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Die Genehmigungsfiktion nach § 377 HGB bei Falschlieferung und Quantitätsabweichung

Eine Untersuchung zur Interessenharmonisierung bei Handelskäufen unter vergleichender Berücksichtigung des internationalen Einheitsrechts

von Philipp Hohmann (Autor:in)
©2017 Dissertation 234 Seiten
Reihe: Zivilrechtliche Schriften, Band 69

Zusammenfassung

Thema dieses Buches ist die Genehmigungsfiktion nach § 377 HGB, die eine enorm hohe praktische Relevanz besitzt und oftmals das streitentscheidende Instrument im Bereich des Handelskaufs darstellt. Vor allem bei Falschlieferungen und Quantitätsabweichungen existieren seit dem 19. Jahrhundert Diskussionen über den Anwendungsbereich der handelsrechtlichen Untersuchungs- und Rügeobliegenheit und deren Rechtsfolgen, die bisweilen nicht abschließend geklärt sind. Hier setzt der Autor an, um die gegenseitigen Parteiinteressen zu harmonisieren, ohne den Sinn und Zweck des § 377 HGB zu schwächen. Nach kritischer Analyse der bislang vertretenen Auffassungen entwickelt er – speziell beim höherwertigen Aliud – einen innovativen Lösungsansatz und erläutert, weshalb dieser beide Handelskaufparteien interessengerechter schützt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Gegenstand der Arbeit und Gang der Darstellung
  • II. Zielstellung der Arbeit
  • B. Historische Entwicklung
  • I. Ursprung als Handelsbrauch
  • II. Kodifikationsgeschichte des heutigen § 377 HGB
  • 1.) Entwurf eines Handelsgesetzbuches für die preußischen Staaten von 1857
  • 2.) Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch von 1861
  • a) Falschlieferungen
  • b) Quantitätsabweichungen
  • 3.) Das Handelsgesetzbuch von 1897
  • a) Falschlieferungen bis zur Schuldrechtsreform 2002
  • b) Quantitätsabweichungen bis zur Schuldrechtsreform 2002
  • c) Der Ausnahmetatbestand des § 378 Hs. 2 HGB a.F.
  • 4.) Änderungen durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz
  • III. Zusammenfassende Würdigung
  • C. Voraussetzungen und ratio legis der Genehmigungsfiktion nach § 377 HGB
  • I. Zweck
  • II. Beidseitiger Handelskauf
  • III. Ablieferung und Untersuchung der Ware
  • IV. Warenmängel als Rügegrund i.S.v. § 377 HGB
  • 1.) Falschlieferung i.S.d. § 434 III Alt. 1 BGB
  • a) Das Identitätsaliud
  • aa) Teleologische Reduktion auf Gattungskauf
  • bb) Uneingeschränkte Anwendung
  • cc) Eigene Stellungnahme
  • (1) Wortlaut
  • (2) Systematik
  • (3) Historik
  • (4) Telos
  • (5) Flucht in die Nacherfüllung
  • (a) Oechslers Ansatz
  • (b) Eigener Ansatz
  • (6) Ergebnis
  • b) Das Qualifikationsaliud beim Stückkauf
  • c) Die Aliudlieferung beim Gattungskauf
  • aa) Die Anwendung des § 378 HGB a.F. auf das Extremaliud
  • bb) Behandlung ohne objektives Ausnahmekriterium
  • cc) Eigene Stellungnahme
  • dd) Zusammenfassung
  • d) Ungeschriebene Voraussetzung des § 434 III BGB
  • aa) Tilgungsbestimmung
  • bb) Gebilligter Leistungstransfer i.S.v. § 363 BGB
  • cc) Keine Leistungszweckbestimmung
  • dd) Eigene Stellungnahme
  • e) Rückbesinnung auf ursprünglich gedachten Telos des § 378 HGB a.F.
  • aa) Verwechslungsfälle
  • bb) Neues Vertragsangebot
  • cc) Fazit
  • f) Das Melius
  • aa) Teleologische Reduktion der Meliuslieferung
  • bb) Anwendung des § 434 III BGB auf das Melius
  • cc) Eigene Stellungnahme
  • 2.) Quantitätsabweichungen
  • a) Minuslieferung
  • aa) Art des fehlenden Quantums
  • (1) Meinungsstand
  • (2) Stellungnahme
  • bb) Verdeckte Zuweniglieferung
  • cc) Offen ausgewiesene Mindermenge
  • dd) Stellungnahme
  • ee) Zusammenfassende Würdigung
  • b) Pluslieferung
  • aa) Analogie des § 434 III Alt. 2 BGB auf die „Plusleistung“
  • bb) Keine Einbeziehung der Mehrlieferung
  • cc) Stellungnahme
  • dd) Fazit
  • D. Die Genehmigungsfiktion nach § 377 HGB: Rechtsfolgen der unterlassenen, versäumten oder nicht ordnungsgemäßen Mängelrüge bei Falschlieferung und Quantitätsabweichung
  • I. Rechtsdogmatische Einstufung
  • II. Grundsatz: Rechtsverlust der besonderen kaufrechtlichen Gewährleistungsrechte
  • III. Rechtsfolgen der Falschlieferung
  • 1.) Falschlieferungen ohne Erfüllungswillen des Verkäufers
  • 2.) Lieferung eines minder- oder gleichwertigen Aliud
  • a) Grundsätzliche Aufrechterhaltung des Kaufpreises und Ausschluss der Käuferrechte
  • aa) Preisanpassung trotz verabsäumter Rüge
  • bb) Stellungnahme
  • b) Herausgaberechte des Verkäufers
  • aa) Verzicht des Verkäufers auf die Genehmigungswirkung
  • bb) Falschlieferung als Rechtsgrund
  • (1) Kaufvertrag bildet keinen Rechtsgrund
  • (2) Kaufvertrag bildet Rechtsgrund
  • (3) Stellungnahme
  • cc) Anfechtung der Tilgungsbestimmung
  • (1) Rechtsnatur
  • (2) Auslegung des Verzichts
  • (3) Aufleben des Erfüllungsanspruchs aus dem Kaufvertrag
  • dd) Rei vindicatio
  • ee) Herausgabeverlangen als Folge eines „Nachlieferungsrechts“ des Verkäufers
  • (1) Herbeiführung eines Erfüllungssurrogats durch Hinterlegung
  • (2) Eigene Stellungnahme
  • 3.) Lieferung eines höherwertigen Melius
  • a) Kaufpreisproblematik bei Eintritt der Genehmigungsfiktion
  • aa) Kaufpreisanpassung
  • (1) Vertragsänderung kraft Gesetz
  • (2) Anpassung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben
  • (3) Einseitige Leistungsbestimmung
  • bb) Versagen der Kaufpreiserhöhung ohne Vertragsänderung
  • (1) Kaufpreisanpassung durch konkludentes Angebot zur Vertragsänderung bei offener Meliuslieferung
  • (2) Kaufpreiserhöhung durch Vereinbarung der Leistung an Erfüllung statt?
  • (3) Teleologische Reduktion und Wahlrecht des Verkäufers
  • cc) Eigene Stellungnahme
  • (1) Keine Preisänderung kraft Gesetz
  • (2) Unnötiger Eingriff in den Kernbereich der Privatautonomie
  • (3) Preiserhöhung ausschließlich durch Vertragsänderung
  • (a) Offen deklarierte Meliuslieferung
  • (b) Verdeckte Meliuslieferung
  • (c) Anwendung auf den konkreten Fall
  • dd) Fazit
  • b) Herausgaberechte des Verkäufers
  • aa) Verzicht auf die Wirkungen der Genehmigungsfiktion
  • bb) Kondiktion des Melius durch Anfechtung der Tilgungsbestimmung
  • cc) Wiederaufleben des ursprünglichen Erfüllungsanspruchs
  • dd) Konkrete praktische Anwendung
  • ee) Rei vindicatio
  • ff) Verwirkung des Herausgabeanspruchs
  • (1) Umkehrung des Rügezwecks zulasten des Verkäufers
  • (2) Keine Anzeige verkäufereigenen Fehlverhaltens
  • (3) Eigene Stellungnahme
  • c) Weitere (mögliche) Ansätze zur Schutzoptimierung des Verkäufers
  • aa) Subjektives Recht des Verkäufers auf nachträgliche Mängelbeseitigung?
  • (1) Mögliche Anspruchsgrundlage de lege lata
  • (a) Wortlaut
  • (b) Systematik
  • (c) Historische Auslegung und Telos
  • (d) Analogiefähigkeit des § 439 I BGB
  • (2) Konstituierung eines subjektiven, nachträglichen Mängelbeseitigungsrechts des Verkäufers de lege ferenda?
  • (3) Neueste legislative Entwicklungen
  • (4) Rechtspolitische Bewertung
  • (a) Praktisches Bedürfnis
  • (b) Rechtsökonomische Analyse
  • (5) Fazit
  • bb) Verschiebung des Entreicherungsrisikos
  • (1) Bereicherungsumfang
  • (2) Entreicherungsrisiko
  • (3) Eintritt der verschärften Haftung
  • (a) Positive Kenntnis nach § 819 I BGB
  • (b) Verschärfte Haftung mit Eintritt der Genehmigungsfiktion
  • (c) Eigene Stellungnahme
  • (d) Eigener Ansatz
  • IV. Rechtsfolgen bei Quantitätsabweichungen
  • 1.) Minuslieferungen
  • a) Verdeckte Minuslieferungen
  • aa) Auswirkungen auf den Kaufpreis
  • bb) Stellungnahme
  • b) Offen deklarierte Minuslieferung
  • aa) Echte Teilleistung gemäß § 266 BGB
  • bb) Offen ausgewiesene Mindermenge i.S.d. § 434 III Alt. 2 BGB
  • (1) Treuwidrige Leistungserbringung
  • (2) Offene Deklarierung in Lieferschein und Rechnung
  • (a) Angebot zur Vertragsänderung
  • (b) Kritik
  • (c) Stellungnahme
  • (aa) Nichtzustandekommen einer Vertragsänderung
  • (bb) Wertender Eingriff
  • (cc) Ergebnis
  • 2.) Pluslieferungen
  • V. Zusammenfassende Würdigung
  • E. Die Genehmigungsfiktion bei Falschlieferung und Quantitätsabweichung nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf (UN-Kaufrecht)
  • I. Anwendungsbereich
  • 1.) Sachlicher Anwendungsbereich
  • 2.) Räumlich-persönlicher Anwendungsbereich
  • 3.) Vorrang der Privatautonomie
  • II. Voraussetzungen der Untersuchungs- und Rügeobliegenheit nach Art. 38, 39 CISG
  • 1.) Form, Inhalt, Frist
  • 2.) Vertragswidrigkeit
  • a) Falschlieferung
  • aa) Vertragswidrigkeit i.S.d. Art. 35 CISG
  • bb) Nichtlieferung
  • cc) Eigene Stellungnahme
  • (1) Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten
  • (2) Entstehungsgeschichte und ratio legis
  • (3) Individualisierungspflichten beim Versendungskauf
  • (4) Teleologische Reduktion auf Gattungsschulden
  • b) Quantitätsabweichung
  • aa) Partielle Nichtlieferung und Teilverzug
  • bb) Vertragswidrigkeit nach Art. 35 CISG
  • III. Rechtsfolgen der Genehmigungsfiktion nach Art. 39 I CISG bei Falschlieferung und Quantitätsabweichung
  • 1.) Grundregel
  • 2.) Falschlieferungen
  • a) Gering- bzw. gleichwertige Aliudlieferung
  • aa) Kaufpreis
  • bb) Herausgabeverlangen des Verkäufers
  • b) Höherwertige Meliuslieferung
  • aa) Analoge Anwendung des Art. 52 II CISG
  • bb) Status quo des geschlossenen Vertrags
  • cc) Vermittelnde Ansicht
  • dd) Nacherfüllungsrecht des Verkäufers
  • ee) Stellungnahme
  • 3.) Quantitätsabweichungen
  • a) Minuslieferungen
  • aa) Verdeckte Minuslieferung
  • bb) Offene Minuslieferung
  • b) Pluslieferung
  • aa) Verdeckte Pluslieferung
  • bb) Offene Pluslieferung
  • IV. Zusammenfassende Würdigung
  • F. Schlussbetrachtungen
  • I. Rechtspolitischer Ausblick
  • 1.) Zielsetzung der Vorschläge
  • 2.) Wesentlicher Inhalt der Vorschläge
  • II. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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A.  Einleitung

Das Schreckgespenst aller Kaufleute!1 So wurde die Aliudlieferung auf Grund der alten Fassung des § 378 HGB bezeichnet. Das Reichsgericht2 begann 1914 mit der Einführung einer doppelten Differenzierung beim Kauf von Gattungssachen zwischen Peius und Aliud sowie bei Letzterem zwischen genehmigungsfähigem und –unfähigem, was im Laufe der Dekaden zu unvorhersehbaren und teils willkürlichen Entscheidungen führte. So wurde die Frage erforderlich, ob Sommer-statt des bestellten Winterweizens3 eine völlig andere Sache oder mangelhaften Winterweizen darstellt oder jugoslawisches Buchenholz4 als schlechtes rumänisches oder eine ganz andere Warengattung zu qualifizieren ist, um nicht unter die ehemalige 6-monatige Verjährungsfrist zu fallen.5 Nach der Schuldrechtsmodernisierung 2002 sollten willkürliche Abgrenzungen der Vergangenheit angehören, sodass die Gleichstellung von Stück- und Gattungskauf sowie Aliud und Peius eine gewichtige Rolle einnahmen. Seitdem sind gemäß § 434 III BGB Falsch- und quantitative Zuweniglieferungen einem Sachmangel gleichgestellt und kaufrechtliche Gewährleistung mitsamt der besonderen Verjährungsregeln als Rechtsfolge in den §§ 437 ff. BGB positivrechtlich kodifiziert.

Die Thematik der handelsrechtlichen Genehmigungsfiktion zeigt speziell bei Falschlieferungen und Quantitätsabweichungen eine langwährende Streittradition auf, die bis ins Spätmittelalter zurückzuverfolgen ist.6 Dabei veränderte sich der Schwerpunkt der historischen Diskussionen um Aliud und Mengenabweichung von einer generellen Anwendbarkeit7 der Untersuchungs- und Rügeobliegenheit über objektive Ausnahmen8 bis hin zu bürgerlichrechtlichen Voraussetzungen9 ← 17 | 18 → stetig. Auch in der jüngeren Rechtsprechung ist die Thematik immer noch von Bedeutung, was nicht zuletzt eine neue Entscheidung des OLG Karlsruhe10 vom 19. Juli 2016 sowie vermehrt obergerichtliche Entscheidungen der letzten Jahre auf handelsrechtlicher11, aber auch auf bürgerlichrechtlicher12 Ebene, bestätigen.

Die Wichtigkeit der Genehmigungsfiktion bestätigt sich weiterhin durch das immer rasantere Voranschreiten der technischen Entwicklung und dient somit umso mehr dem allgemeinen Interesse des Handelsverkehrs an schneller und rechtssicherer Abwicklung von Handelsgeschäften. Wegen der fortschreitenden Globalisierung erlangt das internationale Einheitsrecht ebenfalls eine immer größer werdende Bedeutung, was auch an der wachsenden Anzahl von höchstrichterlichen und obergerichtlichen Entscheidungen unter Anwendung des UN-Kaufrechts zu Falschlieferungen und Quantitätsabweichungen abzulesen ist.13

I.  Gegenstand der Arbeit und Gang der Darstellung

Gegenstand der Arbeit ist die Aufarbeitung, Analyse und Bewertung der handelsrechtlichen Rügeobliegenheit, insbesondere die Rechtsfolgen der Genehmigungsfiktion nach § 377 II, III Hs. 2 HGB bei Falschlieferungen und Quantitätsabweichungen. Überdies ist eine vergleichende Darstellung des Themas für den internationalen Warenhandel Gegenstand der Arbeit, sodass das UN-Kaufrecht, welches für Teile des modernisierten Schuldrechts gewissermaßen Pate stand, als internationales Einheitsrecht berücksichtigt wird. Daher ist eine Gliederung der Arbeit in vier Kapitel angezeigt.

Zunächst wird die historische Entwicklung der handelsrechtlichen Untersuchungs- und Rügeobliegenheit dargestellt und speziell die Rechtsfolgen von Aliudlieferungen und Mengenabweichungen werden analysiert. Angefangen vom Ursprung als Handelsbrauch wird anschließend die Kodifikationsgeschichte ← 18 | 19 → des heutigen § 377 HGB, beginnend Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem preußischen Entwurf eines Handelsgesetzbuches (pr. HGB-E) und der anschließenden Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches (ADHGB), näher betrachtet. Im Mittelpunkt steht dabei der Umgang mit Falschlieferungen und Quantitätsabweichungen im Rahmen des Handelskaufs. Danach wird die Einführung des Handelsgesetzbuches (HGB) bis hin zur Schuldrechtsreform im Jahre 2002 veranschaulicht. Speziell der Ausnahmetatbestand des § 378 HGB a.F. rückt dabei in den Fokus und verdeutlicht besonders den damaligen Reformbedarf.

Das zweite Kapitel befasst sich mit den Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion nach § 377 HGB n.F. und konzentriert sich dabei im Rahmen der zu rügenden Warenmängel auf Falschlieferungen und Quantitätsabweichungen. Zunächst wird das Identitätsaliud beim Stückkauf analysiert. Schwerpunktmäßig geht es dabei um den Streit einer teleologischen Reduktion auf Gattungskäufe und der speziellen Problematik der sog. Flucht in die Nacherfüllung. Im Anschluss ist die Analyse von Qualifikationsalia beim Gattungskauf angezeigt. Insbesondere die Leistung von sog. Extrem- oder Totalalia wird dabei bewertet. Außerdem werden die Neuerungen der Schuldrechtsreform beleuchtet, die sich innerhalb des § 434 III Alt. 1 BGB in Bezug auf die Voraussetzungen ergeben haben sowie die Behandlung von höherwertigen Aliudlieferungen (sog. Melius). Zuletzt umfasst das Kapitel die Lieferung von quantitativen Abweichungen – namentlich das Minus, das in § 434 III Alt. 2 BGB positivrechtlich kodifiziert wurde, aber auch die Lieferung von Übermengen (sog. Plus), die im alten Kaufrecht sowohl vom Gewährleistungsrecht als auch von der Rügeobliegenheit respektive der Genehmigungsfiktion umfasst waren, nach der Schuldrechtsreformierung allerdings nicht mehr expressis verbis auftauchen. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse der Differenzierung von offen deklarierten sowie verdeckten Mengenabweichungen.

Als drittes Kapitel werden die Rechtsfolgen der unterlassenen bzw. versäumten Rüge bei Falschlieferungen und Quantitätsabweichungen aufgearbeitet, analysiert und bewertet. Abschließend zu den jeweils behandelten Fallgruppen (Aliud, insbesondere dem Melius und Minus) werden einzelne Vorschläge zur Optimierung von Käufer- und Verkäuferinteressen unterbreitet, wobei ein eigener Lösungsansatz entwickelt wird.

Im abschließenden vierten Kapitel wird eine vergleichende Darstellung der aufgezeigten Problemstellungen im internationalen Warenhandel anhand des UN-Kaufrechts beschrieben.

In der Schlussbetrachtung wird die Arbeit mit rechtspolitischen Vorschlägen bezüglich des § 377 HGB und des § 434 BGB abgerundet, die die problematische Handhabung der unterschiedlichen Aliud- und fehlerhaften Mengenlieferungen erleichtern sollen. ← 19 | 20 →

II.  Zielstellung der Arbeit

Die Interessen beider Vertragsparteien zu harmonisieren und insbesondere die Rechtslage käuferfreundlicher zu gestalten, gleichzeitig aber den eigentlichen Zweck der Norm – Schutz des Verkäufers – nicht zu schwächen, ist die Zielstellung der vorliegenden Arbeit. Aus den hervorgehenden Erkenntnissen des analytischen Teils, werden eigene Ansatzpunkte für Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln sein, die die Interessen der Parteien auch in ökonomischer Hinsicht berücksichtigen sowie parallel dazu die schnelle Abwicklung von Handelsgeschäften nicht gefährden.

Die handelsrechtliche Untersuchungs- und Rügeobliegenheit und infolge ihrer Versäumung die Genehmigungsfiktion des § 377 HGB sind der Mittelpunkt der handelskaufrechtlichen Mängelgewährleistung. Die enorme Wichtigkeit der Vorschrift wird daran deutlich, dass bis heute Streitigkeiten im Handelskaufrecht überwiegend an § 377 HGB scheitern.14 Anliegen der Arbeit ist es daher, einen Beitrag zur Schutzoptimierung sowohl von Handelsverkäufer als auch von –käufer zu leisten.


1 Edye, S. 26.

2 RGZ 86, 90.

3 RGZ 103, 77; BGH, NJW 1968, 640.

4 BGH, BeckRS 1961, 31188535 = DB 1961, 671.

5 Weitere zahlreiche Beispielsfälle: BGHZ 52, 51 (salmonellenverseuchtes Hasenfleisch); BGH, NJW 1969, 787 (Inlands- statt Auslandsschrott); 1975, 2011 (von der bestellten Norm abweichende Wellstegträger); 1989, 218 (mit Diethylen-Glykol verunreinigter Wein); DB 1960, 1387 (mit Kokosschale verunreinigter Pfeffer); WM 1977, 821 (jaucheverseuchte Champignonkonserven).

6 Siehe unten B. I.

7 Siehe unten B. II. 2.

8 Siehe unten B. II. 3.

9 Siehe unten C. IV.

10 OLG Karlsruhe, Urt. v. 19.07.2016 – 12 U 31/16, BeckRS 2016, 13273 = BB 2016, 2065.

11 OLG Brandenburg, Urt. v. 30.06.2011 – 6 U 72/10, BeckRS 2011, 17734 = ZGS 2011, 484; OLG Naumburg, Urt. v. 30.12.2010 – 10 U 16/10, BeckRS 2011, 17000; OLG Brandenburg, Urt. v. 23.05.2007 – 7 U 4/07, juris; OLG Stuttgart, Urt. v. 08.02.2006 – 3 U 215/03, BeckRS 2006, 10647.

12 OLG Hamm, MDR 2011, 472; OLG Frankfurt a.M., NJW-RR 2007, 1423.

13 BGHZ 132, 290; OGH Wien, TranspR-IHR 1999, 48; Schweizerisches BG, IHR 2004, 252; OLG Brandenburg, IHR 2014, 228; OLG Saarbrücken, IHR 2010, 202; OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.04.2004 I-15 U 222/02, CISG-online Nr. 914; OLG Celle, IHR 2004, 106; OLG Koblenz, IHR 2003, 172; OLG Rostock, IHR 2003, 19; Ontario Superior Court of Justice, IHR 2001, 46. Vgl. weiter: LG Köln, IHR 2007, 162; LG Tübingen, IHR 2003, 236; LG Landshut, BeckRS 1995, 12347.

14 Vgl. Bayer/Lieder, Handels- und GesellschaftsR, Rn. 305; Heymann/Emmerich/Hoffmann, HGB, § 377 Rn. 1; K. Schmidt, HR, § 29 Rn. 34 f.; Saenger/Aderhold/Lenkaitis/Speckmann/Klein, HaGesR, § 2 Rn. 147; Haag/Löffler/Stadie, HGB, § 377 Rn. 1. Zum alten Recht noch: von Hoyningen-Huene, Jura 1982, 8 (14); Fabricius, JZ 1965, 271 (271 f.).

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B.  Historische Entwicklung

Gewährleistungsrechte waren zunächst im deutschen Recht völlig unbekannt, sodass nach dem Kauf von mängelbehafteten Waren auf rechtlicher Ebene keine Möglichkeit bestand, Ausgleich zu erlangen.15 Der Käufer musste sich beim Kauf von beweglichen Sachen in Acht nehmen, sodass der bereits im römischen Recht angewandte Grundsatz des „caveat emptor“ galt.16

I.  Ursprung als Handelsbrauch

In Regionen mit regem Handelsverkehr – speziell im hanseatischen Raum – entwickelten sich erste Grundzüge der heutigen Untersuchungs- und Rügeobliegenheit, wobei noch zwischen Platz- und Distanzkauf differenziert wurde.17 Bereits Abschnitt VI Art. 27 des Hamburger Stadtrechts von 127018 enthielt als Kerngedanken, was jemand gekauft und besehen habe und in seinen Gewahrsam brachte, müsse von ihm bezahlt werden. Im lübischen Recht (1294), aber auch in südlicheren Regionen, waren ähnliche Regelungen bekannt.19 Auf Veranlassung von Kaufleuten wurde für den Platzkauf das Prinzip aufgestellt, dass die Verbindlichkeit des Verkäufers für Mängel einzustehen dann ende, wenn die Ware dessen Waage passiert habe.20 Folglich entstanden viele sprichwörtliche Redensarten21, die den Käufer zur Vorsicht und Achtsamkeit riefen und ihm als Warnfunktion dienten.22 Selbst bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt blieben nachträglich erkennbare Mängel unbeachtet.23 Beispielhaft dafür stand der Schiffskauf im lübischen Recht24. Befand ein Käufer die besehene Ware für gut ← 21 | 22 → und nahm diese sodann entgegen, musste er die gesamte abgenommene Menge bezahlen, auch wenn die Qualität auf dem Schiff nach unten hin schlechter ausfiel.25 Sobald der Käufer die Ware in seinen Gewahrsam nahm, galt dies als konkludente Billigung der gesamten Ware.26

Von diesem Grundsatz gab es zu dieser Zeit nur wenige Ausnahmen. Eine Beanstandung war in jedem Fall dann möglich, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschwieg.27 Allerdings konnte er sich durch Eid exkulpieren.28

Bei Distanzkäufen konnten die beschriebenen Regelungen des Platzkaufs keine Abhilfe schaffen. Der Käufer war erst mit dem Erhalt der Ware im Stande, diese einseitig auf Mängel hin zu untersuchen. Bei Beanstandung auf Grund fehlerhafter Beschaffenheit musste er dies dem Verkäufer gleich am nächsten Posttage nach Empfang mitteilen und die Kaufsache zurücksenden.29 Wurde eine solche Benachrichtigung unterlassen, durfte vom Verkäufer angenommen werden, der Käufer sei – im Wege einer vermuteten konkludenten Billigung – mit der Ware einverstanden.30

II.  Kodifikationsgeschichte des heutigen § 377 HGB

Details

Seiten
234
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631734261
ISBN (ePUB)
9783631734278
ISBN (MOBI)
9783631734285
ISBN (Hardcover)
9783631733202
DOI
10.3726/b11764
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Aliud Mengenabweichung Rügeobliegenheit Gewährleistungsausschluss UN-Kaufrecht Tilgungsbestimmung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 234 S.

Biographische Angaben

Philipp Hohmann (Autor:in)

Philipp Hohmann studierte Rechtswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Anschließend war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Steuerrecht der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel tätig und wurde dort an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät promoviert.

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