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Angst und Vernunft – An der Grenze von Rationalem und Nichtrationalem im menschlichen Denken und Handeln

von Wolfgang Wein (Autor:in)
©2017 Dissertation 217 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch untersucht das Verhältnis von Angst und Vernunft auf der individuellen sowie gesellschaftlichen Ebene. Angst gilt im philosophischen Diskurs als diffus, ungreifbar, subjektiv, irrational, maskiert und damit paradigmatisch für «das Andere der Vernunft». Bei Heidegger wird Angst schließlich zur «ausgezeichneten Erschlossenheit des Daseins» stilisiert. Demgegenüber soll in Philosophie, Psychoanalyse, wie auch den kollektiven Ängsten überprüft werden, ob Angst nicht letztlich auf das vernünftige Erkennen und Begreifen angewiesen ist, wie Kant dies für die Philosophie der Aufklärung dargelegt hat und die sinnvollere Option in der «leisen Stimme der Vernunft» liegt, von welcher Sigmund Freud sprach, nicht in der Beschwörung der Angst als Element postmoderner Antiaufklärung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • I. Geschichte der Begriffe „Furcht“ und „Angst“ im philosophischen Diskurs
  • Exkurs: Das Fremde
  • Exkurs: Die Angst vor dem Tod
  • II. Angst und Vernunft
  • 1. Definitionen von Angst
  • 2. Vernunft und Angst – aus Kantianischer Sicht
  • III. Das Angstkonzept der Psychoanalyse
  • 1. Freuds philosophische Stellung
  • 2. Das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem und die Rolle des Ichs als Instanz des Selbstbewusstseins
  • 3. Zum Begriff des Unbewussten (Es)
  • 4. Die Angst und das Unbewusste
  • 5. Angst und Narzissmus
  • 6. Die Rückkehr zum Ich
  • IV. Kollektive Angst
  • 1. Die Quellen kollektiver Angst
  • a) Angst aufgrund von Entfremdung
  • b) Über-Ich und kollektive Angst
  • c) Begriffskrise und Angst
  • d) Ökonomische Krise und Angst
  • 2. Die Quellen kollektiver Furcht
  • V. Angst als „Existenzial“
  • 1. Zum philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers
  • 2. Der strategische Plan Heideggers in „Sein und Zeit“
  • 3. Die Begriffe „Furcht“ und „Angst“ bei Heidegger
  • a) Sein und Zeit − § 30: Die Furcht als Modus der Befindlichkeit
  • b) § 40: Die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins
  • Schluss
  • Literatur

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Vorwort

„Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst.“ So lautet die stringente Formel, in welche Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die Dialektik von verstandesgeleiteter Kolonialisierung der Natur und ihren inneren Triebkräften sowie die Folgen dieses Prozesses zu fassen wussten: „Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.“2 In den Blick geriet dadurch wieder das eigentümliche Verhältnis, welches zwischen kritischer bzw. selbstkritischer Vernunft als treibendem Medium der Aufklärung und zu bannender Angst seit jeher bestand.

Zuvor hatte Sigmund Freud bereits einen zweiten Bereich der Ängstigung identifiziert − das Innere:

Das Ich kämpft also auf zwei Fronten, es hat sich seiner Existenz zu wehren gegen eine mit Vernichtung drohende Außenwelt wie gegen eine allzu anspruchsvolle Innenwelt. Es wendet die gleichen Methoden der Verteidigung gegen beide an, aber die Abwehr des inneren Feindes ist in besonderer Weise unzulänglich. Infolge der ursprünglichen Identität und des späterhin innigsten Zusammenlebens gelingt es schwer, den inneren Gefahren zu entfliehen. Sie verbleiben als Drohungen, auch wenn sie zeitweilig niedergehalten werden können.3

Die äußeren Gefahren setzen sich aus natürlichen und gesellschaftlichen Bedrohungen, die inneren aus bewussten und unbewussten Ansprüchen zusammen. Angst indiziert demnach eine Sphäre, die auf komplexe Weise mit dem Denken, Fühlen und Handeln der Menschen verwoben ist. Freud weist der Angst als Grenzgebiet zwischen Bewusstem und Unbewusstem eine zentrale Rolle zu: „Irgendwie steckt die Angst hinter allen Symptomen, aber bald nimmt sie lärmend das Bewußtsein ganz für sich in Anspruch, bald verbirgt sie sich so vollkommen, daß wir genötigt sind, von unbewußter Angst oder […] von Angstmöglichkeiten zu reden.“4 Für Ernst Bloch steht die Angst im Horizont der Interessen und am Beginn des Denkens: „Es gibt kein Denken um seinetwillen und hat es nie gegeben. Das Denken begann damit, eine Lage erkennen zu wollen, um sich in ihr auszukennen. Hinter ihm standen Ängste und vor allem wünschende Bedürfnisse […].“5 ← 9 | 10 →

Andere Theoretiker sehen in der Angst – in evolutionstheoretischer Selbstbeschränkung – einen biologischen Affekt des Zwischenhirns und verfolgen diese Spuren bis in den Bereich der Instinkte. So meinte Konrad Lorenz etwa: „Das Gespenst ist die Projektion des nächtlich jagenden Raubtiers.“6 Dabei wird das Entscheidende unterschlagen: Das Tier verfügt über kein Bewusstsein seiner Angst („Ich habe Angst“), es reagiert bloß instinktiv, was Kierkegaard folgendermaßen zusammenfasste: „[…] denn das Tier hat sie [die Angst; Anm. d. Verf.] auch nicht, und je weniger Geist, desto weniger Angst.“7 Später ergänzt Adorno noch diesen Gedanken: „Die Welt des Tieres ist begriffslos […] Für den Entzug des Trostes tauscht das Tier nicht Milderung der Angst ein, für das fehlende Bewußtsein von Glück nicht die Abwesenheit von Trauer und Schmerz.“8 Unbestritten und offensichtlich natürlich ist, dass im Verlaufe der Evolution bis zum Menschen die biologische Angstreaktion in der Ausprägung ihrer Symptome und dem physiologischen Ablauf komplexer, und ihr rein reflektorischer Charakter situationsspezifischer wurde. Selbst bei höher entwickelten Tieren (Affen) ist ein gewisser Lernprozess bei der Angstreaktion zu beobachten, es handelt sich nicht nur um reflektorische Muster bei der Angstreaktion.9

An diesem kleinen Spektrum von Betrachtungen lässt sich bereits ermessen, wie heterogen die Auffassungen über den Angstbegriff und seine Funktionen sind und wie sich das Bedeutungsfeld des Begriffs selbst mittlerweile erweitert hat. Angst wird verstanden als physiologische Reaktion, als Stimmung, als fester Bestandteil psychoanalytischer Terminologie, als empirisch überprüfbares psychologisches Phänomen, als Metapher historischer und gesellschaftlicher Phänomene oder auch als überzeitliche Kategorie menschlicher Existenz. Zu Recht betonen Stefano Micali und Thomas Fuchs die elementare Bedeutung von Angst:

Angst gilt als eine Grundbefindlichkeit des Menschseins. Es ist nicht möglich, in der Philosophiegeschichte einen anderen Affekt zu finden, dem eine solch fundamentale Rolle für die individuelle Existenz, aber auch für die Entstehung der Rituale, der Religionen, der Institutionen und selbst des Staates zugesprochen wurde.10 ← 10 | 11 →

Allerdings vermag nur der Mensch den individuellen Vorstellungen erfahrener Ängste auch reflektierend innezuwerden und ihnen adäquaten kulturellen Ausdruck zu verleihen. Die subjektive Angst des Einzelnen ist dabei eingelassen in eine Welt von gesellschaftlich produzierten, kommunizierten und vorgegebenen Sinnmustern, welche das Feld kollektiver Ängste prägen. Diese Sphäre einer objektiven Angst, welche als Attribut von Anomie, Sinnverlust und Wertewandel, Überkomplexität, medialer Betonung von „Bad News“ sowie von Entfremdungsvorgängen begriffen werden muss, begegnet uns in der philosophischen Literatur in diesem Zusammenhang oft nur rudimentär reflektiert oder, bewusst oder unbewusst, vom gesellschaftlichen Konnex glatt abgetrennt. Was früher nur als ein Symptom oder ein Aspekt der Moderne verstanden wurde, scheint jedoch in der Postmoderne allgegenwärtig geworden zu sein.

Einer ihrer Apologeten drückt dies sehr plastisch aus:

Klimachaos, Börsenpanik, Essphobien, Pandemiebedrohungen, Wirtschaftskrise, angeborene Ängste, Existenzsorgen […] Die Angst, die Ängste, individuelle und kollektive, summieren und verstärken sich gegenseitig (das ist eben die der Angst eigene Dynamik), sie scheinen auf unsere Welt einzuprasseln. Sie unterwandern sie, erschüttern sie, machen sie hysterisch […] Die Angst ist nicht mehr trügerisch, sie ist grundsätzlich geworden. Alles Vertrauen in die Vernunft und in das Verbesserungspotential der Menschheit wurde zunehmend einem Prinzip des Schreckens untergeordnet, das statt des Glaubens das Entsetzen zum Angelpunkt unserer Lebenseinstellung bestimmt hat.11

Das Wehklagen um das verlorene Vertrauen in die Vernunft mutet jedoch pharisäerhaft an, wo doch gerade Vertreter der Postmoderne in den vergangenen dreißig oder vierzig Jahren rastlos, mit allen Mitteln und von allen erdenklichen Perspektiven daran gearbeitet haben, die aufklärerische Vernunft zu diskreditieren, zu unterminieren und in Zweifel zu ziehen. Natürlich besitzt man nicht mehr den Kompass der Vernunft, wenn man ihn vorher mit aller Kraft zertreten hat. Aber man kann noch eine Weile davon leben, diesen Verlust zu kommentieren.

Psychoanalytiker wie Horst E. Richter möchten in der Angst des Menschen gar den alleinigen Motor moderner Rationalisierung und Rationalität sehen:

Seit dem Verlust der mittelalterlichen Gotteskindschaft leben wir in einer untergründigen heillosen Angststimmung, gegen die uns nur ein einziges Rezept eingefallen ist: uns selbst die totale Kontrolle über alle Ursachen und Kräfte aneignen zu wollen, von denen uns je Ungemach drohen könnte. Das Entsetzen vor einer unerträglichen Verlorenheit ← 11 | 12 → und Ohnmacht in der Welt ist somit die eigentliche Antriebsenergie, die sich hinter dem Drang nach technischer Allmacht verbirgt.12

Solche allzu suggestiven und monokausalen Erklärungen sparen aber die sozialen, pragmatischen und ökonomischen Wurzeln von Angst aus und übersehen überdies die Vielschichtigkeit und „Ungleichzeitigkeit“ (Bloch) der modernen Entwicklungsphasen und Strömungen.

Am Begriff der Angst lassen sich interessanterweise und nichtsdestotrotz eine Reihe zentraler Problemstellungen der Bewusstseinsphilosophie untersuchen. Etwa die Spannung zwischen Vernunft und Natur, Körper und Geist, Gefühl und Verstand, welche in immer neuen Variationen zum Gegenstand philosophischer Reflexion werden. In der Bewertung beider Pole ist in der Moderne eine kontinuierliche Veränderung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts festzustellen: Von der als empirischem Material zur Bemächtigung freigegebenen Natur bei den Empiristen über die erhabene und verklärte Natur der Romantik bis hin zur ermächtigten Triebnatur bei Schopenhauer und Nietzsche bis zur „Wolfsnatur“ bei Freud vollzieht sich ein ebenso nachhaltiger Wandel wie von der richtungsweisenden Vernunft Kants und dem alles bestimmenden Geist Hegels, dem Versuch Schellings, Geist und Natur zu identifizieren, über Nietzsches Beschwörung einer der lügend-fiktiven Intelligenz im Dienste der machtgierigen Natur in uns („der Ritt auf dem Tiger“) bis hin zur ohnmächtigen Vernunft bei Freud.13 Überdies mutet die Angst, gerade aufgrund ihres diffusen, im Hintergrund lauernden Charakters, als idealer Ausdruck des schlechthin Subjektiven, des sich der Vernunft entziehenden, genuin Irrationalen an. Aus diesem Grund scheint gerade der Affekt der Angst wie geschaffen, um von antivernünftigen und antiaufklärerischen Philosophien (paradigmatisch bei Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger, später der Postmoderne) als tückische Angriffswaffe gegen die Vernunft eingesetzt zu werden.

Mithin ist die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Vernunft, um welche es in dieser Untersuchung geht, klar zu fassen: Können wir prinzipiell vernunftgemäß handeln und unseren unbewussten und bewussten Angstimpulsen in autonomer Einheitlichkeit begegnen oder zappeln wir bloß an den Marionettenfäden unbewusster Triebkräfte und Atavismen? Sind wir, wie Hume es formulierte, lediglich „Sklaven unserer Leidenschaften“, welche nur kunstvoll ← 12 | 13 → verborgen und maskiert werden? Welcher Status ist dem archaischen Triebgeschehen, der „Wolfsnatur“ in uns zuzugestehen? Handelt es sich um einen grundsätzlich inintelligiblen, eben irrationalen Bereich des Subjekts oder ist er bloß unbewusst, aber prinzipiell bewusstseinsfähig?

„Zahlreiche Stimmen betonen eindringlich die Schwäche des Ichs gegen das Es, des Rationellen gegen das Dämonische in uns, und schicken sich an, diesen Satz zu einem Grundpfeiler einer psychoanalytischen ‚Weltanschauung‘ zu machen“14, schrieb Freud in der Krisenzeit der Zwanziger- und Dreißigerjahre, deren Parallelen zur heutigen Wissenschaftsfeindlichkeit kaum zu verkennen sind. Denn für postmodernes Räsonnement und antiaufklärerisches Denken ist heute die Vernunft, wie Manfred Frank mutmaßt, bloß „ein Unterdrückungsinstrument, das die naturwüchsige Wildheit […] ins Prokrustesbett einer diskursiven Formation einzwängt, als dessen Ordnung sie fungiert.“15 Diese neue Philosophie wird „Vernunft nicht mehr ohne die Angst, die sie zu bannen sucht, ohne den Herrschaftsanspruch, der mit ihr verbunden ist, ohne die Ausgrenzung des Anderen sehen können.“16

Was nun, so hat sich jede Philosophie der Aufklärung zu fragen, ist dieses „Andere der Vernunft“? – „das“, so antworten Hartmut und Gernot Böhme, „ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle oder besser all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können.“17 Die Vernunftskeptiker stützen sich also auf den Umstand, dass „das Ich nicht Herr sei im eigenen Hause“18 und folgern daraus: „Daß nämlich Bewußtsein und Ich kein unzweideutiges Zeugnis der Wirklichkeit abgeben, daß das hier Intendierte vielleicht jenes, was die eigentliche Realität darstellt, maskiert und verkehrt […] und so dieses identische Ich als Maske, Ort der Täuschung und Illusion erscheinen läßt.“19 Denker wie Michel Foucault stellten ← 13 | 14 → dabei die zunehmende Kolonisierung des Leibes und des Unbewussten und die Bemächtigung der körperlichen Sphäre durch die angeblich unterdrückerische, vernunftgeleitete Macht der Moderne in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen.

Augenscheinlich tritt in all diesen Vorwürfen und Einwänden ein grundlegender Widerspruch zutage: Einerseits wird die eigentliche, heimliche Herrschaft der Triebe und des Unbewussten beschworen und modisch ins Spiel gebracht, andererseits wird die Unterdrückung der Natur und des Körpers durch die ‚böse‘ Vernunft angeprangert. Entweder ist nun die Vernunft so mächtig, wie ihr vorgehalten wird, und beherrscht die Welt, oder sie ist, der ersten These folgend, in Wahrheit nicht mehr als Maske und Agent der eigentlich herrschenden Mächte des Unbewussten. Dann aber wären die angeprangerten Missstände letztlich nur mittelbare Auswirkungen des heimlich regierenden Unbewussten, wodurch ebendieses Unbewusste dann zum eigentlichen Motor und Verursacher aller Missstände wird. Nur einer der beiden Ansätze kann folglich richtig sein, der andere ist falsch. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit jeder Beitrag – und ließe er dieses „Andere der Vernunft“ noch so frei zu Wort kommen – nicht selbst den logischen Regeln seines eigenen Arguments unterworfen bliebe, um zu verstehen, worum es ihm geht. Antivernünftiges Denken bleibt in dem Circulus vitiosus gefangen, dass der eventuelle Sieg seiner Doktrin letztlich immer nur die Kraft logischer Argumente, mithin der Vernunft bewiese!

Wurden Subjekt und Vernunft der Triebnatur schon zuvor als ohnmächtig gegenübergestellt, so scheint heute eher die Natur überwältigt und gebrochen – „depotenziert“ (Schelling) – dazustehen. Wie Adorno/Horkheimer in ihren kritischen Schriften diagnostizierten, scheinen Subjekt und praktisch-gesellschaftliche Vernunft sich in den überdimensionierten und intransparenten Strukturen und Systemen verloren zu haben, welche als blinde Zweckrationalität gleichsam zur zweiten übermächtigen Natur wurden. Diesen überbordenden, kaum noch vom Menschen kontrollierbaren Technologien und Systemen gilt in Wahrheit der Aufschrei des gegenwärtigen Irrationalismus: „Universal sind Ahnung und Angst, Naturbeherrschung webe durch ihren Fortschritt immer mehr mit an dem Unheil, vor dem sie behüten wollte, an jener zweiten Natur, zu der die Gesellschaft gewuchert ist.“20

Wir werden ferner bei jenen Klassikern, welche die elaboriertesten Darstellungen vernünftigen Denkens bieten und welche letztlich immer die genuinen Adressaten aller vernunftfeindlichen Philosophie bleiben werden (Immanuel Kant und G. W. F. Hegel), genau nachzuprüfen haben, ob die Natur, das Triebhafte, ← 14 | 15 → die Affekte und Gefühle – heute kurz als das „Andere der Vernunft“ tituliert – tatsächlich ungenügend berücksichtigt, reflektiert oder gar verdrängt wurden und ob eine Mannigfaltigkeit triebhafter Impulse ohne vereinende, reflektierende Instanz überhaupt von uns sinnvoll erfasst werden kann. Dabei setzen wir uns möglicherweise der Gefahr aus, Kant zu psychologisch im Sinne seiner Theorie der Vermögen zu interpretieren, um so weit wie nur irgend möglich zu der Grenze von Transzendental-Logischem und Psychologischem vorzudringen.

Der Vernunftbegriff, auf den ich mich im Folgenden beziehen möchte, orientiert sich in aufklärerischer Weise an der transzendentalen Wende Kants und der weiteren Ausarbeitung der Theorie des Bewusstseins durch Hegel. Dieser Vernunftbegriff soll dabei aber nicht aus der Komplexität des Individuellen und den Zusammenhängen des gesellschaftlichen und historischen Lebens herausgelöst und diesem als etwas völlig Autonomes entgegengesetzt werden. Die Kategorien unseres Denkens befinden sich in prinzipieller Übereinstimmung mit den Strukturen der Wirklichkeit, an welchen sie sich entwickelt haben und welche wohl unabhängig von unserem Denken existieren, aber nur vermittelt, d. h. mittels unseres begrifflichen Denkens rekonstruiert, interpretiert und als Strukturen erfasst und bestimmt werden können. Die rein formalen Abläufe unseres Bewusstseins sind dabei von Anfang an mit natürlichen und gesellschaftlichen Inhalten ‚kontaminiert‘, welche die Genese des Bewussten und Unbewussten mitbestimmen. Am ehesten fühle ich mich deshalb den Vorstößen und Versuchen von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, J. Habermas und anderen Vertretern der „Frankfurter Schule“ verbunden, welche die Philosophie der Aufklärung um eine ideologiekritische Gesellschaftstheorie und Aspekte der Psychoanalyse erweiterten. Für die rein formale Darstellung des Bewusstseins und des Verhältnisses von Verstand und Vernunft zur Sphäre der Emotionen und Affekte möchte ich mich an die Ausführungen Immanuel Kants halten, weil sie in ihrer Tiefgründigkeit und Präzision praktisch unerreicht geblieben sind.

Wie die ‚Theorien des Unbewussten‘ eindringlich warnen, unterschätzt diese Darstellung reiner Denkstrukturen jedoch den Einfluss der schon zuvor entwickelten Triebstruktur. Den Theorien des Unbewussten müssen im Gegenzug von transzendentaler Warte aus ihre immanenten Widersprüche oder ihre uneingestandenen transzendentalen Ansätze nachgewiesen werden,21 wie Adorno in seiner zurückgezogenen Habilitationsschrift von 1927 feststellte. Zudem ← 15 | 16 → bedarf es einer Klärung des Status, den das Unbewusste im Verhältnis zum Begrifflichen einnehmen kann. Psychoanalytischer Terminologie ist dabei ihre philosophische Herkunft wie auch ihre prinzipielle philosophische ‚Haftbarkeit‘ nachzuweisen. Der Denkwelt des Existenzialismus gilt es überdies, ihre verborgenen historisch-soziologischen Triebfedern und die Unterschätzung der transzendental-philosophischen Erkenntnistheorie vorzuhalten, weil diese letztlich selbst immer auf Verstand und Vernunft basiert, auch noch in den scheinbar irrationalsten Winkeln des Subjektiven.

Details

Seiten
217
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631729434
ISBN (ePUB)
9783631729441
ISBN (MOBI)
9783631729458
ISBN (Hardcover)
9783631729342
DOI
10.3726/b11506
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Oktober)
Schlagworte
Angst Vernunft Erkenntnistheorie Psychoanalyse Kollektive Angst Existenzphilosophie
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 217 S.

Biographische Angaben

Wolfgang Wein (Autor:in)

Wolfgang Wein schloss das Studium der Medizin an der Universität Wien ab und hat dort auch im Fach Philosophie promoviert. Er hat im Bereich zur medizinischen Forschung und Philosophie veröffentlicht.

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