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Infinitivkonstruktionen als Objekte im Sprachvergleich

von Krisztina Molnár (Autor:in)
©2018 Monographie 284 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie untersucht Infinitivkonstruktionen in Objektfunktion im Deutschen, Italienischen und Ungarischen aus einer sprachtypologisch-kontrastiven Perspektive. Die beiden Strukturtypen, die AcI-Konstruktionen und die Objektsinfinitive werden anhand einer Korpusanalyse beschrieben. Die Forschungsparameter umfassen ausgewählte semantische, morphologische und syntaktische Eigenschaften der Konstruktionen. Dabei widmet sich die Autorin insbesondere Aspekten, die in der bisherigen Forschung wenig Aufmerksamkeit erfahren haben, wie z. B. dem Vergleich von Infinitivkonstruktionen mit Objekten anderer Form. Das Buch richtet sich an KollegInnen und Studierende aus den Bereichen der germanistischen, italienischen und ungarischen Sprachwissenschaft, der kontrastiven Linguistik und der Sprachtypologie.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Theoretischer Hintergrund
  • 2.1 Was ist ein Infinitiv? Definitionsversuch
  • 2.2 Problemfälle
  • 2.2.1 Infinitive mit Artikel im Italienischen
  • 2.2.2 Infinitive mit nominativischem Subjekt im Italienischen
  • 2.2.3 Abgrenzung von Hilfs- und Vollverben im Ungarischen
  • 3. AcI-Konstruktionen
  • 3.1 Allgemeines
  • 3.2 AcI-Konstruktionen bei Wahrnehmungsverben – Perzeptivkonstruktionen
  • 3.2.1 Semantische Eigenschaften
  • 3.2.2 Morphologische Eigenschaften
  • 3.2.3 Syntaktische Eigenschaften
  • 3.3 Kausativ- und Permissivkonstruktionen
  • 3.3.1 Semantische Eigenschaften
  • 3.3.2 Morphologische Eigenschaften
  • 3.3.3 Syntaktische Eigenschaften
  • 3.4 Perzeptiv- und Kausativkonstruktionen: ein Vergleich
  • 3.4.1 Semantische Eigenschaften
  • 3.4.2 Morphologische Eigenschaften
  • 3.4.3 Syntaktische Eigenschaften
  • 4. Objektsinfinitive
  • 4.1 Matrixverben
  • 4.2 Analyse
  • 4.2.1 Phasenverben
  • 4.2.2 Intentionale Verben 1: Nicht-implikative Verben
  • 4.2.3 Intentionale Verben 2: Negativ-implikative Verben
  • 4.2.4 Verben der kognitiven Einstellung
  • 4.2.5 Verben der Handlungssteuerung
  • 4.2.6 Verben des Wissenstransfers
  • 4.2.7 Mitteilungsverben
  • 4.2.8 Verben der Selbstverpflichtung
  • 4.2.9 „Einzelgänger“
  • 4.3 Zusammenfassung
  • 4.3.1 Allgemeine Charakteristika
  • 4.3.2 Sprachspezifische Eigenschaften
  • 5. Zusammenfassung und sprachtypologische Verortung der Ergebnisse
  • 5.1 Infinitivkonstruktionen als Objekte
  • 5.2 Die „Leistung“ von Infinitivkonstruktionen
  • 5.2.1 Koordination von Infinitivkonstruktionen und Objekten anderer Form
  • 5.2.2 Vergleich von Infinitivkonstruktionen und Objekten anderer Form
  • 5.3 Grammatikalisierung
  • Korpora
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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1. Einleitung

Infinitive und Infinitivkonstruktionen werden in jüngster Zeit mit zunehmendem Interesse erforscht. Die meisten Arbeiten konzentrieren sich dabei auf eine Einzelsprache1, kontrastive Analysen liegen aber auch vor2. Die sprachvergleichende Beschreibung von Infinitiven bzw. Infinitivkonstruktionen wird dadurch erschwert, dass die Kategorie „Infinitiv“ (soweit vorhanden) in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Merkmale aufweist. Somit können Infinitive einer gegebenen Sprache über Eigenschaften verfügen, die in einer anderen Sprache nur für finite Verben charakteristisch sind. Auf diese Weise wird die Frage nach der Definition von „Infinitiv“ in den größeren Kontext von Finitheit/Nonfinitheit eingebettet. Finitheit/Nonfinitheit stellt ein bedeutendes Problem für sprachtypologische Forschungen aber auch für jede Art von Sprachvergleich dar. Es lassen sich zwar Charakteristika bestimmen, über die in Einzelsprachen finite bzw. infinite Verbformen verfügen, diese sprachspezifischen Eigenschaften erlauben aber keine Generalisierungen. Somit wird in der vorliegenden Arbeit angestrebt, eine übereinzelsprachlich haltbare Definition von „Infinitiv“ auszuarbeiten, die als Grundlage für eine sprachtypologisch-kontrastive Analyse dienen kann.

In der vorliegenden Arbeit werden Infinitivkonstruktionen sprachvergleichend untersucht. In die Analyse werden drei Vergleichssprachen aufgenommen: Deutsch, Italienisch und Ungarisch. Für das Deutsche und Italienische existieren mit Bech (1955/1983) bzw. Skytte (1983) umfassende Beschreibungen von Eigenschaften von Infinitiven und Infinitivkonstruktionen, das Ungarische entbehrt vergleichbarer Darstellungen.

Da Infinitive sprachübergreifend in erster Linie nach funktionalen Gesichtspunkten definiert werden können (vgl. auch 2.1), bildet auch in der vorliegenden Untersuchung eine ausgewählte syntaktische Funktion von Infinitivkonstruktionen den Ausgangspunkt. Es werden Infinitivkonstruktionen in Objektfunktion untersucht. Infinitivkonstruktionen in Objektfunktion können in den Vergleichssprachen in zwei Konstruktionstypen auftreten, die sich – zumindest im Deutschen – formal gut unterscheiden lassen. Es handelt sich um AcI-Konstruktionen (1) sowie um Objektsinfinitive (2), die im Deutschen in der Regel als zu-Infinitiv-Konstruktionen realisiert werden: ← 9 | 10 →

Sowohl zu AcI-Konstruktionen als auch zu Objektsinfinitiven gibt es einzelsprachliche Beschreibungen; von den hier untersuchten Sprachen sind das Deutsche und das Italienische vergleichsweise gut beschrieben. Die bisherigen Darstellungen sind aber keinesfalls vollständig (das wird meistens auch nicht angestrebt); es gibt mehrfach beschriebene Phänomene (so z.B. das Kontrollverhalten von Matrixverben bei Objektsinfinitiven), aber auch solche, die kaum beachtet wurden, teilweise, weil sie sprachspezifisch nicht auffallen (z.B. semantische Eigenschaften des Matrixsubjekts in AcI-Konstruktionen). Umfassende sprachvergleichende Arbeiten, in die alle hier behandelten Vergleichssprachen einbezogen würden, liegen meines Wissens noch nicht vor.

Infinitivkonstruktionen in Objektfunktion gelten als markiert, da Objekte prototypischerweise durch Nominalphrasen (oder Präpositionalphrasen) realisiert werden. Auch im Vergleich zu anderen propositionalen Realisierungen von Objekten (wie Nebensätze mit finitem Verb) weisen die Infinitivkonstruktionen besondere Eigenschaften auf. So gibt es zum Beispiel im Deutschen in Infinitivkonstruktionen kein personmarkiertes Verb und kein nominativisch ausgedrücktes Subjekt. Somit stellt sich die Frage nach der „Leistung“ von Infinitivkonstruktionen, d.h., ob die Infinitivkonstruktionen Funktionen haben, die durch die anderen Realisierungsmöglichkeiten von Objekten nicht ausgedrückt werden können. Um diese Frage beantworten zu können, müssen sprachvergleichend die Eigenschaften von Infinitiven und Infinitivkonstruktionen ausführlich beschrieben werden. In die Beschreibung werden sowohl semantische als auch morphologische und syntaktische Charakteristika mit einbezogen. Die zwei Konstruktionstypen, AcI-Konstruktionen und Objektsinfinitive, werden getrennt untersucht. Beschrieben werden sie jedoch nach identischen Forschungsparametern, damit in einem zweiten Schritt auch ein Vergleich der beiden Konstruktionstypen gewährleistet werden kann.

Die Arbeit verfolgt somit eine doppelte Zielsetzung: Einerseits sollten die Eigenschaften von Infinitivkonstruktionen in Objektfunktion sprachvergleichend ausführlich beschrieben werden, die Charakteristika der beiden Konstruktionstypen sollen miteinander verglichen werden. Andererseits soll nach der Beschreibung der grammatischen Eigenschaften die Frage nach der „Leistung“ von Infinitivkonstruktionen beantwortet werden, indem sie mit den anderen Realisierungsmöglichkeiten von Objekten verglichen werden.

Um diese Ziele zu verwirklichen, wird eine Korpusanalyse durchgeführt. Die Datengrundlage bilden nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Korpusbelege ← 10 | 11 → aus morphosyntaktisch annotierten Korpora der Vergleichssprachen (DeReKo, MNSZ, COLFIS, CORIS, PAISÀ). Die Korpusbelege werden sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgewertet, wobei der Schwerpunkt auf der qualitativen Beschreibung liegt.

Im Folgenden wird als Erstes in Kapitel 2 der theoretische Hintergrund skizziert. Anhand von den Eigenschaften der Infinitive in den Vergleichssprachen wird eine sprachübergreifend haltbare Definition von „Infinitiv“ ausgearbeitet, die als Grundlage der kontrastiven Analyse dienen kann. Ferner wird auf sprachspezifische Eigenschaften eingegangen, die für die Analyse Problemfälle darstellen. In Kapitel 3 werden die AcI-Konstruktionen behandelt. Nach einer allgemeinen Beschreibung der AcI-Konstruktionen (3.1) werden die Perzeptiv- und Kausativkonstruktionen getrennt untersucht (3.2 bzw. 3.3). Das Kapitel schließt mit einem Vergleich der zwei Konstruktionen (3.4). Kapitel 4 behandelt die Objektsinfinitive. Da vor allem im Deutschen und Italienischen eine vergleichsweise große Anzahl von Matrixverben Objektsinfinitive erlauben, war es nicht möglich (und wohl auch nicht notwendig), alle Matrixverben in die Analyse aufzunehmen. So wurde eine semantische Gruppierung von Matrixverben vorgenommen (4.1), die als Grundlage der Analyse dient. Die Analyseergebnisse werden nach den einzelnen semantischen Gruppen der Matrixverben beschrieben (4.2.1–4.2.9). In Kapitel 4.3 werden die wichtigsten Befunde bezüglich der Objektsinfinitive zusammengefasst, wobei auf die allgemeinen Charakteristika (4.3.1) und die sprachspezifischen Eigenschaften (4.3.2) gesondert eingegangen wird. In Kapitel 5 werden die wichtigsten Ergebnisse der Analyse zusammengefasst. Hier kann noch einmal überprüft werden, ob die in der Literatur eher ungewöhnliche gemeinsame Behandlung von AcI-Konstruktionen und Objektsinfinitiven berechtigt war. Ferner kann hier die Grundfrage nach der Leistung von Infinitiven in Objektfunktion beantwortet werden. Somit wird auch die sprachtypologische Verortung der Ergebnisse ermöglicht.


1 Vgl. z.B. Bech (1955/1983), Kiss (1995), Skytte (1983).

2 Vgl. z.B. Bassola (2006, 2007, 2008), Hyvärinen (1989).

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2. Theoretischer Hintergrund

Die vorliegende Arbeit untersucht Infinitivkonstruktionen aus einer sprachvergleichenden und sprachtypologischen Perspektive. Dazu ist eine sprachübergreifende Definition von „Infinitiv“ unerlässlich.3 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine (Arbeits-)definition von „Infinitiv“ zu geben, welche die Grundlage der späteren Analyse bilden kann (2.1). Danach werden einige Problemfälle skizziert, deren Behandlung die kontrastive Analyse bzw. die Analyseergebnisse beeinträchtigt (2.2).4

2.1 Was ist ein Infinitiv? Definitionsversuch

Für einen Sprachvergleich ist die Bestimmung eines adäquaten Tertium comparationis von großer Relevanz. In unserem Fall, beim Vergleich von Infinitivkonstruktionen, sollte im Vorfeld der Untersuchung der Begriff „Infinitiv“ übereinzelsprachlich zufriedenstellend definiert werden.

Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen bilden Definitionen von „Infinitiv“ bzw. „Infinitivkonstruktion“ in ausgewählten sprachwissenschaftlichen Lexika, da diese eigentlich übereinzelsprachlich sein sollten.

Metzler Lexikon Sprache definiert „Infinitiv“ wie folgt:

„Nicht konjugierbare infinite Verbform nominalen Charakters, die in manchen europäischen Sprachen als Grundform des Verbs angegeben wird. I. d. R. ist der I. hinsichtlich Person, Numerus und Modus unbestimmt. Andererseits können I.-Formen bezügl. Tempus bzw. Aspekt, Diathese (Genus verbi) und Rektion markiert sein.“ (Glück Hg. 2010: 287)

Zum Vergleich wird auch die Definition von Bußmann (2002) angeführt:

„Nominalform des Verbs, die historisch aus einem erstarrten Lokativ des Ziels eines Verbalabstraktums zu erklären ist. Der I. steht formal und funktional zwischen Verb und Nomen. Verbale Eigenschaften sind Rektion (das Lesen des Buches), Aspekt (lesen vs. gelesen haben), Genus verbi (das Lesen vs. das Gelesene/das Gelesenwerden); auf ← 13 | 14 → Grund des nominalen Charakters entfallen die verbalen Kategorien Person und Numerus, außerdem kann der I. in substantivierter Form mit Artikel gebraucht werden, d.h. syntaktisch in Nominalphrasenfunktion verwendet werden.“ (Bußmann Hg. 2002: 304)

Infinitivkonstruktionen definieren beide hier zitierten Lexika als eine Konstruktion, die einen Infinitiv als Kern hat und kein nominativisches Subjekt aufweist (vgl. Bußmann Hg. 2002: 304, Glück Hg. 2010: 287).

Beide Definitionen betonen den Übergangscharakter des Infinitivs: Er ist weder ein „richtiges“ Verb noch ein „richtiges“ Substantiv, da er Charakteristika beider Wortarten aufweist. Diese Beschreibung ist aber viel zu allgemein, man müsste wissen, was diese Eigenschaften sind. Infinitive werden als nicht konjugierbar betrachtet, gleichzeitig wird ihnen die Möglichkeit zur Markierung von Tempus/Aspekt5 bzw. Genus verbi zugesprochen. Darüber hinaus weist die Definition von Bußmann weitere problematische Stellen auf: Die verbalen Eigenschaften der Infinitive werden zum Teil anhand von substantivierten Infinitiven gezeigt. Ferner wird nur von den substantivierten Infinitiven behauptet, dass sie die syntaktischen Funktionen der Nominalphrasen wahrnehmen können. Ein weiteres, für die vorliegende Untersuchung relevantes Problem ist, dass die Infinitive diese Eigenschaften zumindest teilweise mit den Partizipien teilen. Auf diese Weise werden diese zwei infiniten Verbformen nicht deutlich genug voneinander abgetrennt.

Im Folgenden werden die Eigenschaften der Infinitive im Deutschen, Italienischen und Ungarischen kurz beschrieben. Erhofft wird, aufgrund dieser Eigenschaften eine Arbeitsdefinition von „Infinitiv“ erstellen zu können, die als Grundlage für die kontrastive Analyse dienen kann.

Im Deutschen ist der Infinitiv formal durch das Infinitivsuffix –(e)n gekennzeichnet. In den einschlägigen Grammatiken werden die infiniten Verbformen des Deutschen als nicht personengebunden definiert (vgl. Eisenberg 2004: 184, Helbig/Buscha 1991: 35). Der Infinitiv weist keine Person-, Numerus- und Modusmarkierung auf. Eine Markierung von Tempus/Aspekt und Genus verbi ist aber möglich (lesengelesen habengelesen werden). Der Infinitiv kann in einer Infinitivkonstruktion durch valenzbedingte und nicht-valenzbedingte Glieder erweitert werden (vgl. auch Engel 1992: 435, Helbig/Buscha 1991: 107):

(1) DT. Ich verspreche dir, dir das Buch morgen zurückzugeben. ← 14 | 15 →

Problematisch ist, dass diese Eigenschaften auch für Partizipien gelten, d.h., es müssen distinktive Merkmale gefunden werden.

Eine wichtige nominale Eigenschaft (die im Gegensatz zu Bußmann (2002: 304) nicht nur für substantivierte Infinitive zutrifft) ist, dass der Infinitiv/die Infinitivkonstruktion in den syntaktischen Funktionen einer Nominal- bzw. Präpositionalphrase6 (Subjekt, Objekte, Adverbialbestimmungen, Attribute) auftreten kann:

(2) DT. Ich verspreche dir meine Unterstützung/dich zu unterstützen.

Die Infinitivkonstruktionen des Deutschen können kein Subjekt enthalten.7

Die Infinitive sind im Deutschen durch Konversion substantivierbar:

(3) DT. lesen – das Lesen

In diesem Fall handelt es sich aber um Substantive, was man an morphologischen und syntaktischen Eigenschaften sehen kann: Das Patiens erscheint bei diesen Wörtern als Genitivattribut:

(4) DT. das Lesen des Buches – die Lektüre des Buches

und nicht als Akkusativobjekt wie bei Verben (das Buch lesen). Darüber hinaus werden substantivierte Infinitive durch Attribute modifiziert (wie Substantive) und nicht durch Adverbialbestimmungen (wie Verben):

(5) DT. schnell fahren – das schnelle Fahren

Als problematisch erweist sich die Frage nach der Anzahl der Infinitive. Man könnte meinen, es gibt im Deutschen nur einen Infinitiv, den auf –(e)n. Diese Form wird auch in Wörterbüchern als die Grundform der Verben aufgeführt und wird in der Regel auch in Grammatiken (vgl. Helbig/Buscha 2011: 30) als solche betrachtet. Da aber in den gängigen Grammatiken des Deutschen auf eine Definition des Infinitivs weitgehend verzichtet wird8, bleibt unklar, wie die einzelnen periphrastischen Formen zu betrachten sind: Sind diese Formen als verschiedene Kategorien oder als Formvarianten der Kategorie „Infinitiv“ ← 15 | 16 → anzusehen? Des Weiteren stellt sich die Frage nach dem Status von zu-Infinitiven: Sind das weitere Formen des Infinitivs oder syntaktische Fügungen? Um diese Frage beantworten zu können, müsste der Status von zu geklärt werden. Zu ist diachron gesehen eine Präposition. Da aber dieses Element bei Infinitiven keine Kasusrektion hat, wird es in der Regel nicht für eine Präposition gehalten (vgl. Eisenberg 2006: 354; Poitou 2005: 34). Eine zweite Möglichkeit wäre, zu als Konjunktion zu betrachten, da es ein propositionales Komplement einführt und somit die gleiche Funktion wie die Konjunktionen wahrnimmt. Diese Lösung ist in erster Linie deswegen problematisch, weil zu nicht die im Deutschen für die Konjunktionen vorgesehene Stelle am Satzanfang einnimmt, sondern direkt vor dem Verb steht, worauf es sich bezieht (Eisenberg 2006: 354).9 Zu kann nicht von dem Infinitiv getrennt werden, auf den es sich bezieht, des Weiteren ist seine Wahl von der Valenz des Matrixverbs festgelegt (Duden 2009: 439). So wird zu häufig als ein Verbaffix betrachtet (Duden 2009: 439; Eisenberg 2006: 354; Poitou 2005: 35; Zifonun et al. 1997: 2159).10 Eisenberg (2006: 354) betrachtet zu-Infinitive als eine Wortform. Auch in der IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997: 2159) wird zwischen zwei Infinitiven, dem reinen und dem zu-Infinitiv unterschieden.

Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass es im Deutschen nur einen Infinitiv (als Kategorie) gibt, der aber in unterschiedlichen Formvarianten auftreten kann.

In den Grammatiken des Italienischen wird der Infinitiv (wie auch das Partizip und das Gerundium) traditionell zu den sogenannten „modi indefiniti“ (‚indefinite Modi‘) gerechnet (vgl. Serianni 1991: 383).11 Diese Einteilung lässt sich funktional nicht rechtfertigen, da diese Formen keine modalen Inhalte ausdrücken können – wie das auch Serianni (1991: 383) erwähnt. Die infiniten Verbformen werden als nominale Formen des Verbs betrachtet (Serianni 1991: 383), weil sie häufig in denselben Funktionen wie Substantive (oder eher Nominalphrasen) oder Adjektive auftreten können. Infinitiv als Begriff bleibt weitgehend undefiniert, d.h., dass wir uns auch hier mit dem Problem der Unterscheidung von Infinitiven und den anderen infiniten Verbformen konfrontieren müssen. ← 16 | 17 →

Die grundsätzlichen verbalen und nominalen Eigenschaften teilen die italienischen Infinitive mit den deutschen: Es gibt keine Person-, Numerus- und Modusmarkierung, eine Markierung von Tempus/Aspekt und Genus verbi ist aber möglich (leggereavere lettoessere letto). Der Infinitiv kann auch im Italienischen durch valenzbedingte und nicht-valenzbedingte Glieder erweitert werden:

Die Infinitive bzw. Infinitivkonstruktionen können auch im Italienischen in den syntaktischen Funktionen einer Nominal- oder Präpositionalphrase auftreten:

Im Gegensatz zum Deutschen – und den Definitionen der zitierten sprachwissenschaftlichen Lexika – können Infinitivkonstruktionen im Italienischen in bestimmten Fällen auch ein nominativisches Subjekt haben:

Wie im Deutschen, sind Infinitive auch im Italienischen durch Konversion substantivierbar:

Diese „Infinitive mit Artikel“ weisen aber – im Gegensatz zum Deutschen – nicht nur nominale, sondern auch verbale Eigenschaften auf (vgl. Kap. 2.2.1, Salvi 1985).

Die Frage nach der Anzahl der Infinitive lässt sich auch im Falle des Italienischen nicht leicht beantworten. Im Italienischen werden traditionell drei Hauptkonjugationsklassen unterschieden. Die Verben werden in die Konjugationsklassen je nach Infinitivendung auf -are, -ere und -ire eingeteilt. Serianni (1991: 398) betrachtet die Vokale -a-, -e- und -i- als Themavokale, die über die Konjugationsklassenzugehörigkeit entscheiden und -re als die eigentliche Infinitivendung. Somit kann auch für das Italienische ein einheitlicher einfacher Infinitiv vorausgesetzt werden. Ähnlich wie im Deutschen, werden auch im Italienischen die analytischen Infinitivformen (Infinitiv Perfekt und Passiv) nicht als eigenständige Infinitive betrachtet.

Details

Seiten
284
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631765487
ISBN (ePUB)
9783631765494
ISBN (MOBI)
9783631765500
ISBN (Hardcover)
9783631756294
DOI
10.3726/b15028
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Infinitiv Infinitivkonstruktion AcI-Konstruktion Objektsinfinitiv Sprachvergleich Sprachtypologie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 282 S., 103 Tab.

Biographische Angaben

Krisztina Molnár (Autor:in)

Krisztina Molnár studierte Germanistik und Italianistik an der Universität Szeged (Ungarn), promovierte und habilitierte an der Universität Pécs (Ungarn). Dort ist sie seit 2001 als Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistische Linguistik tätig.

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