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Literatur zur «Wende» im Deutschunterricht

von Gunhild Keuler (Autor:in)
©2017 Dissertation 382 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin betrachtet literarische Texte zur «Wende» aus literaturwissenschaftlicher und didaktischer Perspektive. Dieser Literatur kommt für heutige Kinder und Jugendliche eine besondere Bedeutung zu, indem sie für diese und für nachfolgende Generationen Erinnerungen an den bedeutenden Ausschnitt jüngster Zeitgeschichte schaffen kann. Welche literarischen und historischen Lernchancen mit der Auseinandersetzung verbunden sind, legt die Autorin anhand der Ausführungen dar. Zudem entwickelt sie Auswahlkriterien für Texte zur «Wende» für die Sekundarstufe I und II und erprobt exemplarisch zwei Literaturbeispiele in der Schule.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Vorbemerkung zum Begriff ‚Wende‘
  • 1 Einleitung
  • 2 Literatur zur ‚Wende‘
  • 2.1 Begriffsbestimmung(en)
  • 2.2 Systematisierung(en)
  • 2.3 Forschungstendenzen
  • 3 Kinder- und Jugendliteratur zur ‚Wende‘
  • 3.1 Überblick über den Forschungsstand
  • 3.2 Gattungstheoretische Überlegungen
  • 3.3 Begriffsbestimmung, thematische Charakteristika, Ansätze zur Systematisierung
  • 4 Primärtexte zur ‚Wende‘ im Zeitraum von 2003–2015
  • 4.1 Texte der Kinder- und Jugendliteratur
  • 4.1.1 Thematische Schwerpunktsetzung und Ansätze zur Systematisierung
  • 4.1.2 Kindheits- und Jugendbild
  • 4.1.3 Eltern- und Lehrerbild
  • 4.1.4 Geschichtsbilder
  • 4.1.5 Aspekte der poetischen Gestaltung und der Erzählweise
  • 4.2 Texte der Allgemeinliteratur
  • 5 Literatur zur ‚Wende‘ als Gegenstand der Literatur- und Geschichtsdidaktik
  • 5.1 Literarisches und historisches Lernen
  • 5.2 Fiktionale Literatur als Ausgangspunkt literarischen und historischen Lernens
  • 5.3 Literatur zur ‚Wende‘ als Ausgangspunkt literarischen und historischen Lernens im erinnerungskulturellen Kontext
  • 6 Literatur zur ‚Wende‘ im Deutschunterricht
  • 6.1 Literatur zur ‚Wende‘ im Kontext von Lehrplänen und curricularen Vorgaben
  • 6.2 Literatur zur ‚Wende‘ im Unterricht – Auswertung einer Befragung von Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern
  • 7 Literatur zur ‚Wende‘ – Auswahlkriterien für den Deutschunterricht
  • 7.1 Fachdidaktische Grundlagen
  • 7.2 Erinnerungskulturelles Potential
  • 7.2.1 Die Figurengestaltung und Figurenkonzeption
  • 7.2.2 Der spezifische Blick auf die dargestellte ‚Geschichte‘
  • 7.2.3 Das Potential des Textes als Medium des kommunikativen Gedächtnisses
  • 7.3 Literaturästhetisches Potential
  • 7.4 Bezug zur Gegenwart als Zugang zur Vergangenheit
  • 7.5 Grundmuster menschlicher Erfahrungen
  • 7.6 Exemplarität
  • 8 Literatur zur ‚Wende‘ – Beispieltexte im Deutschunterricht
  • 8.1 Zur Auswahl der Beispieltexte
  • 8.2 Beispieltext Sekundarstufe I – Grit Poppe: Weggesperrt
  • 8.2.1 Autorin und Werk
  • 8.2.2 Zum Roman – Inhaltliche und interpretatorische Aspekte
  • 8.2.3 Chancen literarischen und historischen Lernens
  • 8.2.4 Zum Unterricht
  • 8.2.5 Auswertung der Unterrichtserprobung – Ausgewählte Aspekte
  • 8.3 Beispieltext Sekundarstufe II – Markus Feldenkirchen: Was zusammengehört
  • 8.3.1 Autor und Werk
  • 8.3.2 Zum Roman – Inhaltliche und interpretatorische Aspekte
  • 8.3.3 Chancen literarischen und historischen Lernens
  • 8.3.4 Zum Unterricht
  • 8.3.5 Auswertung der Unterrichtserprobung – Ausgewählte Aspekte
  • 9 Schlussbemerkung und Ausblick
  • 10 Literatur- und Quellenverzeichnis
  • Anhang
  • Anhang A: Befragung von Deutschlehrerinnen und -lehrern
  • Anhang B: Ergebnis der Befragung
  • Anhang C: Ausgewählte Materialien zu den Unterrichtsmodellen
  • C.1: Materialien zu Grit Poppe: Weggesperrt
  • C.2: Materialien zu Markus Feldenkirchen: Was zusammengehört
  • Anhang D: Reflexion und Schülerbeispiele zu Grit Poppes Roman Weggesperrt
  • D.1: Fragebogen
  • D.2: Antworten der Schülerinnen und Schüler
  • D.3: Schülerbeispiele
  • Anhang E: Reflexion zu Markus Feldenkirchens Roman Was zusammengehört
  • E.1: Fragebogen
  • E.2: Antworten der Schülerinnen und Schüler
  • E.3: Leseeindrücke der Schülerinnen und Schüler

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 6.1: Aufnahme der Gegenstände „Friedliche Revolution“ und „Vereinigung“ in den Vorgaben des Faches Deutsch in den einzelnen Bundesländern. Erstellt nach den Ergebnissen der Expertise „Die friedliche Revolution in den Lehrplänen“ der Bundesstiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur aus dem Jahr 2007

Tabelle 6.2: Texte zur ‚Wende‘ in den Lektüreempfehlungen des Gymnasiums in Sachsen-Anhalt, ergänzt durch das Entstehungsdatum

Tabelle 6.3: Ergebnisse zur Frage „Welche Kriterien halten Sie bei der Auswahl von Klassenlektüren für besonders bedeutsam? (max. 4 Nennungen)“

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 6.1: Relevanz des Themas ‚Wende‘ für den Deutschunterricht

Abbildung 6.2: Eignung von Textgattungen für das Thema ‚Wende‘ in der Sekundarstufe I und II

Abbildung 6.3: Übersicht über Jahrgangsstufen, in denen das Thema ‚Wende‘ aufgegriffen wurde

Abbildung 6.4: Gründe, das Thema ‚Wende‘ noch nicht im Unterricht berücksichtigt zu haben

Abbildung 6.5: Auswahlkriterien für Klassenlektüren im Allgemeinen

Abbildung 6.6: Auswahlkriterien für Literatur zur ‚Wende‘ (1)

Abbildung 6.7: Auswahlkriterien für Literatur zur ‚Wende‘ (2)

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Vorbemerkung zum Begriff ‚Wende‘

Eine Auseinandersetzung mit Literatur zur ‚Wende‘ sieht sich mit vielfältigen und kontrastiven Perspektiven auf die historischen Geschehnisse selbst konfrontiert. Dies zeigt sich in der Diskussion über die terminologische Beschreibung der Ereignisse von 1989/1990. Die Begriffe „Wende“, „(Friedliche) Revolution“ oder „Umbruch“ sind bis heute mit verschiedenen Konnotationen und Interpretationen verbunden. Über 25 Jahre nach der Maueröffnung lässt sich festhalten, dass der Diskurs über die begriffliche Beschreibung, der „die unterschiedlichen Analysen und Interpretationen der Ereignisse 1989/90 [spiegelt]“1, andauert und die Begriffe zur Beschreibung der historischen Situation parallel verwendet werden.2 Ein reflexiver Umgang mit dieser terminologischen Vielfalt erfordert eine bewusste Entscheidung bei der Begriffswahl. Die vorliegende Arbeit greift auf den Terminus „Wende“ als Synonym für die Zeit von 1989/1990 zurück, und zwar in dem Bewusstsein „der Konnotation, die ihm heute zugeschrieben wird: eine neutrale, fast behutsame Interpretation der Ereignisse“3. Es wird hierzu auf Großböltings Ausführungen zur Verwendung des Begriffs zurückgegriffen:

„Seine Attraktivität liegt wohl nicht nur in der Kürze und Griffigkeit, sondern auch in der Neutralität, oder schärfer gesagt, der Unbestimmtheit: Der Sprecher nimmt zu den Ereignissen und der möglichen eigenen Rolle keine Position ein.“4

Auch wenn die „Unbestimmtheit“ des Begriffs Anlass zur Kritik gibt5, so ist Großböltings Argumentation zu folgen, dass sich „[d]er ehemals opponierende Bürgerrechtler, der staatsnahe DDR-Bürger oder der Ex-Funktionär […] sich ebenso wie der (vermeintlich) wenig betroffene Westdeutsche anhand dieses Begriffs verständigen“ können.6

Die Bedeutung des Wortes „Wende“ als „einschneidende Veränderung, Wandel in der Richtung eines Geschehens od[er] einer Entwicklung7, als „Übergang von einem bestimmten Zeitabschnitt zum nächsten gleichartigen8 und als „der große ← 15 | 16 → politische u[nd] gesellschaftliche Umbruch des Jahres 1989 in der DDR9 deutet die unterschiedlichen Dimensionen an, die mit dem Begriff im Zusammenhang mit den historischen Ereignissen verbunden sind. Die „Wende“ lässt sich als politische, gesellschaftliche und persönliche „Wende“ beschreiben.

Mit der politischen „Wende“ sind Ereignisse vom (Früh-)Sommer 1989 bis Herbst 1990 verknüpft. Dazu gehören die Massenflucht von DDR-Bürgern, die zum Abbau der Grenzsicherung der ungarischen Behörden nach Österreich führte, sowie die Besetzung der Prager Botschaft durch DDR-Bürger und deren Ausreise in die Bundesrepublik; des Weiteren die Protestbewegungen der Menschen, die politische Veränderungen in der DDR zur Folge hatten (z.B. den Rücktritt Erich Honeckers als Staatratsvorsitzender und Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED)) und das zentrale Ereignis des Mauerfalls am 9. November 1989, das der Ankündigung der Reisefreiheit durch Günter Schabowski folgte. Die Zeit bis zur ersten freien Wahl der Volkskammer am 18. März 1990 war durch die Frage bestimmt, in welchem Verhältnis die beiden deutschen Staaten zukünftig stehen sollten. Es folgten die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und die damit verbundene Einführung der D-Mark als offizielle Währung sowie die Vorbereitung auf die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990: die Beitrittserklärung der Volkskammer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, die Unterzeichnung des Einigungsvertrages sowie des Zwei-plus-Vier-Vertrags.

Das Verständnis von einer gesellschaftlichen „Wende“ geht mit dem Verständnis der politischen „Wende“ einher. Die gesellschaftliche „Wende“ ist in erster Linie mit den Protest- und Reforminitiativen der Menschen in der DDR vor dem Mauerfall und in der Zeit danach (z.B. der Erstürmung der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit) verbunden. Einschneidende Veränderungen, wie die Reisefreiheit oder die Umstrukturierung des Arbeitsmarktes, aber auch die entstehende Arbeitslosigkeit, sind nur einige Beispiele, die eine Um- bzw. Neuorientierung der Gesellschaft bedingten.

Die Auswirkungen, die die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen wiederum auf den Einzelnen hatten, lassen sich als persönliche „Wende“ beschreiben, von denen insbesondere die Menschen in Ostdeutschland betroffen waren. Aus historischer Sicht lässt sich ergänzend die zeitgeschichtliche Dimension der „weltpolitischen Wende“10 beschreiben, wenn die Situation von 1989/1990 ← 16 | 17 → im Zusammenhang mit der jüngsten Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachtet und der Frage nach Epochengrenzen in der Zeitgeschichte11 nachgegangen wird.

Die Entscheidung für den Begriff „Wende“ im Rahmen der vorliegenden Arbeit weiß um die Problematik, die neben der genannten „Unbestimmtheit“ mit der Verwendung des Terminus einhergeht. Allein aufgrund der Tatsache, dass Egon Krenz den Begriff als Bezeichnung für die Erneuerung der DDR unter der SED-Führung vor dem Mauerfall geprägt hat, lehnen ihn viele Menschen zur Beschreibung der Situation von 1989/1990 ab.12 Diese kritische Betrachtung berücksichtigend wird der Begriff im Folgenden in einfache Anführungszeichen gesetzt.


1 Großbölting (2008), S. 24.

2 Vgl. Thierse (21.11.2014), S. 1.

3 Großbölting (2008), S. 11.

4 Ebd., S. 10.

5 Vgl. z.B. Großbölting (2008), S. 10 oder Arp, Leo (2009), S. 7.

6 Ebd., S. 10. Vgl. auch Arp, Leo (2009), S. 7.

7 Scholze-Stubenrecht (2015), S. 2009. Die Kursivsetzung folgt dem Originaltext.

8 Ebd., S. 2009.

9 Ebd., S. 2009.

10 Metzler (2004), S. 30.

11 Vgl. ebd., S. 30.

12 Vgl. exemplarisch Thierse (21.11.2014), S. 1.

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1 Einleitung

„Da war mal was …“
Flix13

Seit der Maueröffnung sind über 25 Jahre vergangen und die Geschehnisse wirken bis heute nach. Vielfältige Erinnerungen sind mit den Ereignissen von 1989/1990 verbunden, die insbesondere in Jubiläumsjahren in der öffentlichen Auseinandersetzung Beachtung finden und aktualisiert werden. Literarische Texte spiegeln die Geschehnisse und Erfahrungen von Beginn an bis heute in den unterschiedlichsten Facetten.14 Ihnen kommt für heutige Kinder und Jugendliche besondere Bedeutung zu, da dieser Ausschnitt jüngster Zeitgeschichte für sie nur noch wenig Bedeutung hat.15 Literatur kann für heutige und für nachfolgende Generationen Erinnerung an die Zeit des Mauerfalls schaffen. Indem Literatur „Erfahrungen vergangener Zeiten aus der Perspektive lebendiger Personen darstellt“16, ermöglicht sie ihren Leserinnen und Lesern, in „fiktive[…] Welten“ einzutauchen und „Nähe zur subjektiven Zeiterfahrung […] her[zu]stellen“.17 So können junge Menschen den bedeutsamen Teil der Zeitgeschichte anhand von personifizierten Geschichten18 durch „Empathie ← 19 | 20 → und Perspektivübernahme“19 erfahren. Das besondere Erinnerungspotential von Literatur ermöglicht es ihnen, eine zunächst ferne Welt mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit zu verknüpfen und die „Komplementarität von historischem Wissen und ästhetischer Erfahrung“20 in der Auseinandersetzung mit den Texten zu erfassen. Gerade in dieser Verbindung der literarischen Dimension mit dem historischen Thema liegt das außergewöhnliche Potential von Literatur zur ‚Wende‘ und den damit verbundenen besonderen Lernchancen für den Deutschunterricht.

Textgrundlage

Genauso vielfältig wie die Erinnerungen werden die Themenaspekte Friedliche Revolution, Maueröffnung und Wiedervereinigung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit Beginn der 1990er Jahre aufgegriffen. Bis heute setzen sich unterschiedliche Generationen von Schriftstellern aus Ost und West literarisch mit den Ereignissen auseinander. Es schreiben diejenigen, die den Mauerfall und die Umbruchsituation als Zeitzeugen im erwachsenen oder jugendlichen Alter erlebt haben, diejenigen, die bis 1989 in der Bundesrepublik gelebt haben und diejenigen, die die Geschehnisse nur noch aus Erzählungen der Eltern- oder Großelterngeneration kennen. So verschieden die Altersstruktur und der Erfahrungshintergrund der Autorinnen und Autoren sind, so unterschiedlich sind sowohl die thematische Ausgestaltung ihrer Texte als auch die Textgattungen und -genres, in denen sie ihre Geschichten entfalten. Die Anzahl von Publikationen ist nahezu unübersehbar, wobei erzählende Literatur quantitativ den größten Anteil einnimmt.21 Der Zugang in den Erzählwerken ist wie in allen anderen Gattungen sehr unterschiedlich. Ob zum Beispiel aus Ost- oder aus West-Perspektive, ob humorvoll, dramatisch oder autobiografisch, ob von Ereignissen (kurz) vor dem Mauerfall, von der Maueröffnung selbst oder von ihren (un-)mittelbaren Folgen für das Leben der Protagonisten erzählt wird, immer werden verschiedene Blicke auf die Geschehnisse rund um 1989/1990 in den unterschiedlichen Texten, aber auch innerhalb eines Werkes deutlich.22 Gerade hierin zeigt sich ← 20 | 21 → das außergewöhnliche Potential von literarischer Darstellung zur ‚Wende‘, ihre Multiperspektivität23. Dies gilt neben der Erwachsenenliteratur auch für die Kinder- und Jugendliteratur. Mit diversen thematischen Schwerpunkten sowie ästhetischen Gestaltungsmitteln nimmt sie den Stoff der historischen Ereignisse rund um die ‚Wende‘ auf und gestaltet Geschichten in unterschiedlichen Genres aus: der Kinderroman, der Adoleszenzroman, die Graphic-Novel, das Bilderbuch und das Sachbuch zur ‚Wende‘.24

Gesellschaftlicher Kontext

Die historischen Ereignisse der Friedlichen Revolution, der Maueröffnung und der Wiedervereinigung sind als Teil von Erinnerungskulturen25 ein Schlüssel zum ← 21 | 22 → Verständnis der heutigen Welt. Politische und gesellschaftliche Zusammenhänge der jüngsten Zeitgeschichte Deutschlands (die Teilung, die Koexistenz der DDR und der Bundesrepublik Deutschland und ihre Staatsformen, die Auflösung der diktatorischen Strukturen und die Vereinigung) zu verstehen und sich über Alltagsgeschichte(n) der Menschen in der damaligen Zeit bewusst zu werden, ihre Situation nachzuvollziehen und sich in sie einzufühlen, sind unverzichtbare Aspekte für heutige Kinder und Jugendliche im Prozess der Aneignung einer äußerst komplexen Welt. Dies ist insbesondere in einer Welt der unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Systeme sowie Glaubensrichtungen wichtig, in der Phasen von Sicherheit und Kooperationen immer wieder durch Zeiten besonderer Unruhe und vielfältiger Krisen erschüttert werden. So können Geschichtsbewusstsein und Empathie der heranwachsenden Generation in Bezug auf die Ereignisse von 1989/1990 die Grundlage für ein besseres Verstehen des Kontextes der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Situationen bilden. Die öffentliche Inszenierung der so genannten „Pegida“-Bewegung beispielsweise, die sich Bildern aus der Zeit der Bürgerproteste im Vorfeld des Mauerfalls in der DDR bedient, ist nur mit dem Wissen um die Ereignisse von 1989/1990 zu durchschauen. Hier zeigt sich exemplarisch die unauflösliche Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit für das Verständnis der Welt.26 Die emotionale Auseinandersetzung ist dabei von entscheidender Bedeutung, damit die Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit auch Wirkung in der Gegenwart bzw. Zukunft zeigen kann. So forderte Wolfgang Thierse bereits zum 20-jährigen Jubiläum der Deutschen Einheit treffend:

„Besonders jungen Menschen müssen wir historisches Wissen und emotionale Betroffenheit vermitteln, damit sie eine Beziehung zur Gegenwart herstellen. Es geht darum, moralische Sensibilität und politische Verantwortung zu vermitteln. Betroffenheit, die bloß ratlos macht, Wissen, das folgenlos bleibt – solcherart Ergebnisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß und gesellschaftlich wirkungslos, womöglich sogar kontraproduktiv.“27

Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten kann dieses emotionale Erleben der jungen Leserinnen und Leser ermöglichen. Literatur kann so „für die nachwachsenden Generationen ein wichtiges Medium des Zugangs zur Vergangenheit“28 darstellen. Mit Blick auf zukünftige Generationen junger Menschen wird dies noch relevanter, wenn Zeitzeugen, z.B. aus der eigenen Familie, ← 22 | 23 → nicht mehr über die Zeit von 1989/1990 befragt werden können. In dieser Hinsicht wird die Bedeutung von Literatur zur ‚Wende‘ als Erinnerungsmedium für Kinder und Jugendliche besonders deutlich.

Forschungsinteressen

Das außergewöhnliche Potential von Literatur zur ‚Wende‘ wird in der Forschung in drei unterschiedlichen Bereichen aufgegriffen: In der Literaturwissenschaft, in der Literaturdidaktik und in der Geschichtsdidaktik. Seit Beginn der 1990er Jahre steht der Vielzahl von unterschiedlich gestalteten Primärtexten zum Thema eine Vielzahl literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen gegenüber. Zahlreiche literaturwissenschaftliche29, aber auch einige literaturdidaktische Betrachtungen setzen sich mit dem Begriff „Wendeliteratur“ und den Versuchen einer Definition auseinander. Zudem wird angestrebt, einen Überblick über die thematische und gestalterische Auseinandersetzung in den literarischen Werken zu geben und Entwicklungslinien aufzuzeigen. Es gibt somit Ansätze zur Systematisierung30 oder Beschreibungen von Phasen der literarischen Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen31. Darüber hinaus geht es vielen Einzeluntersuchungen um die Beschäftigung mit der unterschiedlichen Sichtweise ost- und westdeutscher Schriftsteller auf die Geschehnisse des Mauerfalls oder um die Auseinandersetzung ostdeutscher Schriftsteller mit ihrer persönlichen Rolle während der DDR-Zeit und der Zeit nach der Auflösung des Staates.32 In den letzten Jahren sind zunehmend Entwicklungen zu erkennen, die die Betrachtung von Literatur zur ‚Wende‘ in den Kontext interdisziplinärer, erinnerungskultureller und internationaler Fragen stellen.33

Die literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Forschung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur34 zur ‚Wende‘ wiederum steht noch an ihrem Beginn. In Einzeluntersuchungen wird zum einen gefragt, inwiefern es z.B. durch stereotype Darstellungen in den erzählenden Texten zu einer Vereinfachung bzw. ← 23 | 24 → Verkürzung von komplexen (historischen) Zusammenhängen kommt.35 Zum anderen werden die in der Literatur vermittelten Kindheits- und Jugendbilder betrachtet. Dabei greifen die Untersuchungen oftmals Romane auf, die bereits in den ersten Jahren nach dem Mauerfall erschienen sind.

Ein wichtiger didaktischer Aspekt im Zusammenhang mit dem Deutschunterricht ist die Frage nach dem Potential von Literatur zur ‚Wende‘ mit Blick auf das literarische Lernen. Hier deutet sich eine enge Verbindung zur Geschichtsdidaktik an, da diese zeitgeschichtlichen und historischen Jugendromanen zunehmend Bedeutung für das historische Lernen zumisst. Literatur zur ‚Wende‘ im Besonderen wird in geschichtsdidaktischen Beiträgen jedoch nur vereinzelt aufgegriffen. Ebenso vereinzelt wird wiederum in der Deutschdidaktik der Frage nach der erinnerungskulturellen Funktion von Literatur zur ‚Wende‘ nachgegangen, wie zum Beispiel „Vorstellungen über vergangene Lebenswelten“ herausgebildet, „Geschichtsbilder[-]“ vermittelt oder „Erinnerungskonkurrenzen“ ausgehandelt werden.36 Auch der Bedeutung von Literatur zur ‚Wende‘ für den aktuellen Deutschunterricht wird bisher nur in wenigen Veröffentlichungen nachgegangen. Bei diesen Aspekten setzt die vorliegende Auseinandersetzung an.

Zielperspektiven

Mit Blick auf den Deutschunterricht verfolgt die vorliegende Arbeit das Anliegen, das besondere Potential von Literatur zur ‚Wende‘ und ihre facettenreichen Blicke auf die Ereignisse aufzuspüren und zu beschreiben. Dabei konzentriert sich die Auswahl auf die Betrachtung erzählender Texte zur ‚Wende‘. Diese Textgattung verspricht „spannende Handlungen“, „detaillierte Ausformung“ von Geschichten und fiktionale Modelle des Erlebens37 der Zeit von 1989/1990 und beinhaltet so außergewöhnliche Chancen, Schülerinnen und Schüler für das Thema zu gewinnen. Das besondere Interesse der Arbeit liegt darin, das literarische und historische (Lern-)Potential der Texte auszuloten und Möglichkeiten ihres Einsatzes im Deutschunterricht zu erörtern. Die vorliegende Auseinandersetzung eröffnet aus verschiedenen Perspektiven den Blick auf den Gegenstand: Literaturwissenschaftliche Forschungserkenntnisse über Literatur zur ‚Wende‘ werden in Bezug auf ausgewählte Romanbeispiele sowohl der Kinder- und Jugendliteratur als auch ← 24 | 25 → der Erwachsenenliteratur der letzten Jahre ausgewertet und aktualisiert. Diese Betrachtung soll einen aktuellen Blick auf die Primärtexte der letzten Jahre vermitteln, die als potentielle Texte für den Deutschunterricht zur Verfügung stehen. Literaturdidaktische und geschichtsdidaktische Blicke auf Literatur im Allgemeinen werden darüber hinaus im Hinblick auf Literatur zur ‚Wende‘ spezifiziert und in ihrer Bedeutung für literarisches und historisches Lernen im Deutschunterricht ausgewertet.

Um die nahezu unübersehbare Vielzahl der zu Verfügung stehenden Werke für den Deutschunterricht handhabbar zu machen, werden Auswahlkriterien für erzählende Texte zur ‚Wende‘ entwickelt, die eine reflektierte Entscheidung für einen Text für den Unterricht ermöglichen. Diesem Aspekt kommt auch mit Blick auf zukünftige Veröffentlichungen besondere Bedeutung zu, um die Spezifität der einzelnen Werke und die damit verbundenen erinnerungskulturellen und literarischen Lernchancen bei der Entscheidung für einen Text berücksichtigen zu können. Zwei exemplarische Unterrichtsmodelle für die Sekundarstufe I und II sollen Möglichkeiten der konkreten Beschäftigung mit aktuellen Texten zur ‚Wende‘ im Deutschunterricht veranschaulichen.

Die Auseinandersetzung soll insgesamt einen Beitrag dazu leisten, (neuere) Literatur zur ‚Wende‘ in das Blickfeld von Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern zu rücken und insbesondere die „literarische Dimension des Themas“38 der Ereignisse von 1989/1990 für den Unterricht aufzuarbeiten. Zur Aktualisierung des Forschungsstandes will die Arbeit darüber hinaus beitragen, indem sie ausgehend von einer Umfrage der Bedeutung von Literatur zur ‚Wende‘ für den heutigen Deutschunterricht aus der Sicht von Lehrern und Lehrerinnen nachgeht.

Struktur

Im Einzelnen setzt sich die vorliegende Arbeit aus folgenden Teilbereichen zusammen: Der erste Teil ordnet Literatur zu ‚Wende‘ in die literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Diskussion ein (Kapitel 2 und 3). Daran anknüpfend werden Primärtexte aus dem Zeitraum 2003–2015 genauer betrachtet (Kapitel 4). Dabei sind sowohl Romane der Kinder- und Jugendliteratur (Kapitel 4.1) als auch der Allgemeinliteratur (Kapitel 4.2) Gegenstand der Betrachtung. Mit besonderem Interesse wird verfolgt, bestehende Forschungserkenntnisse zum Kinder- und Jugendbild und zum vermittelten Geschichtsbild in ihrer Tragfähigkeit in Bezug auf neuere Literaturbeispiele der Kinder- und Jugendliteratur kritisch in ← 25 | 26 → den Blick zu nehmen sowie in Bezug auf die Gesamtheit der berücksichtigten Texte den Fragen nachzugehen, ob und inwieweit sich die Texte systematisieren lassen und ob sich neue Entwicklungen in der thematischen Auseinandersetzung abzeichnen.

Details

Seiten
382
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631724637
ISBN (ePUB)
9783631724644
ISBN (MOBI)
9783631724651
ISBN (Hardcover)
9783631724309
DOI
10.3726/b11230
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Mai)
Schlagworte
Wendeliteratur Jugendliteratur Literaturdidaktik Geschichtsdidaktik Literaturunterricht Deutschunterricht
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 382 S., 5 s/w Abb., 2 farb. Abb., 3 s/w Tab.

Biographische Angaben

Gunhild Keuler (Autor:in)

Gunhild Keuler wurde am Institut für Germanistik, Abteilung Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik der Universität Duisburg-Essen promoviert, wo sie Lehraufträge im Bereich Literaturwissenschaft und Fachdidaktik erteilte.

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