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Arbeitserpressung

Zum Vermögenswert abgenötigter Leistungen

von Amelie Rösl (Autor:in)
©2017 Dissertation XVI, 188 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin befasst sich mit dem Vermögenswert abgenötigter Leistungen. Ausgehend von einer Untersuchung zivilrechtlicher Anknüpfungspunkte – Vertragsschluss und Verzicht auf deliktische Ausgleichforderungen –, steht im Mittelpunkt der Betrachtungen die Analyse genuin strafrechtlicher Ansätze zur Bestimmung des Vermögenswertes. Als Ergebnis formuliert die Autorin eine, auf dem juristisch-ökonomischen Vermögensbegriff basierende, Kommerzialisierungsthese.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Kapitel: Einleitung, Problemaufriss und Gang der Darstellung
  • 2. Kapitel: Der strafrechtliche Vermögensbegriff
  • § 1 Juristischer Vermögensbegriff
  • § 2 Wirtschaftlicher Vermögensbegriff
  • § 3 Juristisch-ökonomischer Vermögensbegriff
  • § 4 Personaler Vermögensbegriff
  • § 5 Kritische Bewertung der verschiedenen Vermögensbegriffe
  • 3. Kapitel: Der Erpressungstatbestand
  • 4. Kapitel: Zivilrechtliche Anknüpfungspunkte zur Bestimmung des Vermögensnachteils
  • § 6 Anknüpfungspunkt Vertragsschluss
  • I. Zivilrechtliche Sachverhaltsanalyse
  • 1. Hinführung
  • 2. Willenserklärung
  • a) Äußerer und innerer Tatbestand der Willenserklärung
  • (1) Äußerer Tatbestand
  • (2) Innerer Tatbestand
  • b) Zusammenfassung
  • II. Zivilrechtliche Ansätze zur Berücksichtigung der Gewaltanwendung
  • 1. § 134 BGB und § 138 BGB
  • 2. § 116 S. 2 BGB und §§ 123 Abs. 1, 142 Abs. 1 BGB
  • a) § 116 S. 2 BGB
  • b) §§ 123 Abs. 1, 142 Abs. 1 BGB
  • (1) Vertragliche Verbindlichkeit
  • (2) Bestimmung des Vertragstyps
  • III. Auswirkungen auf den Vermögensnachteil
  • 1. §§ 123 Abs. 1, 142 Abs. 1 BGB
  • a) Eingehungserpressung
  • b) Anfechtbarkeit
  • c) Materielles Kriterium der Werthaltigkeit
  • 2. § 116 S. 2 BGB
  • 3. Zwischenergebnis
  • IV. Ergebnis
  • § 7 Anknüpfungspunkt Verzicht auf eine deliktische Ausgleichsforderung
  • I. Hinführung
  • II. Dogmatische Analyse
  • 1. Endgültiger Verzicht
  • 2. Verzicht auf die sofortige Geltendmachung
  • 3. Schlussfolgerung
  • 4. Korrektur des Ergebnisses durch Einbeziehung subjektiver Elemente
  • III. Ergebnis
  • 5. Kapitel: Strafrechtsautonome Betrachtung zur Bestimmung des Vermögensnachteils
  • § 8 Strafrechtliche Anknüpfungspunkte zur Bestimmung des Vermögensnachteils
  • I. Bindung der eigenen Arbeitskraft
  • 1. Begriffserläuterung der Arbeitskraft
  • a) Gesetzliche Verwendung des Begriffs Arbeitskraft
  • b) Definitionsansätze
  • (1) Sprachwissenschaftliche Ansätze
  • (2) Strafrechtliche Ansätze
  • c) Analyse
  • (1) Kraft
  • (2) Arbeit
  • (a) Historischer Abriss
  • (b) Sprachliche Analyse
  • d) Schlussfolgerungen
  • 2. Arbeitskraft als Vermögensbestandteil
  • a) Die Arbeitskraft selbst
  • b) Die Möglichkeit, die Arbeitskraft einzusetzen
  • c) Ergebnis
  • II. Leistungserbringung an sich bzw. Nichtübernahme anderer Leistungen
  • III. Ergebnis
  • § 9 Vermögenswert einer Leistung
  • I. Hinführung
  • II. Begriffsbestimmung: Arbeitsleistung, Dienstleistung, persönliche Leistung
  • III. Der wirtschaftliche Wert einer Leistung
  • 1. Analyse anhand verschiedener Topoi
  • a) Leistung üblicherweise gegen Entgelt
  • (1) Abstrakte Betrachtung der Üblichkeit des Entgelts der Leistung
  • (2) Konkrete Betrachtung der Üblichkeit des Entgelts der Leistung
  • (a) Die Üblichkeit des Entgelts der Leistung in der konkreten Tatsituation bei Hinwegdenken der Nötigungshandlung
  • (b) Die Üblichkeit des Entgelts der Leistung des konkreten Opfers
  • (c) Die Bestimmung der Üblichkeit des Entgelts der Leistung anhand eines Rückgriffs auf bereicherungsrechtliche Grundsätze
  • (d) Zusammenfassung
  • b) Persönliche Kommerzialisierung
  • (1) Problemaufriss und Darstellung von Literaturansätzen
  • (2) Stellungnahme
  • (a) Arbeitskraft als Teil des Persönlichkeitsrechts
  • (aa) Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
  • (bb) Beschreibung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
  • (b) Folgerungen für die Arbeitskraft
  • (c) Anforderungen an die Kommerzialisierungsentscheidung
  • (d) Tauglichkeit zur Bestimmung des wirtschaftlichen Wertes
  • c) Negative Bestimmung des Wertes einer Leistung
  • (1) Darstellung der verschiedenen Begründungsansätze
  • (2) Stellungnahme
  • d) Ergebnis
  • 2. Eigener Ansatz: Subjektive Kommerzialisierung eines Marktguts
  • a) Hinführung
  • b) Die Kriterien der Kommerzialisierungsthese
  • (1) Persönliche Kommerzialisierung
  • (a) Der Wille zur Kommerzialisierung als innere Tatsache
  • (b) Äußere Umstände zur Bestimmung von Kommerzialisierungsentscheidung und -willen
  • (aa) Konstellation 1: Leistung wurde noch nie gegen Entgelt erbracht
  • (bb) Konstellation 2: Leistung wurde bereits einmal gegen Entgelt erbracht
  • (2) Marktgut
  • (a) Marktbetrachtung
  • (b) Abstrakter und konkreter Markt
  • (c) Quantitative Anforderungen
  • (d) Zwischenergebnis
  • (3) Ergebnis – die Kommerzialisierungsthese
  • c) Übertragung auf Varianten des Ausgangsfalles: Abnötigung einer Beförderungsleistung
  • IV. Einschränkungen des Vermögenswertes einer Leistung basierend auf normativen Einflüssen
  • 1. Hinführung und Problemaufriss
  • 2. Bezugspunkt zur Bestimmung des Vermögenswertes abgenötigter Leistungen am Beispiel sexueller Leistungen
  • a) Begründungsansatz der Literatur: Abstrakte Leistung als solche
  • (1) Argumentation
  • (2) Kritische Würdigung
  • b) Bezugspunkt: Die abgenötigte Leistung
  • (1) Bezugspunkt: Die abgenötigte sexuelle Leistung
  • (a) Die freiwillige Erbringung sexueller Leistungen
  • (aa) Das Verbot der Erbringung sexueller Leistungen gegen Entgelt
  • (bb) Sittenwidrigkeit und Menschenwürde
  • (cc) Zwischenergebnis
  • (b) Rechtliche Wertungen erzwungener sexueller Leistungen
  • (aa) Zivilrechtliche Grundwertungen
  • (α) § 1 ProstG
  • (αα) Analyse
  • (ββ) Ergebnis
  • (β) § 888 Abs. 3 ZPO und § 120 Abs. 3 FamFG
  • (αα) § 888 Abs. 3 ZPO
  • (ββ) § 120 Abs. 3 FamFG
  • (ααα) § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB
  • (βββ) Anwendungsbereich des § 120 Abs. 3 FamFG
  • (γγ) Zwischenergebnis
  • (bb) Strafrechtliche Grundwertungen
  • (α) Rechtsfolgen der Tat: Weisungen gemäß § 56c StGB
  • (β) Straftatbestände
  • (αα) § 177 StGB
  • (ββ) § 180a Abs. 1 StGB
  • (cc) Sozialrechtliche Grundwertungen
  • (α) Arbeitsaufnahme
  • (β) Vermittlung
  • (γ) Beendigung des Arbeitsverhältnisses
  • (δ) Ergebnis
  • (dd) Unterhaltsrechtliche Grundwertungen
  • (ee) Zusammenfassung der gesetzlichen Wertungen für die abgenötigte Erbringung sexueller Leistungen
  • (c) Zwischenergebnis
  • (2) Übertragung des Ergebnisses auf Leistungen anderer Art
  • 3. Maßstab rechtlicher Missbilligung
  • a) Interessen als Bezugspunkt rechtlicher Missbilligung von Leistungen
  • b) Regeln zur Bestimmung solcher Interessen, deren Verletzung rechtlich missbilligt wird
  • (1) Die Menschenwürde als Maßstab rechtlicher Missbilligung
  • (a) Allgemeine Ausführungen
  • (b) Folgen für die Bestimmung des Vermögenswertes abgenötigter sexueller Leistungen
  • (aa) Ablehnung der Vermögenshaftigkeit nach dem juristisch-ökonomischen Vermögensbegriff
  • (bb) Einwände gegen diese Ergebnisfindung
  • (α) Hinwegdenken der Tathandlung
  • (β) Menschenwürde als Argument
  • (γ) Zwischenergebnis
  • (2) Die Grundrechte als Maßstab rechtlicher Missbilligung
  • (a) Dimensionen der Grundrechte
  • (b) Grundrechtliche Werteordnung als Maßstab rechtlicher Missbilligung
  • (c) Einwand: Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 GG
  • (aa) Art. 2 Abs. 1 GG
  • (bb) Art. 12 GG
  • (d) Ergebnis
  • (3) Einfachrechtliche Missbilligung
  • (a) Straftatbestände
  • (b) Ordnungswidrigkeiten
  • (c) Ergebnis
  • (4) Sittenwidrigkeit als Generalklausel einer Missbilligung der Rechtsordnung
  • c) Gesamtergebnis für den Maßstab rechtlicher Missbilligung
  • 4. Zusammenfassung der Ergebnisse: Bezugspunkt und Maßstab der Missbilligung durch die Rechtsordnung
  • V. Gesamtergebnis für den Vermögenswert abgenötigter Leistungen
  • § 10 Bestimmung des Vermögensnachteils
  • I. Bindung der eigenen Arbeitskraft
  • II. Leistungserbringung und Nichtübernahme anderer entgeltlicher Leistungen
  • III. Ergebnis
  • 6. Kapitel: Ergebnisse der Arbeit
  • Schriftenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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1.   Kapitel: Einleitung, Problemaufriss und Gang der Darstellung

Personen handeln auf vielfältige Art und Weise: sie befördern Menschen, sie mähen Rasenflächen, sie reparieren Gegenstände, sie erbringen sexuelle Leistungen etc. Die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, ob er solche Leistungen erbringen möchte, wird durch das Strafrecht geschützt: Wird nämlich eine Handlung durch Gewalt oder Drohung erzwungen, liegt in dieser Willensbeeinträchtigung ein Verstoß gegen die Handlungsfreiheit des Einzelnen. Diese Freiheit zu schützen ist Ziel des Nötigungstatbestandes, der diesen Schutz jedem Verhalten, das ein Tun, Dulden oder Unterlassen darstellt, gewährt, völlig unabhängig davon, in welchem Kontext der Einzelne die Leistung erbringt. Neben dem Nötigungstatbestand wird die Handlungsfreiheit des Einzelnen aber auch in weiteren spezielleren Tatbeständen des Strafgesetzbuches geschützt, insbesondere durch den im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Erpressungstatbestand.

Der Erpressungstatbestand schützt neben der Willensfreiheit des Tatopfers auch dessen Vermögen. Von ihm werden jedoch nur solche Willensbeeinträchtigungen erfasst, die zu einem Vermögensnachteil führen. Genau an dieser Stelle stellt sich die Frage, wann eine abgenötigte Leistung einen Vermögensnachteil erzeugt. Denn anders als bei der Abnötigung beispielsweise von Geldscheinen bereitet die Bestimmung des Vermögenswertes von Leistungen erhebliche Schwierigkeiten. Dies zeigt anschaulich eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2002, der folgender (leicht verkürzter) Sachverhalt zugrunde lag:1

Der Angeklagte (A) verfügte am Tattag nicht mehr über die für den täglichen Bedarf erforderlichen Geldmittel. Er kam deshalb auf den Gedanken, ein Taxi „zu kapern“, um nach Berlin zu fahren, wo seine Eltern und eine Bekannte wohnten. Zunächst ließ er sich zu seinem früheren Wohnort nach R. fahren. Diese Fahrt wollte er dazu nutzen, sich darüber klar zu werden, ob er die geplante Tat tatsächlich durchführen will. Als der Taxifahrer (T) am angegebenen Ziel anhielt, das Innenlicht einschaltete und kassieren wollte, fasste A den endgültigen Entschluss, sein Vorhaben durchzuführen. Er richtete einen geladenen Schreckschussrevolver auf den Halsbereich des T und forderte ihn auf, Innenlicht sowie Sprechfunk auszuschalten und ihn nach Berlin zu fahren. Dabei kam es ihm gerade auf die unentgeltliche Nutzung des Taxis als Transportmittel nach Berlin an, ← 1 | 2 → weil er nicht über genügend Geld verfügte, um eine reguläre Fahrt zu bezahlen. Der T, der den Revolver für eine scharfe Waffe hielt, nahm die Drohung ernst und fuhr auf die Autobahn in Richtung Berlin. An einer Raststätte konnte der T den A überwältigen. Dieser flüchtete.

In der Urteilsbegründung führte der BGH schlicht aus, der Gegenstand der tatbestandlich begangenen räuberischen Erpressung und damit der vermögensrelevante Anknüpfungspunkt sei „die Fahrt als solche“. Eine präzise Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal des Vermögensnachteils wurde vom BGH dabei nicht vorgenommen. Er ließ dabei insbesondere offen, was diese Beförderungsleistung des T möglicherweise von anderen unterscheidet und weshalb daher konkret diese Leistung Vermögenswert besitzt.

Dass es an klaren Kriterien zur Bestimmung des Vermögenswertes abgenötigter Leistungen mangelt, wird auch in der jüngsten – höchst kontrovers geführten – Diskussion über den Vermögenswert abgenötigter sexueller Leistungen deutlich. Zu entscheiden ist dabei, ob die Erbringung abgenötigter sexueller Leistungen durch eine Prostituierte2 zu einem Vermögensnachteil führt, was eine Ansicht bejaht, die Gegenmeinung hingegen abgelehnt.

Diese Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht eine konkrete Antwort darauf zu finden, wann die Abnötigung einer Leistung zu einem Vermögensnachteil im Sinne des § 253 StGB führt. Dabei gilt es möglichst klare Kriterien zu entwickeln, anhand derer entschieden werden kann, ob die Abnötigung einer Leistung zu einem Vermögensnachteil führt und damit im Ergebnis eine Erpressung vorliegt oder ob es sich um eine schlichte Nötigung handelt. Die beiden genannten Fallkonstellationen dienen hierbei als Anschauungsbeispiele.

Dabei wird die folgende Vorgehensweise gewählt: Das Fundament jeglicher Vermögensrelevanzanalysen stellt der strafrechtliche Vermögensbegriff dar. Daher steht eine Darstellung der verschiedenen Ansätze zur Bestimmung dieses Begriffs am Beginn der Betrachtungen. Daran anknüpfend erfolgt eine Entscheidung für einen Vermögensbegriff, der den weiteren Analysen zugrunde gelegt werden soll. Im Anschluss wird eine Charakterisierung des Erpressungstatbestandes vorgenommen. Hierbei werden diejenigen Elemente herausgearbeitet, die auf die Entscheidung, ob im Ergebnis eine vermögensrelevante Leistung vorliegt, Einfluss nehmen können.

Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich den möglichen Anknüpfungspunkten zur Bestimmung eines Vermögensnachteils. Untersucht werden dabei ← 2 | 3 → zivilrechtsakzessorische Anknüpfungspunkte, wie vertragliche Verbindlichkeiten oder auch Schadensersatzforderungen. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf einer Analyse der genuin strafrechtlichen Ansatzpunkte, unabhängig von zivilrechtlichen Vertragsstrukturen. Herausgearbeitet werden hierbei diejenigen Voraussetzungen bzw. Eigenschaften, die eine Leistung besitzen muss, um zu einen Vermögensnachteil bei ihrem Erbringer zu führen. Die Bearbeitung schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse. ← 3 | 4 →


1 BGH, NStZ 2003, 35.

2 Aus rein stilistischen Gründen wird in dieser Arbeit der Begriff des Prostituierten/der Prostituierten allein im femininen Genus verwendet.

← 4 | 5 →

2.   Kapitel: Der strafrechtliche Vermögensbegriff

Der Vermögensbegriff stellt eine der umstrittensten Materien des Strafrechts dar, die durch eine ausgeprägte Meinungsvielfalt gekennzeichnet ist. Weitgehende Einigkeit herrscht jedoch zwischen Rechtsprechung und Literatur darüber, dass den Vermögensdelikten – Erpressung, Betrug und Untreue – ein einheitlicher Vermögensbegriff zugrunde zu legen ist.3 Das hat zur Folge, dass die Erkenntnisse und Erläuterungen, die in großem Umfang insbesondere bei der Vermögensbegriffsbeschreibung des Betrugs vorgenommen werden, auf den Vermögensbegriff des Erpressungstatbestandes übertragen werden können.

Wenn auch die Entwicklung des Vermögensbegriffs dazu geführt hat, dass die heutige Vermögensbegriffsbestimmung nicht mehr von Extrempositionen geprägt ist, lehnen sich die meisten Ansätze dennoch an einer der klassischen Begriffsbildungen an. Daher wird im Folgenden an der Aufteilung in den juristischen Vermögensbegriff, wirtschaftlichen Vermögensbegriff, juristisch-ökonomischen Vermögensbegriff und personalen Vermögensbegriff festgehalten. Die insbesondere von der Literatur gewählten neuen Ansatzpunkte werden dabei in dieses Gefüge eingeordnet. Die Darstellung schließt mit einer Bewertung.

§ 1   Juristischer Vermögensbegriff

Der insbesondere von Binding, Gerland und A. Merkel entwickelte klassische juristische Vermögensbegriff bestimmt das Vermögen als die Summe aller Vermögensrechte und Vermögenspflichten eines Rechtssubjekts.4 Kurz und prägnant lässt er sich mit den von Binding gewählten Worten beschreiben: „wo kein Recht, da kein Betrug“5. Entscheidend für den juristischen Vermögensbegriff ist ← 5 | 6 → allein eine rechtliche Betrachtungsweise; wirtschaftliche Faktoren lässt diese Ansicht unbeachtet. Das hat zur Folge, dass nur zu subjektiven Rechten erstarkte Elemente Vermögenswert besitzen können (vermögen diese ihrem Inhaber auch keinerlei faktische Verfügungsmacht zu verleihen).6 Charakteristisch für den juristischen Vermögensbegriff ist darüber hinaus eine der heutigen Dogmatik fremde Einzelbetrachtung der Vermögenspositionen. Jede absprachewidrige Beeinträchtigung einer einzelnen Vermögensposition führt – gänzlich unabhängig von einer etwaigen Kompensation – zum Eintritt eines Vermögensschadens.7

Erklärtes Ziel dieser Begriffsbestimmung ist es, Normwidersprüche zu vermeiden, da sich das Strafrecht bei der Bestimmung des Vermögens nicht über andere zivil- und öffentlich-rechtliche „Zuteilungsordnungen“8 hinwegsetzen dürfe. Deren Aufgabe sei es obligatorisch festzulegen, welchen Werten und Faktoren ein Vermögenswert zukommt.9

Neuerdings gewinnt diese stark rechtlich determinierte Ansicht – wenn auch nicht mehr in der von Binding vertretenen Reinform – wieder vermehrt Anhänger. So präsentiert Pawlik einen „neuformulierte[n] juristischen Vermögensbegriff“10. Demnach gehört zum Vermögen der betreffenden Person all das, was ihr zur Ausübung der freien Selbstdarstellung rechtlich zugeordnet ist. Vermögen sei als Ausprägung der Selbstdarstellungsfreiheit zu sehen; dabei könne eine Position nur dann ein Vermögensgegenstand sein, wenn die Weggabe dieser Position nicht die Preisgabe eines essentiellen Teils der Personalität darstellt.11 Diese Begriffsbestimmung verweist auch auf die Rechtszuweisungen des öffentlichen und bürgerlichen Rechts. Die Zuweisungen auf außerstrafrechtliche Wertungen besitzen Pawlik zufolge die Funktion, rein faktische Positionen auszuschließen; eine genuin strafrechtliche Begriffsbestimmung soll dadurch nicht hinterfragt werden.12 ← 6 | 7 →

Auch der von Kindhäuser entwickelte funktionale Vermögensbegriff13 steht den gerade dargestellten Spielarten des juristischen Vermögensbegriffs nahe.14 Unter Vermögen ist Kindhäuser zufolge die Verfügungsmacht einer Person über die ihr rechtlich zugeordneten übertragbaren Güter zu verstehen. Im Gegensatz zu den Vertretern der klassischen juristischen Vermögenslehre schützt der von Kindhäuser entwickelte Vermögensbegriff jedoch nicht abstrakt bestimmte Rechtspositionen, sondern vielmehr die Möglichkeit der einzelnen Person über diese Positionen konkret faktisch verfügen zu können.

Als den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Vermögensbegriff sieht auch Hefendehl die Verfügungs-/Herrschaftsgewalt einer Person an. Vermögen definiert er als Herrschaft. Diese sei „immer dann zu begründen, wenn eine Person über mit der Rechtsordnung vereinbare Potenziale wirtschaftlicher Betätigung mit Hilfe rechtlich (meist zivilrechtlich) anerkannter Durchsetzungsmöglichkeiten nach ihrem Belieben verfügen und externen Störfaktoren effektiv begegnen kann.“15 Allein „eine durch das Zivilrecht konstituierte Herrschaftsposition“16 vermöge den objektiven Rahmen zur individuellen Betätigung zu schaffen. Würde man stattdessen die Herrschaft aus der Natur oder der Wirtschaft herleiten, liefe man Gefahr, in archaische Zustände zurückzugleiten.17

§ 2   Wirtschaftlicher Vermögensbegriff

Den „Gegenentwurf“ zum juristischen Vermögensbegriff bildet der wirtschaftliche Vermögensbegriff. Insbesondere die Rechtsprechung, sowie ein kleiner Teil in der Literatur, definieren das Vermögen als die Summe aller geldwerten Güter nach Abzug der Verbindlichkeiten.18 Entscheidend für die Einordnung als ← 7 | 8 → Vermögenswert sei allein eine wirtschaftliche Bewertung, losgelöst von außerstrafrechtlichen Rechtswertungen. Diese Begriffsbestimmung hat zur Folge, dass alle wirtschaftlich wertvollen Güter unabhängig von ihrer Erstarkung zu einer Rechtsposition geschützt werden. Deshalb werden, sofern ihr Wert faktisch realisierbar ist, grundsätzlich auch Ansprüche aus verbotenen Geschäften durch die Vermögensdelikte geschützt, ebenso Expektanzen, der Besitz oder der Kundenstamm eines Unternehmens.19 Während die Vertreter des juristischen Vermögensbegriffs eine isolierte Bewertung jedes einzelnen Gutes vornehmen, betrachten die Vertreter des wirtschaftlichen Vermögensbegriffs das Vermögen als Ganzes. Das hat insbesondere zur Folge, dass ein Vermögensabfluss durch einen Zufluss kompensiert werden kann. Für das Vorliegen eines Vermögensnachteils ist daher allein entscheidend, ob nach einer Gesamtsaldierung aller Zu- und Abflüsse ein negativer Saldo entsteht.

Eine strikt wirtschaftliche Betrachtung wird in dieser Reinheit allerdings kaum noch vertreten. Auch die Rechtsprechung – die paradigmatischen Vertreter des wirtschaftlichen Vermögensbegriffs seit der Entscheidung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts aus dem Jahr 191020 – entfernt sich zunehmend von einer rein wirtschaftlichen Betrachtung und nimmt, anscheinend keiner klaren Systematik folgend,21 Normativierungen vor.22 Erstmals wich der BGH von einer ← 8 | 9 → rein wirtschaftlichen Betrachtung in der sog. Dirnenbetrugsentscheidung aus dem Jahr 1953 ab.23 Dabei urteilte der BGH: „Dem Geschlechtsverkehr kommt für das Recht kein in Geld zu veranschlagender Wert zu.“24 Diese Aussage hat die Literatur zu der Annahme bewegt, der Bundesgerichtshof vertrete keinen rein wirtschaftlichen Vermögensbegriff mehr. Auf der Grundlage eines rein wirtschaftlichen Vermögensbegriffs hätte die Entscheidung nämlich „anders ausfallen müssen“25, weil sexuellen Leistungen einer Prostituierten nach einer rein ökonomischen Betrachtung – ohne den Einfluss normativer Wertungen – der wirtschaftliche Wert nicht abgesprochen werden könne.26 Eine Offenlegung der Einbeziehung rechtlicher Wertungen erfolgte dann in einer späteren Entscheidung des BGH zum Vermögenswert sexueller Leistungen aus dem Jahr 1987. In dieser Entscheidung wurde, explizit unter Hinweis auf den sich sonst ergebenden Widerspruch zur übrigen Rechtsordnung, festgestellt, dass das Prellen einer Prostituierten um ihren Lohn keinen Betrug darstelle.27

Ähnlich deutliche Normativierungsansätze zeigten sich auch in der Entscheidung BGHSt 26, 346: Hier veranlasste ein Dieb den Bestohlenen zur Zahlung eines Lösegeldbetrages, um seinen gestohlenen Gegenstand wieder zu erlangen, da ansonsten das Diebesgut zerstört würde. Der BGH bejahte einen Vermögensnachteil, obwohl die vom Opfer bezahlte Summe unter dem wirtschaftlichen Wert des Gegenstandes lag. Zu berücksichtigen sei nicht nur, ob sich die Güter ← 9 | 10 → in wirtschaftlicher Hinsicht entsprächen, sondern auch, dass der Täter rechtlich ohnehin zur Rückgabe verpflichtet sei, sodass die Bezahlung des Lösegeldes einen weiteren Schaden darstelle.28 Vergleichbare normative Korrekturen nahm die Rechtsprechung bei der Bewertung der Leistung eines Maklers29 oder bei der Schadensbestimmung eines vorleistenden Drogenhändlers30 vor.

Details

Seiten
XVI, 188
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631741085
ISBN (ePUB)
9783631741092
ISBN (MOBI)
9783631741108
ISBN (Hardcover)
9783631741078
DOI
10.3726/b12974
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Arbeitskraft Arbeitsleistung Vermögensnachteil Betrug Förderungsverzicht Prostitution
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. XVI, 188 S.

Biographische Angaben

Amelie Rösl (Autor:in)

Amelie Rösl studierte Rechtswissenschaften an der Universität Passau. Während der Dissertation war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig und wurde dort auch promoviert.

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