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Verbotsirrtum und Vertrauen auf Rechtsrat im europäischen Kartellrecht

Eine rechtsvergleichende Analyse des europäischen, des deutschen und des französischen Kartellrechts

von Raffaele Mazza (Autor:in)
©2017 Dissertation XVI, 263 Seiten

Zusammenfassung

Die im Rahmen von Wettbewerbsverstößen gegen Unternehmen verhängten Geldbußen stehen seit Jahren im Fokus öffentlicher und akademischer Diskussionen. Ob und inwieweit eine Sanktion verhängt werden kann, wenn der irrtumsbedingte Verstoß des betreffenden Unternehmens auf einer zuvor eingeholten falschen Rechtsauskunft beruht, wird im europäischen Recht und in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, trotz der weitgehend harmonisierten Vorschriften, zum Teil völlig unterschiedlich beurteilt. Der Autor untersucht unter Heranziehung der deutschen und der französischen Rechtsordnungen, ob das aus verschiedenen Mitgliedstaaten bekannte Institut des schuldausschließenden Verbotsirrtums auch im Unionsrecht Geltung erlangen kann, und welche konkreten Anforderungen an dieses zu stellen wären.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Kapitel: Europäisches Recht
  • A. Einführung
  • I. Problemstellung und Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes
  • II. Die Sanktionsmöglichkeiten im europäischen Kartellrecht
  • III. Das Bußgeldverfahren und die Verfahrensbeteiligten
  • IV. Rechtsirrtümer unter der VO (EG) Nr. 1/2003
  • 1. Das System der Legalausnahme (Art. 1 VO 1/2003)
  • 2. Die Systemimmanenz der Irrtumsproblematik unter der VO (EG) Nr. 1/2003
  • V. Rechtsvergleichende Analyse
  • 1. Die Bedeutung und die Eignung der Rechtsvergleichung im europäischen Wettbewerbsrecht
  • 2. Der Kreis der zu untersuchenden Rechtsordnungen
  • 3. Konkretes methodisches Vorgehen
  • VI. Die Lückenschließung durch Aufstellen allgemeiner Rechtsgrundsätze
  • B. Die Rechtsnatur der kartellrechtlichen Geldbuße
  • I. Der Einfluss von Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 auf die Rechtsnatur der Geldbuße
  • II. Entscheidungspraxis der Kommission und des EuGH sowie Stellungnahmen der Generalanwälte
  • III. Die kriminalstrafrechtliche Auffassung
  • IV. Die verwaltungsrechtliche Auffassung
  • V. Die Geldbuße als Sanktion des Ordnungswidrigkeitenrechts
  • VI. Die Geldbuße als Sanktion „sui generis“
  • VII. Die Geldbuße als Rechtsfigur des Strafrechts im weiteren Sinne
  • VIII. Zusammenfassung und Stellungnahme
  • 1. Ablehnung der Geldbuße als Strafe im engeren Sinne (Kriminalstrafe)
  • 2. Ablehnung der Geldbuße als „Verwaltungsstrafe“ bzw. als „sanction administrative“
  • 3. Zuordnung der kartellrechtlichen Geldbuße zum Strafrecht i. w. S.
  • 4. Konsequenz der Einordnung für die Anwendbarkeit strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Garantien
  • C. Der Schuldgrundsatz und der Verbotsirrtum im EU-Recht
  • I. Zur Anwendung strafrechtlicher Grundprinzipien im EU-Recht
  • II. Die Anerkennung des Schuldgrundsatzes als europäisches Rechtsprinzip
  • 1. Mangel an expliziter Kodifikation
  • 2. Der Schuldgrundsatz in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen
  • 3. Der Schuldgrundsatz in der EU-GRCh, der EMRK und in der Rechtsprechung des EGMR
  • a) Der Schuldgrundsatz als Ausfluss der Unschuldsvermutung der Artt. 48 Abs. 1 und 49 Abs. 3 EU-GRCh
  • b) Der Schuldgrundsatz als materieller Kerngehalt der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK
  • 4. Der Schuldgrundsatz im Unionsrecht
  • a) Die Entscheidungspraxis der Kommission und des EuGH
  • b) In der Literatur vertretene Auffassungen
  • aa) Anerkennung des Schuldprinzips als allgemeiner Rechtgrundsatz des Unionsrechts
  • bb) Ablehnung des Schuldprinzips als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts
  • 5. Stellungnahme und Ergebnis
  • a) Anerkennung des Schuldprinzips als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts
  • b) Zulässigkeit eines Systems der objektiven Verantwortlichkeit im Unionsrecht
  • c) Ergebnis
  • III. Auswirkungen der Anwendbarkeit des Schuldgrundsatzes bei der Verhängung von Geldbußen nach Art. 23 Abs. 2 lit. a VO 1/2003
  • IV. Das subjektive Element bei Ahndungen nach Artikel 23 VO (EG) Nr. 1/2003
  • 1. Schuld und Schuldfähigkeit von Unternehmen als Sanktionsadressaten
  • 2. Zurechnungsfragen bei Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen
  • 3. Der Vorsatz
  • 4. Die Fahrlässigkeit
  • 5. Verbotskenntnis und Unrechtsbewusstsein
  • D. Irrtümer
  • I. Tatsachenirrtum
  • II. Rechtsirrtum
  • 1. Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale
  • 2. Irrtum über Rechtfertigungsgründe
  • III. Rechtsirrtum über das Verbotensein des Verhaltens (Verbotsirrtum)
  • 1. Entscheidungspraxis der Kommission und des EuGH
  • 2. Anforderungen an die Vermeidbarkeit von Rechtsirrtümern nach Inkrafttreten der VO 1/2003
  • IV. Die Rechtssache „Schenker & Co. u. a.“
  • 1. Sachverhalt
  • 2. Die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott
  • a) Zur Anwendbarkeit des Verbotsirrtums im europäischen Kartellrecht
  • b) Mindestanforderungen im Zusammenhang mit der Einholung von Rechtsrat
  • aa) Gutgläubigkeit des Unternehmens
  • bb) Unabhängigkeit des externen Rechtsberaters
  • cc) Rechtliche Sachkompetenz des Beraters
  • dd) Vollständige und zutreffende Tatsachengrundlage
  • ee) Reichweite der erteilten Rechtsauskunft
  • ff) Plausibilitätskontrolle durch das Unternehmen
  • gg) Verhaltenspflichten bei unklarer Rechtslage
  • c) Schlussbemerkungen
  • 3. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Schenker & Co. u. a.“
  • 4. Würdigung der Entscheidung
  • V. Stellungnahme und Ergebnis
  • 1. Anerkennung eines schuldausschließenden Verbotsirrtums im europäischen Wettbewerbsrecht
  • 2. Anforderungen an das Vertrauen eines Unternehmens auf anwaltlichen Rat
  • 2. Kapitel: Deutsches Recht
  • A. Der rechtliche Rahmen
  • I. Das Kartellordnungswidrigkeitenrecht
  • II. Europäisierung des deutschen Kartellordnungswidrigkeitenrechts
  • 1. Übernahme des Systems der Legalausnahme und der „more economic approach“
  • 2. Die Bedeutung von Art. 5 VO 1/2003
  • 3. Unionsrechtskonforme Anwendung und Auslegung des allgemeinen Teils des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts
  • III. Verhältnis von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten
  • IV. Abgrenzung des Kartellordnungswidrigkeitenrechts zum Kartelldeliktsrecht
  • B. Das Schuldprinzip und der Begriff der Schuld im deutschen Recht
  • I. Das Schuldprinzip
  • II. Der Begriff der Schuld
  • III. Die Vorwerfbarkeit im Ordnungswidrigkeitenrecht
  • C. Die Verschuldensvoraussetzungen bei der Sanktionierung von Unternehmen
  • I. Die Bußgeldhaftung von Unternehmen als Sanktionsadressaten
  • 1. Die Zurechnung von Kartellverstößen nach § 9 OWiG
  • 2. Die Verletzung von betriebsbezogenen Aufsichtspflichten nach § 130 OWiG
  • 3. Die Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG
  • II. Subjektiver Tatbestand
  • 1. Vorsatz
  • 2. Fahrlässigkeit
  • D. Irrtümer
  • I. Die Abgrenzung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum
  • II. Der Verbotsirrtum nach § 11 Abs. 2 OWiG
  • 1. Das Unrechtsbewusstsein
  • a) Aktuelles Unrechtsbewusstsein
  • b) Bedingtes Unrechtsbewusstsein (Unrechtszweifel)
  • 2. Das Vermeidbarkeitskriterium
  • E. Die Vermeidbarkeit des strafrechtlichen Verbotsirrtums i. S. v. § 17 Satz 1 StGB
  • 1. Vertrauen auf Gerichtsentscheidungen
  • 2. Vertrauen auf Rechtsauskünfte
  • F. Die Vermeidbarkeit im Kartellordnungswidrigkeitenrecht
  • I. Ausmaß der Prüfungs- und Erkundigungspflichten
  • II. Die Rechtsprüfung ohne Einholung eines Rechtsrats als Ausnahmefall
  • 1. Vertrauen auf Gerichtsentscheidungen
  • 2. Rechtsliteratur
  • 3. Gänzlich unklare Rechtslage
  • III. Das Einholen von Rechtsrat als Regelfall
  • IV. Mindestanforderungen bei der Einholung von Rechtsrat
  • 1. Anforderungen an die auskunftsgebende Person
  • a) Zwingende Voraussetzungen für die Verlässlichkeit einer Auskunftsperson
  • aa) Anforderungen an die Sachkunde
  • (1) Rechtliche Sachkunde
  • (2) Ökonomische Sachkunde
  • bb) Persönliche Zuverlässigkeit
  • b) Taugliche Auskunftspersonen
  • aa) Rechtsanwälte und Rechtsanwaltssozietäten
  • bb) Hausjuristen und interne Rechtsabteilungen
  • cc) Die Compliance-Abteilung
  • (1) Anforderungen an eine exkulpatorische kartellrechtliche Präventionsberatung
  • (2) Kartellrechts-Compliance und § 130 OWiG
  • dd) Hochschulprofessoren
  • ee) Richter
  • ff) Behördenauskünfte
  • 2. Vollständige und zutreffende Tatsachengrundlage
  • 3. Anforderungen an die Rechtsauskunft selbst
  • a) Reichweite der erteilten Rechtsauskunft
  • b) Umfang der erteilten Rechtsauskunft und der ihr zugrundeliegenden Prüfung
  • c) Plausibilitätskontrolle durch das Unternehmen
  • d) Verhaltenspflichten bei unklarer Rechtslage
  • e) Zurechnung von Fehlern der Auskunftsperson
  • V. Rechtmäßiges Alternativverhalten
  • VI. Zusammenfassung
  • G. Die Vermeidbarkeit im Kartelldeliktsrecht
  • I. Gemeinsamkeiten
  • II. Unterschiede
  • 3. Kapitel: Französisches Recht
  • A. Der rechtliche Rahmen
  • I. Materielles französisches Kartellrecht
  • II. Sanktionen durch die Autorité de la concurrence
  • III. Normadressaten
  • B. Die Irrtumslehre im französischen Strafrecht
  • C. Die Deliktseinteilung im französischen Strafrecht
  • D. Grundvoraussetzungen der Schuld
  • I. Die Vorsatzschuld („La faute intentionnelle“)
  • II. Die unvorsätzliche Schuld („La faute non-intentionnelle“)
  • 1. Fahrlässigkeitsschuld und bewusste Gefährdung („La faute pénal“)
  • 2. Übertretungsschuld („La faute matérielle ou contraventionnelle“)
  • III. Nachweis des „élément moral“
  • E. Irrtümer
  • I. Der Tatirrtum („L’erreur de fait“)
  • II. Der Rechtsirrtum („L’erreur de droit“)
  • 1. Anwendungsbereich
  • 2. Vermeidbarkeit
  • a) Vertrauen auf Gerichtsentscheidungen
  • b) Vertrauen auf Rechtsauskünfte
  • (1) Behördenauskünfte
  • (2) Privatauskünfte
  • c) Ausmaß der Prüfungs- und Erkundigungspflichten
  • d) Gutgläubigkeit des Täters an die Rechtmäßigkeit seiner Handlung
  • 3. Zusammenfassung
  • F. Die Wettbewerbssanktionen als „sanctions administratives“
  • I. Der Begriff des Verwaltungsstrafrechts und die Rechtsnatur der Verwaltungssanktionen
  • II. Rechtsnatur der Sanktionen des französischen Kartellrechts
  • III. Subjektive Anforderungen an die Verhängung von Kartellrechtssanktionen
  • IV. Keine Anwendbarkeit des Rechtsirrtums
  • 4. Kapitel: Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
  • A. Das Schuldprinzip im Unionsrecht
  • I. Ablehnung einer objektiven Haftung
  • II. Zur Geltung des Schuldgrundsatzes im Unionsrecht
  • III. Inhalt und Maßstab des Schuldbegriffs
  • B. Die Behandlung des Verbotsirrtums im europäischen Wettbewerbsrecht
  • I. Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums
  • II. Anforderungen an ein schuldausschließendes Vertrauen auf Rechtsrat im Unionsrecht
  • C. Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Die im Rahmen von Wettbewerbsverstößen gegen Unternehmen verhängten Geldbußen stehen seit Jahren im Fokus öffentlicher, politischer und akademischer Diskussionen. Hierbei zeigt sich eine immer stärkere Tendenz, mittels erhöhter Geldbußen verschärft gegen Unternehmen vorzugehen. Gleichzeitig gewinnen die nationalen und europäischen Kartellvorschriften stetig an Komplexität, sodass sie eine sorgfältige juristische Untersuchung erfordern, was selbst fachlich versierte Juristen vor erhebliche Herausforderungen stellt. Für die betroffenen Unternehmen wird es zunehmend schwieriger, die Trennlinie zwischen erlaubtem und wettbewerbswidrigem Verhalten zu erkennen. Entsprechend dem Prinzip der Selbsteinschätzung1 tragen diese allein die Verantwortung dafür, zu überprüfen, ob ihre Vereinbarungen wettbewerbsrechtlich unbedenklich und somit im Einklang mit den kartellrechtlichen Bestimmungen stehen.2 Hierdurch werden sowohl das Subsumtionsrisiko als auch die damit verbundene Gefahr irrtümlicher Einschätzungen auf diese verlagert.3 Zur Vermeidung dieser oftmals kostspieligen Missverständnisse bleibt den Unternehmen häufig nur der Gang zum Rechtsberater. Ob und inwieweit eine Sanktion verhängt werden kann, wenn der irrtumsbedingte Verstoß des betroffenen Unternehmens auf einer zuvor eingeholten falschen Rechtsauskunft beruht, wird im europäischen Recht und in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, trotz der weitgehend harmonisierten Vorschriften, zum Teil völlig unterschiedlich beurteilt. Eine allgemeine Regelung, welche konkreten Rechtsfolgen etwaige Irrtümer für eine Bußgeldverhängung haben, sucht man auf Unionsebene vergeblich. So stellt sich die Frage, ob das aus verschiedenen Mitgliedstaaten bekannte Institut des schuldausschließenden Verbotsirrtums auch im Unionsrecht Geltung erlangen kann, und welche konkreten Anforderungen an dieses zu stellen wären. Dies soll Gegenstand der folgenden Untersuchung sein. ← 1 | 2 →


1 Mit dieser Terminologie Dreher/Thomas, WuW 2004, 8, 12; Klocker, WuW 2002, 1151; Dietrich S. 268 sowie Fn. 29 m. w. N.; sprachlich äquivalent von „Selbstveranlagung“ sprechen: Schwintowski, NZG 2005, 200, 201; Schwintowski/Klaue, WuW 2005, 370; Kaulich S. 25.

2 Schütz in: GK Einführung VO 1/2003 Rn. 12; Sura in: Lange/Bunte EU-KartR VO 1/2003 Art. 1 Rn. 15; Bechtold, BB 2000, 2425, 2426.

3 Schmidt in: Immenga/Mestmäcker EUKartR Art. 1 VO 1/2003 Rn. 17; Dannecker/Biermann in: Immenga/Mestmäcker EUKartR Vorb. zu Art. 23 VO 1/2003 Rn. 156; Klees, Europ. KartellVerfR § 2 Rn. 33.

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1.   Kapitel: Europäisches Recht

A.   Einführung

Zu Beginn dieser Untersuchung soll zunächst ein umfassender Blick auf die Rechtsirrtumsbehandlung auf europäischer Ebene geworfen werden. Das europäische Kartellrecht ist insbesondere aufgrund der sich immer weiter globalisierenden Märkte und der hierdurch gesteigerten Zwischenstaatlichkeit getroffener Maßnahmen von überragender Bedeutung. Insbesondere international agierende Unternehmen sind in den letzten Jahren auch hinsichtlich der europäischen kartellrechtlichen Verhaltensregeln deutlich sensibler geworden. Die in zahlreichen Mitgliedstaaten und insbesondere von der Europäischen Kommission verhängten Rekordbußgelder haben insofern einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Allerdings unterliegen Mitarbeiter, nicht zuletzt aufgrund der nur schwer durchschaubaren europäischen Rechtsmaterie, häufig einem gravierenden Irrtum hinsichtlich der kartellrechtlichen Relevanz ihres Verhaltens.

I.   Problemstellung und Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes

Die Abgrenzung von erlaubtem und wettbewerbswidrigem Verhalten im Kartellrecht ist selten einfach. Ein Unternehmen ist bei der Beurteilung der Vereinbarkeit seines Verhaltens mit den Kartellverboten aus Artt. 101 AEUV und 102 AEUV regelmäßig mit komplexen rechtlichen und ökonomischen Fragestellungen konfrontiert. Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund des Systemwechsels zum Prinzip der Legalausnahme nach Art. 1 VO 1/2003 die Möglichkeit der Einholung eines Negativattests entfallen ist. Unternehmen müssen somit die Legalität ihres Verhaltens regelmäßig selbst einschätzen, ohne dass eine behördliche Prüfung vorangeht. Gleichzeitig sind die verhängten Kartellbußen in den letzten Jahren auf ein derartiges Niveau gestiegen, dass man sie kaum noch von echten Kriminalstrafen unterscheiden kann.4

Aufgrund der beschriebenen rechtlichen Unsicherheiten, des steigenden Ausmaßes der drohenden Kartellbußen und des aufgrund des Systemwechsels deutlich gestiegenen Risikos besteht für Unternehmen das dringende Bedürfnis, in Zweifelsfragen auf internen oder externen Rechtsrat zurückzugreifen.5 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob ein Unternehmen in einem Kartellbußgeldverfahren einwenden kann, dass es aufgrund eines eingeholten falschen Rechtsrats irrtümlich ← 3 | 4 → von der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens ausgegangen ist und somit einem unvermeidbaren, das Verschulden ausschließenden Verbotsirrtum unterlag. Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Vorabentscheidungsverfahrens des österreichischen Obersten Gerichtshofs (OGH). Im Rahmen des Verfahrens hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Gelegenheit, zur grundsätzlichen Anwendbarkeit sowie zu den Voraussetzungen eines Rechtsirrtums in Kartellbußgeldverfahren Stellung zu nehmen.6 Der EuGH entschied, dass der Irrtum eines Unternehmens über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens, der auf dem Inhalt eines Rechtsrates eines Anwalts beruht, der Verhängung einer Geldbuße nicht entgegensteht. Demgegenüber hatte sich Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen für eine generelle Anwendbarkeit der Rechtsfigur des „Verbotsirrtums“ im europäischen Kartellrecht ausgesprochen und konkrete Mindestvoraussetzungen eines berechtigten Vertrauens auf anwaltliche Rechtsauskünfte aufgestellt.7 Die Entscheidung des EuGH wird jedoch überwiegend nicht als generelle Absage an die Geltung des Rechtsinstituts gewertet.8 Diese sei vielmehr einschränkend zu interpretieren, sodass die Frage, inwiefern ein Verschulden von Unternehmen bei einem unvermeidbaren Verbotsirrtum nicht gegeben ist, weiterhin offen sei.9

Die Behandlung des Verbotsirrtums gehört somit weiterhin zu den dogmatisch unsichersten Teilen des europäischen Kartellbußgeldrechts.10 Mit dem Systemwechsel zur Legalausnahme durch die VO (EG) Nr. 1/2003 hat der Verbotsirrtum auch eindeutig an praktischer Bedeutung gewonnen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ← 4 | 5 → wann Unternehmen auf anwaltlichen Rat mit schuldausschließender Wirkung vertrauen dürfen. Ziel dieser Arbeit ist somit zunächst die Darstellung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede und die Erfassung jener Anhaltspunkte, die für oder gegen eine grundsätzliche Anwendbarkeit des schuldausschließenden Verbotsirrtums im europäischen Kartellbußgeldrecht sprechen. Hierfür erscheint, neben einer Untersuchung des europäischen Kartellbußgeldrechts, ein Rückgriff auf die deutsche und die französische Rechtsordnung sinnvoll, da gerade diese hinsichtlich des untersuchten Problembereichs stark abweichende Lösungsansätze verfolgen. Rückhalt für eine etwaige Anerkennung des Rechtsinstituts könnten auch die den Mitgliedstaaten gemeinsamen (strafrechtlichen) Rechtsgrundsätze bieten, die auch an anderer Stelle bereits zur Lückenschließung herangezogen wurden. Es gilt, die allgemeine Geltung solcher Grundsätze, insbesondere die des Schuldprinzips, im europäischen Kartellbußgeldrecht bereits als Vorfrage zu klären.

In einem zweiten Schritt, als Schwerpunkt dieser Untersuchung, ist es erforderlich, die Mindestanforderungen, die an einen vertrauenswürdigen Anwaltsrat geknüpft werden sollten, herauszuarbeiten. Hierbei sollen die wesentlichen Einzelvoraussetzungen eines berechtigten Vertrauens auf Expertenrat ermittelt werden, die geeignet sind, eine rechtsmissbräuchliche Berufung auf einen Verbotsirrtum zu unterbinden. Hier gilt es, die von Generalanwältin Kokott aufgestellten Kriterien zu präzisieren und die aus den untersuchten Rechtsordnungen gewonnenen Erkenntnisse, soweit übertragbar, heranzuziehen. Dies schließt ebenfalls die Beantwortung noch ungeklärter Fragen ein. Darunter fallen etwa die Reichweite und die Grenzen rechtlicher Expertise bei der Untersuchung von Sachverhalten, die neben detaillierten Rechtskenntnissen auch einen ausgeprägten ökonomischen Sachverstand erfordern. Klärungsbedarf besteht auch hinsichtlich der konkreten Modalitäten der Auskunftserteilung. Neben den Anforderungen, die an eine auskunftsgebende Person zu stellen sind, gilt es zu klären, ob stets ein ausführliches Rechtsgutachten erforderlich ist, oder ob mündliche Stegreifauskünfte mitunter ausreichen können. Zudem ist fraglich, ob der mit der Erstellung eines rechtlichen Gesamtkonzepts betraute Anwalt auch dessen anschließende Prüfung vornehmen darf.

Zusammenfassend gilt es somit, zunächst die Grundsatzfrage zu klären, ob im europäischen Wettbewerbsrecht das aus dem allgemeinen deutschen Strafrecht bekannte Institut des schuldausschließenden Verbotsirrtums auch auf europäischer Ebene anerkannt werden muss. Dieses Problem hat der Gerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung nämlich allenfalls gestreift11, aber niemals eingehend behandelt.12 Sollte diese Untersuchung zum Ergebnis gelangen, dass das Institut des ← 5 | 6 → schuldausschließenden Verbotsirrtums im Unionskartellrecht anerkannt werden sollte, ist in einem zweiten Schritt zu erörtern, welchen Sorgfaltspflichten ein Unternehmen genügt haben muss, damit angenommen werden kann, dass es sich im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit seiner Vereinbarungen oder seiner Verhaltensweisen in einem unvermeidbaren (nicht vorwerfbaren) und damit schuldausschließenden Verbotsirrtum befand und somit für sein Kartellvergehen bußgeldrechtlich nicht belangt werden kann. Die Untersuchung soll sich hierbei, aufgrund der gesteigerten praktischen Relevanz, ganz bewusst lediglich auf solche Fälle konzentrieren, in welchen der Irrtum des Unternehmens auf einer fehlerhaften Rechtsauskunft eines Rechtsberaters beruht hat. Im Einzelnen gilt es hierbei zu erörtern, ob und unter welchen Voraussetzungen das Vertrauen des betroffenen Unternehmens auf den anwaltlichen Rat zur Annahme führen kann, dass ein etwaiger Verbotsirrtum dem Unternehmen nicht vorzuwerfen ist und inwiefern es deshalb von kartellrechtlichen Sanktionen verschont bleiben muss.

II.   Die Sanktionsmöglichkeiten im europäischen Kartellrecht

Sanktionen können zunächst aufgrund des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verhängt werden. Die materiellen kartellrechtlichen Kernbestimmungen, Art. 101 AUEV und Art. 102 AEUV, verfolgen das Ziel, den Binnenmarkt von allen Beschränkungen des Wettbewerbs freizuhalten, die von den Unternehmen selbst ausgehen.13 Hiernach sind sowohl wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen14 als auch der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verboten. Zur Durchsetzung der in diesen zentralen Vorschriften normierten Grundsätze und Verbote wurde der Rat in Art. 103 Abs. 2 lit. a AEUV dazu ermächtigt und verpflichtet, zweckdienliche Verordnungen oder Richtlinien zu erlassen, um die „Beachtung der in [Artikel 101 Abs. 1 und Artikel 102 AEUV] genannten Verbote durch die Einführung von Geldbußen […] zu gewährleisten“.15 Dies geschah zunächst durch den Erlass der ersten Durchführungsverordnung Nr. 17/6216, an deren Stelle nunmehr die VO 1/2003 getreten ist. Die VO 1/2003 enthält einen umfassenden Katalog an Verwaltungssanktionen. Die Kommission kann bei Zuwiderhandlungen gegen Artt. 101 und 102 AEUV gemäß Art. 7 Abs. 1 S. 2 VO 1/2003 die Beteiligten – im Rahmen eines objektiven ← 6 | 7 → und damit verschuldensunabhängigen Verfahrens – zunächst dazu verpflichten, die Zuwiderhandlung abzustellen.17 Sollte diese bereits beendet18 sein, kann sie nachträglich gemäß Art. 7 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 isoliert feststellt werden.19 Daneben kann die Kommission in dringenden Fällen einstweilige Maßnahmen gemäß Art. 8 VO 1/2003 anordnen oder gem. Art. 9 Abs. 1 VO 1/2003 Verpflichtungszusagen der Unternehmen für bindend erklären. Zur Durchsetzung dieser förmlich entschiedenen Verwaltungssanktionen ist die Kommission gemäß Art. 24 Abs. 1 VO 1/2003 dazu ermächtigt, gegen sich widersetzende Unternehmen Zwangsgelder zu verhängen.

Daneben besteht die Möglichkeit der Verhängung von Bußgeldern. Von besonderer Relevanz im Rahmen der Irrtumsproblematik sind die Geldbußen nach Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003. Hiernach kann die Kommission gegen Unternehmen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn diese vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 81 oder Art. 82 (nunmehr Art. 101 AEUV und Art. 102 AEUV) des Vertrags verstoßen. Mit Art. 23 Abs. 4 VO 1/2003 wurde eine neue Regelung eingeführt, die die Ausfallhaftung von Mitgliedern einer Unternehmensvereinigung ermöglicht.20 Nach Art. 23 Abs. 4 S. 2 VO 1/2003 ist die Kommission berechtigt, für den Fall, dass die Beiträge nicht innerhalb der gesetzten Frist geleistet werden, die Zahlung der Geldbuße unmittelbar von jedem Unternehmen zu verlangen, dessen Vertreter Mitglied in den betreffenden Entscheidungsgremien der Vereinigung waren. Die Zahlungspflicht entfällt jedoch nach Art. 23 Abs. 4 S. 4 VO 1/2003, wenn die betroffenen Unternehmen geltend machen können, dass sie (erstens) den die Zuwiderhandlung begründenden Beschluss nicht umgesetzt haben und (zweitens) entweder von dem Beschluss keine Kenntnis hatten oder sich aktiv davon distanziert hatten, bevor die Kommission die Untersuchung des Falls eingeleitet hat.21

Auch im Bereich der Fusionskontrolle sind Bußgeldsanktionen für rechtswidrige Verhaltensweisen vorgesehen. Die Behandlung der Irrtumsproblematik in diesem Bereich ist jedoch aufgrund der dort regelmäßig durchgeführten „informal guidance“ schwer nachzuvollziehen. Den Beteiligten eines Zusammenschlusses wird hierbei bereits vor der Anmeldung Gelegenheit zu informellen und vertraulichen Gesprächen gegeben, bei welchen das Zusammenschlussvorhaben an die rechtlichen Erfordernisse angepasst werden kann.22 Aufkommende Irrtümer werden somit regelmäßig bereits im Vorfeld einer förmlichen Anmeldung ausgeräumt und spielen demnach im Rahmen der Verhängung von Sanktionen allenfalls eine untergeordnete Rolle. ← 7 | 8 →

III.   Das Bußgeldverfahren und die Verfahrensbeteiligten

Nach Art. 5 VO 1/2003 ist einzig die Europäische Kommission und innerhalb dieser die Generaldirektion Wettbewerb für die Sanktionierung kartellrechtswidrigen Verhaltens auf EU-Ebene als Wettbewerbsbehörde zuständig.23 Daneben können auch die nationalen Kartellbehörden, unter Beachtung des Vorrangs der Maßnahmen der Kommission, die Wettbewerbsregeln anwenden (sog. System der parallelen Anwendung).24 Bei dem Sanktionsverfahren zur Verhängung von Geldbußen und Zwangsgeldern handelt es sich nach ständiger Auffassung des EuGH nicht um ein Gerichts-, sondern um ein Verwaltungsverfahren.25 Die Kommission trifft ihre Entscheidung, ob sie ein Bußgeld festsetzt, von Amts wegen nach dem Opportunitätsprinzip.26 Hierbei hat sie sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen, wonach sie von der Festsetzung eines Bußgeldes selbst dann absehen kann, wenn alle Voraussetzungen eines Verstoßes erfüllt sind.27 Weitere Einzelheiten des Verfahrens sind in der Durchführungsverordnung VO (EG) Nr. 773/200428 geregelt, die aufgrund der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 1 VO 1/2003 von der Kommission erlassen wurde. Als Sanktionsadressaten kommen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen in Betracht, nicht hingegen natürliche Personen.29 Dessen ungeachtet ist jedoch im Rahmen der Schuldfrage gerade auf diese abzustellen.30 Denn ihre Kenntnis oder ihr Kennenmüssen wettbewerbsbehindernder Vereinbarungen oder Beschlüsse ist den Unternehmen zuzurechnen. Auf etwaige Zurechnungsfragen soll jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt eingegangen werden.31

Die Rechtsschutzmöglichkeiten zur gerichtlichen Nachprüfung von Sanktionsentscheidungen richten sich nach Art. 31 VO 1/2003. Hiernach wird der EuGH ← 8 | 9 → zur unbeschränkten Nachprüfung der Buß- bzw. Zwangsgeldentscheidungen der Kommission ermächtigt.32 Infolge der Errichtung des EuG durch Ratsbeschluss vom 24.10.1988 ist das Gericht erster Instanz für Klagen gegen Zwangsmaßnahmen der Kommission im ersten Rechtszug zuständig.33 Die Kommissionsentscheidungen werden hierbei sowohl auf ihre Rechts- als auch auf ihre Zweckmäßigkeit hin überprüft.34 Das EuG kann hierbei sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Kommission setzen und ist nicht auf die Prüfung von Ermessensfehlern beschränkt.35 Zudem besteht kein Verbot der reformatio in peius, sodass insbesondere verhängte Bußgelder im Rahmen der Überprüfung sowohl herabgesetzt als auch erhöht werden können.36 Das Rechtsmittelgericht gegen Entscheidungen des EuG ist der EuGH. Die Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidungen des EuG beschränkt sich im Rahmen der Rechtsmittelinstanz wiederum auf eine Rechtskontrolle.37 Für kartellrechtliche Vorlagefragen der nationalen Gerichte nach Art. 267 AEUV bleibt der EuGH jedoch ausschließlich zuständig.38 Im Rahmen der Bestandsaufnahme der für die Irrtumsbehandlung im EU-Kartellrecht relevanten Entscheidungspraxis sind somit neben den Entscheidungen der Kommission auch die des EuG und des EuGH von besonderer Bedeutung.39

IV.   Rechtsirrtümer unter der VO (EG) Nr. 1/2003

Kernstück der VO 1/2003 und der hiermit bezweckten Modernisierung des europäischen Kartellverfahrensrechts war der Wechsel vom bisherigen Anmelde- und Genehmigungssystem zum System der Legalausnahme.40 Nach dem unter der VO 17/62 bis zum 1.5.2004 geltenden Verbot mit Vorbehalt der Administrativerlaubnis hatten Unternehmen die Möglichkeit, eine Entscheidung der Kommission darüber zu beantragen, ob sich ihre Aktivitäten im Einklang mit den Wettbewerbsregeln ← 9 | 10 → befanden oder nicht.41 Zunächst konnte die Kommission auf Antrag wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen durch Erlass von Einzelfreistellungsentscheidungen nach Art. 81 Abs. 3 EG (nunmehr Art. 101 Abs. 3 AEUV) vom grundsätzlichen Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG (nunmehr Art. 101 Abs. 1 AEUV) ausnehmen. Die Einzelfreistellungen waren auch für die nationalen Behörden und Gerichte rechtlich verbindlich, und bereits die Anmeldung zu ihrer Erteilung vermochte gemäß Art. 15 Abs. 5 VO 17/62 das Privileg der Bußgeldimmunität bis zur endgültigen Kommissionsentscheidung zu begründen.42 Daneben konnte die Kommission nach Art. 2 der VO 17/62 mit Erlass eines sog. Negativattests verbindlich feststellen, dass auf der im Zeitpunkt der Antragstellung bekannten Tatsachengrundlage kein Anlass zum Einschreiten gegen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen oder Beschränkungen bestand.43 Für den Erlass solcher Freistellungsentscheidungen war ausschließlich die Europäische Kommission zuständig.44 Dieses Freistellungsmonopol führte jedoch aufgrund eines systematischen Anmeldeverhaltens der betroffenen Unternehmen schnell zu einer chronischen Überlastung der innerhalb der Kommission zuständigen Generaldirektion für Wettbewerb.45 Um die Flut der Anmeldungen zu reduzieren, ergriff die Kommission im Laufe der Zeit eine Reihe von Eindämmungsmaßnahmen. Zum einen wurde der Begriff der „spürbaren Beeinträchtigung des Wettbewerbs“ eingeführt, der durch den mehrfachen Erlass von sog. Bagatellbekanntmachungen konkretisiert wurde.46 Zum anderen versuchte die Kommission mit Hilfe von Gruppenfreistellungsverordnungen, die Zahl der Freistellungsanträge zu reduzieren.47 Zudem griff die Kommission vermehrt auf Verwaltungsschreiben, sog. „comfort letters“, zurück, um die Bearbeitung der unerledigten Anträge zu beschleunigen. Im Jahre 2002 wurden weit über neunzig Prozent der angemeldeten Fälle mit dieser Mischung aus Negativattest und Freistellungserklärung abgeschlossen, obwohl diese Form der Erledigung eigentlich rechtlich nicht vorgesehen war.48 Diese Praxis ging jedoch auch mit wesentlichen Nachteilen einher. Mangels einer Veröffentlichung im Amtsblatt vermochten die Verwaltungsschreiben einen mit den Freistellungsentscheidungen vergleichbaren Grad an Öffentlichkeit und Transparenz nicht zu erreichen.49 Auch entfalteten diese nicht die konstitutive Wirkung der Freistellungsentscheidungen und boten aufgrund ihrer mangelnden Verbindlichkeit gegenüber nationalen Gerichten und ← 10 | 11 → Behörden noch weniger Rechtssicherheit als die Negativatteste. Trotz aller Maßnahmen konnte die Kommission auf die Flut der Anmeldungen nur noch reagieren statt zu agieren und konnte sich nur selten auf die Ermittlung und Verfolgung besonders schwerwiegender und bedeutsamer Wettbewerbsverstöße konzentrieren.50 Um diese rechtlichen und praktischen Probleme zu überwinden, den Herausforderungen des Binnenmarktes und einer künftigen Erweiterung der Gemeinschaft gerecht zu werden, optierte man für einen radikalen Wechsel zum System der Legalausnahme.51

1.   Das System der Legalausnahme (Art. 1 VO 1/2003)

Nach dem nunmehr geltenden System der Legalausnahme sind Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Art. 101 AEUV unmittelbar mit ihrem Abschluss wirksam, soweit sie die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands von Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen.52 So wurde das bisherige, zentrale Anmeldesystem mit Wirkung vom 01.05.2004 in ein Legalausnahmesystem umgewandelt und das Freistellungsmonopol der Kommission aufgegeben.53 Vereinbarungen und Verhaltensweisen der Unternehmen, die in den Anwendungsbereich des Kartellverbots fallen, sind nach Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003 unmittelbar und ohne vorherige Anmeldung oder Freistellungsentscheidung der Kartellbehörden wirksam, wenn sie die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands von Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen.54 Die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte sind nunmehr neben der Kommission zur unmittelbaren Anwendung des Ausnahmetatbestands vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 3 AEUV berechtigt und verpflichtet.55 Auch die Möglichkeit der Einholung eines Negativattests ist unter der neuen VO Nr. 1/2003 weggefallen.

Nach Art. 10 S. 1 VO 1/2003 kann die Kommission von Amts wegen per Entscheidung feststellen, dass Art. 101 AEUV des Vertrags auf eine Vereinbarung, einen Beschluss oder eine abgestimmte Verhaltensweise keine Anwendung findet, soweit dies aus Gründen des öffentlichen Interesses der Gemeinschaft im Bereich der Anwendung von Art. 101 AEUV erforderlich ist. Dies gilt nach Art. 10 S. 2 VO 1/2003 hinsichtlich des Art. 102 AEUV entsprechend. Hiermit wurden beide unter der VO 17/62 geltenden Positiventscheidungen, die Einzelfreistellung und das Negativattest, in einer Vorschrift vereinigt.56 Daneben kann die Kommission auf Ersuchen von Unternehmen ← 11 | 12 → mittels formloser Beratungsschreiben – sog. guidance letters – zu neuen oder ungelösten Fragen in Bezug auf die Anwendung der Wettbewerbsregeln Stellungnahmen abgeben.57 Der Anwendungsbereich dieser informellen Beratungsmöglichkeit ist jedoch sehr begrenzt, da die Kommission eine Beratung auf Vereinbarungen und Verhaltensweisen beschränkt, die von ökonomischer Bedeutung für die Verbraucher sind, im Markt verbreitet sind oder eine solche Verbreitung zumindest erwarten lassen und sofern die geplanten Maßnahmen relativ hohe Investitionen erfordern.58

2.   Die Systemimmanenz der Irrtumsproblematik unter der VO (EG) Nr. 1/2003

Weder in der VO 17/62, noch in der nunmehr geltenden VO 1/2003 ist eine allgemeine Regelung darüber enthalten, welche konkreten Rechtsfolgen etwaige Tatsachen-oder Rechtsirrtümer59 auf eine Bußgeldverhängung haben. Eine Sonderregelung bestand bislang lediglich in der sog. de-minimis-Bekanntmachung, wonach ein Bußgeld nicht zu verhängen war, wenn ein Unternehmen im guten Glauben gehandelt hatte, dass seine Vereinbarung in den Anwendungsbereich dieser Bekanntmachung fällt.60 Nach der bisher unter der VO 17/62 geltenden Rechtslage war das Fehlen einer solchen Irrtumsregelung nur von geringer Bedeutung, da sich betroffene Unternehmen mit Hilfe von Freistellungentscheidungen und Negativattesten weitgehend Klarheit über die Rechtslage verschaffen konnten.61 Durch den Systemwechsel wurde die Diskussion um die Behandlung von Rechts- und Tatsachenirrtümern im Bußgeldrecht jedoch neu belebt. Die geplanten Reformen und insbesondere die vorgesehene Verlagerung der Verantwortlichkeit auf die Kartellrechtsadressaten wurden dabei überwiegend kritisch beurteilt.62 Im Vordergrund dieser Kritik stand ← 12 | 13 → neben der für die Kartellrechtsadressaten erheblich gestiegenen Rechtsunsicherheit die Aufgabe der Differenzierung zwischen vertikaler und horizontaler Wettbewerbskontrolle und eine die Unternehmen aufgrund der nunmehr geltenden Selbsteinschätzung drohende Überforderung.63 Letzterem zufolge sollen die Unternehmen entsprechend dem System der Legalausnahme die alleinige Verantwortung dafür tragen, dass ihre Vereinbarungen wettbewerbsrechtlich unbedenklich und somit im Einklang mit den kartellrechtlichen Bestimmungen stehen (sog. kartellrechtliche Selbsteinschätzung64).65 Dies führt für die Kartellrechtsadressaten zumindest im Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV – die Rechtslage bei Art. 102 AEUV bleibt insofern überwiegend unverändert66 – zu einer erheblichen Steigerung der Eigenverantwortlichkeit bei der Beurteilung der Kartellrechtsvorschriften. Demgegenüber ist die zuverlässige Möglichkeit, sich durch Anmeldung der Vereinbarung vor dem Risiko der Verhängung einer Geldbuße zu schützen, weggefallen.67 Unter dem neuen Legalausnahmesystem gibt es für betroffene Unternehmen demnach keine Möglichkeit mehr, sich durch eigenes Tun vor der Verhängung einer Geldbuße zu schützen.68 Um einen gewissen Grad an Rechtssicherheit zu erlangen, bleibt den Kartellrechtsadressaten somit regelmäßig nur der Gang zum Rechtsberater.69 Die Konsultation eines Rechtsberaters ist folglich unter der nunmehr geltenden Rechtslage heute für Unternehmen häufig der einzige Weg, sich umfassend über die kartellrechtliche Rechtslage zu informieren und einem Verstoß gegen die kartellrechtlichen Bestimmungen vorzubeugen.70 Denn die bestehende Möglichkeit, bei der Kommission durch informelle Beratungsschreiben Stellungnahmen zu bestimmten ← 13 | 14 → neuartigen Fragen einzuholen sowie die in Art. 10 VO 1/2003 vorgesehenen Positiv­atteste stellen keine gleichwertige Möglichkeit zur Erlangung von Rechtssicherheit dar.71 Zum einen haben die betroffenen Unternehmen keinen Anspruch auf den Erlass solcher Atteste und Rechtsauskünfte.72 Zum anderen ergehen solche Auskünfte nur unter bestimmten, engen Voraussetzungen, sodass insbesondere die Möglichkeit der informellen Beratung bei neuartigen und noch ungelösten Fragen durch Beratungsschreiben in der Praxis kaum Relevanz zukommt.73 Zudem gilt die Orientierungsfunktion dieser Beratungsschreiben nur für die Zukunft, sodass diese für den Zeitraum zwischen Beginn der Praktizierung und dem Erlass der Entscheidung keinen verlässlichen Schutz vor potentiellen Bußgeldern bieten.74 Schließlich haben die Beratungsschreiben auch keine Freistellungswirkung, sondern stellen lediglich informelle Rechtsauskünfte dar, die nicht einmal die Kommission für die Zukunft zu binden vermögen.75 Die nationalen Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten sind ohnehin nicht an diese gebunden.76

Die Irrtumsproblematik wird aufgrund der gestiegenen Rechtsunsicherheit somit gewissermaßen systemimmanent77 und hat unter dem neuen Legalausnahmesystem erheblich an praktischer Bedeutung gewonnen.78 Dies gilt insbesondere für die Anwendung des Art. 101 Abs. 3 AEUV, die eine komplexe Beurteilung auch ökonomischer Sachverhalte erfordert, wofür die Rechtsprechung der Kommission bisher einen weiten Beurteilungsspielraum eingeräumt hat.79 Teilweise wurde sogar vertreten, dass diese Bestimmung nur schwer oder gar nicht justiziabel sei.80 Somit wird der erhebliche Prüfungsaufwand von „komplexen wirtschaftlichen ← 14 | 15 → Bewertungen“81, der ursprünglich in den Aufgabenbereich der Kommission fiel, auf die betroffenen Unternehmen verlagert, obgleich sogar das EuG und der EuGH eine nur sehr eingeschränkte Überprüfbarkeit der zugrundeliegenden Maßstäbe für möglich halten.82 Bei der Kontrolle von Kommissionsentscheidungen beschränken sich das EuG und der EuGH nämlich auf die Prüfung, „ob die Verfahrens- und Begründungsregeln beachtet wurden, ob der Tatbestand richtig festgestellt wurde, ob kein offenkundiger Beurteilungsfehler und kein Ermessensfehlgebrauch“83 vorlag. Aus diesem Grunde wird zum Teil verlangt, dass den Unternehmen unter dem neuen Legalausnahmesystem ein vergleichbarer Beurteilungsspielraum zugestanden werden müsse.84 Zudem soll im Hinblick auf die sehr unbestimmten Tatbestandsmerkmale des Art. 101 Abs. 3 AEUV eine Geldbuße nur dann verhängt werden, wenn das fragliche Verhalten offensichtlich und eindeutig nicht mehr von der Legalausnahme gedeckt ist.85 Denn nur eine derartige Anwendung des Bußgeldtatbestandes ist mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar. In diese Richtung geht auch die Bekanntmachung der Kommission über informelle Beratung, wonach über symbolische Beträge hinausgehende Geldbußen nur dann verhängt werden sollen, wenn aus allgemeinen Texten, der Rechtsprechung des Gerichtshofs oder der Entscheidungspraxis der Kommission hervorgeht, dass ein bestimmtes Verhalten eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV darstellt.86 Allerdings steht das Bestimmtheitsgebot wohl der Verhängung von „symbolischen Geldbußen“ auch in nicht offensichtlichen und nicht eindeutigen Fällen entgegen.87 Denn gerade in Grenzfällen und bei präzedenzlosen Sachverhalten wird das Einschätzungs- und Umsetzungsrisiko – angesichts der praktisch schwierigen Anwendung des eher ← 15 | 16 → unbestimmten, teilweise als Generalklausel formulierten Art. 101 Abs. 3 AEUV – besonders hoch sein.88

Jedenfalls bedarf es künftig vor jeder Ergreifung eines potentiell kartellrechtlich relevanten Schrittes einer noch sorgfältigeren vorherigen kartellrechtlichen Analyse durch die handelnden Marktteilnehmer, die neben spezialisierten Anwaltskanzleien aus Praktikabilitäts- und Kostengründen vor allem die unternehmensinternen Rechtsabteilungen leisten werden.89 Wenn die betroffenen Unternehmen nunmehr die Sach- und Rechtslage im Rahmen der Selbsteinschätzung mit der ihnen zumutbaren Sorgfalt prüfen und gegebenenfalls geeigneten Rechtsrat einholen müssen, stellt sich die Frage, ob ihnen eine dennoch vorliegende Fehlbeurteilung von Sachverhalten (z. B. bei der Ermittlung von Marktanteilen) und Rechtsfragen vorgeworfen werden kann, und wenn ja, wie dieser erheblichen Steigerung der Verantwortlichkeit bei der Würdigung von Rechtsirrtümern Rechnung getragen werden kann.90 Denn betroffene Unternehmen laufen hierdurch zwangsläufig größere Gefahr, einem Irrtum zu unterliegen.91 So stellt sich in einem weiteren Schritt die Frage, ob ein Unternehmen, das vor der beanstandeten Handlung nachweisbar unter Einsatz aller seiner (internen) Mittel derart gründliche rechtliche Überlegungen angestellt hat und dabei irrtümlich zu dem Ergebnis kam, seine Planung sei rechtlich unbedenklich, nicht materiell ohne Verschulden handelt und schon deswegen nicht mit einer Geldbuße belegt werden darf.92 In der zur VO 17/62 ergangenen kartellrechtlichen Spruchpraxis des EuGH und der Kommission ist der Verbotsirrtum, auch unter Einschaltung hausinterner Rechtsberater, Compliance-Bemühungen oder externer Berater, wiederholt als unbeachtlich eingestuft worden.93 Im Schrifttum ist demgegenüber aufgrund der gestiegenen Rechtsunsicherheit die bußgeldimmunisierende Wirkung eines (unvermeidbaren) Verbotsirrtums wiederholt gefordert worden.94 Ein Unternehmen sollte sich entlasten können, wenn es auf gesicherter ← 16 | 17 → Tatsachengrundlage durch einen (im Kartellrecht erfahrenen externen und unabhängigen) Rechtsberater die Rechtmäßigkeit der fraglichen Vereinbarung oder Verhaltensweise bestätigt bekommen hat.95 An Aktualität gewann diese Frage zuletzt durch die in der Rechtssache „Schenker & Co. u. a.“ ergangene Entscheidung des EuGH.96 Ob diese Entscheidung als definitive Absage zu der von Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen97 entwickelten Figur des kartellrechtlichen Verbotsirrtums gewertet werden kann oder ob die Frage, ob und unter welchen konkreten Voraussetzungen ein unvermeidbarer Verbotsirrtum beachtlich ist, weiterhin offen ist, soll jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt thematisiert werden.98

V.   Rechtsvergleichende Analyse

Die vorliegende Analyse bedient sich in ihrem methodischen Vorgehen der Rechtsvergleichung. Zunächst soll die Bedeutung der Rechtsvergleichung im nationalen und im europäischen Wettbewerbsrecht skizziert und die Eignung dieser Methodik für die vorliegende Untersuchung überprüft werden. Anschließend wird dargelegt, aus welchem Grund gerade die Heranziehung der deutschen und der französischen Rechtsordnung für diese Untersuchung besonders geeignet erscheint. Abschließend soll das im Rahmen dieser Untersuchung konkret gewählte methodische Vorgehen skizziert werden.

1.   Die Bedeutung und die Eignung der Rechtsvergleichung im europäischen Wettbewerbsrecht

Obwohl die europäischen Vertragsvorschriften grundsätzlich ein kohärentes Ganzes bilden und auch meist einen stringenten Gedankengang aufweisen, erreichen sie nicht den Grad an Vollkommenheit, den der Rechtsanwender von den ← 17 | 18 → nationalen Rechtsordnungen gewohnt ist.99 Vielmehr weisen diese Regelwerke einen ausgeprägten Kompromisscharakter auf, da sie von „politisch taktierenden Vertragsparteien“100 mit unterschiedlichen Vorgaben in den Herkunftsländern erarbeitet worden sind.101 Die hierdurch häufiger als in anderen Rechtsordnungen auftretenden Regelungslücken machen deshalb einen Rückgriff auf das Recht der Mitgliedstaaten unerlässlich.102 So kann bei der vorliegenden Untersuchung nicht auf einen allgemeinen Teil eines europäischen Bußgeldrechts zurückgegriffen werden.103

Die Methodik der rechtsvergleichenden Auslegung, die eine vergleichende Analyse von Begriffen und Rechtsinstituten aus der gemeinsamen juristischen Tradition einiger oder aller Mitgliedstaaten voraussetzt, dient dem EuGH jedoch nur als Ausgangspunkt für ein eigenständiges, an den europarechtlichen Zielen orientiertes gesamteuropäisches Begriffsverständnis.104 Die Heranziehung von Begriffen und Rechtsinstituten der Mitgliedstaaten als Auslegungshilfe bei offenen Rechtsfragen dient dem EuGH insbesondere im Bereich des Kartellordnungswidrigkeitenrechts grundsätzlich nur als weitere Orientierungshilfe.105 Die Ergebnisse, die im Rahmen der Rechtsvergleichung erzielt werden, erfordern ihrerseits eine Bewertung, die wiederum nur mittels einer am Sinn und Zweck der Norm orientierten Würdigung erfolgen kann.106 Für die Auslegung von europarechtlichen Vorschriften ist kennzeichnend, dass der EuGH eine autonome europä­ische Interpretation vornimmt, die durch eine weitgehende Loslösung von dem Verständnis rechtlicher Begriffe und Institute in den Mitgliedstaaten der Union geprägt ist.107 Der EuGH sieht die nationalen Rechtsordnungen somit nur als informative Erkenntnisquellen an, die lediglich denkbare Lösungsmöglichkeiten für das Unionsrecht liefern.108 Hierbei können auch einzelne Elemente mitgliedstaatlicher Lösungen zu einem eigenständigen unionsrechtlichen Ansatz synthetisiert werden.109 ← 18 | 19 →

2.   Der Kreis der zu untersuchenden Rechtsordnungen

Da die Rechtsentwicklung im Unionsrecht der Verwirklichung und Vertiefung der Integration der Mitgliedstaaten dient, erscheint es sinnvoll, den Kreis der zu untersuchenden Rechtsordnungen auf die Mitgliedstaaten der Union zu begrenzen.110 Eine umfassende Analyse aller europäischen Mitgliedstaaten würde jedoch den Umfang der vorliegenden Arbeit sprengen, sodass eine sinnvolle Auswahl geboten ist.

Die Bedeutung des deutschen Rechts ergibt sich bereits daraus, dass die wettbewerblichen Geldbußen des Unionsrechts eine ähnliche Rechtsnatur aufweisen wie die entsprechenden deutschen.111 Dies erfordert eine eingehende Darstellung der Lehre zum Verbotsirrtum im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht. Der Verbotsirrtum ist dort ausdrücklich in § 11 OWiG kodifiziert. Die Spruchpraxis zum deutschen Kartellbußgeldrecht erkennt ein solches Irrtumsprivileg unter bestimmten Voraussetzungen seit langem an. Auch die hier im Fokus stehende Frage nach den Voraussetzungen des auf einem Rechtsrat beruhenden Verbotsirrtums wurde bereits sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung eingehend behandelt. Hierbei kann aufgrund der Ähnlichkeit zum Kriminalstrafrecht und zum Organhaftungsrecht auf die dortige Rechtsprechung und die in diesem Zusammenhang entwickelten Lösungsansätze112 weitgehend zugrückgegriffen werden.

Das französische Recht ist insofern von besonderer Relevanz, als Frankreich immer noch eines der bedeutendsten Gründungsmitglieder der Union darstellt. Das dort einschlägige Kartellbußgeldrecht unterscheidet sich hierbei wesentlich vom deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht, sodass eine rechtsvergleichende Betrachtung zur Ermittlung von alternativen Lösungsansätzen besonders geeignet erscheint. Hier nimmt das französische Recht eine Sonderstellung ein, weil dort zum einen ein reines Verwaltungsstrafrecht existiert und zum anderen einzelne Straftatbestände in verschiedenen Bereichen auch verschuldensunabhängig geahndet werden können.113 Das französische Wettbewerbsrecht hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten erheblich demjenigen der Europäischen Union angenähert, sodass eine Heranziehung von französischen Lösungsansätzen insbesondere im Bereich des Verbotsirrtums durchaus in Erwägung gezogen werden kann. Der Verbotsirrtum galt in Frankreich auch im Kriminalstrafrecht lange als grundsätzlich unbeachtlich. Frankreich hat diesen jedoch im Rahmen der großen Strafrechtsreform von 1994 nunmehr als möglichen Schuldausschließungsgrund kodifiziert (sog. „erreur de droit“ ).114 Auch in der einschlägigen Rechtsprechung wird der Verbotsirrtum, nach ← 19 | 20 → der ausdrücklichen Kodifizierung, als grundsätzlich beachtlich angesehen, wobei ein etwaiger Irrtum bisher nur unter strengen Voraussetzungen für unvermeidbar gehalten wird.115 Insbesondere vermag der fehlerhafte Rechtsrat eines Anwalts noch kein berechtigtes Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens zu begründen, sodass ein darauf beruhender Irrtum für vermeidbar gehalten wird.

3.   Konkretes methodisches Vorgehen

Um eine tragbare unionsrechtliche Lösung zu ermitteln, müssen zunächst die herangezogenen nationalen Rechtsordnungen auf eine Lösung der Irrtumsproblematik hin untersucht werden.116 Hierbei wird sich die Arbeit im Rahmen der Untersuchung des französischen Rechts auf eine Sammlung der durch die nationalen Juristen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Lehre gefundenen Ergebnisse beschränken müssen, da diese mit ihrer Rechtsordnung am vertrautesten sind.117 Hierdurch können Irrtümer und Fehler bei der Interpretation der fremden Rechtsordnung am effektivsten vermieden werden.118 Dabei ist ebenfalls zu beachten, dass der französischen Rechtsordnung nicht die eigene, nationale Begriffswelt aufgezwungen, sondern ihr losgelöst von dogmatischen Vorurteilen gegenübergetreten wird.119 Die Darstellung nationaler Problemlösungen ist somit stets so darzustellen, dass sie nach Möglichkeit von allen Begriffen einer rein nationalen Dogmatik befreit ist, um das Wesen der einzelnen Regelungen erkennen und sachgerecht beurteilen zu können.120

Im Schlusskapitel sollen abschließend, soweit dies nicht bereits durch die nuancierte Darstellung der unterschiedlichen Lösungsansätze innerhalb der einzelnen Rechtsordnungen erfolgt ist, die unterschiedlichen Problemlösungen zueinander in Beziehung gesetzt und ihre Unterschiede herausgearbeitet werden.121 Schließlich soll in einem letzten Schritt eine Wertung vorgenommen122 und danach gefragt werden, welche der ermittelten Lösungssequenzen im Hinblick auf Ziele und Struktur der Union in einem unionsrechtlichen Ansatz Verwendung finden können. Dies schließt insbesondere etwaig durch Lehre und Rechtsprechung entwickelte Kriterien zum ← 20 | 21 → Vertrauen auf Rechtsrat ein. Als Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit gilt es ebenfalls, diese Kriterien zu konkretisieren und, falls erforderlich, zu erweitern.

Details

Seiten
XVI, 263
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631735046
ISBN (ePUB)
9783631735053
ISBN (MOBI)
9783631735060
ISBN (Hardcover)
9783631734667
DOI
10.3726/b11825
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Schuldgrundsatz Rechtsrat Wettbewerbsverstöße Unionsrecht Rechtsvergleich Geldbuße
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. XVI, 263 S.

Biographische Angaben

Raffaele Mazza (Autor:in)

Raffaele Mazza studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Trier und Sheffield (UK) mit Fachspezifischen Fremdsprachenausbildungen im englischen, französischen und italienischen Recht. Sein Referendariat absolvierte er in Berlin, wo er an der Freien Universität promoviert wurde und als Wirtschaftsanwalt tätig ist.

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Titel: Verbotsirrtum und Vertrauen auf Rechtsrat im europäischen Kartellrecht
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