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Ali bin Abi Talib (gest. 661)

Leben, Legende und Rezeption bei Aleviten, Schiiten und Sunniten

von Murat Bagriacik (Autor:in)
©2020 Monographie 530 Seiten

Zusammenfassung

Ali bin Abi Talib (gest. 661) gilt bei Aleviten, Schiiten und Sunniten als charismatische Männergestalt. Als Wegbegleiter des Propheten Muhammad wurde er Verheißungen zuteil. Diese Umstände sorgten später im fiktiven Bewusstsein einiger Kreise dafür, dass sie ihm eine halbtheologische und halbmythologische Identität zuschrieben. Aufgrund seiner Askese und seiner Heldentaten wurde er nach seinem Tod im Glauben einiger Gruppen zur theologischen und mythologischen Bezugsperson. Die interdisziplinäre Forschung zeigt die historische Biographie Alis und die seiner Söhne auf. Der Autor untersucht ihre Rezeption bei Aleviten, Schiiten und Sunniten und verdeutlicht ihre gesellschaftliche Bedeutung. Abschließend analysiert er die an Ali und seinen Nachfahren gewidmeten Schreinkomplexe.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung in den historischen Gesamtkontext
  • 2. Mythologie von ʿAlī bin Abī Ṭālib (gest. 661)
  • 3. Überblick: Imāme der Schia (Imāmiten, Zaiditen, Ismailiten) und Aleviten
  • 4. Vorhandene Literatur, Forschungsstand und Leitfragen
  • 5. Wissenschaftliche Reflexion, Methode und Forschungsansatz
  • 6. Vorgehensweise
  • Abkürzungen
  • 1. Historische Biographie des ʿAlī bin Abī Ṭālib (600–661)
  • 1.1. ʿAlīs Lebenszeit in Mekka (600–622)
  • 1.1.1. Genealogie, Geburt und Kindheit
  • 1.1.2. Beinamen und Eigenschaften
  • 1.2. ʿAlīs Lebenszeit in Medina (622–632)
  • 1.2.1. Auswanderung (hiǧra) von Mekka nach Medina
  • 1.2.2. Ehe mit Fāṭima bint Muḥammad und ʿAlīs Familie
  • 1.2.3. Militärische Tätigkeiten und offizielle Aufgaben
  • 1.2.4. Kulturelle Tätigkeiten
  • 1.2.5. Feldzug nach Fadak (627)
  • 1.2.6. Eroberung von Ḫaibar (628)
  • 1.2.7. Ereignis in Ġadīr Ḫumm im Jahr 632
  • 1.3. Haltung und Stellung von ʿAlī zur Zeit der ersten drei Kalifen (632–655)
  • 1.3.1. Die Zeit des Kalifen Abū Bakr (632–634)
  • 1.3.2. Die Zeit des Kalifen ʿUmar bin al-Ḫaṭṭāb (634–644)
  • 1.3.3. Die Zeit des Kalifen ʿUṯmān bin ʿAffān (644–656)
  • 1.4. Die Zeit des Kalifen ʿAlī bin Abī Ṭālib (656–661)
  • 1.4.1. Gesellschaftliche Lage und seine Kalifenwahl
  • 1.4.2. Kamelschlacht (656)
  • 1.4.3. Schlacht bei Ṣiffīn (657)
  • 1.4.4. Abspaltung der Ḫāriǧiten und der Nahrawān-Krieg (658)
  • 1.4.5. Auswirkungen der Bürgerkriege auf den arabischen Diskurs
  • 1.4.6. ʿAlīs Märtyrertod in Kufa (661)
  • 1.4.7. ʿAlīs unbekannte Grabstelle
  • 2. Religionsästhetik und Rezeptionen von ʿAlī bin Abī Ṭālib
  • 2.1. Poster und Porträts
  • 2.1.1. ʿAlī bin Abī Ṭālib
  • 2.1.2. Ḥasan, Ḥusain, ʿAbbās und das Karbalāʾ-Massaker (680)
  • 2.1.3. Kulturelle Utensilien und Gegenstände
  • 2.2. Kalligraphien, Reliquien und Film
  • 2.2.1. Zoomorphe und übrige Kalligraphien und Wassermalerei
  • 2.2.2. Heilige Reliquien
  • 2.2.3. Wand-Kalligraphien in Moscheen und Museen
  • 2.2.4. Film
  • 2.3. Autorität und Rezeption von ʿAlī in den Konfessionen
  • 2.3.1. Schiiten
  • 2.3.1.1. Der Begriff „Schia“
  • 2.3.1.2. Imāmiten (imāmīya) bzw. Zwölferschiiten (iṯna ʿašarīya)
  • 2.3.1.3. Zaiditen (zaidīya)
  • 2.3.1.4. Ismailiten (ismāʿīlīya)
  • 2.3.1.5. Extreme (ġulāt)
  • 2.3.2. Aleviten
  • 2.3.2.1. Der Begriff „Aleviten“
  • 2.3.2.2. Anatolische Aleviten (ʿalawīya)
  • 2.3.2.3 Bektaschiten (bektāšiyya)
  • 2.3.2.4. Nuṣairier (nuṣairiyyūn)
  • 2.3.3. Sunniten (ahl al-sunna)
  • 2.3.3.1. Aschʿariten (ašʿarīya) und Māturīdīten (māturīdīya)
  • 2.4. Mythologie des ʿAlī im Volksglauben
  • 2.4.1. Anatolisch-alevitischer Volksglaube
  • 2.4.2. Tradierte Legenden und Heldengeschichten
  • 2.5. Rezeption von ʿAlī in der islamischen Mystik (taṣawwuf)
  • 2.5.1. Spirituelle Stellung ʿAlīs
  • 2.5.2. Mystisches Bild von ʿAlī in ausgewählten klassischen Werken
  • 2.5.2.1. Maṯnawī von Ǧalāl ad-Dīn ar-Rūmī (gest. 1273)
  • 2.5.2.2. Nahǧ al-Balāġa von aš-Šarīf ar-Raḍī (gest. 1016)
  • 3. Gesellschaftliche Bedeutung und Stellung des ʿAlī bin Abī Ṭālib
  • 3.1. Gesellschaftliche Wirkungen von ʿAlīs Autorität
  • 3.1.1. Charismatische Persönlichkeit
  • 3.1.2. Löwensymbolik
  • 3.1.3. ʿAlīs Gerechtigkeitsverständnis und Vorbildhaftigkeit
  • 3.2. Schiitische Legitimierung der Herrschaft durch ʿAlīs Autorität
  • 3.2.1. Historischer Hintergrund
  • 3.2.1.1. Imāmāt und Walāyat von ʿAlī bin Abī Ṭālib
  • 3.2.1.2. Institutionalisierungsprozess der Zwölferschiiten
  • 3.2.1.3. Überblick über die zwölf Imāme
  • 3.2.2. Die fünf Glaubensgrundlagen (uṣūl al-ḫamsa)
  • 3.2.2.1. Einheitsglaube (tauḥīd)
  • 3.2.2.2. Gerechtigkeit (ʿadl)
  • 3.2.2.3. Prophetie (nubūwwa)
  • 3.2.2.4. Vorsteherschaft (imāmāt)
  • 3.2.2.5. Jüngstes Gericht (maʿād)
  • 3.2.3. Welāyat-e Faqīh: ʿAlīs Walāyat in der Staatsräson des Iran
  • 3.2.3.1. Einführung 1979 durch Āyatollāh Ḫomeinī (gest. 1989)
  • 3.2.3.2. Amtslegitimierung nach Ḫomeinī
  • 3.2.3.3. Machtbefugnisse
  • 3.2.3.4. Kritischer Diskurs um die Walāyat-Theorie
  • 3.3. Morphologie, Heldentum, Martyrium und Eschatologie zu ʿAlī
  • 3.3.1. Morphologische Wandlungen in der Antike
  • 3.3.1.1. Metamorphologie
  • 3.3.1.1.1. Metamorphosen männlicher Heldengestalten
  • 3.3.1.1.2. Morphologische Wandlungen von ʿAlī
  • 3.3.2. Martyrium
  • 3.3.2.1. Martyriumsvorstellungen im Islam
  • 3.3.3. Eschatologische Vorstellungen von einem Erlöser
  • 3.3.3.1. Der Begriff „mahdī“
  • 3.3.3.2. Mahdī- und Messias-Glaube im Islam
  • 3.3.3.3. Messias-Glaube in Judentum und Christentum
  • 4. Rituelle Bedeutung und Stellung von ʿAlī bin Abī Ṭālib
  • 4.1. Rituelle Kultstätten und Feiertage zu Ehren ʿAlīs und seiner Familie
  • 4.1.1. Wallfahrtsorte, Pilgerstätten und Schreinkomplexe
  • 4.1.1.1. Wallfahrt und Grabkult im Islam
  • 4.1.1.2. Naǧaf: Moschee von ʿAlī
  • 4.1.1.3. Karbalāʾ und Kairo: Moschee von Ḥusain
  • 4.1.1.4. Maschhad: Moschee von ʿAlī ar-Riḍā
  • 4.1.1.5. Kāẓimain: Moschee von Mūsā al-Kāẓim und Muḥammad at-Taqī
  • 4.1.1.6. Samarra: Moschee von ʿAlī an-Naqī und Ḥasan al-ʿAskarī
  • 4.1.1.7. Qom: Moschee von Fāṭima al-Maʿṣūma
  • 4.1.1.8. Medina: Baqīʿ-Friedhof, Gräber von Fāṭima und der vier Imāme
  • 4.1.2. Rituelle Feste und Feiertage
  • 4.1.2.1. Bedeutung der rituellen Feier im Islam
  • 4.1.2.2. Geburt (maulīd) und Märtyrertod (šaḥāda) von ʿAlī
  • 4.1.2.3. Die ʿĀšūrā und der Arbaʿīn: Trauertage um Ḥusain
  • 4.2. Magie und Volksliteratur um ʿAlī bin Abī Ṭālib
  • 4.2.1. Magie des Namens „ʿAlī“
  • 4.2.1.1. Grundlagen der Magie (siḥr) im Islam
  • 4.2.1.2. Amulette und Talismane zu ʿAlī
  • 4.2.1.3. Namensgebung nach ʿAlī bzw. der Ahl al-Bait
  • 4.2.2. Darstellungen von ʿAlī in bektaschitischen Ritualen
  • 4.2.2.1. Rituelle Schriftquellen und Sprüche
  • 4.2.2.2. Rituelle Kleidungsstücke und Gegenstände
  • Schlussresümee und Fazit: Beantwortung der Leitfragen
  • Anhang: Tabellarischer Lebenslauf von ʿAlī und seiner Familie
  • Literaturverzeichnis:
  • 1. Primärquellen:
  • 2. Sekundärquellen
  • Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die erste wissenschaftliche Arbeit zu ʿAlī bin Abī Ṭālib (gest. 661), dem Cousin und Schwiegersohn des Propheten Muḥammad (gest. 632), im deutschsprachigen Raum, welche sich aus einer wissenschaftlichen Perspektive mit ʿAlīs historischer Biographie, mit den verschiedenen Glaubensausrichtungen der islamischen Konfessionen in der Rezeption seiner Persönlichkeit beschäftigt. Weiterhin analysiert die Forschung seine gesellschaftliche und seine rituelle Bedeutung, denn in der Nachfolgezeit des Propheten Muḥammad entstanden zunächst aus politischen Motiven und später aus kulturellen Gründen Konfessionen (maḏāhib), Mystikerkreise (ṭāriqāt) und andere synkretistische Gruppen, die in der Verständnisbildung der islamischen Religion (dīn, šarīʿa) ihre eigenen Ansichten vertraten und zur Legitimierung der konfessionellen Grundsätze (maḏhab) gegenüber den Angehörigen und den Außenstehenden Argumente aus den Primärquellen (šarīʿa) anführten und sich dabei auf die frühislamische Zeit bezogen. Hierzu wurden die Botschaften des Korans, die überlieferten Aussagen (aḥādīṯ) des Propheten und seiner Gefährten (ṣaḥāba) als Bezugspunkte genommen. Denn der Koran und die Prophetensunna sind für Muslime die Primärquellen der Šarīʿa und der Islam schlechthin.

Aus unterschiedlichen Gründen haben synkretistische Kreise ihr eigenes Religionsverständnis auf einen Ṣaḥāba zugeschrieben. Unter den kulturellen Einflüssen von anderen Kulturen und Religionen wurden in der Verständnisbildung über die historische Person der Ṣaḥāba hinaus neue synkretistische Verständnisse konstruiert. Auf diese Art und Weise entstanden in der fiktiven Welt einiger Konfessionen neue Ṣaḥāba-Vorstellungen, welche sich durch eine neue Persönlichkeit kennzeichnet. Aufgrund seiner engen Verwandtschaft mit dem Propheten, seine körperlich-geistigen Attributen, seiner Lebenszeit überwiegend im Anwesen des Propheten, seiner Sozialisierung (iršād) durch ihn und seine Heldentaten in vielen Schlachten wurde ʿAlī unter den Ṣaḥāba am meisten rezipiert. Bedingt durch die Ereignisse vor, während und nach seiner Lebenszeit entwickelten die Schiiten ihre eigene Imāmātstheorie, in deren Zentrum sie ʿAlī stellten. Viele Jahre nach dem Propheten Muḥammad und der Ṣaḥāba stützten sich einige Mystiker (ṭāriqāt) in ihrer spirituellen Personenkette (silsila) auch auf ʿAlī, welcher nach dem Propheten Muḥammad als „Oberhaupt der Frommen“ (šāh al-walāyat) angenommen wurde.

Unter kulturellen und sozialen Einflüssen in Anatolien und in Mesopotamien entstanden im fiktiven Glaubensbewusstsein neue ʿAlī-Vorstellungen, die ihn über seine historische Person hinaus in eine neue Person umwandelten. Einige Türkengruppen brachten vor der Annahme des Islams ihren alten Glauben aus Zentralasien (Schamanismus) mit, sodass bei den Aleviten, unter den Einflüssen des Schiitentums, neue synkretistische ʿAlī-Bilder entstanden.

In der Forschung wurden die Werke der muslimischen und nichtmuslimischen Islamforscher berücksichtigt. Mittels der Anwendungen der synchronen Methode wurde ʿAlīs historische Biographie und dasjene seiner Söhne Ḥasan und Ḥusain analysiert. Durch die Anwendung der diachronen Methode wurde die Rezeptionsvielfalt der Konfessionen auf ʿAlī untersucht, die in der Geschichte unterschiedliche kulturelle Entwicklungen durchlaufen und eigene Grundsätze auf ʿAlī entwickelt haben. Auf kritischer Grundlage werden die verschiedenen Perspektiven auf ʿAlī dargestellt und die Institutionalisierungsprozesse der Zwölferschiiten aufgezeigt.

Aus wissenschaftlicher Sicht liegt der Forschungsfokus darauf, die symbolische Darstellungs- und Rezeptionsvielfalt von ʿAlī und seiner Nachkommen in den verschiedenen Konfessionen und ihre gesellschaftliche Bedeutung in ihren mehrdimensionalen Lebenswelten aufzuzeigen.

Bis heute liegen keine originalen Darstellungen des historischen ʿAlī und seiner Nachkommen vor, wobei die Muslime auf die Erstellung von kulturell-motivierten Bildern heiliger Personen verzichten. Die vorliegenden symbolischen Abbildungen entstanden im Volksglauben.

Mein tiefempfundener Dank geht an Herrn Prof. Dr. Hayreddin Karaman, Herrn Prof. Dr. İhsan Süreyya Sırma, Herrn Prof. Dr. Uğur Derman und an Herrn Hodschatoleslam Maḥmūd Ḫalilzādeh, der Vorsitzende der Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden (IGS) in Deutschland, welche mir mit ihren umfangreichen Kompetenzen stets zur Seite standen.

Zudem danke ich dem „Topkapı-Palast-Museum“ (Topkapı Sarayı Müzesi), hier insbesondere dem Direktor Herr Prof. Dr. Mustafa Sabri Küçükaşcı, der „Hagia Sophia“, dem „Museum für türkische und islamische Kunst“ (Türk ve İslam Eserleri Müzesi) alle in Istanbul (Türkei) und dem „Aga Khan Museum“ in Toronto (Kanada), hier insbesondere Frau Bita Pourvash, für die Bereitstellung der ʿAlī-Bilder. Ich möchte mich auch bei Herr Prof. Dr. Hüseyin İlker Çınar, Herr Ass. Prof. Dr. Abdülhalim Koçkuzu, Herr Prof. Dr. Nurettin Gemici, Herr Dr. Evgin Akbulak, Herr Ünal Kaymakçı, Herr Ḥassan Sadeghi, Herr Mahdi Reinich, Herr Emin Umuç und Herr Ramazan Umuç, Herr Vedat Kılıç und bei Herr Fatih Mert M. A. bedanken, welche mich in jeglicher Hinsicht (jeder auf seine Art) solidarisch begleiteten. Ich danke der FAZIT-Stiftung, welche mich durch ein großzügiges Reisekostenstipendium förderte. Zum Abschluss danke ich meinen lieben Eltern, Alaaddin und Emine Bagriacik, für ihre große Unterstützung und Geduld, welche sie mir während der intensiven Forschungsphase entgegenbrachten.

Alles Lob gehört Allāh, dem Herrn der Welten.

Alles Lob gehört Allāh, dem Herrn der Welten.

Friede und Segen auf den Propheten Muḥammad.

Für Freiheit, Brüderlichkeit und Einheit von Aleviten, Schiiten und Sunniten.

Frankfurt/Main, im März 2020. Dr. Murat Bagriacik

1.   Einleitung in den historischen Gesamtkontext

Nach der Lebenszeit des Propheten Muḥammad um 632 erlangte die arabische Sippe der Banū Hāšim mit der Kalifenwahl von Abū Bakr (gest. 634) und danach ʿUmar bin al-Ḫaṭṭāb (gest. 643) die Macht. Nach des Letzteren Ermordung ging das Kalifat an ʿUṯmān bin ʿAffān (gest. 656) über, der aus der Banū Umayya stammt. Nach dessen Ermordung um 656 wurde ʿAlī bin Abī Ṭālib (gest. 661) zum Kalifen gewählt.2 Infolge der Machtinteressen von Muʿāwiya bin Abī Sufiyān (gest. 669) war ʿAlī nach der Schlacht von Ṣiffīn (656) und den darauffolgenden Schiedsentscheid ungewollt damit konfrontiert, die Macht an Muʿāwiya abzugeben.3 Im siebten Jahrhundert n.Chr. erlebte die arabische Halbinsel somit große politische Wandlungsprozesse.4

Zwischen den beiden arabischen Stämmen der Quraiš namens Banū Umayya und Banū Hāšim begann somit eine große Auseinandersetzung um die Machtergreifung, welche 661 n. Chr. mit der Ermordung von ʿAlī zugunsten der Banū Umayya ausging. Damit begann 661 die Zeit der Umayyaden, welche das durch freie Wahlen bestimmte Kalifat zur Dynastie umwandelte.5 Die Verlagerung der Hauptstadt nach Damaskus sorgte dafür, dass einige Gruppen mit antiken Denkrichtungen und Philosophien kulturelle Wandlungsprozesse durchliefen. Diese spalteten die Araber in der Annäherung an ʿAlī in zwei große Gruppen. Während die Schia mit „ʿAlī, als vertrautem Freund Gottes“ (ʿAlī walī Allāh) einen dritten Zusatz mit in das Credo aufnahm6 und ihn als ersten Kalifen anerkannte, beglaubigten die Sunniten ihn als vierten Kalifen.7

Aufgrund der verwandtschaftlichen Nähe zum Propheten Muḥammad war ʿAlī im Zentrum der Debatten. Infolge der dogmatischen Aufnahme von ʿAlī durch einige Gruppen wurde ihm und seinen Nachkommen wie den elf Imāmen Heiligkeit, Sündlosigkeit und Unschuld zuerkannt.

Extreme (ġulāt) gingen noch weiter, indem sie ʿAlī in eine höhere Stellung als den Propheten Muḥammad stellten und ihn mit göttlichen Attributen priesen. Diese dogmatische Wandlung, deren Ursache auf politische Konflikte zurückgeht,8 wurde nach Muḥammad kontrovers diskutiert. ʿAlīs Anhänger spalteten sich nach dem Schiedsspruch (ḥukūma) in Aḏruḥ9 658 n. Chr. in die politischen Gruppen der Mehrheit, der Schiiten und der Ḫāriǧiten auf.10

2. Mythologie von ʿAlī bin Abī Ṭālib (gest. 661)

Während die Sunniten alle vier Kalifen Abū Bakr, ʿUmar bin al-Ḫaṭṭāb, ʿUṯmān bin ʿAffān und ʿAlī bin Abī Ṭālib anerkannten, akzeptierten die Schiiten und Aleviten nur ʿAlī als legitimen Nachfolger von Muḥammad.12 Hier ist die wissenschaftliche Frage zu stellen, warum diese nur ʿAlī akzeptierten, zumal die übrigen Kalifen wie ʿAlī mit Muḥammad eng verwandt waren. Die historische Person „ʿAlī“ war ein Mensch, dessen Genealogie und Person vor uns liegt.

In der islamischen Geschichte wurde er aber in der Mythologie als Kultperson und in seinen vielfältigen Identitäten rezipiert. Das Forschungsprojekt macht daher den wichtigen Versuch, seine unterschiedlichen Identitäten in den Strömungen zu analysieren und auch die kulturellen, mythologischen und psychologischen Einflussfaktoren auf die Strömungen zu untersuchen.

Dadurch soll ein mehrdimensionaler Einblick in die kulturelle Vielfalt des Islams in Hinblick auf die kulturelle, ästhetische und politische Bedeutung von ʿAlī gegeben werden, welcher die Lebenswelten der islamischen Strömungen prägt. ʿAlī-Bilder erzeugen für einige Strömungen spirituelle, bildliche Stoffwechselreaktionen mit der Lebensrealität,13 sodass die historischen Anfänge und Entwicklungen in der Annäherung an ʿAlī multiperspektivisch reflektiert werden.

Innerhalb der Schia wird ʿAlī als Vertrauter (walī) und Erbe (waṣī), seine Nachkommen als Oberhaupt (imām) anerkannt.14 Bei Ismailiten werden diese Eigenschaften anders begriffen. Die durch die Schiiten beeinflussten Extreme (ġulāt), welche durch antike Mythologien und Philosophien beeinflusst wurden, waren unter den kulturellen Einflüssen entstandene synkretistische Gruppen. Hierzu zählen die nuṣairier, die Aleviten und die Ismailiten.15 Innerhalb dieser traten im Laufe der Geschichte mystische Gruppen hervor, wie die Bektāšiyya unter den Aleviten, welche ʿAlī übermenschliche Attribute zuschrieben.16 Daher müssen ihre historischen Entwicklungen in Hinblick auf die regionalen, politischen, kulturellen, philosophischen, psychologischen und mythologischen Einflüsse mit einbezogen werden. Den Anfang bildeten die historisch-politischen Konflikte zwischen Muʿāwiya und ʿAlī,17 die Folgeereignisse in der Spaltung (fitna) der Gesellschaft in die Mehrheit, die Schiiten und die Ḫāriǧiten bis hin zum Märtyrertod von ʿAlī (gest. 661), Ḥasan (gest. 670) und Ḥusain (gest. 680).18

Friederike Pannewick erkennt hier, dass der Märtyrertod von ʿAlī und seinen Söhnen Ḥasan und Ḥusain an Wallfahrtsorten bis heute in Form von leidvollen ʿĀšūrāʾ-Riten in Erinnerung gehalten wird.19 In der Zeit wurde die historische Person „ʿAlī“ im Glauben einiger Gruppen in eine spirituelle, übermenschliche Gestalt umgewandelt. Diese morphologische Wandlung in ihrer geistigen Lebenswelt erfolgte in Mesopotamien und nicht auf der arabischen Halbinsel, wo ʿAlī ursprünglich lebte. Diese morphologische Wandlung muss dahingehend verstanden werden, dass die historische Person „ʿAlī“ von der historischen Lebensdimension in eine „mythologische Welt“ überführt wurde. Diese Rezeption muss unter Berücksichtigung der historisch-politischen und -kulturellen Entwicklungen von Arabien und Mesopotamien durch die unterschiedlichen Einflüsse antiker Denkrichtungen und Philosophien verstanden werden, die im Forschungsprojekt mit berücksichtigt werden. Besonders um Mesopotamien waren die Einflüsse des antiken Kulturerbes auf die arabische Lebenskultur erkennbar.

ʿAlī war als Cousin und Schwiegersohn von Muḥammad dessen enger Verwandter und mit seinen Heldentaten und seiner Tapferkeit in vielen Kriegen bekannt.20 Er hatte für viele eine Ungerechtigkeit erlitten und wurde nach all den gewaltsamen Aufständen (fitna) ermordet.

Diese charakterlichen Attribute und Schicksalsschläge von ʿAlī deckten sich mit denjenigen der mythologischen Figuren der Antike. Das daraus herausgebildete Faktum einer einzigen Vorsteherschaft (imāmāt) als vertrauter Freund Gottes (walī Allāh) und als Erbe (waṣī) durch eine heilige Person ist ein aus der antiken Philosophie stammender Gedanke, nach welchen Vorstellungen die Glaubenswelten der Imāmiten und der Ismailiten besser verstanden werden können. Dadurch können die vielfältigen Übertragungen ʿAlīs von seiner historischen Person in die Mythologie besser begriffen werden. Mit Blick auf die vorislamischen Kulturen können diese Erörterungen über ʿAlī, Sinnbild für die kulturellen Glaubenswelten der Strömungen sein. Gewiss wird dies auch dadurch begreiflich, dass die Kultur auf der arabischen Halbinsel die mythologische Kultur der antiken Gnosis nicht ausreichend genug kannte. Dies wird auch dadurch erkennbar, dass selbst der Prophet Muḥammad nach seinem Tod nicht mit gleicher Mythologie wahrgenommen wurde wie ʿAlī. Die mythologischen ʿAlī-Rezeptionen müssen auch auf die damalige Klassengesellschaft zurückgeführt werden, die sesshaft lebte und durch einen mit göttlichen Eigenschaften zugeschriebenen politischen Führer regiert wurde. Die wandernden Araber-Nomaden waren dem Autokratismus fern, lebten ein freies Leben und brachten keine durch die Antike beeinflusste Mythologie hervor.

3.   Überblick: Imāme der Schia (Imāmiten, Zaiditen, Ismailiten) und Aleviten

Bevor die ästhetischen Darstellungen und Rezeptionen der ʿAlī-Bilder im Forschungsprojekt analysiert werden, ist der Begriff „Strömung“ genauer zu untersuchen. Darunter wird in der Forschung eine bestimmte Menschengruppe verstanden, welche den Kalifen „ʿAlī“ in den Mittelpunkt ihrer mehrdimensionalen Blick- und Lebenswelten stellt. Wenn die Pluralität der Strömungen beachtet wird, kann die Bedeutung von ʿAlī nicht auf eine einzige Strömung reduziert werden. ʿAlī war ein Mensch, der in der Folgezeit nach Muḥammad (gest. 632) in die Mythologie überführt wurde. Die Strömung umfasst daher die Art und Form der Bilderwelten, der Perspektiven und der Rezeption ʿAlīs. Die Strömungsmitglieder blicken auf ihn aus ihrer eigenen Perspektive, welche ihre inneren Glaubens- und Lebenswelten kennzeichnet. Wenn die Strömungsmitglieder fortwährend nur aus ihrer Perspektive auf die ʿAlī-Bilder schauen, dann ist das ihre „Strömungsperspektive“. Im Generellen existieren die zwei Großströmungen der Schiiten und der Sunniten, die sich in verschiedene Subströmungen aufteilen.

In der Wahrnehmung ʿAlīs und seiner Nachkommen können die schiitischen Strömungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen, besonders im Hinblick auf die Anerkennung der Imame. Davon zu unterscheiden sind die Perspektiven der synkretistischen Gruppen wie die Aleviten, die nuṣairier und die Ismailiten, welche in der Geschichte durch unterschiedliche philosophische und mythologische Denkarten beeinflusst wurden und eigene mythologische Perspektiven und Wahrnehmungswelten gegenüber ʿAlī entwickelt haben.21 Dazu gehört die mystische Strömung der Bektāšiyya. Alle schiitischen und alevitischen Strömungen münden schließlich in der Person ʿAlī, welcher das Anfangsglied der Imāmenreihe bildet. Unter den Sunniten besteht überwiegend eine einheitliche Meinung.

Die wissenschaftliche Perspektive auf ʿAlī umfasst alle Konfessionen (maḏāhib), wohingehend alle Perspektiven, Rezeptionen und Lebenswelten mit einbezogen werden. In dieser Hinsicht steht ʿAlī symbolisch für Beteiligungsdemokratie, an der sich alle Konfessionen beteiligen. Unter Beteiligungsdemokratie wird eine Partzipation bezeichnet, an welcher alle teilnehmen. Daher bedarf es der interdisziplinären Forschungsmethode, welche den Forschungsgegenstand reflexiv erkundet und komparativ darlegt. Hinsichtlich der Rezeptionsvielfalt von ʿAlī-Bildern und der inneren Bilderwelten werden folgende zwei Thesen formuliert:

1. These: ʿAlī steht symbolisch für Beteiligungsdemokratie.

2. These: Seh- und Blickprozesse des Menschen umfassen Materie und Immaterie.22

Innere Bilder des Menschen lassen sich nach Annemarie Schimmel auf bestimmte Zeichen und Symbole wie der Natur und der Tiere zurückführen.23 Diese mystische Erkenntnis gründet ihrer Meinung nach auf die mentalen humanen Bedürfnisse wie das Lieben, das Fühlen, das Denken und das Erleben.24 In Bezug auf meine bevorstehende Forschung bedeutet dies, dass die Seh- und Bildprozesse gegebüber ʿAlī bestimmte Symbol- und Zeichensysteme wie die Natur, die Tiere, Bilder, Objekte und Gegenstände (Materie), Gefühle und Empfindungen (Immaterie) umfassen. Beide Dimensionen sind als Existenzfelder im Kosmos zu verstehen. Die Löwensymbolik ist eine animale Metapher für die postmortale Existenz von ʿAlī25 und verdeutlicht seine Unbesiegbarkeit, Tapferkeit, Heldentaten und sein Kampfvermögen, welche die Vorstellungen und die inneren Bilderwelten der Strömungen maßgeblich kennzeichnen.

Die Wallfahrtsorte Naǧaf und Karbalāʾ stehen symbolisch für Leid, Buße, Passion, Mitleid, die jedes Jahr wiederkehrend als besondere spirituelle Lebenserfahrungen vor Ort erlebt werden, wobei die Ereignisse um die Märtyrertode von ʿAlī und seiner Söhne gedacht wird.26 Diese performativen Buß- und Passionsrituale haben mystische verändernde Kraftwirkungen, welche die Lebenswirklichkeit maßgeblich prägen. Das Wechselspiel zwischen den humanen Organen, wie Gehirn, Herz und Sinneswahrnehmungen, führt dazu, dass mittels der sichtbaren, äußeren Bilderwelten, die unsichtbaren inneren Bilderwelten (Projektionen) entstehen. Diese gelebten spirituellen Erfahrungen prägen die Denkarten und das reale Leben der Strömungen.

Die für den Menschen sichtbare Bildmaterie ermöglicht als Symbol- und Zeichensystem über die Strömungsperspektive den mystischen Blickzugang zu unsichtbaren Bildern/Projektionen (Immaterie). Darunter fallen die Gefühle, die Empfindungen und die Erkenntnisprozesse. Die Materie und die Immaterie sind als äußere und innere Existenzfelder zu verstehen. Ausgehend von den ʿAlī-Bildern sollen die perspektivischen Zugänge (Strömungsperspektiven) und die inneren Bilderwelten skizziert werden. Der multperspektivische Forschungsschwerpunkt zeigt auf, dass mit Blick auf die Strömungen auch Demokratietheorien formuliert werden können.

Der Forschungsfokus liegt dabei in der analytischen Erforschung der Bilderwelten und bezieht die spirituellen gesellschaftlichen Bildwirkungen von ʿAlī mit ein. Dieser Forschungsschritt ist wichtig, weil die Bilderwelten und die damit verbundenen Perspektiven und Rezeptionen die Lebensablaufprozesse, die Identitäten und die Handlungen der Strömungen beeinflussen.

ʿAlī wurde 600 n.Chr. in Mekka als Sohn von Abū Ṭālib und Fāṭima bint Asad geboren.27 Seit seiner frühen Kindheit verbrachte er seine meiste Lebenszeit im Anwesen von Muḥammad28 und heiratete dessen Tochter Fāṭima,29 aus welcher Ehe Ḥasan (gest. 670), Ḥusain (gest. 680) und drei weitere Kinder hervorgingen. Die Genealogie (nasl) von Muḥammad wird für viele Muslime über diese Linie fortgeführt. ʿAlī wird in den schiitischen Strömungen, wie den Imāmiten, Zaiditen, Ismailiten und bei den Aleviten, als erster legitimer Kalif in der Folgezeit nach Muḥammad wahrgenommen.30 In den mehrdimensionalen Lebenswelten der Strömungen ist er mit seinen vorzüglichen Attributen und Heldentaten in Kriegen bekannt. Daher wird er in der Kultur, Kunst, Literatur und Mystik durch verschiedene kulturell- und politisch-motivierte Ikonographien, Kalligraphien, Miniaturen, Poster und Symbole dargestellt. Diese ʿAlī-Bilder prägen den geistigen Lebensalltag der Konfessionen.31

von Mustafa İzzet Efendi (gest. 1876) aus den Jahren 1847–1849,

im Durchmesser von 7,5m (Hagia Sophia, Istanbul, Türkei).

Details

Seiten
530
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631827154
ISBN (ePUB)
9783631827161
ISBN (MOBI)
9783631827178
ISBN (Hardcover)
9783631806425
DOI
10.3726/b17178
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Islam Alevitentum Schiitentum Sunnitentum Islamische Theologie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 530 S., 164 farb. Abb., 6 s/w Abb.

Biographische Angaben

Murat Bagriacik (Autor:in)

Murat Bagriacik studierte an der Goethe Universität Frankfurt/Main Islamische Religionswissenschaft, Jüdisch-Christliche Religionswissenschaft und Pädagogik. Er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig, promovierte an der Universität Osnabrück und war Stipendiat der FAZIT-Stiftung.

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Titel: Ali bin Abi Talib (gest. 661)
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532 Seiten