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Grenzen und Migration: Afrika und Europa

von Carlotta von Maltzan (Band-Herausgeber:in) Akila Ahouli (Band-Herausgeber:in) Marianne Zappen-Thomson (Band-Herausgeber:in)
©2019 Konferenzband 258 Seiten

Zusammenfassung

Im Kontext derzeitiger Migrationsbewegungen aus Afrika nach Europa sowie ins südliche Afrika werden Migranten und Flüchtlinge bei Grenzübertritten verschärften Regelungen und in Aufnahmeländern sozialer Exklusion oder auch xenophoben Übergriffen ausgesetzt. Aufgrund nationalstaatlicher, kultureller und ethnischer Zuschreibungen oder angenommener Differenzen werden oft Grenzziehungen zwischen einem ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ vorgenommen. Der Band versammelt vierzehn wissenschaftliche Beiträge, die untersuchen, wie und welches Wissen über Migration, Flucht und Grenzen in der Literatur, Translation und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten hergestellt und verhandelt wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Joseph Gomsu: ‚Erstgeborene‘ und ‚letzte Wilde‘? Grenzüberschreitung und Identitätsprobleme in Giselher W. Hoffmanns Roman Die Erstgeborenen
  • Gunther Pakendorf: Witboois Verweigerung
  • Eva-Maria Siegel: Afrika be/schreiben. Diskursmacht und Grenzüberschreitung im Werk von Hans Paasche
  • Albert Gouaffo: Mentale Grenzen zwischen Afrika und Deutschland: Grenzüberschreitung und Strategien ihrer Auflösung in Amma Darkos Der verkaufte Traum
  • Constant Kpao Sarè: Afrika-Paradies. Eine alternativgeschichtliche Gestaltung der Migration nach Afrika in ausgewählten deutsch- und anderssprachigen Filmen und Romanen
  • Amadou Oury Ba: Vom gesellschaftlichen Ausschluss und der Aufnahme von Migranten. Zu Rebekka Agbono-Puntigams Warum hast du mich jetzt geküsst
  • Ibrahima Diagne: Postkoloniale Melancholie in der afrikanischen Migrationslyrik in Deutschland
  • Stephan Mühr: Grenzorte und Grenzdialektik in Lutz Seilers Kruso
  • Carlotta von Maltzan: Sehnsuchtsort Europa. Zu Grenzen in Maxi Obexers Roman Wenn gefährliche Hunde lachen
  • Christiane Schaeffler: „Die Geschichte der Auswanderung, eine deutsche Geschichte.“ Zu Stimmen und Grenzen in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen
  • Akila Ahouli: Grenzüberschreitung als dramaturgisches Prinzip. Zu Roland Schimmelpfennigs Drama Der goldene Drache
  • Shaban Mayanja: Diasporische afrikanische Literatur in deutscher Übersetzung: Grenzüberschreitungen am Beispiel der Übertragung von Bernadine Evaristos Blonde Roots ins Deutsche
  • Angelika Weber: Metaphorische Grenzüberschreitungen in Herta Müllers Collagenband Vater telefoniert mit den Fliegen
  • Lorna Ayiemba Okoko: Xenophobie und Migration. Zu Lutz van Dijks Jugendbuch Romeo und Jabulile
  • Autorinnen und Autoren

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Joseph Gomsu

‚Erstgeborene‘ und ‚letzte Wilde‘? Grenzüberschreitung und Identitätsprobleme in Giselher W. Hoffmanns Roman
Die Erstgeborenen

Abstract: ‘Firstborns’ and last ‘barbarians’? Border crossing and identity problems in Giselher W. Hoffmann’s novel Die Erstgeborenen. The advent of modernism had disastrous consequences on the way of life and identity of the indigenous San people in southern Africa. Giselher W. Hoffmann portrays such a young man Katuma in his novel Die Erstgeborenen (1991) who is forcefully moved to a farm in South West Africa, becomes culturally and physically violated ultimately resulting in his emotional and cultural demise. Other members of his clan only manage to maintain their nomadic lifestyle until the discovery of water and diamonds by white and black people resulting in a serious threat to their way of life and their culture. This contribution investigates borders and border crossings as well as identity crises in conjunction with the use of local resources such as water and diamonds and the consequences for the indigenous people.

Keywords: Borders, border crossings, identity, nomadic lifestyle, San people

Zwischen Staaten, Völkern, Kulturen oder Sprachen sind Grenzen Durchgangsorte, aber auch Orte von Spannungen und Schmuggel. Grenzen verbinden und trennen zugleich. Manche sind sichtbar, andere eher unsichtbar. Ein Blick auf die Menschheitsgeschichte zeigt, dass grenzüberschreitende Wanderung oder Wanderung innerhalb eines gegebenen Raumes nicht mit der Migration aus armen Ländern in Industrienationen begonnen hat, sondern eher ein sehr altes Phänomen ist: Der Mensch ist eben nie ein Stubenhocker, sondern ein Nomade gewesen und wird es auch wohl bleiben.

In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie Literatur durch die Inszenierung von Protagonisten und deren Handlungen Wanderungsbewegungen verarbeitet und Identitätskonstruktionen in einer zusammenwachsenden Welt reflektiert. Giselher W. Hoffmann, Enkel von deutschen Einwanderern, ist ein zwischen Berlin und Namibia lebender Nomade. Er lässt in seinem Roman Die Erstgeborenen1 eine Sippe von namibischen ←9 | 10→Ureinwohnern und europäische Kolonialherren aufeinandertreffen, wodurch sich Fragen nach dem Zusammenhang von Grenze und Identität ergeben. Vorwiegend auf den afrikanischen Hauptprotagonisten des Romans, den San/Ureinwohner Katuma und auf den Polizeibeamten van Wyk Bezug nehmend, wird auf die Problematik der Grenzüberschreitung vor der Folie der Suche nach Wasser und Diamanten und die sich daraus ergebende Identitätskrise eingegangen.

Gerade in dieser Hinsicht spielt sich die Romangeschichte an einem symbolischen Ort ab, und zwar unweit des Länderdreiecks zwischen Südwestafrika, Südafrika und Betschuanaland, in einer Gegend also, wo ‚Grenzverletzung‘ so wie Wanderung sozusagen zur zweiten Natur der Bewohner geworden sein müssen. Kurz nachdem die Familie Ecksteen sich auf ihrer neu erworbenen Farm eingerichtet hat, reiten Vater Ecksteen und Sohn in die Kalahari, um „Menschen zu jagen“ (DE 21), Buschmänner, die sie zum Berg mit Wasser und Diamanten führen sollen (DE, 29). Da stoßen sie auf eine Gwi-Sippe2.

In einem ersten Schritt wird auf Hoffmanns Plädoyer für Grenzüberschreitung eingegangen, dann auf die ambivalente Figur des Polizeibeamten van Wyk, der sich gern in einen Buschmann verwandeln würde. Abschließend wird die Geschichte des Buschmanns Katuma erzählt, der kulturell und physisch vergewaltigt wird und kulturell und seelisch zugrunde geht.

Auf der Suche nach dem ‚blauen Gold‘: Illegale Grenzüberschreitungen

Die Abenteurer-Familie ist nicht nur auf der Suche nach Diamanten, sondern auch nach Trinkwasser, nach dem ‚blauen Gold‘. Auf der Makro- wie auf der Mikroebne ist Trinkwasser zum Edelmetall geworden: Diese bildhafte Bezeichnung für Trinkwasser zeigt, wie wichtig Wasser in einer globalisierten Welt geworden ist und in der Zukunft zur Ursache von Konflikten sein kann, wenn sich benachbarte Bevölkerungsgruppen oder Staaten nicht einvernehmlich über dessen Nutzung einigen. In Wüstenregionen ist Wasser in der Tat mit diesem Edelmetall zu vergleichen, aber nicht nur dort. Vor diesem Hintergrund lässt Giselher W. Hoffmann seine Protagonisten staatliche Grenzen illegal überschreiten. Vater Ecksteen überschreitet die Grenze zum Betschuanaland und entführt einen Gwi-Jungen, der ihm bei der Suche nach Wasser helfen soll. ←10 | 11→So handelt er gesetzeswidrig sowohl in Südwestafrika als auch im Betschuanaland (vgl. DE 29)

Für den Gwi-Clan, dessen Mitglied Katuma von den Ecksteens entführt wurde, ist die Wanderung eine Lebensform. Als Sammler und Jäger kennen sie keinen festen Wohnsitz und vielleicht deshalb auch keine Grenzen im völkerrechtlichen Sinne. Befestigte Grenzen sind für sie eine Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und können ihnen deshalb nur das Leben schwer machen. Aus Überlebensgründen überschreiten sie die Grenze und ziehen nach Südwestafrika in der Hoffnung, die einst dort von ihrem Clan-Führer gesichtete Wasserstelle wiederzufinden. Die Grenzüberschreitungen der Ecksteens und der Gwi wird durch die Suche nach dem ‚blauen Gold‘ motiviert, das hier zum Gegenstand einer konfliktträchtigen Beziehung wird, ein Konflikt, der am Ende des Romans so gelöst wird, dass die Gwi noch eine Überlebenschance haben.

Der Roman neigt sich seinem Ende zu und fast alle Protagonisten sind nun auf der Farm versammelt. Leutnant van Wyk hält nach all den Geschehnissen vor der Gwi-Sippe eine Rede. Im Namen der jetzigen Farmbesitzerin, Syria Landtberg, schließt er einen Vertrag mit der Gwi-Sippe. Das Abkommen erlaubt den Nomaden, so oft wie nötig die ‚Grenze zu verletzen‘ und sich auf der Farm aufzuhalten. Es handelt sich aber um ein Abkommen zwischen zwei ungleichen Partnern wie so oft in (post)kolonialer Situation: Sein Wille wird diktiert und von Benjamin übersetzt. Denn es geht hier nicht um eine Verhandlung zwischen den Gwi und dem Leutnant, sondern nur um das Wohlwollen des letzteren. Sicher handelt er humaner als der Sohn Ecksteen, der das Wasser überhaupt nicht teilen wollte. Aber seine wohlwollende Position hat etwas Paternalistisches: Wie ein Vater spricht er „zu einem unerzogenen Kind“ (DE 493). Ein Gemeingut wird privatisiert, zumal die Quelle, die einmal den Gwi gehörte, nun Privatbesitz der Farmerin ist.

Hinzu kommt, dass van Wyk sein ethnologisches Wissen nutzt, um die Gwi von der Wasserstelle fernzuhalten. Er teilt ihnen mit, es würden nun in der Berghöhle die Geister der Weißen wohnen, die jeden erwürgen würden, der Wasser holen möchte. Liest man den Text von Hartmut Motz, durchschaut man diesen Trick: Bei den San fürchtet man Tote und Geister, beschwert daher Gräber mit Steinen und meidet die Stätten der Toten.3 Somit bleibt an seinem Handeln etwas Kolonialistisches haften: Die Gwi werden hier wegen ihres Glaubens hinters Licht geführt.

Peter Schneider hat in seinem Essay Die Botschaft des Pferdekopfs die Rolle von Mythen und Glauben bei der Durchsetzung der europäischen Herrschaft in Spanisch-Amerika deutlich gemacht. Die Indianer kannten keine Pferde und als sie die Spanier auf Pferden sahen, dachten sie, Pferd und Reiter ←11 | 12→seien ein einziges übernatürliches Wesen. Der Konquistador Cortés bestärkte sie in ihrem Glauben, was die Durchsetzung seiner Macht erleichterte.4 Hier operiert van Wyk mit einem ähnlichen Trick wie Cortés in Schneiders Essay. Am Ende seiner Rede lässt er seinen Dolmetscher den Gwi sagen, er werde eines Tages in das Land ihrer Väter kommen, damit sie seine vielen Fragen beantworten. Van Wyk ist hier ein ethnologisch interessierter Polizeibeamter. Die Gwi sind bereit, diesen Wunsch zu erfüllen (vgl. DE 494). Von Seiten der Europäer wie der Ureinwohner werden nun versöhnende Worte gesprochen. Die positive Antwort der Gwi signalisiert eine spätere, aber diesmal von beiden Seiten akzeptierte Grenzüberschreitung, die zu einem besseren kulturellen Kennenlernen führen kann.

Der Romanautor lässt einen durch die Suche nach Wasser entstandenen Konflikt friedlich zu Ende kommen. Festzuhalten ist: Hoffmann inszeniert die Grenzen als etwas, was dazu da ist, überschritten zu werden. Er lässt seine Protagonisten die Grenzen ‚verletzen‘. Sogar der Polizeibeamte, der die illegale Grenzüberschreitung bekämpfen sollte, biegt das Gesetz, das er eigentlich hüten sollte.5

Van Wyk: Chamäleon, Ethnologe oder Undercover-Agent?

In kolonialer wie postkolonialer Situation, verstanden als Globalisierungsschübe, sind Menschen in ständiger Bewegung. In seinem postkolonialen Theorieansatz hat sich Homi K. Bhabha für Stereotypen und deren Erscheinung im kolonialen Diskurs interessiert und bei der Analyse der Identitätskonstruktion im kolonialen Kontext festgestellt, dass der westliche Diskurs grundsätzlich auf dem kulturellen Unterschied zwischen dem Westen und dem ←12 | 13→Rest der Welt gebaut werde.6 Zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten – auch ehemaligen – herrschen Verhältnisse, die den Kolonisierten/Kolonisator in einen ‚Zwischenraum‘ führen, der weder ganz der Kultur des Europäers noch der des Nicht-Europäers gehört und in dem es zu einem Austausch kommt. Die Grenzüberschreitung als Wesensmerkmal einer globalisierten Welt macht diese Kategorie des Zwischenraums plausibel und bietet einen Hintergrund, vor dem sie sich entfalten kann.

In diesem Teil des Beitrags wird eine Romanfigur vorgestellt, die sich eben in einem Zwischenraum befindet und agiert. Im Roman inszeniert Hoffmann im Polizeibeamten van Wyk eine überaus interessante und komplexe Figur: ein geborener Ethnologe, der zum Polizeibeamten werden musste. Man braucht hier nicht auf die problematische Rolle einzugehen, die die Ethnologie in der Kolonialherrschaft gespielt hat, nämlich als Kolonialhilfswissenschaft. Der Ethnologe des Kolonialzeitalters lieferte dem Kolonialsystem die für die Festigung der Kolonialmacht notwendigen Informationen7, näherte sich jedoch durch die teilnehmende Beobachtung der Kolonialbevölkerung am besten an. Leutnant van Wyk wird im Roman als Gwi-Kenner vorgestellt. Der über die Kalahari-Ureinwohner Vorträge haltende Polizeibeamte, wird von seinen weißen Mitbürgern für ein Chamäleon gehalten, das sich am liebsten „in einen kleinen Buschmann verwandeln würde“ (DE 326), was einer Bastardisierung/Verkafferung8 gleich käme. Wegen seiner Bewunderung für das Gwi-Volk wird er von seinen weißen Mitbürgern schief angesehen. Von den Gwi wird er jedoch gefürchtet und bildhaft „der Falke“ genannt, also ein Greifvogel, der dank seines scharfen Blicks von weit her zustoßen kann. Das heißt, er muss in der eigenen Welt wie aus der Perspektive der Gwi um sein Selbstverständnis kämpfen.

Aus der Sicht eines Lesers ist das Bild des Chamäleons etwas Interessantes, aber auch Ambivalentes: Das Eigenartige beim Chamäleon in der Tierwelt ist seine Fähigkeit, seine Farbe zu ändern. Damit kann er sich jeder Umgebung in der Natur anpassen. Als Meister der Tarnung kann das Chamäleon im (post)kolonialen Kontext aus der Perspektive der Kolonisierten eine negative Rolle spielen. Denn ein Polizeibeamter mit Tarnfähigkeiten des Chamäleons kann sehr wohl ein Undercover-Agent in geheimer Mission ←13 | 14→für die Kolonialmacht sein. Diese Fähigkeit, die lokale Farbe zu übernehmen, macht aus ihm ein sehr anpassungsfähiges Tier und aus dem Leutnant eine Figur, die, aller Kritik zum Trotz9, Brücken statt Grenzen oder Mauern zwischen Menschen und Kulturen bauen und die Rolle eines Mittlers spielen kann. Dies wird in einer längeren Romanpassage deutlich, die hier zitiert werden soll, weil sie das Bild eines um sein Selbstverständnis kämpfenden und die Grenze zwischen Legalität und Illegalität überschreitenden Ethnologen bzw. Polizeibeamten aus der Perspektive von Syria Landtberg ergänzt, die sich an seine belehrenden Worte erinnert:

Vor Tausenden von Jahren wurde das südliche Afrika von Menschen bevölkert, die sich die Erstgeborenen nannten. Sie waren Jäger und Sammler und widerstanden der Versuchung, die Natur nach einer Idealvorstellung zu verformen, indem sie im Einklang mit dem Universum lebten, anders als die Schwarzen und Weißen, die aus dem Norden und Süden in das Land vorstießen und die Eingeborenen in karge, abgelegene Gebiete verdrängten oder wie Raubwild niedermetzelten, weil sie eine Gefahr für das Vieh darstellten. Dabei sahen die Buschleute das Land, das Wasser, die Pflanzen und ebenso die Tiere als etwas an, das jedem und doch niemandem allein gehört. An der negativen Einstellung, die man den Buschleuten entgegenbrachte, hat sich nicht viel geändert. Sie werden als arbeitsfaul, weltfremd und primitiv bezeichnet. Nur eine Handvoll dieser Menschen durchstreift heute noch als Jäger und Sammler die Zentrale Kalahari, die von der Zivilisation unberührt geblieben ist, weil es dort nichts gibt, was die Weißen oder die Schwarzen den Buschleuten streitig machen könnten. Und den Buschleuten, die unter uns leben, haben wir einen Teil des Neuen aufgezwungen, wohl in der irrigen Annahme, mit naiven Menschen umzugehen, die nicht wüssten, was gut und was schlecht für sie sei. Mag sein, dass es auch aus einem moralischen Pflichtgefühl heraus geschah, jedenfalls mussten wir es tun, damit sie sich, auch wenn sie ihre Götter nicht gleich vergaßen, zumindest äußerlich der Zivilisation anpassten. In unseren Augen ist Fortschritt etwas, nach dem ein jeder strebt. Also verschafften wir ihnen Missionare, Kleidung, Häuser und Vieh. Und nun setzt es uns in Erstaunen, dass sie an unserer bequemen Welt zerbrechen, wo sie doch in einer viel härteren überlebt hatten. (DE 27, Hervorh. JG)

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Hoffmann konstruiert die Figur des Polizeibeamten/Ethnologen als eine Gegenfigur zu den Ecksteens (Vater und Sohn), die jeder Empathie unfähig sind und keine kulturelle Grenze überschreiten können. Seine empathische Kompetenz macht in den Augen manch eines Europäers aus ihm einen komischen Kauz, im Rahmen einer interkulturellen Kommunikation jedoch eher einen einfühlsamen Charakter, der in der Lage zu sein scheint, die Gwi in- und auswendig zu kennen und so kulturell Grenzen zu überschreiten. Er teilt zum Beispiel die Weltanschauung der Ureinwohner in Bezug auf Wasser, die er auch nach Kräften am Ende des Romans in die Praxis umsetzt: Er ist wie die Gwi davon überzeugt, dass das Wasser „jedem und doch niemandem allein“ (DE, 434) gehört. Zwar lässt das Chamäleonhafte van Wyk wohl verdächtig erscheinen, aber seine interkulturelle Kompetenz versetzt ihn in die Lage, die Situation eines aus seinem kulturellen Milieu herausgerissenen und in die fremde moderne Welt verpflanzten jungen Gwi mehr oder weniger zu verstehen. An der vermeintlich ‚bequemen Welt‘ zerbricht jedoch der Ich-Erzähler Katuma.

Katuma: oder die Geschichte einer Vergewaltigung

Im Roman wird auch die Geschichte vom jungen Buschmann Katuma erzählt, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass Hoffmann der Perspektive der Ureinwohner Rechnung trägt. Katuma ist diejenige Figur, die aus der Sicht der Gwi und zwischen zwei Stühlen sitzend die Geschichte erzählt, und die aufgrund der Grenzüberschreitung am stärksten unter Identitätsproblemen zu leiden hat. Ganz zu Beginn des Romans erlebt Katuma eine zweifache Traumatisierung: eine Entführung, gefolgt von einer Zeit, in der er eingesperrt bleiben muss und eine doppelte Taufe. Die verhängnisvolle Begegnung mit der Familie Ecksteen beraubt ihn seiner kulturellen Wurzeln und vor allem seiner Bewegungsfreiheit. Ein sesshafter Mensch, der eingesperrt ist, muss stark unter dem Freiheitsentzug leiden; bei einem als Nomade lebenden Menschen kann das Leiden unter Freiheitsentzug nur potenziert werden. Nach der Rückkehr aus dem Betschuanaland sperren ihn die Ecksteens in einem Schuppen ein und ketten ihn wie ein Tier an.

Der Romanautor inszeniert mit der Figur Katuma einen über sich selbst reflektierenden Ich-Erzähler, der sich aus dem Kreis seiner Sippe gerissen fühlt. Die Verpflanzung in diese völlig fremde Welt wird für ihn nicht leicht zu überwinden sein, wenn überhaupt. In der Bildsprache der Gwi wird an vielen Stellen des Romans auf die Gefahr hingewiesen, dass Menschen wie an einen anderen Ort verpflanzte Bäume eingehen.

Das, was eine doppelte Taufe genannt wird, hat mit der Namensgebung und einem von Emil van Brackel als Initiationsritual interpretierten ←15 | 16→Waschungsakt zu tun.10 Im kolonialen Zeitalter hatten sich die Europäer das Recht genommen, Orte wie Menschen zu benennen. So war die Benennung eine fundamental hegemoniale Machtdemonstration und ein direkter Eingriff in die Eigenständigkeit einer Region, Kultur oder Person. Was die Benennung von neu ‚entdeckten‘ Gebieten angeht, ging es zuallererst um eine diskursive Besitznahme. Regionen wurden einverleibt, indem sie europäische Namen bekamen. Thomas Theye spricht in diesem Sinne in seinem Sammelband Wir und die Wilden. Eine kannibalische Beziehung von einem europäischen „kulturellen Kannibalismus“, wobei die Europäer es seien, die bei ihrem Hunger nach Rohstoffen und anderen Bodenschätzen außereuropäische Regionen und Kulturen ‚gefressen‘ hätten.11

Bei dem Eingriff in die Eigenständigkeit eines Individuums wird die Identität des Betroffenen, wenn nicht negiert, so doch ganz stark in Frage gestellt. Zu Beginn des Romans bekommt der Ich-Erzähler von dem ersten Farmbesitzer einen in Bezug auf die Umsetzung der Farmer-Pläne des Buren vielsagenden Namen: Nossob. Pa Ecksteen und sein Sohn Johan sind auf dem Rückweg von ihrer Expedition ins Betschuanaland. Nach der Entführung des jungen Gwi werden sie von der Dunkelheit überrascht und müssen ein Lager aufschlagen, um zu übernachten. Johan sagt zu seinem Vater: „Wir kennen nicht einmal den Namen des Jungen.“ Der Vater antwortet, als hätte er schon den Namen gehört: „Er heißt Nossob.“ Johan wundert sich, zumal sein Vater die Gwi-Sprache nicht beherrscht, aber der Letztere erklärt, warum er diesen Namen gewählt habe: „Der Nossob ist ein Trockenfluss, aber so wie er in der Regenzeit das Wasser, und damit das Leben, zum Farmer trägt, so wird der Buschmann uns zum Berg führen“(DE 40). „Ein hübscher Name“, dachte Johan, „vor allem ein treffender, und er fragte sich, was der Buschmann dazu gesagt hätte“ (DE 40).

Details

Seiten
258
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783034329538
ISBN (ePUB)
9783034329545
ISBN (MOBI)
9783034329552
ISBN (Paperback)
9783034329521
DOI
10.3726/b11158
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Flucht Postkoloniale Diskurse Koloniale Diskurse Identität Xenophobie Exklusion Inklusion Diaspora Literaturwissenschaft Afrikastudien Migration
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 258 S.

Biographische Angaben

Carlotta von Maltzan (Band-Herausgeber:in) Akila Ahouli (Band-Herausgeber:in) Marianne Zappen-Thomson (Band-Herausgeber:in)

Carlotta von Maltzan ist Professorin für Deutsch an der Stellenbosch University, Südafrika. Akila Ahouli ist Dozent für Interkulturelle Germanistik an der Université de Lomé in Togo. Marianne Zappen-Thomson ist Professorin für Deutsch im Department of Language and Literature Studies der University of Namibia in Windhoek

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