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«…nur Frauen können Briefe schreiben»

Facetten weiblicher Briefkultur nach 1750. Band 2

von Renata Dampc-Jarosz (Band-Herausgeber:in) Paweł Zarychta (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 310 Seiten

Zusammenfassung

Die gegenwärtigen digitalen Formen des Kommunizierens geben zweifelsohne Anlass zu Reflexionen über die Geschichte der Gattung Brief, über Brieftheorien und Briefautor_innen. Diese Voraussetzungen ließen internationale Briefforscher_innen vom 3. bis 5. März 2017 im Gebäude der Jagiellonen-Bibliothek in Kraków zu einer Tagung zusammenkommen und über die Briefentwicklung seit dem 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart nachdenken. Diese vertieften Reflexionen finden in den beiden vorliegenden Bänden ihren Niederschlag. Die Aufsätze verbindet das Bestreben, die Ästhetik des weiblichen Briefes aus drei Jahrhunderten einer kulturhistorischen Bilanz zu unterziehen, den Einfluss von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren auf die Entfaltung der weiblichen Briefkultur zu untersuchen sowie die Aufgaben der heutigen Briefedition und den Umgang mit Nachlässen zu erwägen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zweiter Band
  • „Viel lieber schweige ich“. Briefe als Medien einer Gegenöffentlichkeit im Briefwechsel zwischen Helmina von Chézy und Amalia Schoppe
  • Imaginierte Weiblichkeit in Lebensbilder oder Franziska und Sophie von Amalia Schoppe
  • Zwischen Identifikation und Kreativität: Arendt liest Rahel – Drewitz liest Bettine
  • Der Ton macht die Musik – Fanny Lewalds Briefschreib-Strategien und Selbstinszenierungen
  • Auf Augenhöhe – neue Briefe Fanny Lewalds an Verleger und Redakteure
  • Ida Hahn-Hahns private Korrespondenz. Biographische Rätsel in Briefen
  • „Zwischen dem schwachen Lichtfunken in mir und dem großen Lichtstrom außer mir“ – Orientalische Briefe (1844) von Ida Hahn-Hahn
  • Briefwechsel Luise Mühlbachs
  • „Die reinen Frauen stehen im Leben…“ Julius Rodenberg im Brief-Gespräch mit Ludmilla Assing, Fanny Lewald und Ossip Schubin
  • Berühmte Frauen und ihre Briefe in Autographensammlungen. Vorgestellt am Beispiel der Autographen-Sammlung Herbert Adam der Staatsbibliothek zu Berlin
  • Geheimnisse der Briefe von Anna Teichmüller an Carl Hauptmann aus den Jahren 1899–1920
  • Briefe von Maria Rohne an Carl Hauptmann aus den Jahren 1906–1921. Zur Geschichte dieser Korrespondenz
  • Zwischen romantisierter Liebeserfahrung und authentischer lebenspraktischer Zukunftsorientierung – Ricarda Huchs Briefe an Richard Huch 1887–1897
  • „Briefe von geliebten Menschen verbrennt man nie oder gleich“. Der Brief als ästhetisches Gebilde bei Clara Schumann, Cosima Wagner und Alma Mahler-Werfel
  • „Ich möchte dir den ganzen Tag schreiben oder mit dir sein.“ Gabriele Münters Briefe an Wassily Kandinsky
  • Mit Speer und spitzer Feder: Literarische Inszenierung von Autorschaft bei Else Lasker-Schüler
  • „Als Dein Kopf in meinem Schoss lag, war mir, als halte ich den Gekreuzigten.“ Ninon Hesse im Briefwechsel mit Hermann Hesse
  • „… bitte, fassen Sie dies rein sachlich auf.“ Die Thematisierung wissenschaftlicher Kontroversen in den Briefen der Germanistin Agathe Lasch (1879–1942)
  • Wahrung des Briefgeheimnisses? Zu Ingeborg Bachmanns Korrespondenzen und deren Editionen
  • Dem Leben durch das Schreiben standhalten. Die Autorin Christa Wolf
  • Anhang Bilder und Handschriften von der der Ausstellung
  • Verzeichnis von Abbildungen
  • Autorinnen und Autoren

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Jadwiga Kita-Huber und Johanna Bohley

„Viel lieber schweige ich“.

Briefe als Medien einer Gegenöffentlichkeit im
Briefwechsel zwischen Helmina von Chézy und
Amalia Schoppe

Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht anhand des Briefwechsels zwischen Helmina von Chézy und Amalia Schoppe zwei Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts in ihrem Selbstverständnis als Autorinnen. Er geht der Frage nach, inwiefern sich im Medium Brief auch eigene Muster einer weiblichen Öffentlichkeit bzw. Gegenöffentlichkeit etablieren. Wie gezeigt werden kann, erweitert der Brief tatsächlich die Wirkungskreise für Autorinnen. Hier können die aus dem öffentlichen Diskurs verdrängten Themen und Stimmen vermittelt und eine Basis der Verständigung bzw. eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten etabliert werden. Auch in diesem Sinne trugen Frauenbriefe zur kulturellen und literarischen Emanzipation der Frauen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei.

Abstract: The article examines two writers of the 19th century in their self-conception as author, on the basis of the correspondence between Helmina von Chézy and Amalia Schoppe. It studies the question to what extent specific patterns of female public resp. counter-public seem to be established in the medium letter. As can be shown, letter-writing extends the reach for writing women. It opens a space for topics and voices excluded from the public discourse, and establishes a basis for communication or a community of like-minded individuals. Thus, letters contributed to the emancipation of women in culture and literature in the first half of the 19th century.

Schlüsselwörter: Helmina von Chézy, Amalia Schoppe, Autorschaft, (Gegen)Öffentlichkeit

Keywords: Helmina von Chézy, Amalia Schoppe, authorship, counter-public

Briefe dokumentieren Kulturtechniken und Rollenmuster. Gerade deshalb sind Briefe von Frauen wichtige literatursoziologische Quellen, weil sich in ihnen abseits öffentlicher Diskurse ihre Autorschaft artikuliert. Helmina von Chézy und Amalia Schoppe reflektieren ihre Entwürfe weiblicher Autorschaft vornehmlich in Briefen. Als Schriftstellerinnen repräsentieren sie zudem verschiedene Auffassungen und Konzepte von Literatur, die um die Formel eines vermeintlichen öffentlichen Schweigens kreisen und dieses differenziert definieren.

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Dass Frauen als vermeintlich bessere Briefeschreiberinnen gelten, hängt damit zusammen, dass ihnen diese Rolle seit der Empfindsamkeit zugewiesen wurde und daher das Briefschreiben häufig – wie bei Sophie von La Roche – ebenso eng an ein bestimmtes Konzept von Autorschaft gebunden war. Spätestens seit Christian Gottlob Fürchtegott Gellert stellt das Briefgespräch eine Bildungsidee dar, durch die beide Geschlechter sich stilistisch verfeinern und wechselseitig voneinander lernen.

In der Sammlung Varnhagen in der Jagiellonen-Bibliothek findet sich ein Brief Helmina von Chézys an Amalia Schoppe, in dem Chézy die jüngere Autorin mit klaren, stark emotionalisierten Worten in die Schranken weist. Den Anlass hierzu bot das Faktum, dass Schoppe im Morgenblatt für gebildete Stände einen Correspondenz-Artikel aus Hamburg publiziert hatte,1 dessen Inhalt einen Eklat auslöste. Schoppe hatte darin die Behauptung aufgestellt, dass es in Hamburg einen Hass auf diejenigen gebe, die den Feldzug gegen Napoleon mitgemacht hätten. Dieser Einschätzung widersprachen 47 namentlich genannte Hamburger Bürger mit einer Gegenerklärung.2

Chézys Brief folgt einem weiblich-gelehrten Briefstil, wie er seit Gellerts Brieftheorie bekannt ist, und ebenso einer emotionalen, individuelleren Rhetorik. In direkter Nachfolge von Sophie von La Roches empfindsamem Duktus hat ihre epistolare Rollenprosa ein inszenatorisches Potential, das theatralische Züge hat. Eda Sagarra bezeichnet diese als „histrionic streak“3. Gerade diese emotionale und fiktive Rolle trägt zu einem literarischen Verständnis der Briefgattung bei.4 Darüber hinaus liefert das bislang unveröffentlichte Briefbeispiel ein Zeugnis zur Selbsteinschränkung schreibender Frauen zu Beginn des 19. Jahrhunderts:

Ich bin sehr böse auf Sie, Amalie, daß Sie Ihre Träumereien und Einbildungen in den Correspondenzartikeln niederschreiben, u[nd] dadurch zur Lügnerin gestempelt werden, denn ich weiß recht gut, daß Sie das nicht verdienen, Sie mögen auch hie und da nach Wahrnehmungen gehen, aber wer wird individuelle Einzelheiten gleich zu Bewegungen der Masse stempeln, u[nd] überhaupt solche Dinge berühren? Bedenken Sie, wie sehr sie sich und der guten Ruhe schaden. […]

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Lassen Sie von diesen Correspondenzartikeln, die ihnen unendliche Schmerzen bereiten müssen, lieber ganz ab und schreiben Sie Erzähl.[ungen]. Um Anbringen ist mir nicht bange. […]

Mich werden Sie in keiner Zeitschrift antreffen. Was soll mir Verfolgung, Hass und Manille? Viel lieber schweige ich […].5

Nicht nur, dass Chézy die von Schoppe angestoßene Debatte grundlegend infrage stellt und für überflüssig hält, bestätigt die Begründung auch die latenten Ausgrenzungsmechanismen von Schriftstellerinnen und Publizistinnen. Chézys Modell weiblicher Autorschaft verzichtet bewusst auf eine Beteiligung am publizistischen Diskurs. Den Anlass hierfür bildet die Erfahrung, dass derlei Grenzüberschreitungen Bosheiten und Feindseligkeiten auslösen. Folgt man Chézys eigener Bildlichkeit, lohne sich die Öffentlichkeit für Schriftstellerinnen nicht, da sie als so unberechenbar und zufällig eingeschätzt wird wie eine Lotterie bzw. ein Gewinnspiel, in dem es vor allem für Frauen nichts zu gewinnen gäbe. Zu dieser bewussten Einschränkung korrespondiert, dass Frauen allenfalls literarische Felder besetzen, die nicht unter Kanonverdacht stehen und somit auch keine Diskurshoheiten infrage stellen können. Die für sie infrage kommende literarische Öffentlichkeit beschränkt sich auf minore literarische Gattungen wie Gedichte, allenfalls Prosa und Erzählungen.

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Die sprichwörtliche Briefszene, die Helmina von Chézy macht, irritiert vor allem deshalb, weil sie von einer sich politisch einmischenden Autorin stammt, die häufig mit Bettina von Arnim verglichen wurde und die zudem durch Mutter und Großmutter eine Autoritätsposition im Hinblick auf die Definition weiblicher Autorschaft innehat. Als Tochter Caroline von Klenckes und Enkelin der Anna Louisa Karsch steht sie in einer Autorinnendynastie und gilt zeitlebens als „eine der berühmtesten Schriftstellerinnen Deutschlands“6.

Geboren wurde Helmina von Chézy als Wilhelmine Christiane von Klencke in Berlin. Sie war kurze Zeit mit dem preußischen Offizier Carl Gustav Baron von Hastfer sowie mit dem französischen Orientalisten Antoine-Léonard de Chézy bis zu dessen Tod verheiratet, lebte jedoch von diesem in beiderseitigem Einvernehmen seit September 1810 getrennt.7 Als 15-jährige wird sie von ihrer Mutter angeleitet, Briefe zu schreiben und somit in der weiblichen Kunst des natürlichen Briefgesprächs ausgebildet.8 In einem Tagebuch übte sie sich zudem in freier Artikulation und Selbstdarstellung.9 Seit ihrem 19. Lebensjahr war sie publizistisch tätig, veröffentlichte u. a. in Friedrich Schlegels Europa, in Bertuchs Journal des Luxus und der Moden bzw. seinem London und Paris sowie bei Cotta eine Artikelreihe und gab 1808 selbst die Zeitschrift Thalie et Melpomene heraus. Auch wenn sie sich nach ihrer Rückkehr aus Paris (1810) auf die Veröffentlichung von Novellen beschränkte, publizierte sie 1816 einige Artikel über die Missstände in deutschen Spitälern im Rheinischen Merkur. Dies hatte eine Anklage vor dem Militärgericht in Köln zur Folge, das sie in Abwesenheit zu einer Haftstrafe verurteilte. Dank E. T. A. Hoffmanns Intervention konnte sie in einem preußischen Kammergerichtsprozess freigesprochen werden. Da Chézy keinen publizistischen Raum erhielt, eine Stellungnahme zu diesen Vorgängen zu verfassen, veröffentlichte sie ihre Verteidigung in einem von Subskribenten unterstützten Sammelband. Diese Verteidigungsschrift ließ sie nicht unter ihrem eigenen Namen, sondern unter der funktionellen Umschreibung, Enkelin der Karschin zu sein, erscheinen, und legitimierte sie so durch den Hinweis auf die Autorinnendynastie. Die Titelei ←14 | 15→lautet: „Neue auserlesene Schriften der Enkelin der Karschin.“10 Diese lediglich vermittelte Form, sich in das Tagesgeschehen einzumischen, gestaltete sich als ein Genre-Mix von literarischen Teilen und Gedichten, echten und fingierten Briefen, Memoiren und Projektvorschlägen bis hin zu Aufrufen zu Sammlungen.11 Ferner setzte sich Chézy gegen die Prügelstrafe beim Militär sowie für die Frauenvereine ein; hierzu schrieb sie einen Aufsatz mit dem Titel Ueber Teutschlands Zukunft hinsichtlich auf Geist und Sinn der Frauenvereine. Ab 1820 zog sie sich bewusst aus der Öffentlichkeit zurück, wie es ihre Äußerung „viel lieber zu schweigen“ ebenso dokumentiert. Der Verzicht auf eine dezidiert öffentliche Rolle resultierte aus den Erfahrungen, die Chézy im Zusammenhang mit ihrem publizistischen und sozialen Engagement gesammelt hatte.12 Ihre Warnung an die jüngere Autorin steht damit stellvertretend für ein sich bewusst beschränkendes Selbstverständnis weiblicher Autorschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Die auf öffentliche Einmischung verzichtende und auf literarische Kleinformen eingeschränkte Autorschaft bestimmt Chézys literarisches Werk. Dieses umfasst gerade jene niedereren literarischen Gattungen: Novellen, „Poeme, Libretti zu Opern, Texte zu musikalischen Schauspielen und Romanzen, Reisebücher und Erinnerungen“,13 Übersetzungen. Als beinahe logische Schlussfolgerung treten nach 1820 zunehmend ihre Briefe an die Stelle des literarischen Werks. Ihr Platz in der Literaturgeschichte wird und wurde daher wesentlich „als Briefpartnerin anderer, in der Regel männlicher Repräsentanten der Literatur, Kunst und Politik“14 gesehen, wie Irina Hundt festhält. Einen Werkcharakter der eigenen Briefe behauptet ebenso die Autorin selbst mit ihren Memoiren Unvergessenes, einer Art biographischem Lebensbericht, der auf ihren Briefen basiert.

Um 1840 wird im Zuge eines gewandelten öffentlichen Bildes von Frauen und Schriftstellerinnen diese Nische weiblicher Autorschaft von verschiedenen Seiten, sowohl von Karl Gutzkow als auch von Heinrich Heine, zur Zielscheibe des Spotts. Die sich ehemals als Enkelin der Karschin positionierende Helmina von ←15 | 16→Chézy wird dann als „Memoirendichterin“ tituliert. Auf diesen Angriff reagiert sie mit einer Erwiderung, die ihr in Briefen praktiziertes und gelebtes soziales Autorschaftsverständnis gegen ihre Angreifer verteidigt:

Vide Carl Gutzkows Schriften, neue Auflage, Eilfter Theil Brief über George Sand.

Wegen der Behauptung dieses beliebten Schriftstellers, „daß ich nur noch eine Stellung in der Memoiren-Litteratur behaupte“ muß ich bemerken, daß häusliche Pflichten, und anhaltende Beschäftigungen mit dem Loose Nothleidender mich seit vielen Jahren häufig vom Dichten abhalten, ich aber gleichwohl sehr fleißig bin, und vielleicht früher, als Herr Gutzkow glaubt, beweisen werde, George Sand sei nicht auf dem Holzwege, wenn Sie mich für eine Dichterin hält – für eine „große“ sagt Gutzkow, ich meine, die Größe können wir Lessing, Goethe, Schiller und ihres Gleichen überlassen, oder wenigstens dem Anspruch der Nachwelt über unserm Grabe. Helmina von Chezy geb. von Klencke

Heidelberg 1846.15

Eine zweite Erwiderung, in der Helmina von Chézy mit Karl Gutzkow in eine Art literarischen Wettstreit treten möchte, bestätigt zwar indirekt den Vorwurf der „Männer“, letztlich aufgrund ihres weiblichen Autorschaftsverständnisses ein Werk in Briefen und Gesprächen hervorgebracht und sich dem sozialen Engagement gewidmet zu haben. Dieses verteidigt sie gegen die Angriffe, indem sie ihm eine eigene Wertigkeit innerhalb des literarischen Feldes attestiert:

Daß ich lange nichts herausgegeben beweist nicht, daß ich nicht Dichter, aber nichts im Pult liegen habe, es geht manchen von uns, wie den Fürstenbildsäulen in den Thurmnischen der Schloßtrümmer, man sieht sie vor lauter Schlingkraut nicht.

Ich aber will Ihren wiederholten Vorwurf: „daß ich nur noch eine Stellung in der Memoiren-Litteratur“ behaupte, von mir abwenden, und zeigen, daß ich, unverdrängt von früheren Stellungen, sie jetzt, wie jemahls zu beleuchten weiß.

Wählen Sie einige Stoffe zu einer poetischen Erzählung, ich will dasselbe thun.

Eine dritte Hand ziehe das Loos, u. wir wollen beide denselben Stoff bearbeiten, und drucken lassen, unser Aeropag sei das Publikum.

George Sand kennt mich aus Gesprächen und Briefen, wahrscheinlich hat sie aus diesen geschlossen, ich sei eine ächtpoetische Natur, das glaubt sie auch noch heut, nach A. Lewalds und Carl Gutzkows Besuch, sie thut diesen Irrthum mit verschiedenen ihrer Landsleute, z. B. de Staël, Chateaubriand, Ballanches, ja, mit mehreren Deutschen: Goethe, Jean Paul, Werner, Chamisso u. a. großen Lebenden – großen Todten, diesseits und jenseits der Alpen und Meere, seit nun bald 50 Jahren!16

Ob der Wettstreit zustande kam, ist nicht bekannt. Dass er von Helmina von Chézy in der Art eines kompetitiven Spiels dennoch derart inszeniert wurde, macht ←16 | 17→deutlich, wie ernst ihr ein auf Persönlichkeit gegründetes schriftstellerisches Selbstverständnis war.

Weitaus emanzipierter agiert die um ca. 10 Jahre jüngere Amalia Schoppe, jene Protegierte Helmina von Chézys, von der sie rechtzeitig auf das geeignete Genre (Prosa) aufmerksam gemacht wird.17 Zwar scheut Schoppe – entgegen der Belehrung Chézys – die Öffentlichkeit bzw. Publizistik nicht, nutzt aber gleichzeitig die Möglichkeiten, die der Brief für die Etablierung einer Gegenöffentlichkeit eröffnet. Während sie nämlich in der Presse nur gemäßigt, d. h. im Rahmen festgeschriebener Rollenmuster, urteilen darf, kann sie in den Briefen auch ein sehr persönliches Bild der zeitgenössischen Literatur entwerfen. Hier, in der Entscheidung, auch für Zeitschriften weiter regelmäßig zu berichten, liegt ein wichtiger Unterschied zu Chézy, die der Publizistik in der zweiten Lebenshälfte fast komplett entsagt und ihre publizistischen Werke nicht vollendet bzw. nicht veröffentlicht.18

Amalia Schoppe (1791–1858) gehört zu den produktivsten und meist gelesenen Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Ihre Bibliografie, bei der es sich meist um Unterhaltungsliteratur handelt, umfasst mehr als 200 Bände, darunter historische Romane, Erzählungen, Novellen, Kindergeschichten, Jugend- und Sachbücher, belletristische Übersetzungen aus dem Französischen, Englischen und Spanischen sowie Beiträge für Periodika und Anthologien.19 Sie publiziert für vierzig Journale, u. a. Morgenblatt für gebildete Stände, Dresdner Abendzeitung und Zeitschrift für die elegante Welt,20 und ist Redakteurin von vier Zeitschriften: Cornelia ←17 | 18→(1843–1851), Neue Pariser Modeblätter (1827–45), Iduna (1831–1839) und Album für Theater und Theater-Costüme (1841).21 Geboren 1791 in Burg auf der Insel Fehmarn, verbringt Schoppe ihre Kindheit und Jugend hauptsächlich in Hamburg, wo sie dank ihrer Arbeit als Erzieherin in einem Hamburger Patrizierhaus Rosa Maria Varnhagen, die spätere Assing, und die Schriftsteller Justinus Kerner und Adelbert von Chamisso kennen lernt. Ihre ersten Gedichte erscheinen in dem von Kerner herausgegeben Poetischen Almanach für das Jahr 1812, in dem auch Rosa Maria Varnhagen und Helmina von Chézy publizieren, selbstverständlich anonym.22 Als Hauptgründe für Schoppes Entscheidung, Schriftstellerin zu werden, gelten der gescheiterte Versuch, gemeinsam mit der Schriftstellerin Fanny Tarnow ein Erziehungsinstitut für Mädchen in Hamburg zu gründen, und der frühe Tod ihres Mannes, nach dem sie für den Unterhalt der Familie selbst sorgen muss. Schoppe stirbt 1858 als Immigrantin in den USA, wohin sie ihrem einzigen noch lebenden Sohn Alphons Anfang der 1850er Jahre gefolgt war.23

Mit Helmina von Chézy verbindet Amalia Schoppe zunächst – wie sich anhand ihres Briefwechsels rekonstruieren lässt – eine Schülerin-Meisterin-Relation, die im Laufe der Zeit zu einer beruflich-professionellen Freundschaft wird.24 In der Sammlung Varnhagen in der Jagiellonen-Bibliothek werden 45 Briefe von Amalia Schoppe an Helmina von Chézy aufbewahrt, die Schoppe in den Jahren 1820–1844 schrieb. Dass diese Briefe für Chézy einen besonderen, auch dokumentarischen Wert hatten, zeigt die Tatsache, dass sie in den 1840er Jahren ein Porträt der Schriftstellerin Schoppe vorbereitete, in das sie ←18 | 19→umfangreiche Zitate aus diesen Briefen einflocht. Das fünfzehnseitige Manuskript blieb bislang unveröffentlicht, wie mehrere andere Artikel über Frauen, an denen Chézy in der zweiten Lebenshälfte kontinuierlich arbeitete.25

Wie der Blick in die Archive zeigt, war Schoppe eine unermüdliche Briefschreiberin, die mit der Zeit über ein weit gespanntes Netz brieflicher Kontakte verfügte, insbesondere zu literarisch tätigen Frauen (Fanny Tarnow, die Damen Assing, Therese Huber).26 Die ersten Briefe an Chézy sind auf den Sommer 1820 datiert und behandeln u. a. ihr Zerwürfnis mit Tarnow.27 Sie weisen aber auch die für Schoppe typische Länge und epische Breite auf, Merkmale, die sie in einem Postscript sogar zum Programm erklärt.28 Die besondere Beziehung zu der älteren Kollegin gründet in der spezifischen Lebenssituation, in der Schoppe zu Chézy – am Wendepunkt ihres Lebens – in Kontakt tritt. Chézys Hauptbeweggrund scheint hingegen das frauenemanzipatorische Gespür zu sein, das auch in einem Brief an Therese Huber aus dem Jahr 1821 deutlich zum Ausdruck kommt. Hier setzt sie sich mit der für sie typischen Emotionalität für die Unterstützung Schoppes ein:

Details

Seiten
310
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631792278
ISBN (ePUB)
9783631792285
ISBN (MOBI)
9783631792292
ISBN (Hardcover)
9783631780305
DOI
10.3726/b15728
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (August)
Schlagworte
weibliche Autorschaft Materialität des Briefs Briefeditionen Sammlung Varnhagen Salonkultur
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 310 S., 23 s/w Abb.

Biographische Angaben

Renata Dampc-Jarosz (Band-Herausgeber:in) Paweł Zarychta (Band-Herausgeber:in)

Renata Dampc-Jarosz studierte Germanistik an der Schlesischen Universität in Katowice und an der Universität Heidelberg. Seit 1994 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Schlesischen Universität Katowice tätig. 2011 habilitierte sie zum Thema Briefästhetik der deutschen Romantikerinnen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Literatur und Kultur der deutschen Klassik und Romantik, deutschsprachige Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Frauenliteratur und komparatistische Fragestellungen. Paweł Zarychta studierte Germanistik in Krakau und Erlangen. 2006 promovierte er über Lessings Rhetorik im antiquarischen Streit. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanische Philologie an der Jagellonen-Universität Krakau tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen literarische Rhetorik, Übersetzungstheorie und -praxis, Briefkultur und Sammlung Varnhagen.

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