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Kampf den Feinden oder Schutz der Minderheiten?

Der Einfluss staats- und gesellschaftstheoretischer Auffassungen auf die strafrechtliche Theorie, Rechtsprechung und Gesetzgebung

von Felix Fleckenstein (Autor:in)
©2017 Dissertation 532 Seiten

Zusammenfassung

Die stetige Hochrüstung des Strafrechts, der Rückbau prozessualer Schutzmechanismen, die Etablierung von Ausnahmezuständen zur Bekämpfung von «Staatsfeinden»: Phänomene, die seit Jahren konstatiert werden und sich unter dem Schlagwort «Feindstrafrecht» zusammenfassen lassen – eine kontroverse Theorie, die diese Entwicklung präzise beschreibt, sie aber auch legitimiert.
Der Autor untersucht, inwieweit sich diese Theorie auf Positionen von Carl Schmitt, dem «Kronjuristen des Dritten Reiches», zurückführen lässt. Er entwickelt daran eine Kritik, die auf den Arbeiten Hans Kelsens fußt, einem erbitterten Gegner Schmitts im Streit der Weimarer Staatsrechtslehre. Dabei gerät das Bundesverfassungsgericht als Institution, die Minderheiten schützen soll, immer wieder in den Fokus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Thema und Erkenntnisinteresse der Arbeit
  • II. Gang der Untersuchung
  • III. Einzelheiten zur Methode, insb. zu Kelsen als Folie für Kritik
  • B. Allgemeiner Teil I: Darstellung der staatstheoretischen Ausgangspunkte
  • I. Darstellung der allgemeinen Positionen Carl Schmitts
  • 1. Rechtstheoretische Ausgangspunkte: Dezision und staatliche Rechtsverwirklichung
  • a) Der Dezisionismus
  • aa) Herleitung im Frühwerk: Fehlende Ableitbarkeit richterlicher Urteile
  • bb) Übertragung auf den Staat: Legitimation kraft Entscheidung, nicht kraft Norm – Verabsolutierung eines gottgleichen Entscheiders
  • cc) Ein kurzer Blick auf die Konsequenzen des Dezisionismus
  • (1) Primat der Existenz
  • (2) Dezision statt Diskussion
  • (3) Legitimation des Bestehenden gegen normative Legalität
  • b) Der Staat als Medium der Rechtsverwirklichung
  • 2. Die innerstaatliche Homogenität, Pluralismuskritik und Rechtsstaatsskepsis
  • a) Schmitts Begriff der Homogenität: eine spezifische Gleichheit
  • b) Begründung für die Notwendigkeit der Herstellung von Homogenität
  • aa) Der heterogene Staat als inhaltsleer; zugleich ein Votum für die wehrhafte Demokratie
  • bb) Gleichheit als theoretische Bedingung der Demokratie
  • cc) Homogenität als Grundidee der Demokratie: Identität von Herrscher und Beherrschtem
  • dd) Homogenität als Voraussetzung der staatlichen Handlungsfähigkeit, Diktatur als Reinform der Demokratie
  • ee) Die Notwendigkeit der Homogenität zur Normdurchsetzung
  • ff) Der Vorrang der Homogenität vor Freiheitsrechten: Eine Absage an den Rechtsstaat
  • c) Konsequenzen: Exklusion aus dem Rechtskreis, antipluralistische und totalitäre Tendenzen
  • 3. Der Begriff des Politischen, der Begriff des Feindes
  • a) Carl Schmitts Begriff des Feindes
  • aa) Die souveräne Freund/Feind-Unterscheidung als absolute, stets präsente Kategorie des Politischen und Konstitutor der staatlichen Einheit
  • bb) Exkurs: Feinde im Inneren?
  • b) Ziele und Konsequenzen der Freund/Feind-Entscheidung, insb. im innerstaatlichen Bereich: Exklusion und Bekämpfung, Etatismus und totalitäre Implikationen
  • 4. Das Staatsverständnis Schmitts
  • a) Verfassung und Staat: Existenz und Wert, der positive als der wahre Verfassungsbegriff
  • aa) Absoluter und relativer Verfassungsbegriff: Homogene Ordnung oder Normpluralismus?
  • bb) Der positive Verfassungsbegriff: Verfassung kraft Entscheidung – Legitimität aus Existenz, Opposition zu Kelsens Positivismus, die Verfassung über der Verfassung
  • b) Der Ausnahmezustand als Souveränitätskriterium: Dezisionistische Produktion von Homogenität, Marginalisierung der Freiheitsrechte, Selbsterhaltung und Ordnung
  • c) Übergreifende Konsequenzen aus Schmitts Position: Analyse und Kritik
  • aa) Das „Dezisionsparadoxon“ zwischen Substanz und Entscheidung: Ein Grund für die Präferenz der Autorität?
  • bb) Die Konsequenz aus Schmitts Verfassungs- und Staatsbegriff
  • (1) Produktion und Protektion der Ordnung als Aufgabe eines substantiellen Staates und fehlende rechtsstaatliche Kontrolle: Macht statt Recht
  • (2) Die Substanziierung und Personalisierung des Staates
  • cc) Konsequenzen aus dem Auffassen des Staats als Medium der Rechtsverwirklichung: Wert und Primat des Staats
  • 5. Zusammenschau
  • II. Darstellung der allgemeinen Positionen Hans Kelsens
  • 1. Rechtstheoretische Ausgangspunkte
  • a) Der positivistische Ausgangspunkt: Reine Rechtslehre – Die Unabhängigkeit des Rechts von Natur und Moral, der Wertrelativismus
  • aa) Gegen die Verbindung von Recht und Natur: Keine Legitimation des Bestehenden
  • bb) Exkurs: Die Wehrlosigkeitsthese
  • cc) Gegen die Verbindung von Recht und Moral: Wertrelativismus und Rechtsnormen als hypothetische Urteile; kein Eigenwert des Rechts und der Rechtstreue
  • dd) Zusammenschau: Keine Legitimation, kein Eigenwert des Rechts – Opposition zu Schmitt
  • b) Kelsens Rechtssystem und seine Folgen: die Rechtsordnung als Einheit und Stufenbau
  • aa) Der Stufenbau der Rechtsordnung, die Identifikation von Rechtssetzung und -vollziehung
  • (1) Rechtsgeltung kraft hypothetischer Grundnorm: Keine Identifikation von Recht und Macht, Zusammenhang zur Demokratietheorie
  • (2) Die einzelnen Stufen der Rechtsordnung und ihre Funktion: Relativierung des Unterschieds zwischen Rechtsanwendung und Rechtssetzung
  • (3) Interpretation und Entscheidung: Relative Gebundenheit statt Dezision aus dem Nichts
  • (4) Exkurs: Möglichkeit der Bindung einer rechtlichen Entscheidung durch einen Rahmen
  • bb) Die Rechtsordnung als Einheit: Relativierung und Gesetzesbindung des Staates
  • (1) Auflösung von Dualismen der Rechtsbetrachtung
  • (a) Aufhebung der Trennung von subjektiven und objektiven Rechten/ Mensch und Person: Nicht der ganze Mensch gehört der Rechtsordnung, das Freiheitsminimum
  • (b) Die Auflösung der Dualismen von öffentlichem und Privatrecht, Justiz und Verwaltung und Verwaltung und Staat: Stärkung der Legalität zum Schutz der Normunterworfenen
  • (2) Die Identifikation von Recht und Staat
  • (a) Personifikation, Substantiierung und Selbstverpflichtung des Staats als ideologische Fiktionen, Einheit von Staat und Recht als realistische Betrachtungsweise; das Recht als Zwangsordnung
  • (b) Konsequenzen für den Staatsbegriff: Formelle statt materieller Souveränität, Ablehnung eines Eigenwerts des Staates, der Staat als dynamisch erzeugtes Menschenwerk
  • cc) Zusammenfassung und Konsequenzen
  • (1) Unmöglichkeit außerrechtlicher Staatstätigkeit als Postulat eines formellen Rechtsstaats
  • (2) Dynamisierung, Herrscherlosigkeit und Deliberation: Demokratie und Pluralismus
  • 2. Wertrelativismus und Positivismus als Ausgangspunkte, Demokratie als formelles statt materielles Prinzip: Ein Votum für Chancengleichheit und Pluralismus
  • a) Formelle Natur der Demokratie
  • b) Demokratie als Ausdruck des Wertrelativismus und der Zusammenhang zum Rechtspositivsimus: Freiheit gesetzter Wert, Chancengleichheit und Pluralismus
  • 3. Wehrhafte Demokratie und Ausnahmezustand als undemokratische Institutionen
  • 4. Freiheit und Gleichheit
  • a) Ausgangspunkt: Freiheit und Gleichheit als Paradoxa der Demokratie
  • aa) Die Gleichheit der Menschen als Ursprung des Freiheitsstrebens und der Demokratie
  • bb) Von der natürlichen, negativen hin zur politischen, positiven Freiheit
  • cc) Gleichheit als normatives Prinzip: Gegen das Postulat eines homogenen Volks sowie Volks- und Staatswillens; Kritik an substantieller Gleichheit, Identitätsthese und volonté générale
  • b) Konsequenzen: Relativierung des Staats, Stärkung des Pluralismus
  • aa) Kein Eigenwert des Staates
  • bb) Die Wichtigkeit der Deliberation
  • cc) Pluralismuskritik als Werturteil; tatsächlicher Pluralismus als Faktum
  • dd) Begrenzung des staatlichen Zugriffs: Freiheitsminimum, kein Ausschluss des Heterogenen
  • 5. Minderheitenschutz als conditio legitimer Demokratie: Grund- und Freiheitsrechte, Diskussion und Kompromiss
  • a) Notwendigkeit des Minderheitenschutzes: Das Problem der Freiheit und der „Tyrannei der Mehrheit“, Zusammenhang zum Relativismus, Toleranz und Deliberation
  • b) Konsequenzen aus dieser Perspektive: Legalität und Kompromiss
  • aa) Schutz durch Grund- und Freiheitsrechte, Notwendigkeit erhöhter Quoren: materielles Pendant zum formalen Rechtsstaat
  • bb) Freiheitsrechte in der Parlamentarischen Demokratie: Diskussion und Kompromiss
  • 6. Übergreifende Konsequenz aus Kelsens Positionen: Das Legalitätsprinzip; Bezug zur Demokratie und dem Strafrecht
  • 7. Zusammenschau
  • III. Exkurs zur Verfassungsgerichtsbarkeit I: Der Streit um den Hüter der Verfassung
  • 1. Rechtstheoretische Argumente: Natur der Justiz, das Verhältnis von Recht und Politik
  • 2. Rechtspolitische Argumente
  • a) Schmitt: Gegen ein Gericht und für den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung
  • aa) Der Zusammenhang zum Verfassungsbegriff, Einheitlichkeit, Legitimität vor Legalität
  • bb) Demokratietheoretische Argumente: Justizieller Minderheitenschutz als undemokratische Vorstellung, Gefahr der Politisierung der Justiz, Gegensatz zum Rechtsstaat und die „Aristokratie der Robe“
  • cc) Für einen Präsidenten als Hüter der Verfassung: Eine neutrale, politisch unabhängige Instanz und ein Einheitsstifter
  • b) Kelsen: Ein Plädoyer für ein Verfassungsgericht
  • aa) Auseinandersetzung mit Schmitts Argumenten zu Rechtsstaat und Demokratie: Gewaltenteilung, Rechtmäßigkeit der Staatsakte und demokratische Legitimation
  • bb) Kritik an Schmitts Positionen zur Unabhängigkeit, der Lehre des pouvoir neutre und den Einheitlichkeitspostulaten
  • cc) Für ein Verfassungsgericht: Pluralismus und Minderheiten als Schutzobjekte des Verfassungsgerichts und Ausdruck der Demokratie
  • C. Allgemeiner Teil II: Die heutige Debatte, ausgehend vom Feindstrafrecht
  • I. Das Feindstrafrecht nach Günther Jakobs
  • 1. Zunächst: Das Bürgerstrafrecht
  • 2. Jakobs’ Betrachtungen de lege lata
  • a) Der Aspekt der gesinnungsabhängigen Vorfeldkriminalisierung
  • aa) Der Duchesne-Paragraph
  • bb) Die Organisationsdelikte
  • b) Der schärfere Zugriff des Feindstrafrechts
  • aa) Die Strafe
  • bb) Die prozessualen Garantien
  • c) Motive des Feindstrafrechts: Verbrechensbekämpfung, Prävention und Rechtsgüterschutz
  • 3. Die theoretische Fundierung des Feindstrafrechts: Funktionalismus und Affirmation
  • a) Einschub: Berufung auf praktische Notwendigkeit und die klassische Staatsphilosophie
  • aa) Einhegung des nötigen Übels, Strafrecht statt Polizeirecht
  • bb) Philosophische Gewährsmänner
  • b) Die theoretischen Ausgangspunkte Jakobs’
  • aa) Die Gesellschaft als konstruierter Kommunikationszusammenhang: Normgeltung, kognitive Untermauerung, Erwartungssicherheit
  • bb) Die Bürger: Personen im Recht
  • cc) Die Bedeutung der Straftat, die Zwecke der Strafe
  • (1) Die offene Funktion der Strafe: Strafe als Kommunikation, Identitätsbestätigung der Gesellschaft (=positive Generalprävention)
  • (2) Die latente Funktion der Strafe: Verhaltenssteuerung und Gütersicherheit (Abschreckung und Sicherung/ Zwang)
  • dd) Fazit: Ein funktionalistisches Strafrecht
  • c) Die Theorie des Feindstrafrechts: Exklusion aufgrund der Gesinnung; Ausnahmerecht
  • aa) Die Feinde: Individuen außerhalb des Rechts
  • (1) Die Gesinnungsabhängigkeit
  • (2) Die Depersonalisierung und die Exklusion der Feinde
  • (3) Die Notwendigkeit, Feinde zu bekämpfen
  • bb) Überpositive und außerstaatliche Legitimation des Feindstrafrechts
  • (1) Das Recht auf Sicherheit als Selbsterhaltungsrecht, Marginalisierung des positiven Rechts
  • (a) Exkurs: J. Isensees Grundrecht auf Sicherheit
  • (b) Jakobs’ Version des Rechts auf Sicherheit und das Verhältnis von Gesetz und Strafrecht
  • (2) Exkurs: Parallelen zu Bindings Normentheorie
  • (3) Außerrechtliche Legitimationsmuster und Substantiierung des Staates
  • cc) Rechtsqualität des Feindstrafrechts: Ausnahmezustand und asymmetrische Rechtsgeltung
  • II. Die Kritik am Feindstrafrecht
  • 1. Kritik an Jakobs’ rechts- und geltungstheoretischen Postulaten
  • 2. Grundsätzliche Kritik am Funktionalismus
  • a) Entindividualisierung und Entgrenzung durch eine funktionalistische Perspektive
  • b) Ein selbstgenügsames als ein absolutes, etatistisches und undemokratisches Strafrecht
  • c) Machtaffirmation und Statik, Etatismus und Dezisionismus: Politische Missbrauchbarkeit
  • 3. Feind als problematische Kategorie
  • a) Die grds. Probleme mit der Kategorie Feind
  • b) „Feinde“ als Produkt der Gesellschaft – Dezisionismus
  • c) Feindstrafrecht als Täter- und Gesinnungsstrafrecht; Moralisierung und Totalisierung
  • 4. Kritik an der Exklusion von Feinden aus dem Rechtskreis
  • a) Kritik an Jakobs normativem Personenbegriff; das Verhältnis zu Kelsens Position
  • b) Kritik an der Exklusion von Individuen aus dem Rechtskreis und dem Ausnahmezustand
  • 5. Die Verfassungswidrigkeit eines Feindstrafrechts
  • a) Die Aberkennbarkeit der Personalität und rein zweckgeleitetes Strafrecht – Unvereinbarkeit mit der Menschenwürde aus Art. 1 GG
  • b) Die Ungleichbehandlung: Ein Verstoß gegen Art. 3 GG
  • c) Konflikte mit dem materiellen Rechtsstaatsprinzip, konkret den Strafrechtsprinzipien
  • aa) Das Rechtsstaatsprinzip
  • bb) Schuldprinzip, Verhältnismäßigkeit und Unschuldsvermutung
  • cc) Weitere Prinzipien: Der nemo-tenetur-Grundsatz; das Prinzip des effektiven Rechtsschutzes und das der Strafgesetzlichkeit
  • d) Die Kommunikationsgrundrechte
  • e) Die bestehenden Regelungen zur wehrhaften Demokratie
  • 6. Kritik an Jakobs’ Rechtsstaatsverständnis
  • D. Zusammenschau
  • I. Zusammenfassung zum Feindstrafrecht: Kritik, Parallelen zu Schmitt, Kelsens Perspektive
  • 1. Das Rechts- und Staatsverständnis
  • a) Substanzhaftes Staatsverständnis, außerstaatliche Legitimationsmuster und Etatismus
  • b) Rechtsverständnis: Positivismusskepsis, Ausnahmezustand, Dezision
  • 2. Die gesellschaftspolitischen Aspekte: Totalitarismus und Antipluralismus
  • a) Positivismusskepsis, absoluter Staat und Gesinnungsmäßigkeit: Totalitäre Folgen
  • b) Exklusion und Feindbekämpfung: Homogenisierung und Antipluralismus
  • 3. Exkurs: Die Thematisierung der Parallen zwischen Schmitt und Jakobs in der Literatur
  • 4. Exkurs II: Spezifisch-Strafrechtliche Kritik an Jakobs – Dezisionismus und Willkür; Tatbestandliche Unschärfe, Prävention und Vorverlagerung
  • II. Übergreifende Topoi: Zusammenhängende Argumente und Effekte
  • 1. Substanzhaft-funktionalistische Argumentationsweise
  • 2. Prävention und Vorverlagerung – Unverhältnismäßige Strafbarkeit
  • 3. Gesinnungsabhängige Strafbarkeit von Feinden, Dezisionismus, tatbestandliche Unschärfe
  • 4. Friktionen mit Demokratie und Pluralismus
  • E. Besonderer Teil: Substanzhaft-funktionalistische Argumentationstopoi im geltenden Recht
  • I. Die Gesetzgebung
  • 1. Wehrhafte Demokratie und die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Argumentationstopoi i.S. Schmitts und Jakobs’
  • a) Substanzhaft-funktionalistische Aspekte
  • aa) Legalität vs. Legitimität: Marginalisierung des positiven Rechts zugunsten der Substanz
  • bb) Wert und Substanz – Existenzrecht des Staates und Funktionalismus
  • b) Prävention und Vorverlagerung – Probleme mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • c) Dezisionismus, Gesinnungsmäßigkeit und Feindbekämpfung
  • d) Demokratische und gesellschaftspolitische Probleme: Vom Dezisionismus zum Etatismus, Antipluralismus und Totalität
  • 2. Die Bedeutung für das geltende Strafrecht
  • a) Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands und Seitenblick auf weitere Regelungen
  • b) § 83 StGB – Vorbereitungshandlung zum Hochverrat: Vorverlagerung, gesinnungsmäßige Pönalisierung, Friktionen mit der Demokratie
  • c) § 89 StGB – Verfassungsfeindliche Einwirkung auf die Bundeswehr: Vorverlagerung und Prävention, dezisionistisch-gesinnungsmäßige Pönalisierung, Friktionen mit der Demokratie
  • d) §§ 90, 90a) 90b) StGB – Verunglimpfungsdelikte
  • aa) Substanzhaft-funktionalistisches Vorgehen: Personalisierung, Etatismus und Bestandsschutz als Selbstzweck
  • bb) Tatbestandliche Weite und Gesinnungsmäßigkeit
  • cc) Vorverlagerung und Probleme mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • dd) Konflikte mit Demokratie und Pluralismus und totalitäre Effekte
  • e) § 84 Abs. 3 S. 2 StGB – Flankierung des Art. 18 GG: Exklusion und Feindbekämpfung
  • f) §§ 84, 85 StGB – Flankierung der Art. 9 Abs. 3, 21 Abs. 2 GG: Substanzhaft-funktionalistische Argumente, Gesinnungsmäßigkeit und demokratietheoretische Probleme
  • g) §§ 86, 86a) StGB – Verbreitung von Propagandamaterial und Verwenden von Kennzeichen: Dezisionismus und Gesinnungsmäßigkeit, demokratietheoretische Probleme
  • h) §§ 89a), 89b), § 89c), 91 StGB: Neue Anti-Terror-Gesetze
  • 3. Zusammenschau
  • II. Die Rechtsprechung
  • 1. Soldaten sind Mörder: Schmitt-Jakobs’sche-Argumentationsmuster i.R.d. § 185 StGB
  • a) Darstellung der Rechtsprechungsgeschichte
  • aa) Der Hintergrund: Meinungsfreiheit gegen den Schutz der Ehre von Repräsentanten des Staates in den Urteilen des BVerfG
  • (1) Vorab: Das Lüth-Urteil
  • (2) Weitere wichtige Entscheidungen des BVerfG
  • bb) Die „Soldaten sind Mörder“-Prozesse
  • (1) Vorgeschichte I: Der „zweite Weltbühnenprozess“ gegen Carl von Ossietzky
  • (2) Vorgeschichte II: Die „Frankfurter Soldatenurteile“
  • (3) Vorgeschichte III: Weiteres Forensisches zu „Soldaten sind Mörder“
  • (4) Die Entscheidungen des BVerfG: „Soldaten sind Mörder“ I und II
  • b) Inhaltliche Analyse
  • aa) Tatbestandliche Weite, dezisionistische und gesinnungsabhängige Pönalisierung
  • (1) Das unklare Schutzgut
  • (2) Die Tatbestandsformulierung
  • (3) Die Folgen der Rechtfertigungsregel des § 193 StGB und der verfassungsrechtlichen Bezüge
  • (4) Die gerichtlich entwickelten Rechtsfiguren: Kollektiv- und Sammelbeleidigung
  • (5) Resümee und Parallelen zu § 240 StGB und der Sitzblockadenproblematik
  • bb) Substanzhaft-Funktionalistische Argumente
  • (1) Der Ehrenschutz von Kollektiven
  • (a) Inkurs: Die Beleidigung von Kollektiven und die Sammelbeleidigung mit Blick auf die Gesetzeslage, insb. bzgl. der Bundeswehr
  • (aa) Die Beleidigungsfähigkeit von Kollektiven und das StGB
  • (aaa) BGH und w.h.M.: Eine weitgehende Beleidigungsfähigkeit
  • (bbb) Beschränkung der Kollektivehre auf die enumerierten Körperschaften
  • (ccc) Ablehnung jeglicher Kollektivehre
  • (ab) Bundeswehr und Sammelbezeichnung
  • (b) Substantiierung und Personalisierung des Staates: Schutz einer „Staatsehre“?
  • (aa) Die Implikationen eines solchen Schutzes: Funktionalismus und Substantiierung des Staates
  • (aaa) Die Ehre/ Würde des Staates und seiner Institutionen
  • (bbb) Vom Schutz staatlicher Würde zum Funktionsschutz, insb. in der Rspr.
  • (ccc) Weitere typische Aspekte eines substanzhaft-funktionalistischen Vorgehens
  • ab) Das Resultat: Die Nutzung des § 185 StGB als „kleines Staatsschutzdelikt“
  • (2) Funktionalistische Ansätze in der Literatur, insb. bei Jakobs
  • cc) Strafrechtliche Prävention und Vorverlagerung; fehlende Verhältnismäßigkeit
  • dd) Probleme mit Demokratie und Pluralismus: Beschneidung der Kommunikationsgrundrechte, Homogenitätszwang
  • (1) Konflikte mit Kommunikationsgrundrechten: Dynamik vs. Statik
  • (2) Die Frage des Minderheitenschutzes
  • (3) Meinungsfreiheit und Demokratie
  • (4) Die Produktion von Homogenität: Kollektivierung und Exklusion
  • (5) Gefahr der Totalisierung und Moralisierung
  • 2. § 240 StGB: Die Sitzblockaden-Problematik
  • a) Darstellung der Rechtsprechungsgeschichte
  • b) Inhaltliche Analyse
  • aa) Die Friktionen mit Art. 103 Abs. 2 GG und die Gesinnungsabhängigkeit der Pönalisierung
  • (1) Die Gewalt als unbestimmtes Merkmal
  • (2) Die Probleme mit der Verwerflichkeitsklausel
  • (a) Gesinnungsabhängigkeit, Notwendigkeit der richterlichen Wertung und Dezisionismus
  • (b) Inkurs: Möglichkeiten, durch die Auslegung die Gesinnungsabhängigkeit zu umgehen?
  • (3) Resümee und Parallelen zu § 185 StGB
  • bb) Substanzhaft-funktionalistische Aspekte
  • (1) Die Frage nach dem Schutzgut: Die „öffentliche Ruhe und Ordnung“ und das staatliche Gewaltmonopol; das crimen vis als Ursprung; die Nutzung als „kleines Staatsschutzdelikt“
  • (2) Eine funktionalistische Auslegung der Gewalt; Bezüge zum substanzbezogenen Denken
  • (3) Funktionalistische Aspekte der Verwerflichkeitsklausel: Sozialwidrigkeit als Maßstab
  • (4) Einschub: Die Argumente der Strafbarkeitsbefürworter als typisch-funktionalistisch
  • cc) Prävention und Vorverlagerung; Konflikte mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • dd) Probleme mit Demokratie und Pluralismus: Einschränkung der Beteiligung, Friedenspflicht, Homogenitätszwang
  • (1) Die Friktionen mit den Kommunikationsgrundrechten, insb. Art. 8 GG und 5 GG; Fragen des Minderheitenschutzes und der demokratischen Teilnahme
  • (a) Kommunikation und Gewaltausübung: Der Schutzbereich und die Mittel der Kommunikation
  • (b) Eine politische Auslegung des Art. 8 GG
  • (2) Gewaltmonopol und Friedenspflicht: Totalitäre Tendenzen in der Anwendung des § 240 StGB
  • (3) Ethisierung durch das Strafrecht; Konformitätsdruck und Homogenisierung
  • III. Exkurs zur Verfassungsgerichtsbarkeit II: Die Rolle des BVerfG in Fällen der Pönalisierung des politischen Meinungskampfes
  • F. Zusammenfassung und Resümee
  • I. Die theoretisch herausgearbeiteten Topoi im tatsächlichen Strafrecht
  • 1. Substanzhaft-funktionalistische Argumentation zwischen Pragmatismus und Irrationalität
  • 2. Prävention, Vorverlagerung und eine unverhältnismäßige Strafbarkeit als Folge von Funktionalismus und strafrechtlichem Klimaschutz
  • 3. Tatbestandliche Weite, Gesinnungsmäßigkeit und Dezisionismus
  • 4. Die Folge: Friktionen mit Demokratie und Pluralismus
  • II. Das BVerfG
  • III. Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Abkürzungsverzeichnis

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A.   Einleitung

I.   Thema und Erkenntnisinteresse der Arbeit

Den Anstoß zu dieser Dissertation gab ein Seminar zum Thema Die Kriminalisierung des politischen Meinungskampfes und die sich daraus ergebende wissenschaftliche Hausarbeit des Verfassers. Dort ging es um die Konfrontation zwischen dem BGH bzw. der instanzgerichtlichen Rspr. mit dem BVerfG in Fällen, in denen § 240 StGB mit Art. 8 GG (Sitzblockaden) und § 185 StGB mit Art. 5 GG (insb.: Soldaten-sind-Mörder) konfligieren. Dabei wurde auch der Streit um den Hüter der Verfassung angeschnitten, der zu Zeiten der Weimarer Republik zwischen Hans Kelsen und Carl Schmitt entbrannte und sich um die Frage drehte, ob ein Verfassungsgericht oder der Reichspräsident die zum Schutz der Verfassung besser geeignete Instanz ist.

Ein Hinweis des Betreuers Denis Basak in seinem Votum zu der wissenschaftlichen Hausarbeit war dann der entscheidende Impuls für die vorliegende Arbeit: Er merkte an, dass man das Thema auch unter der Perspektive des Feindstrafrechts nach Günther Jakobs hätte betrachten können. Damit tat sich ein spannender Konnex auf: Das punitive Vorgehen in den dort betrachteten Fällen lässt sich feindstrafrechtlich deuten; dem Feindstrafrecht wird seinerseits regelmäßig vorgeworfen, auf die autoritären und etatistischen Argumente Schmitts zu rekurrieren. Gleichzeitig hat sich das BVerfG immer wieder gegen diese Kriminalisierungen insb. politischer Äußerungen gestellt; als Institution im heutigen Zuschnitt wurde es nicht nur von Kelsen propagiert, er gilt sogar als dessen „Vater“1.

Dies legt nahe, dass sich hier zwei konträre Traditionen gegenüberstehen: Zunächst eine, die von Schmitt zum Feindstrafrecht reicht, und zwar sowohl zu dessen theoretischer Fundierung durch Jakobs als auch den tatsächlichen Spuren eines solchen Strafrechts in der (von Jakobs analysierten) Gesetzgebung und auch der (von ihm weniger beachteten) Rechtsprechung. Dem gegenüber eine, die von Kelsen ausgeht und in dem von ihm befürworteten Verfassungsgericht mündet, das sich realiter gegen diese feindstrafrechtlichen Tendenzen stellt.

Ein näherer Blick auf dieses Themenfeld zeigte, dass es sich dabei nicht nur um oberflächliche Zusammenhänge handelt. Die Parallelen von Jakobs und Schmitt sind mehr als nur terminologische bzgl. des Begriffs Feind; vielmehr lassen sie sich auf gemeinsame rechtstheoretische und (gesellschafts-)politische Grundüberzeugungen zurückführen. Diese zeichnen sich, soviel sei schon vorweggenommen, insb. durch Konservativismus bzw. Machtaffirmation sowie Pluralismusskepsis aus.

Auch die Frontstellung zwischen Schmitt und Kelsen beschränkt sich nicht auf die Frage, ob ein Verfassungsgericht eine sinnvolle Einrichtung ist oder nicht. Kelsens rechts- und demokratietheoretische Positionen weisen, in starkem Kontrast zu ← 25 | 26 → denen Schmitts und damit auch Jakobs’, eine große Kompatibilität zur politischen Dynamik und gesellschaftlichen Pluralität auf.

Damit war das zu betrachtende Feld grob abgesteckt. Daraus ergab sich das konkrete Forschungsinteresse: In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, inwieweit es gemeinsame Argumente und Positionen bei Schmitt und der Theorie des Feindstrafrechts nach Jakobs sowie solchen Teilen der Gesetzgebung und Rechtsprechung gibt, die sich feindstrafrechtlich deuten lassen. Zugleich soll die dem entgegengesetzte Position Kelsens herausgearbeitet werden, um sie als Folie einer Kritik an den erstgenannten Phänomenen nutzbar zu machen. Dabei soll die Rolle des Verfassungsgerichts als tatsächlicher Kumulationspunkt dieses Konflikts eigens betrachtet werden.

Dies erscheint aus mehreren Gründen als gewinnbringend: Der zugrundeliegende Konflikt betrifft die Fragen des Minderheitenschutzes und des Kampfes gegen „Feinde“ des Staates; dies ist ein durchgängig umstrittenes Feld. Eine neue Dynamik bekam die Debatte durch die prominente Rolle, die die Terrorismusbekämpfung seit den Anschlägen des 11. September 2001 und den folgenden terroristischen Taten spielt. Dies wirkt bis in die jüngste Zeit nach und wird insb. durch die Erfolge des sog. Islamischen Staates befeuert. So geraten im Laufe dieser Arbeit auch die neuesten Gesetze bzw. Gesetzesentwürfe zur Terrorismusbekämpfung bis ins Jahr 2015 in den Blick. Dies gilt auch für das Phänomen des Ausnahmezustands; ein innenpolitisches Mittel, das nach den Anschlägen von Paris im November 2015, der Bekämpfung des Terrorismus in Belgien und dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 weltpolitisch verstärkte Konjunktur hat2.

Die Diskussion um die wehrhafte Demokratie und deren strafrechtlichen Schutz war allerdings schon länger aktuell: Seit den 1950er-Jahren und dem Beginn des kalten Krieges mit einem Höhepunkt in den 70er-Jahren bis in die neueste Zeit bei den o.g. Debatten um die Terrorismusbekämpfungsgesetze herrschte stets Streit um das ob und das wie des Schutzes der freiheitlich-demokratischen-Grundordnung. Aber auch in weniger brisanten Fällen wird weiterhin um die zugrundeliegenden Positionen gerungen: Sowohl die o.g. Sitzblockadenproblematik als auch die der Beleidigung staatlicher Institutionen wie bei den Soldaten-sind-Mörder-Fällen beschäftigen die deutsche Öffentlichkeit sowie die Rspr. und die Rechtswissenschaft von der Gründung der BRD bis heute.

Dabei provozierten gerade Jakobs’ Thesen zum Feindstrafrecht heftige Reaktionen der Strafrechtswissenschaft; dies gipfelte in den Jahren nach dem 11. September 2001 und dem Streit um die juristische Reaktion darauf. Veröffentlicht wird zu diesem Thema nach wie vor; auch diese theoretische Auseinandersetzung lässt sich als „Klassiker“ in der deutschen Strafrechtswissenschaft bezeichnen. Außerdem findet diese Debatte internationalen Widerhall, nicht nur in Europa, sondern insb. auch in Südamerika; hier soll auch ein Beitrag zur theoretischen Vertiefung dieses Disputs geleistet werden, indem die Diskussion hinsichtlich der Bezugnahme auf klassische rechts- und staatstheoretische Grundpositionen untersucht wird. Die Linie von ← 26 | 27 → Jakobs zu Schmitt wird häufiger gezogen; selten wird dagegen Kelsen als Opponent dieser Haltung ins Spiel gebracht. Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich, wird er doch regelmäßig als mustergültiger Gegenspieler Schmitts betrachtet.3 Das mag damit zusammenhängen, dass die Rezeption Kelsens als klassischem Vertreter des Rechtspositivismus noch immer durch die in der Nachkriegszeit populäre These, diese rechtsphilosophische Schule trage eine nicht unerhebliche Mitschuld an der NS-Justiz, geprägt ist. Auch wenn diese sog. Wehrlosigkeitsthese heute überwiegend kritisiert wird, hat sie nach wie vor einen großen Einfluss.4 Somit soll die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag dazu leisten, dass das nach wie vor aktuelle, kritische Potential Kelsens in der Rezeption dieses Theoretikers größere Beachtung findet.

Dies betrifft insb. seine selten berücksichtigten Arbeiten zur Demokratietheorie. Dementsprechend wird hier immer wieder ein Blick auf die demokratiespezifischen Implikationen des hier analysierten, strafrechtlichen Vorgehens geworfen; auch dies wird oft vernachlässigt.5

Im Verlauf der Untersuchung werden noch weitere kontroverse Themen, insb. aus dem Feld des Staatsschutzes, relevant und aus der hier eingenommenen Perspektive betrachtet: Z.B. die obene bereits angesprochenen, wohl stets aktuellen Fragen nach dem Ausnahmezustand und der universellen Rechtlichkeit sowie die nach der Gesetzesbindung insb. im Strafrecht; der Streit um die demokratische Rolle des BVerfG und das Verhältnis von Recht und Politik; die Auseinandersetzung um den vorzugswürdigen Rechtsstaatsbegriff sowie um das inzwischen beinahe berüchtigte Grundrecht auf Sicherheit, auf das sich gerade Innenpolitiker immer wieder berufen.6

II.   Gang der Untersuchung

Zunächst wird die Frontstellung zwischen Schmitt und Kelsen betrachtet und deren Thesen, soweit sie für die vorliegende Arbeit relevant sind7, gegenübergestellt. Dabei wird zunächst auf die Position Schmitts eingegangen (B. I.), wobei erst die rechtstheoretischen Ausgangspunkte dargestellt werden, wonach die konkreten demokratie- und staatstheoretischen Thesen in den Blick geraten. Ebenso wird bei Kelsen vorgegangen, der im Anschluss betrachtet wird (B. II.). Insgesamt sollen beide ← 27 | 28 → als idealtypische Antipoden herausgestellt werden. Dazu wird, als erster Exkurs zur Verfassungsgerichtsbarkeit (B. III.), der Streit um den Hüter der Verfassung dargestellt, den beide geführt haben.

Danach steht das Feindstrafrecht Jakobs’ im Fokus: Zunächst wird Jakobs’ theoretische Fundierung dieses Konzepts erläutert (C. I.), bevor sich der Kritik daran zugewandt wird (C. II.). Letzteres, weil die hier herauszuarbeitende Traditionslinine in der vorliegenden Arbeit insgesamt kritisiert werden soll. Da Jakobs zumindest von der deutschen Strafrechtswissenschaft erstaunlich einhellige Kritik erfährt, erscheint es als sinnvoll, diese in der vorliegenden Arbeit konzentriert zu betrachten. Letztlich soll die kritische Perspektive Kelsens gegen das Feindstrafrecht in Stellung gebracht werden, was eine vorhergehende Bestandsaufnahme als sinnvoll erscheinen lässt.

Zusätzlich bietet Jakobs’ Theorie auch ein deskriptives Potential, das in der Betrachtung von Gesetzgebung und Rspr. nutzbar gemacht werden soll.

Nachdem damit die theoretischen Ausgangspunkte erarbeitet sind und der Allgemeine Teil abgeschlossen ist, erfolgt eine Zusammenschau. In einem ersten Schritt werden dort die Parallelen von Schmitt und Jakobs sowie der Kontrast zu Kelsen – die jeweils schon vorher en passant zu Tage treten sollten – herausgestellt (D. I.). In zwei kurzen Seitenblicken wird die Thematisierung der Parallelen von Schmitt und Jakobs durch die Literatur (D. I. 3.) sowie die spezifisch-strafrechtliche Kritik am Feindstrafrecht, die nicht dezidiert auf Kelsen zurückführbar ist, aufgezeigt (D. I. 4.).

Daran schließt ein wichtiger Baustein der vorliegenden Arbeit an: Nach einer methodischen Auseinandersetzung mit dem Begriff Topos sollen vier übergreifende Argumentationstopoi aus der analysierten Debatte destilliert und sowohl aus Schmitt’scher, Jakobs’scher als auch Kelsen’scher (D. II.) Warte betrachtet werden. Dabei werden sich folgende Phänomene zeigen: Eine substanzhaft-funktionalistische Argumentationsweise (D. II. 1.); Prävention und Vorverlagerung – unverhältnismäßige Strafbarkeit (D. II. 2.); Gesinnungsabhängige Strafbarkeit von Feinden, Dezisionismus, tatbestandliche Unschärfe (D. II. 3.) sowie Friktionen mit Demokratie und Pluralismus (D. II. 4.).

Daran schließt der Besondere Teil an: Dort soll die herrschende Gesetzeslage und die Rechtsprechung hinsichtlich der Rekurse auf die herausgearbeiteten Topoi untersucht werden. Dazu wird zunächst das Strafrecht der wehrhaften Demokratie betrachtet; einleitend werden die diesbzgl. legitimatorisch wirkenden Begriffe der wehrhaften Demokratie selbst sowie deren Schutzgut, die freiheitlich-demokratischen-Grundordnung, auf solche Parallelen hin untersucht (E. I. 1.), woraufhin die einzelnen Delikte analysiert werden (E. I. 2.), darunter auch die neuen Anti-Terror-Gesetze.

Darauf wird die Rspr. auf Bezugnahmen auf die genannten Topoi hin geprüft; zunächst die Soldaten-sind-Mörder-Fälle (E. II. 1.), dann die Sitzblockadenproblematik (E. II. 2.).

Wie schon erwähnt, hat dort jeweils das BVerfG eine wichtige Rolle gespielt. Daher wird im Anschluss – bevor ein Fazit gezogen wird – dessen Rolle in den fraglichen Fällen betrachtet (E. III.). ← 28 | 29 →

III.   Einzelheiten zur Methode, insb. zu Kelsen als Folie für Kritik

Wie bereits angeklungen, soll in der vorliegenden Arbeit die von Carl Schmitt über die Theorie des Feindstrafrechts von Jakobs bis zu den tatsächlichen Ausprägungen reichende Traditionslinie kritisiert werden. Schmitts Thesen werden sowohl en passant als auch in einem kurzen, eigenen Abschnitt (B. I. 4. c)) kritisch betrachtet, während die Kritik an Jakobs in einem eigenen, zentralen Abschnitt erarbeitet wird (C. II.). Im „Besonderen Teil“ wird auf die in der Zusammenschau konzentrierte Betrachtung der problematischen Aspekte der fraglichen Phänomene rekurriert.

Für diese Kritik werden sich die Positionen Hans Kelsens zu eigen gemacht. Dort, wo sich Aspekte von Kelsens Theorie, die für die vorliegende Argumentation entscheidend sind, relevanten Angriffen ausgesetzt sehen, wird sich mit diesen Vorwürfen kritisch auseinandergesetzt.

Wichtig ist aber zu betonen, dass viele der Argumente Kelsens hier nicht als unumstößliche (empirische) Tatsachen verstanden werden, die Argumentation vielmehr normsystemintern vonstatten gehen soll. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Für Kelsen ist der Wertrelativismus bzw. der Nonkognitivismus ein an vielen Stellen zentrales Argument. Wenn im Verlauf der Untersuchung darauf zurückgegriffen wird, soll hingegen nicht die tatsächliche Nichterkennbarkeit von Werten als wissenschaftlicher Fakt behauptet werden; vielmehr soll herausgearbeitet werden, dass die Vorstellung des Wertrelativismus eine mit der Idee der Demokratie und einer pluralistischen Gesellschaft gut harmonierende Haltung darstellt.8 Damit ist sie unter der Prämisse, dass Demokratie und Pluralismus anzustrebende Ziele sind, eine vorzugswürdige Position.

Das gleiche gilt bspw. für die Deutung des Rechts als eines einheitlichen Systems. Wie unten9 zu vertiefen, soll damit nicht behauptet werden, dass das Recht nur derart auftreten oder gedeutet werden kann. Es soll vielmehr gezeigt werden, dass die Vorstellung der Rechtsordnung als geschlossene Einheit, das Postulat, sie derart zu deuten, dazu geeignet ist, die Forderungen der Demokratie und im konkreten Fall der Rechtssicherheit einzulösen. Ähnlich verläuft die Argumentation bzgl. des Legalitätsprinzips bzw. der richterlichen Gesetzesbindung und dem sog. formellen Rechtsstaat: Freilich wird damit nicht die These vertreten, es sei Gerichten nicht möglich, sich von den gesetzlichen Vorgaben zu lösen oder der Staat könne geltende Gesetze nicht brechen. Auch soll nicht behauptet werden, Normen könnten richterliche Entscheidungen vollständig determinieren. Dagegen wird dafür gestritten, dass es die Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verlangt, an diesen normativen Forderungen unabhängig von evtl. tatsächlichen ← 29 | 30 → Problemen der Umsetzbarkeit festzuhalten. Insb. bei der Betrachtung von Jakobs’ Rechtsstaatsverständnis soll dies vertieft werden.10

Damit ist zugleich eine Prämisse dieser Arbeit ausgesprochen: Dass Demokratie und der Schutz der pluralischen Gesellschaft anzustrebende Ideale sind, wird vorausgesetzt und soll – und kann – hier nicht weiter begründet werden. Außer mit einem abschließenden Hinweis darauf, dass auch das GG, damit das Fundament der deutschen Rechtsordnung, beides als anzustrebende Ideale voraussetzt.11 Aus dieser Perspektive lässt sich eine der Thesen dieser Arbeit auch folgendermaßen formulieren: Das hier vorgeschlagene, auf Kelsen zurückgehende Rechtsverständnis eignet sich nach wie vor für eine (möglichst) bruchlose Deutung eines auf dem GG fußenden Rechtssystems. Auch hier zeigt sich, inwiefern die vorliegende Arbeit eher norm- bzw. argumentationsintern operiert.

Dies harmoniert mit Kelsens Vorgehen als „Entzauberer des Rechts“12, als Ideologiekritiker.13 Ideologie meint bei ihm eine solche Deutung der Wirklichkeit, die wissenschaftlich nicht zu beweisen ist, aber eine wichtige gesellschaftliche Wirkung entfaltet, indem sie die Macht der Herrschenden den Beherrschten gegenüber legitimiert; dies insb., indem sie auf metaphysische Argumente rekurriert oder normative Aussagen aus Gegebenheiten ableitet.14 Es bedarf dabei allerdings keines Rückgriffs auf eine vermeintlich „exakte“ Wissenschaftlichkeit, um i.d.S. ideologische Argumente aufzuzeigen, vielmehr kann dies argumentationsintern vonstatten gehen, indem auf Brüche und Widersprüchlichkeiten hingewiesen wird. So betont Kelsen selbst15, dass die „Realität“, die man einer Ideologie entgegensetzt, (wohl) selbst Ideologie ist. Vielmehr sieht er den zu kritisierenden ideologischen Aspekt gerade bei „sozialen Gebilden“ wie Staat oder Nation darin, dass sie – oft unzutreffende, sprachlich vermittelte – Selbstdeutungen in sich tragen, die es offen zu legen gilt. Kelsen:

„[E]in Staat kann in seiner geschrieben Verfassung von sich sagen, er sei Bundesstaat oder eine Demokratie; staatswissenschaftliche Erkenntnis aber stellt fest, dass er weder das eine noch das andere ist.“16

So soll hier z.B. gefragt werden, ob die wehrhafte Demokratie nicht tatsächlich undemokratisch ist oder der Schutz der freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht freiheitsvermindernd wirkt. ← 30 | 31 →

Zentral ist bei Kelsen u.a. die Aufdeckung von Anthropomorphismen und religiösen Anleihen in juristischen Argumenten, wobei oft der Staat im Zentrum steht. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Aufzeigen der Inhaltsleere wirkmächtiger, oft naturrechtlicher Begriffe wie Gerechtigkeit, die sich beliebig ausfüllen lassen und damit jegliche Herrschaft legitimieren können.17 I.d.S. sollen auch hier inkonsequente Argumentationen, widerlegbare oder unbewiesene/-beweisbare Prämissen sowie (unausgesprochene) Konsequenzen, die hinter den problematisierten Positionen stehen, aufgezeigt werden – insb. solche, die machtaffirmativ wirken.18 Dabei werden ebenfalls z.B. Anthropomorphismen und inhaltsleere Begriffe – konkret: unbestimmten Rechtsnormen – betrachtet, die Raum für eine flexible, machtaffirmative Anwendung (i.S. Schmitts Dezisionismus) lassen.

Im Besonderen Teil werden dazu Gesetzgebung und Rspr., en passant auch die Rechtswissenschaft daraufhin untersucht, wo und wie sie – implizit oder explizit – auf zuvor herausgearbeitete, derartige Topoi rekurrieren; dabei werden auch konkrete Argumentation analysiert und problematisiert. Der hier zugrunde gelegte Begriff der Topoi wird in einem eigenen Punkt vor der entsprechenden übergreifenden Zusammenschau konkretisiert werden.19 ← 31 | 32 →


1 Siehe hierzu die Nachweise unten, in Fn. 1159.

2 Zur Lage in der Türkei und Frankreich Schwarze, Die Zeit, 21.07.2016.

3 Dazu Ooyen 2010, S. 13f.; Ooyen 2008, S. 63: Carl Schmitt sei „Anti-Kelsen“; Mantl 1982, S. 186; Dreier, 2003, S. 13 u. V. Neumann 2010, S. 741.

4 Hierzu unten, B. II. 1. a), S. 49 u. unten, B. II. 1. a) bb), S. 52; dort auch eine Auseinandersetzung mit der Wehrlosigkeitsthese u. das Zitat Korbs, die Wehrlosigkeitsthese habe den Rechtspositivismus nachhaltig diskreditiert.

5 Zu diesem Desiderat in der Legitimation des Strafrechts z.B. Gärditz, Der Staat 2010, S. 331f.

6 Z.B die Bundesinnenminister Otto Schily u. Hans-Peter Friedrich (dazu Krempl, heise-online, 17.07.2013) sowie die bayerischen Innenministerin Beate Merk, dazu u. auch allg. zu der Debatte Steinbeis, 2011.

7 Der genaue Untersuchungsgegenstand wird in den Einleitungen derjenigen Kapitel, wo dies relevant ist, näher umrissen u. erläutert; im konkreten Fall unten, B., S. 7.

8 Dazu unten, B. II. 2., S. 81.

9 In Fn. 654.

10 Siehe unten, C. II. 6., S. 192.

11 Grundlegend zum Pluralismus Fraenkel 1972, insb. S. 162; dazu Steffani 1980, S. 92ff., insb. S. 99. Siehe auch Zippelius 2010, § 26 II zum Konnex von Demokratie u. Pluralismus.

12 So Braum, siehe dazu unten, an Fn. 588.

13 Vgl. die Sammelbände Topitsch, Aufsätze zur Ideologiekritik, 1989 u. Krawietz/Topitsch/Koller, Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1982.

14 Dazu Schlette, ZphF 1967, S. 58f. u. Topitsch 1989; insb. S. 12 zur Kritik an „Herrschaftsidologien“.

15 Vgl. Kelsen 1926, S. 40ff.

16 Kelsen 1926, S. 41.

17 Zu Anthropomorphismen unten, B. II. 1. b) bb) (2) (a), S. 72; zur Gerechtigkeit u. dem Naturrecht Kelsen 1953 u. unten, B. II. 1. a) aa), S. 50. Insg. auch Jabloner 1992, S. 99ff.; Topitsch 1989, S. 12 u. Mayer 1974, S. 221.

18 Zu einem vergleichbaren Begriff der Ideologiekritik Neumann/Schroth 1980, S. 4.

19 Und zwar unten, D. II., S. 207.

← 32 | 33 →

B.   Allgemeiner Teil I: Darstellung der staatstheoretischen Ausgangspunkte

Mit Carl Schmitt und Hans Kelsen werden zwei Staatstheoretiker betrachtet, deren rechtsphilosophische und politische Ansichten – trotz stellenweise vergleichbarer Ausgangspunkte – nicht unterschiedlicher sein können.20 Im Folgenden sollen diese jeweils idealtypischen Positionen herausgearbeitet und gegenübergestellt werden, wobei der Fokus auf den für die vorliegende Arbeit entscheidenden Aspekten liegen wird – also solchen, die für das Strafrecht und die innere Sicherheit v.a. im Einsatz gegen im weiteren Sinne opponierende Personen relevant sind. Hierzu wird auf die zur Zeit der Weimarer Republik entwickelten21 – Auffassungen beider rekurriert.

So wird zunächst Schmitts Theorie dargestellt (I.), bevor sich Kelsen (II.) und dann den daraus resultierenden, diametralen Ansichten beider Staatstheoretiker zu der Frage einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit (III.) als folgenreiche Zuspitzung dieses Disputs22 zugewandt werden soll.

I.   Darstellung der allgemeinen Positionen Carl Schmitts

Im Folgenden sollen (nur) die für diese Arbeit relevanten Aspekte der Staatstheorie Schmitts dargestellt werden.23 Dabei werden schwerpunktmäßig Schmitts Positionen zu Zeiten der Weimarer Republik betrachtet, dazu einige Aspekte seines Frühwerks; hier ist also, der Einteilung H. Ottmanns folgend24, neben Schmitts Phase als Kritiker des staatsrechtlichen Positivismus (1910–1916) insb. die als Dezisionist und Theoretiker des souveränen Staates der Neuzeit (1919–1932) im Blick. Dies zum einen, um sich nicht in den Streitigkeiten über Kontinuitäten oder Brüche in seinem Werk vor und ← 33 | 34 → während seiner Rolle als sog. Kronjurist des Dritten Reichs25 zu verlieren, und zum anderen, um seine Positionen pointiert den damaligen Ansichten Hans Kelsens entgegensetzen zu können – was als sinnvoll erscheint, da die hier zu skizzierenden gegensätzlichen Auffassungen über Demokratie gerade während der Weimarer Republik geradezu „vorbildlich“ (O. Lepsius) zu Tage treten26.

1.   Rechtstheoretische Ausgangspunkte: Dezision und staatliche Rechtsverwirklichung

Bevor Schmitts konkreter staatstheoretische Ansichten betrachtet werden, gilt das Interesse seinen rechtstheoretischen Grundpositionen, die in allen Ausprägungen von Schmitts Werk bis zu den politischen Schriften relevant sind27. Wie Kelsen positionierte er sich im Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre und beteiligte sich damit an der „Generaldiskussion um den Standort des Fachs in einem politisch aufgewühlten Jahrzehnt“28 (M. Stolleis). Die Positionen des Dezisionisten Schmitt sollen insgesamt den diametralen des Normativisten Kelsen gegenübergestellt werden.

a)   Der Dezisionismus

Schmitt prägte den Begriff Dezisionismus und führte die für sein Werk zentrale Position29 in die deutsche Rechtstheorie ein.30 Dieser sich durch alle hier relevanten Aspekte seines Werks ziehende Gedanke soll nun kurz umrissen werden, während die weiteren Konsequenzen dieser Haltung im weiteren Verlauf der Untersuchung zu Tage treten sollen31. ← 34 | 35 →

aa)   Herleitung im Frühwerk: Fehlende Ableitbarkeit richterlicher Urteile

Das mit dem Dezisionismus behandelte rechtstheoretische Grundproblem trieb Schmitt schon in seinem Frühwerk32 um: die fehlende Ableitbarkeit rechtlicher Entscheidungen aus einem – vermeintlich – geschlossenen Normensystem33. Schmitt stellt, anknüpfend an die Erkenntnis der Unmöglichkeit „glatter Subsumtion unter den Gesetzestext“34 und der Fiktionalität eines Willens des Gesetzes35, die (willkürliche) Entscheidung des Richters in den Mittelpunkt.36 Der Ausgangspunkt ist damit ein ähnlicher wie der Kelsens, die Ergebnisse weisen aber schon hier relevante Unterschiede auf: Kelsen betont nicht die Willkür, sondern eine relative Gebundenheit.37 Schmitt geht sowohl über die Ansichten Kelsens als auch die der damaligen Vertreter der Freirechtsschule hinaus: Die freie Entscheidung dient, anders bei diesen, nicht der ausnahmsweisen Schließung von Gesetzeslücken, sondern ist durchgehend aktuell: Der Sonderfall der freien Entscheidung wird zum Normalfall. Dies, da das die Entscheidung legitimierende Element sich eben nicht vom gesetzten Recht ableite.38

Als Antwort auf die Frage nach der Richtigkeit richterlicher Entscheidungen schlägt Schmitt vor, darauf abzustellen, wie die anderen Richter entschieden hätten.39 Schon in dieser Fokussierung auf den kollegialen Gleichschritt zeigt sich Schmitts Präferenz der Homogenität zulasten inhaltlicher Fragen40; hier noch innerhalb der Rspr., später wird sich dies verallgemeinern41. Auch konfligiert dieser Rekurs auf Faktisches (Schmitt: „‚Ein anderer Richter‘ meint hier den empirischen Typus des modernen ← 35 | 36 → rechtsgelehrten Juristen“42) als Richtigkeitskriterium mit der Sein-Sollen-Dichotomie.43 Zugunsten der Einheitlichkeit erteilt er – schon hier – dem Rechtspositivismus eine Absage.44

bb)   Übertragung auf den Staat: Legitimation kraft Entscheidung, nicht kraft Norm – Verabsolutierung eines gottgleichen Entscheiders

Seinen anfangs auf die Ableitbarkeit richterlicher Entscheidungen aus dem Rechtssystem gemünzten Gedanken („der Eigenständigkeit der Entscheidung“45) überträgt Schmitt später auf die Staatstheorie und kommt so zu seiner Definition der staatlichen Souveränität als politischer Entscheidung.46 In gleicher Terminologie wie früher zu richterlichen Urteilen spricht er bzgl. politischen Entscheidungen des Staates47 von „inhaltlicher Indifferenz“48 und postuliert, dass eben jene Dezision „normativ betrachtet aus einem Nichts geboren ist“49, staatliche Akteure also keinerlei Handlungsbeschränkungen unterliegen. Damit geht Schmitt weiter als es andere Vertreter des Dezisionismus tun50 und er es zuvor selbst tat51: Die Übertragung der Argumente zur richterlichen Entscheidung, die, wenn auch nicht durch das Gesetz voll determiniert, doch zumindest anhand normativer Argumente begründet werden muss und, auch nach Schmitt, über Richtigkeitskriterien verfügt, auf den solcher Argumente enthobenen Staat52, radikalisiert diese Position und entfesselt damit die Macht der Entscheider.53 Schmitts Verabschiedung jeder Notwendigkeit einer ← 36 | 37 → normativen Begründung von Entscheidungen geht so weit, dass Vertreterinnen und Vertreter der ihrerseits rechtsbindungsskeptischen sog. postmodernen Rechtstheorie54 sie ebenso kritisieren wie die der eher klassischen Rechtstheorie.55

Außerhalb eines normativen Rahmens setze jedes Gesetz, auch die den Staat konstituierende Verfassung56, eine von einer tatsächlichen Macht oder Autorität getroffene politische Entscheidung voraus.57 Dieses souveräne Dictum bedingt die Legitimität des Gesetzes.58 Das ist eine naturrechtliche Argumentationsweise, die trotz der nur formalen Natur der Dezision (die bar inhaltlicher Vorgaben dem Rechtserzeugungsprozess bei Kelsen ähnelt, da sie ebenfalls nur auf den Entscheidungsvorgang abstellt59) ihre Legitimität aus dem Faktischen (dem Dictum, der tatsächlichen Entscheidung) ableitet. Denn, so Schmitt: „Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm.“60 Dies zeigt, dass die z.T. vorgenommene Parallelisierung des Dezisionismus mit Kelsens Grundnorm61 problematisch ist, schon da bei Schmitt die Geltung des Rechtssystems auf einer Substanz fußt, Kelsen sie dagegen auf eine bloße Fiktion zurückführt.62

In der Überhöhung der Entscheidung/ des Entscheiders schimmert zusätzlich eine fast religiöse Aufladung der Dezision durch, indem sie von einer ungebundenen, als gottgleich erscheinenden Instanz getroffen wird: ← 37 | 38 →

„Es sind die Gegensätze von Gut und Böse, Gott und Teufel, zwischen denen auf Leben und Tod ein Entweder-Oder besteht, das keine Synthese und kein ‚höheres Drittes‘ kennt.“63

Diese von Kelsen kritisierten64 religiösen Bezüge tauchen wie der Dezisionismus immer wieder bei Schmitt auf.65 Sie sorgen nicht nur für die Verabsolutierung des Entscheiders, sondern stilisieren Schmitts Erwägungen selbst zu „absoluten Wahrheiten“.66

cc)   Ein kurzer Blick auf die Konsequenzen des Dezisionismus

Die weiteren Konsequenzen dieses zentralen Aspekts im Schmitt’schen Denken sollen im Verlauf dieses Abschnitts zu Tage treten; dennoch erscheint ein summarischer Überblick als nützlich:

(1)   Primat der Existenz

So findet sich bei Schmitt immer wieder ein Primat der Existenz, eine Privilegierung bestehender Verhältnisse67, die sich aus dem Dezisionismus ableiten lässt: Die Gründe für basale Entscheidungen wie die über das Bestehen einer staatlichen Ordnung sind nicht normativ ableitbar, daher steht das bloße Vorhandensein der Dezision im Fokus. So formuliert H. Hofmann:

„[…] das bloße Daß der Dezision ist für Schmitt wichtiger als das Wofür der Entscheidung. Daß eine politische Einheit existiert, ist für ihn bedeutungsvoll, relativ gleichgültig dagegen die Frage nach dem Wesen ihrer Einheitlichkeit“68

Hier liegt ein klarer Unterschied zu einer rechtspositivistischen Haltung (i.S. Kelsens): Während diese mit der Betonung der Rechtserzeugung69 die Demokratie ← 38 | 39 → affirmiert, redet Schmitts Auffassung einer Bewahrung jeder bestehenden Ordnung das Wort und erscheint als autoritär.70

(2)   Dezision statt Diskussion

Das Fokussieren der Dezision, insb. der Standpunkt, dass (irgend)eine Entscheidung besser sei als gar keine, etabliert eine Antithese zwischen Dezision und Diskussion71 mit einem Hang zu ersterer bei gleichzeitiger Abwertung der öffentlichen Debatte – die, entgegen Schmitts Präferenz, klare Entschlüsse typischerweise hemmt.72 Damit stellt sich die Auffindung des Willens des Demos in Schmitts Demokratieverständnis nicht als Ergebnis einer offenen Diskussion, sondern als schlichte „ja/nein-Akklamation“ des Volkes dar.73 Dies ist ein Aspekt, der mit seiner Relativierung von Grundrechten74 zusammenhängt, gerade eingedenk der Wichtigkeit von Kommunikationsgrundrechten für den politischen Bereich, die Kelsen betont75 und hier zentral sind.76

(3)   Legitimation des Bestehenden gegen normative Legalität

Indem Schmitt von einer existenziellen Entscheidung ausgeht, die den Staat legitimiert und frei von normativen Fesseln ist, zeigt sich schon hier die im Verlauf noch klarer herauszuarbeitende Tendenz, jegliche („zufällig“77) bestehende Ordnung als legitim und damit erhaltenswert anzusehen.78

Dem Entscheiden kommt bei Schmitt eine eigene Legitimität 79 zu, die Vorzug vor der schlicht normativen Legalität hat, was sich insb. im zeitlichen Verlauf seines ← 39 | 40 → Werks weiter herauskristallisiert80 und zunächst in seiner 1932 veröffentlichten Schrift Legalität und Legitimität gipfelt.81

b)   Der Staat als Medium der Rechtsverwirklichung

Mit dem Problem der Rechtsverwirklichung setzt sich Schmitt auch aus einer weiteren Perspektive auseinander: Zunächst geht er von der Unabhängigkeit von Recht und Ethik82 und auch der methodendualistischen Unterscheidung von Sein und Sollen aus83 und ist damit nah bei Kelsen84. Dies führt ihn zur Feststellung, dass eine Ableitung des Rechts aus der Macht unzulässig sei85 und bis zu dem Postulat, dass es kein Recht gäbe, könne es aus Macht abgeleitet werden.86 Der einzige Unterschied zwischen Recht und Unrecht liegt für Schmitt in der „Aufstellung der Norm“.87 In der Fortführung der Trennung von Sein und Sollen stellt er dann fest, dass sich Recht, insoweit es bloß Norm ist, niemals selbst verwirklichen könne88. Diese Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit gilt es für Schmitt zu überwinden,89 wofür der Staat als Entscheider zuständig ist. Er tritt als „Medium der Rechtsverwirklichung“ auf, das die Ebene des Rechts (des Sollens) mit der empirischen Welt (des Seins) verbinde.90 Um dies zu tun muss der Staat, wie gleich zu vertiefen ist, zwingend homogen sein.91 ← 40 | 41 →

Dabei ist es für Schmitt nicht der Staat, der das Recht schaffe, vielmehr schöpfe das Recht den Staat92: Der Staat konkretisiere abstrakte, ihm vorgegebene Rechtsgedanken und setze die so entstandenen Gesetze, im Zweifel mit Zwang, durch.93 Auch wenn es zunächst danach klingen mag, ist dies keine normativistische Position: Immer ist das Moment des Festsetzens, der Dezision, entscheidend, es besteht stets eine inhaltliche Lücke zwischen Konkretum und Abstraktum,94 mit jeder Konkretisierung geht eine „spezifische Modifikation“ des Rechts einher.95 Auch I. Maus betont, dass dies kein positivistischer Widerspruch zu Schmitts „Primat der Existenz“ sei; vielmehr bedarf seine These einer rechtlichen Konnotation, um die Legitimation seines spezifischen Verfassungsbegriffs vornehmen zu können.96 So erscheint Schmitts Ablehnung, Recht und Macht zu identifizieren, mit Blick auf spätere Äußerungen als Lippenbekenntnis.97 Dennoch ist dies zugleich eine Marginalisierung des konkreten Gesetzgebers, dessen Motive, sein „Wille“, hinter der Verwirklichung der vorgegebenen Normen als einzigem Zweck eines verabsolutierten Staats zurücktreten. Dies, da mit diesem Argument der Ausnahmezustand legitimiert wird, der den Bruch konkreter Normen zugunsten des Schutzes der „ganzen“, also abstrakteren, Rechtsordnung ermöglicht.98 Letztlich sorgt diese Haltung insgesamt für eine Überhöhung des Staates, für einen Etatismus. Die Konsequenzen dessen werden bei der Analyse von Schmitts Verfassungsbegriff weiter vertieft.99

2.   Die innerstaatliche Homogenität, Pluralismuskritik und Rechtsstaatsskepsis

Details

Seiten
532
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631738115
ISBN (ePUB)
9783631738979
ISBN (MOBI)
9783631738986
ISBN (Hardcover)
9783631738191
DOI
10.3726/b12648
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Wehrhafte Demokratie Ausnahmezustand Staatstheorie Staatsschutzstrafrecht Rechtsphilosophie Minderheitenschutz
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 532 S.

Biographische Angaben

Felix Fleckenstein (Autor:in)

Felix Fleckenstein studierte Rechtswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt, wo er als Wissenschaftliche Hilfskraft arbeitete und am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie promoviert wurde.

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Titel: Kampf den Feinden oder Schutz der Minderheiten?
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