapitalverbrechen ohne Sühne. Grimmelshausens Olivier als „gottloser Machiavellist“ (Klaus Haberkamm)
  • Binarius der Spalter. Grimmelshausen und die Erbsünde (Friedrich Gaede)
  • Schuld und Schulden. Zu einem ökonomischen Faustbuch-Exkurs in der Schwarzkünstler-Episode des Simplicissimus Teutsch (Maximilian Bergengruen)
  • Gemäß dem Dekalog und den Artikelbriefen. Das Recht in Grimmelshausens Simplicissimus (Bodo Pieroth)
  • Alternative moralische Welten. Eine kulturvergleichende Sicht auf Grimmelshausen (Thomas Widlok)
  • „Viertens beichten wir dem Kirchen-Diener“. Der theologische Rahmen des Umgangs mit Schuld und Sühne im 17. Jahrhundert (Walter Sparn)
  • reatus culpae und macula peccati. Grenzen der sittlichen Befähigung des Menschen und Möglichkeiten der gratia Christi im Umfeld des Augustinus von Cornelius Jansenius (Tanja Thanner)
  • „Vitia sunt catenata“. Beispiele für ,Schuld und Sühne‘ in der barocken Theologie und im Werk Grimmelshausens (Ruprecht Wimmer)
  • Reue, Buße, Tod und Gnade. Zu Kalkül und Endlichkeit in Grimmelshausens Courasche und Vogel-Nest II (Eric Achermann)
  • Buß-Exzesse bei Grimmelshausen und die frühneuzeitliche Verrechtlichung des Gewissens (Franz Fromholzer / Jörg Wesche)
  • „[W]eil GOtt auch durch Sünder die Warheit zu reden […] pflegt.“ Überlegungen zur Dialektik von Sünde und Gnade in Grimmelshausens Das Wunderbarliche Vogel-Nest I (Peter Klingel)
  • „Zudem war ich allbereit ohne diß ungläublich curios worden“. Erzählen schuldhafter Verstrickung in die Welt in Grimmelshausens Vogel-Nest I (Miriam Seidler)
  • „Confessio“ oder „conversio“? Lyrische Buß-Konzeptionen bei Vetter und Spee – samt eines Ausblicks auf Grimmelshausen (Kai Bremer)
  • „A Second Voice“ in der Konfessionspolemik der Insel Felsenburg? Reue und Vergebung in Nevilles The Isle of Pines, Grimmelshausens Continuatio und Schnabels Wunderlichen Fata (Heiko Ullrich)
  • Schuld und Sühne in Schriftstellerautobiographien des 17. Jahrhunderts: Johann Valentin Andreae und Johann Beer (Dirk Werle)
  • Der Begriff der Schuld in Georg Philipp Harsdörffers Schauplatz-Anthologien (Victoria Gutsche)
  • Schuld und Sühne in Georg Philipp Harsdörffers Schauplätzen, exemplifiziert am Umgang mit Jean-Pierre Camus (Judit M. Ecsedy)
  • Schuld und Sühne in der Confessio peccatoris von Fürst Ferenc Rákóczi II. (Gábor Tüskés)
  • Weitere Beiträge
  • „Alt und baufällig“. Ein Vorgänger Grimmelshausens als Renchener Schultheiß (Martin Ruch)
  • Grimmelshausen, Luther und das Leiden der Kreatur. Die Schermesser-Episode als Diskursparodie (Thomas Borgstedt)
  • Simplicii Teilhabe an „Gottes ewiger Glory“. Grimmelshausen und die augustinische Gnadenlehre (Torsten Menkhaus)
  • Tod in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. Textanalytische Studien (Marie Baron)
  • Zur Kalender-Frage: Prenners Groß Planeten buoch (1590) eine mögliche Zwischenstation von Rößlins Kalender (1533) zu Grimmelshausens Ewig-währendem Calender (1670)? (Barbara Molinelli-Stein)
  • Die heilende Wirkung von Texten. Grimmelshausens Des Vortrefflich Keuschen Josephs in Egypten Lebensbeschreibung samt des Musai Lebens-Lauff (Helmut Aßmann)
  • Johann Joachim Christoph Bode als Leser von Grimmelshausens Simplicissimus in der Darstellung Karl August Böttigers (Hans-Joachim Jakob)
  • „Geisterphotos von der Wirklichkeit“. Courasches Fortleben bei Werner Fritsch (Dieter Martin)
  • „valide et varie delectat hic lusus“. Lateinische Chronogramme in Straßburger Drucken (1610–1627) von Brülow, Dannhauer, Gloner, Moscherosch und Polus (Michael Hanstein)
  • Gattungshybridisierung und Geschlechterausdifferenzierung in Hieronymus Dürers Schelmenroman Lauf der Welt und Spiel des Glücks (1668) (Maren Lickhardt)
  • Simpliciana Minora
  • Simplicissimus im Bamberger E. T. A. Hoffmann-Theater (Peter Heßelmann)
  • Regionales
  • Heimat- und Grimmelshausenmuseum Oberkirch (Martin Ruch)
  • Grimmelshausen-Gesprächsrunde in Oberkirch-Gaisbach (Peter Heßelmann)
  • Veranstaltungen in Renchen 2016 (Martin Ruch)
  • Ausstellung „Bärenhäuter 17 + 17“ von Volker Henze in Sasbachwalden (Martin Ruch)
  • Grimmelshausen-Gedenkstein in Bad Peterstal-Griesbach aufgestellt (Peter Heßelmann)
  • Rezensionen und Hinweise auf Bücher
  • Claus von und zu Schauenburg: Teutscher Friedens-Raht. Kommentierte Edition der von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen redigierten Ausgabe von 1670. Hrsg. von Dieter Breuer, Peter Heßelmann und Dieter Martin. (Bianca Hufnagel)
  • Rainer Hillenbrand: Fiktionale Leserlenkung in Grimmelshausens „Ewig-währendem Calender“. (Helga Meise)
  • Torsten Voß: Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J. M. R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch. (Peter Heßelmann)
  • Carolin Struwe: Episteme des Pikaresken. Modellierungen von Wissen im frühen deutschen Pikaroroman. (Peter Heßelmann)
  • Stefan Manns: Grenzen des Erzählens. Konzeption und Struktur des Erzählens in Georg Philipp Harsdörffers „Schauplätzen“. (Hans-Joachim Jakob)
  • Gonsalv K. Mainberger: Die französische Gelehrtenrepublik zur Zeit der Frühaufklärung. (Torsten Menkhaus)
  • Volker Hagedorn: Bachs Welt. (Klaus Haberkamm)
  • Mitteilungen
  • Neue Vortragsreihe der Grimmelshausen-Gesellschaft in Westfalen (Peter Heßelmann)
  • Bericht über die Tagung „Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“, 23.–25. Juni 2016 in Oberkirch und Renchen (Peter Heßelmann)
  • Protokoll der Mitgliederversammlung der Grimmelshausen-Gesellschaft am 25. Juni 2016 in Oberkirch
  • Einladung zur Tagung „Grimmelshausens Kleinere Schriften“, 23.–25. Juni 2017 in Gelnhausen (Peter Heßelmann)
  • Ankündigung der Tagung „Geld. Interdiskursive Ökonomien bei Grimmelshausen“, 07.–09. Juni 2018 in Bochum (Nicola Kaminski / Jörg Wesche)
  • Anhang
  • Beiträger Simpliciana XXXVIII (2016)
  • Simpliciana und Beihefte zu Simpliciana. Richtlinien für die Druckeinrichtung der Beiträge
  • Bezug alter Jahrgänge der Simpliciana
  • Grimmelshausen-Gesellschaft e. V.
  • Beitrittserklärung
  • Reihenübersicht

Editorial

Dieser Jahrgangsband der Simpliciana enthält 19 Vorträge, die während der interdisziplinären Tagung zum Thema „Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ vom 23. bis zum 25. Juni 2016 in Oberkirch und Renchen gehalten wurden. Darüber hinaus fanden zehn weitere Beiträge Eingang in das neue Jahrbuch. In der Rubrik „Rezensionen und Hinweise auf Bücher“ werden wie gewohnt Besprechungen von Neuerscheinungen zum simplicianischen Erzähler, zu weiteren Autoren und zur Literatur- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit veröffentlicht.

Unsere nächste Tagung, die vom 23. bis zum 25. Juni 2017 in Gelnhausen stattfinden wird, konzentriert sich auf Grimmelshausens „Kleinere Schriften“. Die Einladung und das Tagungsprogramm sind in diesem Jahrbuch in der Rubrik „Mitteilungen“ abgedruckt. Mit der Einladung zur Tagung verbinde ich wiederum den Wunsch, zahlreiche Mitglieder der Grimmelshausen-Gesellschaft und weitere Gäste im Juni in Grimmelshausens Geburtsstadt begrüßen zu können.

Im Juli 2017 wird die Grimmelshausen-Gesellschaft auf 40 Jahre ihres Bestehens zurückblicken können. Ihre Satzung wurde in Münster am 14.07.1977 von Günther Weydt, Rolf Tarot, Friedrich Gaede, Hans Geulen, Italo Michele Battafarano, Klaus Haberkamm, Gisela Noehles, Ruprecht Wimmer, Manfred Schier, Egon Lorenz und Erich Graf unterzeichnet. Es steht außer Zweifel, dass seit dieser impulsgebenden Gründung die Grimmelshausen-Forschung und darüber hinaus die Forschung zur Literatur der Frühen Neuzeit enorme Fortschritte erzielt haben. Die Grimmelshausen-Gesellschaft hat sich seither zu einer der bedeutendsten literarischen Gesellschaften in Deutschland entwickelt. Die Simpliciana sind zu einer literaturwissenschaftlichen Zeitschrift mit internationalem Renommee geworden.

Vom 07. bis zum 09. Juni 2018 wird die Grimmelshausen-Gesell-schaft in Bochum eine Tagung zum Thema „Geld. Interdiskursive Ökonomien bei Grimmelshausen“ veranstalten. Der Ankündigungstext befindet sich ebenfalls in der Rubrik „Mitteilungen“. Vortragsangebote nehmen die Tagungsorganisatoren Nicola Kaminski, Robert Schütze und Jörg Wesche gerne entgegen. ← 11 | 12 →

Wilhelm Kühlmann, Vorstandsmitglied der Grimmelshausen-Gesellschaft, beging im März 2016 seinen 70. Geburtstag. Ihm gebühren der Dank für seine langjährige Tätigkeit im Vorstand und nachträglich ein herzlicher Glückwunsch. Fritz Heermann, Kassenprüfer der Grimmelshausen-Gesellschaft und viele Jahre Organisator und Leiter der Grimmelshausen-Gesprächsrunde im „Silbernen Stern“ zu Oberkirch-Gaisbach, erhielt Anfang Januar 2017 für sein kulturelles Engagement den von der Stadt Oberkirch verliehenen Grimmelshausen-Kulturpreis. Die Grimmelshausen-Gesellschaft dankt ihm für seinen unermüdlichen Einsatz und gratuliert herzlich.

Münster, im Januar 2017

Peter Heßelmann

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BEITRÄGE DER TAGUNG „SCHULD UND SÜHNE IM WERK GRIMMELSHAUSENS UND IN DER LITERATUR DER FRÜHEN NEUZEIT

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DIRK NIEFANGER (Erlangen)

Scham in Grimmelshausens Simplicissimus

Unzweifelhaft dürfte für die Frühneuzeitforschung inzwischen sein, dass Grimmelshausens Simplicissimus auch außerhalb theologischer Diskurse diskutierbar ist. Wer den Roman auf eine christliche Bekennergeschichte reduziert, missversteht schlicht seine immer wieder betonte Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit. Nicht zuletzt Grimmelshausens „Ideal des ‚sinnreichen Poeten‘, des Erzählens auf mehreren Sinnebenen“1 lässt es keineswegs zu, eine theologische Lektüre des Romans als einzig glaubhafte herauszustellen. Dies gilt natürlich auch für die Verhandlung von Schuld und Sühne in der Lebensgeschichte des Simplicius. Schuld muss hier nicht immer in Relation zu theologisch gedeuteter Gnade und möglicher innerer Umkehr gesetzt werden, sondern enthält selbstverständlich ganz weltliche Momente (juristische, anthropologische, politische, ,policeyliche‘, militärische, philosophische und viele mehr), die in nicht wenigen Passagen des Simplicissimus das Verständnis primär sichern. Dass die weltlichen Momente immer – wenn auch nicht immer evident – im Rahmen einer theologischen Weltsicht verstanden werden können, mag dabei genauso eine Binsenweisheit sein, wie die Erkenntnis, dass religiöse Überlegungen unabhängig von sozialen Praktiken und emotionalem Befinden im Simplicissimus überhaupt nicht vorkommen. Den Roman also als verkapptes Traktat zu lesen, aus dem man unabhängig von fiktionalem Setting und erzählter Handlung (relativ beliebig) religiöse Positionen herausfiltern kann, erscheint mir daher der falsche Weg einer ideengeschichtlich überinspirierten Forschung zu sein. Grimmelshausen-Philologie ist keine „verborgene Theologie“,2 heute schon gar nicht und bestimmt nicht im dogmatischen Sinn. Den Komplex ‚Schuld und Sühne‘ innerhalb eines ← 15 | 16 → sich ausdrücklich interdisziplinär verstehenden Kontextes3 daher einmal nicht aus primär theologischer, sondern probeweise aus Sicht einer Literaturwissenschaft zu diskutieren, die sich an der historischen bzw. literarischen Anthropologie4 orientiert, erscheint mir angesichts der in diesem Band der Simpliciana dominant theologisch inspirierten Literaturlektüren nicht nur statthaft, sondern ein geradezu notwendiges Experiment.

Manchmal verwundert es selbst eingefleischte Grimmelshausen-Leser, dass Phänomene im Simplicissimus beschrieben werden, die man für eine modische Angelegenheit unserer Tage gehalten hat. Das Fremdschämen in der Sauerbrunnenepisode mag man hierzu rechnen. Dort wird uns erzählt, dass Simplicissimus mit einer „schöne[n] Dame/ die sich vor eine von Adel außgab“ (ST 467)5 anbändelte, ohne sich der daraus resultierenden Konsequenzen bewusst zu sein; gemeint ist die Courage. Als sie es unentwegt „[…] mit Bezeugungen ihrer brennenden Affection“ übertrieb, beklagt unser Held, dass „ich mich beydes vor mich und sie schämen muste“ (ST 468, vgl. C 131–134). Tatsächlich sind wir gewohnt, Schamempfinden insgesamt für ein modernes Phänomen zu halten, das ein verfeinertes Gespür für soziale Regeln und subtil codierte Normen des gesellschaftlichen Umgangs voraussetzt. Es scheint notwendig, um Konflikte in der komplexer werdenden Welt zu vermeiden, indem „Fremdzwänge in Selbstzwänge umgewandelt werden.“6 Die Vorstellung einer immer komplizierter werdenden sozialen ← 16 | 17 → Umgebung, die von den Menschen ein entsprechend komplexes, aber in Bezug auf Gewalt und körperliche Übergriffigkeit präventives, vor allem eindämmendes Benehmen7 abverlangt, geht auf Norbert Elias folgenreiche Studie Über den Prozeß der Zivilisation (11939) zurück. Entsprechend beginnt das viel zitierte Kapitel „Scham und Peinlichkeit“ mit folgender These:

Nicht weniger bezeichnend als die „Rationalisierung“ des Verhaltens ist für den Prozeß der Zivilisation zum Beispiel etwa auch jene eigentümliche Modellierung des Triebhaushaltes, die wir als „Scham“ und „Peinlichkeitsempfinden“ zu bezeichnen pflegen.8

So sehr wir einerseits die These von der Anpassung unserer Verhaltensnormen an eine vieldimensionaler werdende Welt im Grunde unseres Herzens verinnerlicht haben, so pflichtgemäß verlangen die komplexen Codes wissenschaftlichen Umgangs heute, die Thesen von Norbert Elias entscheidend zu differenzieren. So sucht der Ethnologe Hans-Peter Duerr in seiner 3500 Seiten starken Elias-Kritik den „Mythos vom Zivilisationsprozess“ offen zu legen. Historisch und vor allem ethnologisch seien die Thesen des Soziologen nicht zu halten.9

Anders als Elias sieht er ‚Scham‘ nicht als Effekt einer historischen Ausdifferenzierung. Im Gegenteil, Scham sei „kulturgeschichtlich ubiquitär, wahrscheinlich sogar eine anthropologische Konstante“.10 Ihm antworten Historiker und Soziologen; ein regelrechter „Streit um die Scham“ tobt fortan zwischen den Disziplinen.11 Dass dieser Streit längst auch die Literaturwissenschaften erreicht hat, versteht sich von selbst.12 ← 17 | 18 →

Sicher, ein Blick in Grimms Wörterbuch hätte gereicht, um viele Belege einer Verwendung von Begriffen wie ‚Scham‘ und ‚schämen‘ schon im deutschen Mittelalter nachweisen zu können.13 Nicht zuletzt der vor ein paar Jahren erschienene Sammelband „Scham und Schamlosigkeit“ zeigt zudem, dass es „Grenzverletzungen“ schon in der „Literatur und Kultur der Vormoderne“ gegeben hat.14 Einer der markantesten Nachweise dürfte in der „Zugab des Autors“ (C 150) am Ende der Courasche zu finden sein und er ist trotz aller Vorbehalte gegen Elias im Sinne der Zivilisationsthese recht einleuchtend interpretierbar, zumindest wenn man dessen phylogenetischen Ansatz ontogenetisch umdeutet. Denn Grimmelshausens Werk sähe er vermutlich eher an der Schwelle zur Moderne, denn als Zeugnis einer vollendeten Zivilisierung. Jedenfalls warnt die Autorfigur in ihrem „Zusatz“ vor den Folgen von Verhaltensweisen, die den Regeln, Werten und Normen der Gesellschaft nicht entsprechen, so dass das Schämen als Indikator eines individuellen Zivilisationsprozesses gelesen werden kann:

Da wird man erst gewahr/ aber zu spat/ was man an ihnen gehabt/ wie unflätig/ wie schändlich/ laussig/ gründig/ unrein/ stinckend/ beydes/ am Athem/ und am gantzen Leib/ wie sie inwendig so voll Frantzosen/ und auswendig voller Blattern gewesen/ daß man sich endlich dessen bey sich selbsten schämen muß/ und offterrmals viel zu spat beklagt. (C 150–151)

Ein solches Resümee zeichnet im Prinzip auch den Simplicissimus aus. Doch gilt: Erst das Verhalten, über das sich Simplex schämen muss, weil es für alle sichtbar ist, macht das eigene Leben einerseits exemplarisch und zwingt andererseits dazu, es poetisch in didaktischer Absicht zu rechtfertigen. Die Blattern, den stinkenden Atem und den verbrauchten Leib als Zeugnisse des falschen Lebens finden wir ja beim Simplicissimus wie bei der Courage. Also führt nicht so sehr die aufgeladene Lebensschuld zur Abfassung der Lebensgeschichte, sondern das Schämen über diese. Insofern hat es als Befinden der Unrichtigkeit des eigenen Lebens und Handelns bei Grimmelshausen zweifellos eine hohe narratologische, nämlich das Erzählen begründende und dieses formende Valenz. ← 18 | 19 →

Doch kehren wir noch einmal zur historischen Verortung des Schämens zurück, die bei Elias so markant wie heute umstritten ist. Um sie in Frage zu stellen, braucht man im Grunde nur an den christlichen Gründungsmythos der Menschheit oder an Platons Protagoras erinnern.15 Die historischen und ethnologischen Argumente für ein vornehmlich anthropologisch situiertes Schamempfinden, das sich nur je anders – sozial, religiös, regional oder auch persönlich – manifestieren kann, sind inzwischen so virulent, dass man kaum wagt, Elias und seine Verfeinerungsthese zu verteidigen oder als – freilich variierten – Lektüre-Zugang, wie eben angedeutet, zu nutzen.

Analoges gilt natürlich auch für Ruth Benedicts bekannte Japan-Studie Chrysantheme und Schwert (1946), auf die die Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen zurückgeht.16 Bis heute beziehen sich zwar viele Studien und noch mehr Hobbyethnologen auf diese eingängigen Kategorisierungen, doch werden sie meist ausdrücklich – wie von Claudia Benthien – „nur als heuristische Modelle verstanden“.17

Es ist hier sicherlich auch nicht der Ort, in die Scham-Debatte einzugreifen, doch sei zumindest in Erinnerung gerufen, dass Elias „Selbstzwänge“ wie die Scham auch „schon auf einfacheren Stufen der Gesellschaftsentwicklung zu finden“ glaubt; diese würden nur „mit jedem Zivilisationsschub stärker“ hervortreten.18 Nun bin ich kein Freund teleologischer Vorstellungen, schon gar nicht im Bereich des Historischen, doch wird man kaum bestreiten, dass Scham im Barock auch deshalb anders empfunden wurde als heute, weil im 17. Jahrhundert die „Angst vor der sozialen Degradierung“, die Elias als Moment des Schamgefühls ausmacht, weniger relevant war. Denn soziales Denken war zu jener Zeit – wie Paul Münch es etwa hervorhebt – bestimmt durch stabile Vorstellungen einer göttlich legitimierten Ordnung, in der jeder seinen ihm zugewiesenen Platz auszufüllen hat. Idealiter ging es deshalb nicht um Aufstieg oder Abstieg in einer stratifikatorisch verfassten Gesellschaft, sondern um gute Anpassung an eine zugewiesene ← 19 | 20 → Rolle. Eine primitivere Gesellschaft würde ich im 17. Jahrhundert aber deshalb natürlich nicht erkennen wollen,19 eine andere sehr wohl.

Generell steht die Scham in einem nicht ganz einfachen Verhältnis zu Schuld und Sühne, denn das Schamempfinden erscheint anders als das Schuldempfinden als wenig steuerbares „leibliches Erleben“,20 während Schuld als Schuldgefühl zwar auch eine emotionale Dimension hat, als solche – im Sinne eines Deliktes oder einer religiösen Verfehlung – aber rationalisierbar bleibt. Damit ist freilich nicht gesagt, dass sich nicht über Schuldhaftigkeit streiten ließe; nur ist Schuld – anders als das Schuldempfinden und noch mehr die Scham – relativ klar bestimmbar, wenn man Ursache und Rahmenbedingungen des zugrunde liegenden Vergehens kennt. Man könnte Schuld und Schuldempfinden sowie Schuld und Scham deshalb in einem „Ursache-Wirkungs-Verhältnis“ sehen. Es läge nahe, dann – wie Silvan Tomkins – Schuldempfinden und Scham als zwei „Darstellungsformen eines Gefühls“ zu fassen.21 Das eben zitierte Ende der Courasche lässt eine solche Interpretation durchaus zu. Doch gibt es offenbar ein rationales Schuldempfinden, das ohne Scham auskommt, und ein Schamempfinden, das nicht auf eingestandener Schuld beruht. Zwar stellt die Emotion Scham eine Reaktion auf ein wahrgenommenes sozial sichtbares Defizit dar; dieses muss aber keineswegs objektiv gegeben sein und muss auch nicht als ein solches rational erkannt werden. In Oliviers Lebensbeichte im vierten Buch des Simplicissimus findet sich ein Beispiel hierfür. Ich komme darauf zurück.

Wie kann man ‚Scham‘ dann aber sinnvoll fassen? Unterscheidbar sind generell wohl drei unterschiedliche Begriffsverwendungen. Man spricht von Scham (1) als tugendhaftem Empfinden,22 (2) als zierendem Verbergen23 und (3) als spezifischer Erregung, die eine Diskrepanz von ← 20 | 21 → Rollenerwartung und momentaner Erfüllbarkeit markiert. Sozialpsychologisch spricht man hier von Scham als einer „emotionale[n] Reaktion auf Kompetenzdefizite, fehlende Anerkennung und eigenes Ungenügen“.24 Nur um die Scham im dritten, letztgenannten Sinn, dessen Fassung heute am gebräuchlichsten ist, geht es im Folgenden.

Scham sei also als leibhaft erlebte und für andere sichtbare Emotion (vgl. ST 475) – frühneuzeitlich als Affekt – verstanden, die oder der ein persönliches Defizit gegenüber sozialen Erwartungen markiert. Diese Erwartungen können, müssen aber nicht aus theologischen Werten oder religiösen Normen erwachsen. Scham hat – als Defizitmarkierung – einen unaufhebbaren Bezug zu Schuld und Sühne, ohne notwendig und vor allem objektiv an sie gebunden zu sein. Das heißt, Scham kann eine sühneartige, emotional gesteuerte Reaktion auf Schuld sein – ohne Sühne im theologischen oder rechtlichen Sinn (Vergeltung, Wiedergutmachung usw.) zu sein; dabei kann die Schuld eingebildet oder von Dritten suggeriert werden, auch etwa um Scham als Reaktion hervorzurufen. Damit sind, denke ich, die anthropologischen und begrifflichen Grundlagen geschaffen, um einschlägige Passagen des Simplicissimus innerhalb der gewählten Perspektive besser verstehen zu können.

Krieg stellt die Ordnungen der Frühen Neuzeit nachhaltig in Frage; oder besser: er zeigt, dass die klare Zuordnung zu sozialen Rollen prekär geworden ist, sie sich als relativ erweist oder zumindest in ihrer Geltung in Frage gestellt werden kann. Solche Erfahrungen sozialer Verunsicherung erscheinen als wesentliches Moment des Simplicissimus-Romans. Insofern verwundert es kaum, dass sich hier recht viele Passagen finden, in denen Scham und Schämen ausdrücklich in Relation zu Rollenerwartungen thematisiert werden.

Das Wortfeld ‚Schämen‘ wird – wenn ich richtig gezählt habe – explizit 24 Mal aufgerufen. In späteren Auflagen werden einige Passagen durch die Begriffe ‚schämen‘ und ‚Scham‘ sogar ergänzt. Beobachtbar an fast allen Stellen ist, dass vom Erzähler kein absolutes Raster angelegt wird, das sagt, wann sich Simplicissimus oder ein anderer Protagonist aufgrund einer klaren Schuld schämt oder nicht schämen muss, sondern, dass in diesem Roman das Schamempfinden meist an prekäre Rollenentwürfe, soziale Praktiken und Sozialisationsprozesse gebunden bleibt und insofern stets relational aufzufassen ist. Rollenerwartungen und -defizite können sich etwa in der Überblendung ← 21 | 22 → des erzählenden und erlebenden Ichs zeigen, das im Simplicissimus allenthalben zu finden ist. Dieses Verfahren nutzt die Schamdarstellung als Erzählmuster, an dem Differenzen zwischen den beiden Ichs ablesbar sind.

Die erste Verwendung des Verbs ‚schämen‘ im Roman findet sich in einem poetologischen Zusammenhang, der die beiden Ichs, die im Text zur Sprache kommen, bewusst ins Verhältnis setzt. Im ersten Kapitel des zweiten Buchs resümiert der Hinweis auf Scham eine der ersten Selbstreflexionen des heranwachsenden Simplicissimus. Dieser findet sich, nachdem er die soziale Praktik des Tanzens missverstanden hat, von einem Obristen in einem Gänsestall eingesperrt. Hier beobachtet er einen Sexualkontakt, der ihm so fremd bleibt wie beim Überfall auf den Hof seines Knans (vgl. ST 27–30). Wer den Simplicissimus gelesen hat, weiß, dass solche heterotopen Orte (vgl. ST 610–617)25 wie der Gänsestall zur Besinnung auf die eigene Situation anregen:

Günstiger Leser/ ich erzehle diese Geschicht nicht darumb/ damit Er viel darüber lachen solle/ sondern damit meine Histori gantz seye/ und der Leser zu Gemüt führe/ was vor ehrbare Früchten von dem Tantzen zu gewarten seyen. Diß halte ich einmal vor gewiß/ daß bey den Täntzen mancher Kauff gemacht wird/ dessen sich hernach eine gantze Freundschafft zu schämen hat. (ST 122)

Der Erzähler spricht hier – wie das etwa Andreas Merzhäuser herausarbeitet26 – aus unklarer oder doppeldeutiger Position. Obwohl die Ansprache an den impliziten Leser eher an den alten Erzähler denken lässt, dem das Erzählen peinlicher Situationen nichts mehr ausmacht, der im ← 22 | 23 → Gegenteil auf eine gewisse Vollständigkeit des Erzählten zielt, wirkt der Hinweis auf die Früchte des Tanzens eher naiv. Insofern bleibt es letztlich unbestimmt, ob er sich in den jungen Simplicissimus eindenkt oder die Werturteile des alten präsentiert. Dies wird auch durch die zweite Passage über das Schämen deutlich, wo beide Perspektiven – die des jungen und die des alten Simplicissimus – explizit parallelisiert werden:

Mein Herr fragte/ was thät aber die Jungfer darbey/ schämte sie sich nicht? Ja wol nein [oder: mein]27 Herr! sagte ich/ sie hub den Rock auff/ und wolte darzu (mein hochgeehrter/ Zucht- Ehr- und Tugendliebender Leser verzeyhe meiner unhöflichen Feder/ daß sie alles so grob schreibt/ als ichs damals vorbrachte) scheissen. (ST 128–129)

Wir haben hier eine der wenigen Stellen, wo sich die Simplicissimus-Ausgaben E1 und E2 in ihren Aussagen erkennbar unterscheiden. Bei E1 glaubt Simplicissimus, dass sich die Jungfer nicht schämt; bei E2 ist er überzeugt, dass sie sich schämt, weil sie vor seinen Augen ihre Notdurft verrichtet. Im zweiten Fall scheint auch der heranwachsende Simplex von einem unwillkürlichen und kaum steuerbaren Schämen auszugehen, während man die Äußerung in E1 so deuten könnte, dass die Jungfer so abgebrüht ist, dass sie ihre Notdurft ohne Ansehen der Situation verrichten kann. Natürlich hebt sie – daran sei kurz erinnert – ihren Rock, um sich einem jungen Fähnrich hinzugeben. Die doppelte Wahrnehmungsperspektive des heranwachsenden und des alten Simplex, die hier erzählt wird, plausibilisiert der Erzähler, in dem er die Ausdrucksweise des jungen Simplex nicht nur zitiert, sondern diese auch explizit macht. Die Wahrnehmung des Schämens scheint in erster Linie durch den jungen sinnvoll, während der alte Simplicissimus natürlich weiß, dass sich die Jungfer für ihren Sex kaum schämen wird; es sei denn, sie wüsste sich beobachtet. Der Text lässt das, meines Erachtens, offen.

Noch ein Beispiel nicht erreichbarer Rollenentwürfe aus dem dritten Buch: Gleich dreimal berichtet Simplicissimus, dass sich sein Konkurrent um den Ruf des legendären Reiters von Soest schämte. Die Episode beginnt mit der Nachricht, dass in Werl unter seinem Namen und in seiner Verkleidung ein ähnlich gekleideter Soldat sein Unwesen treibe. Erst sehr viel später erfahren wir, dass es sich um Olivier handelt (vgl. ST 424). Die Warnung an diesen unrechtmäßigen Freibeuter er ← 23 | 24 → folgt dann mehrmals und vor allem öffentlich; als sich der Jäger von Werl aber nicht zu zeigen wagt, sucht Simplicissimus diesem einen eindrücklichen Denkzettel zu verpassen. Ethisch gesehen erscheint die Strafaktion unseres Helden natürlich fraglich, weil der Ruhm des Jägers von Soest auf Handlungen beruht, „die sonst bey andern wären Straffwürdig gewesen“ (ST 243), wie der Erzähler anmerkt. Die anvisierte Bestrafung des Jägers von Werl legitimiert sich vorderhand also nicht aus dessen strafwürdigem Räubern und Furagieren, sondern aus der unrechtmäßigen Verwendung der Larve des grünen Jägers von Soest. Da es kein Urheberrecht auf Verkleidungen gibt, erscheint die Strafursache freilich kaum hinreichend. Relevant dabei dürfte auch sein, dass sich in der Frühen Neuzeit Identität und Würde nicht zu einem geringen Maße aus der jeweiligen Kleidung (Uniform, Talar, regionale Besonderheiten usw.) ableitete, die wesentlich standesgebunden und nur mit Mühen und erheblichen Kosten austauschbar war.

Jedenfalls nimmt Simplicissimus den falschen Jäger mit einer List in einem Schafstall gefangen. Als er ihn zu einem fairen Duell herausfordert, ‚hofiert‘ sein Kontrahent vor Angst ‚die Hosen voll‘ und winselt um Gnade (vgl. ST 250). Spring-ins-Feld und ein Kamerad in Teufelskleidern verstärken die Angst des falschen Jägers noch. Seine körperliche Reaktion und seine irrationale Furcht vor den Teufeln wiesen ihn als unreif und naiv aus. Der Jäger von Werl zeigt sich seiner grünen Jägerkleidung und seinem Gebaren als abgebrühter Soldat höchst unwürdig. Die ungewollte körperliche Angstreaktion verweist zudem ausdrücklich – der Erzähler erinnert daran – an die Tanzblamage des Simplicissimus. Die Parallele unterstreicht die Diagnose. Simplicissimus kann die Körpersprache des Unterlegenen aus eigener Erfahrung lesen oder riechen – wie man’s nimmt. Letztlich führt dies immerhin zu einer ungewohnten Empathie-Regung des echten Jägers von Soest: „er und sein Camerad“, erzählt Simplicissimus, „brachten so bewegliche Wort vor/ daß ich ihm endlich alles verziehe und vergabe.“ (ST 251) Gibt sich Simplicissimus also mit der Reue des anmaßenden Soldaten zufrieden, vollzieht Spring-ins-Feld eine demütigende Strafe, die die Reue und Angst in Scham umschlagen lässt:

Als der gedemütigte falsche Jäger später einem der Knechte des Simplicissimus begegnet „schämte er sich so sehr/ daß er abermal das Reiß-auß spielete/ und von Lippstatt zu den Holländern lieffe“ (ST 284). Ursache dieser Panik ist, dass die Naivität und die Demütigungen des falschen Jägers an die Öffentlichkeit gelangen. Der Knecht von Simplicissimus hatte erzählt, dass er zu „denen Teuffeln“ gehört habe, die den legendären „Jäger von Werle auff der Schäferey so erschröckt hätten“ (ST 284) und dass er – so kann man ergänzen – sich vor Angst in die Hosen machte. Image und Verhalten des Jägers fallen erneut auseinander. Er schämt sich, weil er seinem Ruf als furchtloser Soldat, nicht gerecht geworden ist, und weil er die Rolle, die er sich angemaßt hatte – der Jäger von Soest –, nicht ausfüllen konnte. All dies wird auch noch durch einen Militär niedrigster Charge publik gemacht.

Ruth Benedict vertritt in Chrysantheme und Schwert die These, dass in Schamgesellschaften „jeder Mensch dem Urteil der Öffentlichkeit über seine Taten besondere Bedeutung“ zumesse.28 Auch wenn man vom deutschen Barock wohl nicht unbedingt als Schamgesellschaft sprechen kann, in der eine kritische Öffentlichkeit über sittliches Verhalten wacht, erhält das Öffentlich-werden in Schamkonstellationen auch hier eine zentrale Bedeutung. Dies gilt besonders für den Bereich des Militärs, der hier karikiert wird: Ihn zeichnet offenbar eine besondere Sensibilität gegenüber öffentlich werdender Unzulänglichkeit und damit gegenüber Scham aus. Der Reiter von Werl kann so lange sein Unwesen treiben, bis publik wird, dass er seiner militärischen Rolle, die auf Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zielt, nicht gerecht wird.

Das Verhältnis zu seinem früheren Fehlverhalten könnte in Oliviers Erzählung seines Lebens im vierten Buch eine andere, viel souveränere sein. Denn nun erscheint er tatsächlich als rücksichtsloser und – wie sich zeigen wird – äußerst brutaler Marodeur – als „Unmensch“, wie ihn der Erzähler nicht zu Unrecht charakterisiert. Denn er ist es ja, der im Schwarzwald bereit ist, selbst ein „Frauenzimmer und die Kinder“ mit seinem riesigen Schwert zu „metzgen“ (ST 430). Als Simplicissimus und Olivier auf dem Kirchturm einer Kutsche auflauern, erzählt letzterer von seiner Begegnung mit dem Jäger von Soest. Offenbar war das Schafstall-Erlebnis so prägend, dass Olivier auf dem Turm von seinem früheren Schämen berichten muss. Die intradiegetisch-homodiegetische Erzählperspektive lässt uns nun quasi ein Ego-Dokument der ← 25 | 26 → unvermeidlichen Emotion hören; der erzählte Affekt wird durch diesen Erzählkniff im Nachhinein nochmals beglaubigt. Der Jäger von Soest und seine Teufel hätten ihn bei der Schäferei zu einem ungleichen Kampf herausgefordert:

In Oliviers Version wirkt die Geschichte etwas anders; nicht seine mangelhafte Rollenerfüllung und seine Angst vor den Teufelslarven, die zu peinlichen Körperreaktionen führen, verursachen hier das Schämen, sondern die demütigende Handlung, zu der er vom Simplicius gezwungen worden sei. Dass eigentlich Spring-ins-Feld und nicht der berüchtigte Jäger von Soest der Arrangeur der Demütigung war, wird natürlich nicht erwähnt. Die Rolle der Öffentlichkeit, die das Schämen auslöst, wird aber ähnlich bewertet. Die Verschiebung des Fokus hat freilich nicht nur mit einer anderen Wahrnehmungsperspektive, sondern auch mit der Selbststilisierung der Lebensbeichte zu tun. Olivier erzählt Simplicius seine Geschichte so, dass ihn relativ wenig Schuld am Schämen trifft. Und der Erzähler ist sich erst zu diesem Zeitpunkt bewusst, sagt er, „was ich dem Olivier vor ein Possen erwiesen“ (ST 426). Durch das repetitive und verschachtelte Erzählen gelingt es, die Faktualität autobiographischer Darstellung insgesamt zu problematisieren. Denn der Leser fragt sich, ob Simplicissimus seine Geschichte genauso zurechtrückt wie Olivier die seinige und ob man sie ebenfalls auch anders sehen könnte. Das Geständnis des Simplicius, erst nach der Erzählung des Olivier die Wirkung der Demütigung richtig begriffen zu haben, zeigt ja, wie prekär schon die Wahrnehmung eines Vorgangs ist, der erzählt werden soll. Auch hier wird das Schämen also genutzt, um narratologische Verfahren einer autobiographischen Erzählung zu reflektieren.

Schon wegen solcher Erzähltricks sind wir uns längst einig, den Simplicissimus mehrschichtig und polyphon zu deuten.29 Wir vermeiden reduzierte Lektüren, die den Roman vornehmlich moraldidaktisch, christlich, unterhaltend, satirisch oder bloß erzählfreudig verstehen. Er ist vieles zugleich und nichts ausschließlich. ← 26 | 27 →

Und doch fragt man sich, warum er uns Schamgeschichten wie die des Jägers von Werl erzählt. Denn sie setzen – ethisch gesehen – wegen des gleichen Vergehens den einen herab und den anderen herauf. Sieger bleibt der, der den anderen bloß stellt, um die eigene ruhmreiche Position zu sichern. Damit bewegt man gewiss „die Leut zum lachen“ (Co 563), wie es zu Beginn der Continuatio heißt, bringt sie, weil das „losse Stücklein“ (Co 565) des Simplicissimus hier jedenfalls nicht in Frage gestellt wird, aber wohl kaum zu einem besseren Leben. Oder sollen die Leserinnen und Leser lernen, ihre Bubenstücke in der Öffentlichkeit besser darzustellen, damit sie sich nicht mehr schämen müssen? Eine absurde Vorstellung. Das Verhaltensproblem, das die Jäger-Passagen anhand des Schamempfindens entfaltet, ist das angemessene Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit. Ein besonders passgenauer Habitus wird verlangt, der in seiner Passgenauigkeit aber möglichst Aufmerksamkeit erlangen soll. Ein solches am Publikum ausgerichtetes Verhalten birgt gerade die Gefahr des Scheiterns, weil die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit die Verhaltensdefizite in der Öffentlichkeit umso stärker sichtbar machen kann. Die Scham steigt offenbar mit der Aufmerksamkeit. Genau das erlebt ja auch Simplicissimus immer wieder.

Gegen diesen ungesunden Mechanismus richtet sich das zentrale Konzept der Einsiedelei, die Simplicissimus bewusst wählt, um der Öffentlichkeit zu entgehen. Als die Isolation vom Publikum im Schwarzwald nicht mehr gewährleistet scheint (vgl. Co 566), sucht er das Weite und findet die radikale Entfernung aus der Gesellschaft dann auf der Insel (vgl. Co 670) und schließlich sogar in der Höhle (vgl. Co 686), in die er sich vor den Schiffsleuten flüchtet. Auf der Insel sollte es – wie im Paradies – eigentlich keine Scham geben, weil es keine Öffentlichkeit gibt. Denn sie muss hier nicht Fehlleistungen kontrollieren, damit die Gesellschaft (gottgefällig) funktioniert.

Oder sie könnte es nur dann geben, wenn das Einsiedlerleben gestört wird. Deshalb scheint sich Cornelissen, der holländische Kapitän, der als Erzähler der letzten Passagen der Continuatio fungiert, genötigt, von der Scham des Simplicissimus zu erzählen. Allerdings ist jetzt tatsächlich jenes Körperteil gemeint, das zu verbergen auch der Einsiedler für nötig hält (vgl. Co 691, ST 367). Dies spricht übrigens für eine anthropologische Vorstellung von Scham im Simplicissimus, die den Menschen nach seiner Flucht aus dem Paradies als menschlich markiert. Simplicissimus bleibt insofern auch als Einsiedler Mensch und damit anfällig für Sünden und behält weiterhin den Makel der Ge ← 27 | 28 → lübde; das zeigt seine nicht aufgehobene Schamhaftigkeit im Roman genauso wie seine Flucht vor den Schiffsleuten oder sein Verbleib auf der Insel. Allerdings befindet sich Simplicius ja gerade nicht im echten Paradies, weil er – altersweise – eine Vorstellung davon hat, was gut ist oder böse. Er verfügt – in gewissem Rahmen freilich – über menschlich-kulturelle Erkenntnis, während der Paradiesbewohner vor dem Sündenfall ganz der göttlich-väterlichen Fürsorge unterstellt war und daher – ganz naiv – nicht über eine ausreichende Unterscheidung von Gut und Böse verfügen musste (vgl. Gen 2, 17). Konsequent gedacht wird in der Bibel daher auch die Scham: „Vnd sie waren beide nacket/ der Mensch vnd sein Weib/ vnd schemeten sich nicht“ (Gen 2, 25). Das Schamempfinden des Simplicius zeigt also seinen menschlichen, weiterhin nachparadiesischen Zustand.

Ein kurzes Fazit: Ich habe fünf Aspkete der Scham im Simplicissimus herausarbeiten können: (1) Im Roman scheint eine eher anthropologische Vorstellung von Scham vorzuherrschen, die den Affekt nicht als Resultat eines zivilisatorischen Prozesses sieht. Dafür sprechen etwa das Schamempfinden des Einsiedlers oder die erwähnten Körperreaktionen. Daneben gibt es aber auch Schamempfinden, dass mit adäquater Kleiderausstattung oder richtigem Benehmen zusammengebracht wird. (2) Ein solches Schamempfinden scheint mir wesentlich aber an Rollenerwartungen gekoppelt; die Scham nimmt dabei quasi die erwartete Sanktionierung durch die Öffentlichkeit vorweg. Mit Elias: gesellschaftliche Dispositive werden zum Über-Ich. Bestes Beispiel ist die Schafstallgeschichte von Olivier, obwohl hier paradoxerweise schlechtes Verhalten (das effiziente und publikumswirksame Ausführen von Bubenstücken) als Norm erscheint. (3) Auch findet man Scham als emotionales Muster im Roman, bei dem Erfahrungs- und Erziehungsdefizite des Heranwachsenden deutlich werden. Hier sei an Simplicius’ Erfahrungen im Gänsestall erinnert. (4) Schämen ist nicht nur – anthropologisch gesehen – eine Emotion oder – im Sinne der historischen Anthropologie – ein Affekt, sondern auch eine soziale Praxis, um ein Defizit oder ein Normvergehen sühneartig vor einer als zuständig verstandenen Öffentlichkeit anzuzeigen. Insofern erscheint Schämen sinnvoll und nicht marginal oder arbiträr. (5) Die Möglichkeit dem Schämen im Erzählen Sinn zu geben, macht seine poetologische Funktion aus. Anhand der unleugbaren Körperzeichen der Scham (Erröten, Schweißausbrüche, Flüchten usw.) können unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven und Erzählintentionen durchgespielt werden. Spätestens dann rückt die Frage nach dem Verhältnis von Schuld und ← 28 | 29 → Scham in den Fokus. Die Scham kann im Simplicissimus offenbar beides: Schuldgefühle anzeigen und ein gesellschaftlich sanktioniertes Normvergehen sichtbar machen. Dabei wirkt die gezeigte Scham für die Gesellschaft durchaus schon sühneartig; in den ungewollten Körperreaktionen können – wie beim gedemütigten Olivier – Momente des Ausgleichs, ja der Wiederherstellung von Ordnung, gesehen werden. Es gibt sogar den Fall, dass der Scham Schuld am Verhalten des Simplicius zukommt, zum Beispiel als er die Courage am Sauerbrunnen in die Wüste schickt. ← 29 | 30 → ← 30 | 31 →


1      Dieter Breuer: Grimmelshausen-Handbuch. München 1999, S. 49.

2      Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hrsg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 14: Die „Poeterey“ sei „anfangs [!] nichts anderes gewesen als eine verborgene Theologie“, sagt Opitz [Klammerzufügung vom Verf.].

3      Die Tagung „Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ (Oberkirch und Renchen, 23.–25. Juni 2016), auf der vorliegender Beitrag diskutiert wurde, verstand sich ausdrücklich als interdisziplinär. Die hier referierte Position einer nur theologisch verstehbaren Relation von Schuld und Sühne wurde dennoch zum Teil vehement vertreten.

4      Vgl. als Überblick: Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt 42008, S. 41–65; Michael Maurer: Historische Anthropologie. In: Aufriss der Historischen Wissenschaften. Hrsg. von Michael Maurer. Bd. 7. Stuttgart 2003, S. 294–387; und Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung. Hamburg 22008; sowie die Zeitschrift Historische Anthropologie.

5      Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. In: Werke. Hrsg. von Dieter Breuer. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1989–1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 4–5), Bd. I. 2, S. 467. – Im Folgenden wird diese Werkausgabe mit Sigle ST (Simplicissimus Teutsch), Co (Continuatio) und C (Courasche) in runden Klammern zitiert.

6      Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Neu durchgesehene und erweiterte Auflage. Frankfurt a. M. 1997, S. 409.

7      Vgl. Axel T. Paul: Die Gewalt der Scham. Elias, Duerr und das Problem der Historizität menschlicher Gefühle. In: Mittelweg 36 (2007), Heft 3, S. 77–99.

8      Elias, Über den Prozeß der Zivilisation (wie Anm. 6), S. 408.

9      Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1988–1997.

10    Paul, Die Gewalt der Scham (wie Anm. 7), S. 83; vgl. Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 8.

11    Günther Pallaver: Der Streit um die Scham. Zu Hans Peter Duerrs Demontage des „Zivilisationsprozesses“. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 14 (1989), Heft 4, S. 63–71.

12    Vgl. etwa Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Reinbek 2014; Schuld und Scham. Hrsg. von Alexandra Pontzen und Heinz-Peter Preußler. Heidelberg 2008 (Jahrbuch Literatur und Politik 3).

13    Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 8. R–Schiefe. Leipzig 1893, Sp. 2107–2119.

Details

Seiten
644
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783034328128
ISBN (ePUB)
9783034328135
ISBN (MOBI)
9783034328142
ISBN (Paperback)
9783034328111
DOI
10.3726/b10911
Open Access
CC-BY
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Grimmelshausen Simplicissimus Universalgelehrtentum Literaturgeschichte Neuzeit
Erschienen
Bern, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 644 S., 13 s/w Abb.

Biographische Angaben

Peter Heßelmann (Band-Herausgeber:in)

Die Grimmelshausen-Gesellschaft e.V., die 1977 anläßlich der großen Gedenkausstellung Simplicius Simplicissimus - Grimmelshausen und seine Zeit in Münster gegründet wurde und inzwischen zu einer internationalen Vereinigung namhafter Germanisten, interessierter Laien und der Grimmelshausen-Städte geworden ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die wissenschaftliche Erforschung der Werke Grimmelshausens in ihren zeit- und wirkungsgeschichtlichen Bezügen zu fördern. Ihr Ziel ist außerdem ein regelmäßiger Austausch von Erkenntnissen, Ermittlungen und Forschungen zu Grimmelshausen und zum Barock schlechthin. Sie bemüht sich dabei besonders um den wissenschaftlichen Dialog und die Begegnung und Zusammenarbeit von Literaturwissenschaftlern und Forschern anderer Disziplinen. Sie sucht mit ihren Arbeiten aber auch der Mahnung Grimmelshausens gerecht zu werden, Leserinnen und Leser aller Bildungsstufen anzusprechen. Diesen Zwecken dienen die Durchführung von wissenschaftlichen Symposien und die Veröffentlichung verschiedener Publikationen wie z.B. das Jahrbuch Simpliciana - Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft.

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Titel: Simpliciana XXXVIII (2016)
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