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Die bayerischen «Beamtenministerpräsidenten» 1920–1924 und ihre Mitverantwortung am Hitlerputsch

Kahr – Lerchenfeld – Knilling

von Hans Hinterberger (Autor:in)
©2018 Dissertation 562 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit beschäftigt sich mit den sogenannten "Beamtenministerpräsidenten" Bayerns Gustav von Kahr (Ministerpräsident 12.3.1920 - 21.9.1921, Generalstaatskommissar 26.9.1923 - 17.2.1924), Hugo Graf von und zu Lerchenfeld (Ministerpräsident 21.9.1921 - 2.11.1922) und Eugen von Knilling (Ministerpräsident 8.11.1922 - 5.5.1924). Das Buch untersucht die Personen in ihren jeweiligen Amtszeiten hinsichtlich politischer Agenda und Schwerpunktsetzung sowie parteipolitscher Orientierung. Kernfrage der Arbeit ist, inwiefern den "Beamtenministerpräsidenten" eine Mitverantwortung an der Radikalisierung Bayerns zuzuschreiben ist, die im Hitlerputsch vom November 1923 gipfelte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Einleitender Gedanke, Fragestellung und Konzeption
  • 1.2. Forschungsstand, Literatur und Quellenlage
  • 2. Die Ausgangssituation in Bayern 1920
  • 2.1. Die Lage im Freistaat am Ende der Regierung Hoffmann
  • 2.2. Politische Kräfte zu Beginn der Ordnungszelle
  • 3. Die Ministerpräsidentschaft Gustav von Kahrs
  • 3.1. Herkunft, Ausbildung und Karriere
  • 3.2. Regierungsantritt
  • 3.2.1. Das Ende der Regierung Hoffmann im Zuge des Kapp-Putsches und die Rolle Kahrs
  • 3.2.2. Gustav von Kahr: Ohne Alternativen?
  • 3.2.3. Der folgenreiche Entschluss der BVP
  • 3.3. Kahrs Wirken als Ministerpräsident
  • 3.3.1. Die Antworten Kahrs auf die Problemstellungen der Zeit
  • 3.3.2. Kahr als „Außenminister“ Bayerns
  • 3.3.3. Kahrs Kampf um die bayerische Einwohnerwehr
  • 3.3.3.1. Allgemeines zur Entstehung und Ausgestaltung der Bayerischen Einwohnerwehr
  • 3.3.3.2. Kahr und die Einwohnerwehr
  • 3.3.3.3. Nach dem Ende der Einwohnerwehr
  • 3.3.3.4. Bewertung der Einwohnerwehr als Beitrag zur Radikalisierung Bayerns
  • 3.3.4. Neuer Streit mit Berlin: Der bayerische Ausnahmezustand
  • 3.3.5. Der Rücktritt Kahrs als Lichtschimmer des Parlamentarismus in Bayern
  • 3.4. Kahrs Verortung innerhalb der bayerischen Parteienlandschaft
  • 3.4.1. Kahr und die Regierungsparteien
  • 3.4.1.1. Eine krisenreiche Zweckehe: Kahr und die Bayerische Volkspartei
  • 3.4.1.2. Ungleiche Partner: Kahr und die Demokraten
  • 3.4.1.3. Kahr und der Bayerische Bauernbund
  • 3.4.1.4. Die Bayerische Mittelpartei – Kahrs wahre Stütze?
  • 3.4.2. Kahr und politischen Kräfte außerhalb des bayerischen Regierungsbündnisses
  • 3.4.2.1. Kahr und die MSPD
  • 3.4.2.2. Kahr und die äußere Linke
  • 3.4.2.3. Im Glauben an den „Guten Kern“- Kahr und die NSDAP
  • 3.4.2.4. Kahr und die vaterländischen Kräfte jenseits der Einwohnerwehr
  • 3.5. Bilanz der Ministerpräsidentschaft Kahrs
  • 4. Die Ministerpräsidentschaft Hugo Graf von und zu Lerchenfelds
  • 4.1. Herkunft, Ausbildung und Karriere
  • 4.2. Lerchenfelds Amtsantritt und seine Startbedingungen
  • 4.3. Lerchenfelds Wirken als Ministerpräsident
  • 4.3.1. Lerchenfelds Politikstil
  • 4.3.2. Erste Krisen für Lerchenfeld
  • 4.3.3. Lerchenfeld zwischen den Fronten: Die Krise um das Republikschutzgesetz
  • 4.3.4. Glanzloser Rücktritt
  • 4.4. Lerchenfelds Verortung innerhalb des politischen Spektrums in Bayern
  • 4.4.1. Lerchenfeld und seine Koalitionsparteien
  • 4.4.2. Das Verhältnis zwischen Lerchenfeld und der Landtagsopposition
  • 4.4.3. Die außerparlamentarische Opposition durch die vaterländischen Kreise
  • 4.4.4. Der Vorgänger als Gegner: Kahr auf „Wahlkampftour“
  • 4.5. Bilanz der Regierungszeit
  • 5. Die Ministerpräsidentschaft Eugen von Knillings
  • 5.1. Knillings Weg vom Beamten über den königlichen Minister zum Berufspolitiker
  • 5.2. Knillings Amtsantritt und seine Startbedingungen
  • 5.3. Knillings Wirken als Ministerpräsident
  • 5.3.1. Knillings politischer Stil
  • 5.3.2. Hitler, die Spaltung der Verbändelandschaft und Knillings Antwort
  • 5.3.3. Generalstaatskommissariat Kahr: Knillings große Niederlage
  • 5.3.4. Knilling und die Praxis des Generalstaatskommissariats bis zum Hitlerputsch
  • 5.3.5. Maßnahmen zur Erneuerung des Ansehens Bayerns nach dem Putsch
  • 5.3.6. Knillings unfreiwilliger Rückzug aus der Politik
  • 5.4. Die Einordung Knillings im politischen Spektrum Bayerns
  • 5.4.1. Knilling und die Regierungskoalition
  • 5.4.2. Das Verhältnis zwischen Knilling und der Opposition
  • 5.4.3. Knilling und Kahr
  • 5.5. Bilanz der Regierungszeit
  • 6. Fazit und Schlussgedanke
  • 7. Quellen- und Literaturverzeichnis

Inhalt

1. Einleitung

1.1. Einleitender Gedanke, Fragestellung und Konzeption

1.2. Forschungsstand, Literatur und Quellenlage

2. Die Ausgangssituation in Bayern 1920

2.1. Die Lage im Freistaat am Ende der Regierung Hoffmann

2.2. Politische Kräfte zu Beginn der Ordnungszelle

3. Die Ministerpräsidentschaft Gustav von Kahrs

3.1. Herkunft, Ausbildung und Karriere

3.2. Regierungsantritt

3.2.1. Das Ende der Regierung Hoffmann im Zuge des Kapp-Putsches und die Rolle Kahrs

3.2.2. Gustav von Kahr: Ohne Alternativen?

3.2.3. Der folgenreiche Entschluss der BVP

3.3. Kahrs Wirken als Ministerpräsident

3.3.1. Die Antworten Kahrs auf die Problemstellungen der Zeit

3.3.2. Kahr als „Außenminister“ Bayerns

3.3.3. Kahrs Kampf um die bayerische Einwohnerwehr

3.3.3.1. Allgemeines zur Entstehung und Ausgestaltung der Bayerischen Einwohnerwehr

3.3.3.2. Kahr und die Einwohnerwehr

3.3.3.3. Nach dem Ende der Einwohnerwehr

3.3.3.4. Bewertung der Einwohnerwehr als Beitrag zur Radikalisierung Bayerns

3.3.4. Neuer Streit mit Berlin: Der bayerische Ausnahmezustand

3.3.5. Der Rücktritt Kahrs als Lichtschimmer des Parlamentarismus in Bayern

3.4. Kahrs Verortung innerhalb der bayerischen Parteienlandschaft

3.4.1. Kahr und die Regierungsparteien

3.4.1.1. Eine krisenreiche Zweckehe: Kahr und die Bayerische Volkspartei

3.4.1.2. Ungleiche Partner: Kahr und die Demokraten

3.4.1.3. Kahr und der Bayerische Bauernbund

3.4.1.4. Die Bayerische Mittelpartei – Kahrs wahre Stütze?

3.4.2. Kahr und politischen Kräfte außerhalb des bayerischen Regierungsbündnisses

3.4.2.1. Kahr und die MSPD

3.4.2.2. Kahr und die äußere Linke

3.4.2.3. Im Glauben an den „Guten Kern“- Kahr und die NSDAP

3.4.2.4. Kahr und die vaterländischen Kräfte jenseits der Einwohnerwehr

3.5. Bilanz der Ministerpräsidentschaft Kahrs

4. Die Ministerpräsidentschaft Hugo Graf von und zu Lerchenfelds

4.1. Herkunft, Ausbildung und Karriere

4.2. Lerchenfelds Amtsantritt und seine Startbedingungen

4.3. Lerchenfelds Wirken als Ministerpräsident

4.3.1. Lerchenfelds Politikstil

4.3.2. Erste Krisen für Lerchenfeld

4.3.3. Lerchenfeld zwischen den Fronten: Die Krise um das Republikschutzgesetz

4.3.4. Glanzloser Rücktritt

4.4. Lerchenfelds Verortung innerhalb des politischen Spektrums in Bayern

4.4.1. Lerchenfeld und seine Koalitionsparteien

4.4.2. Das Verhältnis zwischen Lerchenfeld und der Landtagsopposition

4.4.3. Die außerparlamentarische Opposition durch die vaterländischen Kreise

4.4.4. Der Vorgänger als Gegner: Kahr auf „Wahlkampftour“

4.5. Bilanz der Regierungszeit

5. Die Ministerpräsidentschaft Eugen von Knillings

5.1. Knillings Weg vom Beamten über den königlichen Minister zum Berufspolitiker

5.2. Knillings Amtsantritt und seine Startbedingungen

5.3. Knillings Wirken als Ministerpräsident

5.3.1. Knillings politischer Stil

5.3.2. Hitler, die Spaltung der Verbändelandschaft und Knillings Antwort

5.3.3. Generalstaatskommissariat Kahr: Knillings große Niederlage

5.3.4. Knilling und die Praxis des Generalstaatskommissariats bis zum Hitlerputsch

5.3.5. Maßnahmen zur Erneuerung des Ansehens Bayerns nach dem Putsch

5.3.6. Knillings unfreiwilliger Rückzug aus der Politik

5.4. Die Einordung Knillings im politischen Spektrum Bayerns

5.4.1. Knilling und die Regierungskoalition

5.4.2. Das Verhältnis zwischen Knilling und der Opposition

5.4.3. Knilling und Kahr

5.5. Bilanz der Regierungszeit

6. Fazit und Schlussgedanke

7. Quellen- und Literaturverzeichnis

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1. Einleitung

1.1. Einleitender Gedanke, Fragestellung und Konzeption

„Die Münchener Bevölkerung, die sich von jeher bei kritischen Anlässen in ihrer Mehrzahl auf die dumme Seite geschlagen hat, nahm zum großen Teile auch diesmal Partei für Hitler und Ludendorff. Meine Anschläge wurden von den Wänden gerissen, die Studenten revoltierten, Männer und Weiber (viele sogen. Damen mit eingeschlossen) durchzogen in Scharen schimpfend und kreischend die Straßen der Stadt, sangen das Hitlerlied, schrien aus vollem Halse: Heil Hitler, nieder mit Kahr. Der Kahr, der Sauhund muss verrecken, schlagt ihn tot, wo ihr in erwischt, diesen Verräter, den Judas Ischariot, den gemeinen Brutus, der ist überhaupt gar kein Deutscher, der ist ein Ostjude; nicht totschlagen, tottreten soll man ihn. (…) An dem Stammtisch in den Wirtshäusern wurden Galgen aufgestellt, an denen eine Figur, der Verbrecher Kahr, ungehört gerichtet wurde. Es gab nichts Schlechtes und Gemeines was man dem Kahr (…), bei dem weitaus der größte Teil der Münchener Bevölkerung noch 24 Stunden vorher die Geschicke Bayerns und Deutschlands in den allertreuesten und besten Händen wusste, nicht nachgesagt hätte. Wer es wagte für Kahr ein entschuldigendes Wort zu sagen, wurde blutig geschlagen; einige meiner Freunde konnten sich mit knapper Not der Lynchjustiz des souveränen Münchner Volkes entziehen. Die Stadt war wie besessen.“1 So beschrieb der ehemalige Ministerpräsident und Generalstaatskommissar Bayerns, Gustav von Kahr, selbst die chaotische Lage nach dem Hitlerputsch von 1923. Der offensichtliche Wirrwarr im Land, der in seinen Zeilen zum Ausdruck kommt, steht im krassen Widerspruch zu dem geordneten und disziplinierten Bayern, für das er eigentlich eintreten wollte. Was Kahr hier als ungerecht darstellen mag, belegt nur den letztendlichen Verlust von Ruhe und Ordnung im Freistaat Bayern. Seit er 1920 die Regierung vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann übernommen hatte, war von Bayern oft als der „Ordnungszelle“, von einer geordneten, wertbeständigen und hart durchgreifenden Alternative zur Reichspolitik die Rede. Der „Ordnungszelle Bayern“ wurde eine „Führungs- und Heilungsaufgabe“2 gegen das Erbe der Revolution im gesamten Deutschen Reich zugesprochen. Nach dem Chaos des Hitlerputsches sah selbst die dominierende Bayerische Volkspartei ein, dass ←11 | 12"12"→diese Inanspruchnahme des Begriffs „Ordnung“ wohl nicht der Wahrheit entsprach.3 Unkontrollierbare rechtsradikale Verbände, Fememorde, mangelnde Autorität des verfassungsgemäßen Staates und schließlich der aberwitzige Hitlerputsch im Bürgerbräukeller am 8. November 1923, indem über Stunden viele in Bayern nicht mehr wussten, wer nun das Sagen hatte und wer nicht – all das hatte sich in den Amtszeiten Kahrs und seiner Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten mehr und mehr hochgeschaukelt. Es war weit gekommen mit dem jungen Freistaat Bayern.

Wer gemäß der Bamberger Verfassung von 1919 das offizielle Sagen in der bayerischen Politik hatte, das war im Grunde immer klar: Der wichtigste Mann im Staat war der Ministerpräsident, der im Gesamtministerium oder Ministerrat den Vorsitz innehatte. Nach dem Rückzug der Mehrheitssozialdemokratie aus der Regierung waren dies Gustav von Kahr (16.3.1920–11.9.1921), Hugo Graf von und zu Lerchenfeld auf Köfering und Schönberg (21.9.1921–2.11.1922) und Eugen von Knilling (8.11.1922–5.5.1924, geschäftsführend noch bis 28.6.1924). Eine Besonderheit der Zeit war nun, dass diesen Ministerpräsidenten schon in der zeitgenössischen Presse das Attribut zugeschrieben wurde, dass sie nicht, wie man es heute erwarten würde, aus der ersten Reihe der dominierenden Regierungspartei BVP stammten, sondern ihre öffentliche Legitimation aus einer erfolgreichen Beamtenlaufbahn im Staat zogen.4 Deswegen werden die Ministerpräsidenten dieser Zeit vereinfacht als sogenannte „Beamtenministerpräsidenten“ bezeichnet. Das bedeutete, dass Führer der Partei es vorzogen, sich zurückzuhalten, und die Verantwortung als Regierungschef anderen überließen. Schon Zeitgenossen wie der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Timm kritisierten die Zurückhaltung der Mehrheitspartei als „Parlamentarismus der halben Verantwortung.“5 Andreas Kraus sieht den Regierungsantritt Kahrs als „bedenkliches Signal“ insofern, als dass „sich die Partei, welche jetzt die Verantwortung hätte übernehmen müssen, dieser Verantwortung entzog […] Dazu kam die alte Tradition der Bayerischen Volkspartei, trotz ihrer parlamentarischen ←12 | 1313"→Überlegenheit die königlichen Beamtenregierungen respektvoll zu tolerieren.“6 Karl Schwend stellt fest: „Die Entscheidung fiel nicht für politisches Führertum, sondern für ein politisches Figurantentum.“7 Auch Bernd Schilcher kritisiert in seiner Dissertation die im Untersuchungszeitraum prinzipiell übliche Berufungspraxis, in der sich die parlamentarischen Verantwortungsträger durch „Platzhalter“8 der Verantwortung entzogen, als prinzipielles Problem der Zeit.

In der Tat konnte die BVP von 1920–1924 dreimal den Mann an der Spitze auswechseln, ohne dass die Stellungen der prägenden Persönlichkeiten wie des Fraktionsführers im Landtag Heinrich Held oder des Chefs des einflussreichen Christlichen Bauernvereins Georg Heim dadurch in Frage gestellt waren. Erst 1924 übernahm mit Held ein Spitzenmann der BVP aus dem Landtag die Regierung – und sollte sie bis zur Gleichschaltung Bayerns 1933 behalten.

Im positiven Sinne wurde dieses Phänomen unter anderem von Gustav von Kahr selbst und von dessen Anhängern so betrachtet, dass ein unpolitischer, über den Parteien schwebender Mann die Leitung des Staates innehatte, der selbstlos nur seine Beamtenpflicht für sein Land erfülle und nicht Partikularinteressen diene. Kahr pochte auf diese Sicht, etwa als er nach seiner Wahl im Landtag äußerte: „Ich bin bereit, die Wahl anzunehmen. Diese Annahme ist das schwerste Opfer meines Lebens.“9 Er bezeichnete sich als von Natur aus „unpolitische“10 Person, der die Parteipolitik zuwider war.

Man muss in Wahrheit allerdings davon ausgehen, dass ein Ministerpräsident, also der Inhaber des höchsten Amtes im Freistaat Bayern, niemals unpolitisch und neutral sein kann, sondern dass er natürlich eine politische Agenda verfolgt und wesentliche Verantwortung für die Entwicklung im Land, so wie sie gekommen ist, trägt. Von wievielen Einflüssen und Zeitumständen Kahr, Lerchenfeld und Knilling auch beeinflusst gewesen sein mögen – in ihrer Position an der Spitze Bayerns müssen sie das Land durch ihre tägliche Arbeit unweigerlich mitgeprägt haben. Die vorliegende Dissertation macht es sich deshalb zur Aufgabe, den bislang nur am Rande der Forschung beachteten „Beamtenministerpräsidenten“ ein politisches Profil zu geben. Sie unternimmt den Versuch, den drei Ministerpräsidenten im Untersuchungszeitraum von März 1920 bis Juni 1924 für ihre Amtszeiten eine politische Grundhaltung und eine politische ←13 | 1414"→Schwerpunktsetzung zuzuordnen. Und sie tut dies stets vor dem Hintergrund der für diesen Zeitraum zentralen Frage, inwiefern Kahr, Lerchenfeld und Knilling durch ihre Regierungspraxis ein persönlicher Beitrag zur Radikalisierung in Bayern bis hin zum Hitlerputsch zuzuschreiben ist.

Um dieses Ziel einer politischen Charakterisierung und einer Einschätzung der konkreten Mitverantwortung zu erreichen, geht die Arbeit wie folgt vor: Nach einigen kurzen Basisinformationen zur Ausgangslage in Bayern gegen Ende der Regierung Hoffmann sollen in drei großen Überkapiteln jeweils die Ministerpräsidentschaften Kahrs, Lerchenfelds und Knilling analysiert werden. Da der Fokus bewusst auf die Amtszeiten und nicht auf die kompletten Biographien gelegt wird, wird jeweils nur ein knapper Überblick über Herkunft und Karriere der Personen gegeben. Anschließend werden die Umstände ihres Regierungsantritts, sowohl was den Entscheidungsprozess vor allem in der BVP als auch was die Startbedingungen betrifft, beleuchtet. Es folgt jeweils ein Versuch, anhand ihrer Amtsführung die Frage nach einem politischen Stil, nach festen Charakteristika zu beantworten. Die Schwerpunktthemen der Regierungszeiten werden dabei in eigenen Kapiteln erstmals aus Sicht des jeweiligen Ministerpräsidenten ausführlich behandelt, wobei bei Kahr vor allem der Konflikt um die bayerische Einwohnerwehr, bei Lerchenfeld der Streit um das Republikschutzgesetz von 1922 und bei Knilling sein Blick auf die immer mehr außer Kontrolle geratenen vaterländischen Verbände in Bayern und die Ernennung Kahrs zum Generalstaatskommissar zu behandeln sein wird. Diese Schritte sollen immer auch im Hinblick darauf geschehen, wie sich die Ministerpräsidenten gegenüber der Verfassung und gegenüber dem Reich verhalten haben und inwiefern sie durch ihr Verhalten den Umstand gefördert haben, dass Hitler im November 1923 von breiten Massen unterstützt einen Marsch auf Berlin und das Ende der republikanischen Verfassungen in Bayern und Reich fordern konnte. Der Blick nach Berlin wird also eine ebenso große Rolle spielen, wie die Frage nach den jeweiligen Konzepten zur Besserung und Beruhigung der innerbayerischen Verhältnisse und zur Festigung der postrevolutionären staatlichen Ordnung in Bayern, wie sie durch Landes- und Reichsverfassung vorgegeben war. Anschließend werden die Umstände betrachtet, unter denen der jeweilige Rücktritt des Ministerpräsidenten sich vollzog. Dieser Analyse der Regierungspraxis folgt zusätzlich eine Einordnung in das politische Spektrum Bayerns. Hiermit soll untersucht werden, ob die angeblich unpolitischen Beamten tatsächlich neutral über den Dingen schwebten oder ob sie in Wahrheit den parteilichen Richtungen im Land doch teils näher, teils ferner standen. Dazu wird das Verhältnis der Ministerpräsidenten zu jeder einzelnen Partei der Regierungskoalition, der Landtagsopposition und auch zu den Kräften außerhalb des Parlaments gezielt untersucht ←14 | 1515"→werden. Bei Kahr, dessen politische Einordnung, wie die Arbeit noch zeigen wird, am schwersten erscheint, wird dies in größerem Umfang erfolgen als bei Lerchenfeld oder Knilling. Allgemein spielt die Person Kahrs durch alle Kapitel hindurch eine Rolle, da er 1923 nochmals als Generalstaatskommissar auftritt, was jedoch nicht in einem eigenen Überkapitel, sondern als Teil der Amtszeit Knillings behandelt wird. Kahr ist derjenige, der als erster der von der BVP getragenen Ministerpräsidenten Bayern für die folgenden Jahre seine Prägung gab. Jedes Überkapitel endet mit einem personenbezogenen Fazit der Regierungszeit. Im Schlussfazit ist nochmals gerafft die Frage zu beantworten: Welcher Beitrag ist jeweils Kahr, Lerchenfeld und Knilling durch ihre Regierungstätigkeit und ihre politische Haltung hinsichtlich der Radikalisierung Bayerns zuzuschreiben?

Die Idee zu dieser Doktorarbeit entstand an der Universität Regensburg im Rahmen des Oberseminars zur bayerischen Landesgeschichte von Prof. Peter Schmid. Meinem Doktorvater Herrn Prof. Schmid gilt für die Begleitung über die Jahre hinweg mein größter Dank. Ebenso danke ich den Teilnehmern des Oberseminars von Prof. Schmid für Diskussion und Hinweise. Darüber hinaus danke ich Herrn Prof. Martin Sebaldt vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Regensburg, der sich bereit erklärt hat, die Aufgabe des Zweitkorrektors zu übernehmen. Ferner bedanke ich mich bei Prof. Ferdinand Kramer vom Institut für bayerische Geschichte in München, seinem Mitarbeiter Matthias Bischel M.A. und Dr. Johann Kirchinger von der Universität Regensburg für den anregenden Austausch und manche Hilfestellung zum Thema. Selbstverständlich schulde ich auch meinen Eltern Renate und Thaddäus Hinterberger sowie meinem Patenonkel Eduard Hinterberger, Freunden, Kollegen und Studiengefährten und den Mitarbeitern in Bibliotheken und Archiven meinen Dank, die mir mit Ratschlägen, Hilfe und Anregungen zur Seite standen. Es sei mir verziehen und nicht als Unhöflichkeit ausgelegt, wenn ich diesen Dank so allgemein halte und hier nicht jeden einzeln nenne.

1.2. Forschungsstand, Literatur und Quellenlage

Es ist auffällig, dass die Ministerpräsidenten Eisner, Hoffmann und Held bereits intensive Beachtung in der Forschung gefunden haben und die Geschichte Bayerns auch aus dem Blickwinkel ihrer Regierungen dargestellt wurde,11 während ←15 | 1616"→dies bisher bei keinem der „Beamtenministerpräsidenten“ der Fall ist. Eine knappe Biographie Kahrs wird bis heute nur durch einige kurze Artikel und Aufsätze gewährleistet. Zu Lerchenfelds bisheriger biographischer Behandlung gibt es lediglich einen knappen Artikel in der Zeitschrift des Bayerischen Landtages „Maximilianeum“ zu erwähnen, während die Beschäftigung mit Eugen von Knilling bislang über den knappen Eintrag in einige Lexika kaum hinausging. Die Ministerpräsidenten erscheinen daher in der bisherigen Forschung nur am Rande anderer Betrachtungen, vor allem natürlich solcher zur Geschichte Hitlers und der NSDAP im Zeitraum. Eine gezielte Analyse ihrer Politik und ihrer Verantwortung ist bislang nicht erfolgt. Diese Arbeit wird den Versuch unternehmen, diese Lücke für alle drei Personen zu schließen.

Als für den Zeitraum grundlegende Sekundärliteratur ist aus Sicht der bayerischen Landesgeschichte neben den Passagen in Spindlers Handbuch der Bayerischen Geschichte und den den Standardwerken von Hürten, Menges, Kraus und Zorn vor allem Karl Schwends Werk „Bayern zwischen Monarchie und Diktatur“ aus dem Jahr 1954 zu bezeichnen. Die „Beamtenministerpräsidenten“ finden hier durchaus Beachtung, stehen aber schon wegen des umfassenden Untersuchungszeitraumes der Werke nicht im Vordergrund. Schwends Werk stellt insofern eine Besonderheit dar, als dass er als damaliger Schriftleiter der „Bayerischen Volkspartei Correspondenz“ auch als Zeitzeuge nah am Geschehen war. So erklären sich die sorgfältige chronologische Beschreibung des Zeitraums, aber auch eine gewisse Parteilichkeit zugunsten der BVP. Ferner existiert eine Dissertation von Werner Zimmermann aus dem Jahr 1953, die sich mit der bayerischen Politik von 1918–1923 befasst, sowie eine Dissertation von Herbert Speckner aus dem Jahr 1955, die die „Ordnungszelle Bayern“ von 1918 bis zum Ende der Ministerpräsidentschaft Kahrs im September 1921 behandelt. Hans Fenske konzentriert sich in seinem Werk vor allem auf die Entstehung und Ausbreitung des Rechtsradikalismus, wodurch selbstverständlich die Ordnungszelle Kahrs zur Behandlung kommt. Horst Nutzer befasste sich mit der Entwicklung der Wehrverbände in Bayern, Preußen und Österreich. Die Ereignisse um den Hitlerputsch von 1923 haben bei Harlold J. Gordon jr. eine äußerst aufwendige und detailversessene Bearbeitung erfahren. Der Fokus lag hier jedoch nachvollziehbarer Weise nicht, wie in der vorliegenden Dissertation, auf der Ministerpräsidentschaft Knillings. Sehr wertvoll für das bessere Verständnis und die Bewertung vieler verfassungsrechtlicher Konflikte im Zeitraum ist die politikwissenschaftliche Dissertation Thomas Langes, die Formen und Anwendung des Ausnahmezustands im Bayern der Weimarer Zeit erforscht. Zu den Fragen des Republikschutzes in der Weimarer Zeit, der unter anderem immer wieder zum Streit zwischen München und Berlin geführt hat, liegt eine Arbeit von Gotthard ←16 | 1717"→Jasper vor. Einen guten Einblick zum Rechtsradikalismus im Bayern der Weimarer Zeit bietet Bruno Thoss Arbeit zum Ludendorff-Kreis. Friedhelm Mennekes beschäftigt sich in seinem Werk „Die Republik als Herausforderung“ vor allem mit dem politischen Klima in der Gesellschaft des jungen Freistaates. Gabriele Sperl und Dirk Götschmann haben in ihren Werken die Wirtschaftsgeschichte Bayerns im Zeitraum bearbeitet. Eine sozialgeschichtliche Arbeit zum Zeitraum hat zudem Martin Geyer vorgelegt. Ulrike Hofmann hat sich auf das Phänomen der Fememorde konzentriert. Mit dem Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Reich und der deutschen Innenpolitik 1918–1923 hat sich Wolfgang Benz befasst. Hinsichtlich der Diskussion um die Finanzverfassung zwischen Bayern und dem Deutschen Reich legte Franz Menges eine Arbeit vor, die natürlich auch zum Verständnis der Bemühungen um die Eigenstaatlichkeit Bayerns einen Beitrag leistet. Einen wertvollen Einblick in die Presselandschaft Bayerns bietet Paul Hoser. Die ausländischen Gesandtschaften in München finden in den Werken von Andrea Müller, was Frankreich betrifft, und Martin Weigl, was Österreich betrifft, Beachtung. Als Ergänzung zur oft altbayerisch-katholisch geprägten Forschung zum politischen Klima in Bayern bietet Manfred Kittel einen Blick auf das evangelische Bayern in der Weimarer Republik. Die Liste der Werke, die sich mit sehr speziellen und durchaus nicht zu vernachlässigenden Fragestellungen und Themenfeldern der Bayerischen Geschichte der frühen Zwanziger Jahre beschäftigen, etwa Benjamin Ziemanns Betrachtungen zur Rolle der Kriegserfahrungen im ländlichen Bayern oder Werner Chanmans Werk zu den Münchner Juden im Zeitraum, ließe sich ebenso wie die Liste von diversen Aufsätzen oder von Werken der gesamtdeutschen Geschichtsschreibung noch lange fortführen. An dieser Stelle sei jedoch darauf verzichtet.

Wertvolle Einblicke in den Zeitraum gewähren ebenso die Arbeiten, die sich auf die Geschichte der einzelnen Parteien beziehen. Für die Bayerische Mittelpartei beziehungsweise die Deutschnationale Volkspartei in Bayern ist Elina Kiiskinens Arbeit zu erwähnen, die durch Manfred Kittels Forschungen ergänzt wird. Hanns-Jörg Bergmanns Werk untersucht sowohl den Bayerischen Bauernbund als auch den BVP-nahen Christlichen Bauernverein ausführlich. Die Geschichte der BVP wurde durch Klaus Schönhoven nur für die Jahre 1924 bis 1932 vorgelegt. Eine umfangreiche Untersuchung der BVP von 1919–1933 auf Basis der Protokolle der Landtagsfraktion ist an der Universität München lange angekündigt, leider aber noch nicht verfügbar. Allerdings existieren drei Magisterarbeiten als Edition dieser Protokolle. Der Untersuchungszeitraum ist im Hinblick auf die größte Partei der Regierungskoalition also im Moment noch nicht gezielt erforscht. Aus Sicht der SPD liegt für Teile des Untersuchungszeitraums Peter Kritzers Arbeit über die bayerische Sozialdemokratie und die ←17 | 1818"→bayerische Politik in den Jahren 1918 bis 1923 vor. Für den Zeitraum bis 1933 schließt sich die Untersuchung von Herbert Kral an. Für die NSDAP in ihren frühen Jahren sind die Werke von Georg Franz-Willing, Gerhard Schulz und Werner Maser zu nennen.

Erweiterung erfährt der Einblick in den Zeitraum durch diverse Biographien bayerischer Politiker. So stellt Joachim Reimanns Biographie über den liberalen Justizminister Müller-Meiningen sicherlich einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der DDP in Bayern dar, die bislang sehr dürftig erforscht ist. Richard Keßler befasste sich mit Zeit Heinrich Helds als Parlamentarier, Barbara Pöhlmann widmete sich der Ministerpräsidentschaft Helds. Ebenso liegen Biographien von Schmidt über Kultusminister Matt, von Altendorfer über Fritz Schäffer, von Menges über die rechte Hand Kahrs, Hans Schmelzle, von Kritzer über Wilhelm Hoegner, von Maga über den Vorsitzenden der BVP-Fraktion im Reichstag, Prälat Johann Leicht, von Reuter über Anton Pfeiffer, von Kirchinger über Michael Horlacher und von Renner über Georg Heim vor. Letztere muss allerdings kritisch gesehen werden, macht Renner doch mit dem Untertitel „Lebensbild eines ‘ungekrönten Königs’“ gar keinen Hehl aus seiner überaus wohlwollenden Darstellung des Bauernführers. Auf der Ebene der Reichspolitik liegen inzwischen umfangreiche Untersuchungen zu den für den Untersuchungszeitraum einschlägigen Reichskanzlern und Militärs vor.

Noch in Arbeit befinden sich derzeit zwei den Untersuchungszeitraum betreffende Dissertationen an der LMU. Florian Heinritzi befasst sich mit dem bayerischen Konkordat von 1924, welches in die Regierungszeit Knillings fällt. Dieser Aspekt der Amtszeit Knillings wird daher in der vorliegenden Arbeit nur eine sehr kleine Rolle spielen. Wesentlich ist die begonnene Arbeit von Matthias Bischel, die sich mit einer Analyse des Beziehungsgeflechts Gustav von Kahrs auch über seine Amtszeit als Ministerpräsident hinaus befassen wird, allerdings noch am Anfang steht. Die vorliegende Arbeit wird, was die Person Kahr betrifft, durch Bischel eine Ergänzung finden.

Wenn man die Frage nach der Quellenlage zu den bayerischen „Beamtenministerpräsidenten“ stellt, so liegt es zunächst nahe, nach den Nachlässen der betreffenden Personen zu suchen. Hier ergibt sich ein gemischtes Bild. Zu Gustav von Kahr verfügt das Bayerische Hauptstaatsarchiv über einen umfangreichen Nachlass, welcher sogar ein Typoskript seiner Lebenserinnerungen (bis 1924, ohne die Jahre 1919/20) beinhaltet. Natürlich ist zu beachten, dass in diesen umfangreichen Erinnerungen Kahrs, die einige Jahre nach dem Untersuchungszeitraum entstanden sind, vor allem eine Rechtfertigungsschrift, mit der sich Kahr in ein gutes Licht rücken wollte, zu sehen ist. Die Quelle ist also stets kritisch zu betrachten. Ferner wurden Ende 2013 durch das Institut für bayerische ←18 | 1919"→Geschichte in München umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen Kahrs entdeckt, die in der vorliegenden Arbeit nun erstmals Verwendung finden. Die Aufzeichnungen decken sich zum Teil mit den getippten Erinnerungen und waren wohl die Grundlage für selbige, zumal sie ähnliche zeitliche Lücken aufweisen. Da sie allerdings zeitnah verfasst wurden, nicht wie die Lebenserinnerungen erst Ende der 20er Jahre, behandeln sie manche Begebenheit und Meinung, die Kahr später lieber aussparen wollte. Nichtsdestotrotz wollte Kahr auch in diesem Tagebuch in erster Linie sein persönliches Handeln als richtig darstellen und rechtfertigen. Für diese Arbeit stellte das Institut für bayerische Geschichte in München die Tagebuchaufzeichnungen für das Jahr 1921 als Kopie zur Verfügung. Der Nachlass Kahr im Hauptstaatsarchiv beinhaltet ferner noch einige Akten, Áusschnitte und Redeentwürfe sowie einen geraffter formulierten Lebenslauf, der in dieser Form einige Jahre vor den umfangreichen Lebenserinnerungen, jedoch ebenfalls nach 1923 entstanden sein muss. Im Blick auf Gustav von Kahr ist also ein umfangreicher Bestand an Primärquellen vorhanden. Ganz anders sieht es im Falle Lerchenfelds aus. Hier findet sich nur ein beschränkter Nachlass im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, welcher sich zudem auf seine diplomatische Tätigkeit in Reichsdiensten konzentriert. Nach Auskunft der Familie von Lerchenfeld besteht ansonsten kein Nachlass mehr. Noch bedauerlicher ist die Lage im Falle Eugen von Knillings, dessen Nachlass ebenfalls nicht auszumachen ist. Nach Auskunft des bayerischen Hauptstaatsarchivs finden sich lediglich einige Briefe Knillings in anderen Nachlässen (z.B. Nachlass Heinrich Held), eine dünne Mappe mit Presseausschnitten von 1923–1927 in der Sammlung „Personen“ sowie ein Personalakt in den Beständen des Kultusministeriums.

Dennoch besteht eine Reihe von sinnvollen Möglichkeiten, die Arbeit auf einer fundierten Quellenbasis aufzubauen. Äußerst aussagekräftig erscheinen hier die Ministerratsprotokolle im Zeitraum, welche derzeit an der Münchener Ludwig Maximilans Universität editiert werden. Obwohl diese Edition nicht abgeschlossen sein wird, um in der Dissertation Verwendung zu finden, ist der Quellenbestand benutzbar und für die Zwecke dieser Arbeit sehr geeignet. Selbstverständlich gilt es zu bedenken, dass aus diesen Protokollen keine vertraulichen Verhandlungen zwischen den Ministern zu entnehmen sind. Dennoch geben sie die Grundsatzdiskussionen im Ministerrat umfangreich wieder. Die Protokolle finden sich im Hauptstaatsarchiv München.

Ebenso bewahrt das bayerische Hauptstaatsarchiv die für die Untersuchung relevanten Bestände zu den einzelnen Ministerien auf. Hier sind für die Dissertation vor allem die des Ministeriums des Äußern von Belang. Ferner die Protokolle des Haushaltsausschusses, dessen Sitzungen die Ministerpräsidenten nicht generell, aber immer wieder besuchten. Diese Protokolle haben sich ←19 | 2020"→als sehr wichtig erwiesen, da in diesem Ausschuss des Landtags ein wesentlich offenerer und direkterer Ton gepflegt wurde als in den Plenardebatten. Zum Generalstaatskommissariat Kahrs findet sich ein eigener Quellenbestand im Hauptstaatsarchiv.

Interessante Einblicke bieten die Fraktionsprotokolle der BVP. Dieser bislang weniger berücksichtigte Fund stellt einen Glücksfall für die Forschung dar – es sind die einzigen Überlieferungen von Sitzungen einer bayerischen Landtagsfraktion aus der Weimarer Zeit. Sie werden im Archiv für Christlich Soziale Politik der Hanns Seidel Stiftung in München aufbewahrt.

Während die bislang genannten Quellen vor allem über Interna Auskunft geben können, soll durch Miteinbeziehung der Presselandschaft des Zeitraumes in die Quellenbasis der Außenwirkung der Ministerpräsidenten gegenüber Parteien, einzelnen Gruppen und der Bevölkerung Rechnung getragen werden. Eine Besonderheit der Zeit ist es, dass die meisten Blätter klar einer politischen Richtung zuzuordnen sind und somit Rückschlüsse auf das Ansehen des jeweiligen Ministerpräsidenten im jeweiligen politischen Lager zulassen. Andererseits gilt es angesichts der Parteilichkeit der Pressequellen ihre Aussagekraft auch immer wieder kritisch zu hinterfragen. Die Bayerische Staatsbibliothek in München bietet hier einen umfangreichen Fundus.

Die Quellenbasis ergänzt sich durch diverse Nachlässe von Zeitgenossen der „Beamtenministerpräsidenten“, die verschiedene Blickwinkel und Beurteilungen nachvollziehbar machen. Dieser ergänzende Quellenbestand ist auf mehrere Archive verteilt. Genannt seien der Nachlass des liberalen Handelsministers Eduard Hamm, der des BVP Fraktionsführers Heinrich Held, die der Einwohnerwehrführer Rudolf Kanzler und Georg Escherich, der des mächtigen BVP-Politikers Georg Heim und der des Verlegers Nikolaus Cossmann.

Zudem bieten die zeitgenössischen Schriften beispielsweise Rudolf Kanzlers, Ernst Müller-Meiningens, Wilhelm Hoegners, des Ministerialbeamten Sommer oder Erich Ludendorffs wertvolle Einblicke. Auch Graf Lerchenfeld hat in einem gewissen Umfang kürzere Denkschriften verfasst. Gustav Kahr lieferte eine Beschreibung seiner Tätigkeiten rund um die Beisetzung König Ludwig III. Bei allen diesen Schriften gilt es jedoch zu beachten, dass ihre Verfasser Zielsetzungen verfolgten – sei es die Bekämpfung eines politischen Kontrahenten oder die Rechtfertigung des eigenen Handelns. Hinzu kommen zeitgenössische oder bereits nationalsozialistisch geprägte Darstellungen zum Beispiel zur Geschichte der Einwohnerwehr oder anderer Verbände oder Personen.

Zum Fundus an editierten Quelleneditionen sei zunächst Ernst Deuerleins hilfreiche Edition von einschlägigen Akten rund um den Hitlerputsch genannt. Ebenso wichtig erscheint die Edition der Akten zum Hitlerprozess durch ←20 | 2121"→Gruchmann und Weber sowie die der Akten zum einschlägigen Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags durch den späteren Ministerpräsidenten Hoegner. Letztere erfolgte schon 1928. Natürlich spielt die parteipolitische Motivation bei dieser Quelle eine große Rolle. Das tut dem Wert der zahlreichen Belege, die Hoegner wörtlich anführt, jedoch keinen Abbruch. Dokumente zur Verfassungsgeschichte der Zeit finden sich in der Edition Hubers. Einen interessanten Einblick liefern auch die editierten Berichte des württembergischen Gesandten Moser von Filsek. Außerdem sind die editierten Erinnerungen des SPD-nahen Juristen von Loewenfeld zu nennen, die einen kritischen Blick auf die Geschehnisse der Zeit wiedergeben. Sämtliche Aufzeichnungen Adolf Hitlers im Zeitraum haben Eberhard Jäckel und Axel Kuhn editiert.

Als äußerst hilfreich für die Untersuchung der Interaktionen zwischen München und Berlin ist die Editionsreihe „Akten der Reichskanzlei“ zu nennen, welche auf den Seiten des Bundesarchives online zur Verfügung steht. Auch auf die Protokolle des Bayerischen Landtags und des Reichstags wird online zugegriffen.

1 Kahr, Lebenserinnerungen, S. 1376f.

2 Zorn, Jahrhundert, S. 234.

3 So verkündete der Fraktionsvorsitzende der BVP im Reichstag Johann Leicht nach dem Hitlerputsch unter großer Heiterkeit und Schadenfreude des Plenums, dass er den Begriff für Bayern künftig nicht mehr verwenden wolle. Vgl. Maga, Leicht, S. 123.

4 Die Münchner Neuesten Nachrichten schrieben zum Amtsantritt Graf Lerchenfelds: „Die alte bayerische Gewohnheit der Beamtenregierungen, die nur auf kurze Zeit durch die Kabinette Eisner-Hoffmann unterbrochen und dann mit Kahr wieder eingeführt worden war, findet also ihre Fortsetzung.“ Münchner Neueste Nachrichten Nr. 448 vom 6.11.1922.

5 Verhandlungen des Bayerischen Landtags, 146. Sitzung vom 14.11.1922.

6 Kraus, Geschichte, S. 672.

7 Schwend, Bayern, S. 153

Details

Seiten
562
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631769850
ISBN (ePUB)
9783631769867
ISBN (MOBI)
9783631769874
ISBN (Hardcover)
9783631769744
DOI
10.3726/b14746
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Bayern 1920-1924 Weimarer Republik Aufstieg der NSDAP Bayerische Ministerpräsidenten Einwohnerwehr
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 561 S.

Biographische Angaben

Hans Hinterberger (Autor:in)

Hans Hinterberger studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Regensburg, wo er seine Promotion am Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte anschloss. Er arbeitet heute als Journalist beim Bayerischen Rundfunk.

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Titel: Die bayerischen «Beamtenministerpräsidenten» 1920–1924 und ihre Mitverantwortung am Hitlerputsch
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