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Arnold Zweig und Stefan Zweig in der Zwischenkriegszeit

Publizistisches Engagement, Beziehungsgeschichte und literaturwissenschaftliche Rezeption bis in das 21. Jahrhundert

von Jasmin Sohnemann (Autor:in)
©2018 Dissertation 476 Seiten

Zusammenfassung

Arnold und Stefan Zweig sahen sich als „geistige Führer", gelten aber, bis auf ihr Interesse an der Psychoanalyse, als sehr verschieden. Die Auswertung ihrer Publizistik – darunter viele unbekannte Texte – zeigt erstmals systematisch, wie sie sich an Debatten der Zwischenkriegszeit beteiligten. Die Autorin prüft Aussagen über Demokratie, Sozialismus, Nationalismus, Europa, Pazifismus, die UdSSR, ihr jüdisches Erbe, Zionismus und Antisemitismus. Die Zweigs erscheinen als unabhängige Zeitkritiker, die oft übereinstimmend und wegweisend urteilten. Ihre unveröffentlichten Briefe (1919–1940) bieten Einblick in diese kaum bekannte Beziehung. Die Studie stellt in der Germanistik verbreitete Zweig-Bilder infrage, die wesentlich durch den Kalten Krieg beeinflusst wurden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einleitung
  • 1. Zwei Lebenswege und -aufgaben, nebeneinandergestellt
  • 2. Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung
  • 3. Anmerkung zur Quellenlage und -auswahl
  • II. Arnold Zweig und Stefan Zweig in der Literaturwissenschaft in Deutschland
  • 1. Die Rezeption der Schriftsteller bis 1945
  • 2. Zwei(g-) Geschichten in ,West‘ und ,Ost‘ (1945–1989)
  • 3. Neue Perspektiven und alte Fortschreibungen seit der Wiedervereinigung 1990
  • III. „im Analysieren Psycholog“ – Zwei Schriftsteller gleichen Namens und gleicher Passion
  • 1. Freundschaft mit Freud und publizistisches Engagement für den „Vater“ und „Meister“
  • 2. Die psychologischen Perspektiven der Zweigs im Vergleich: Heinrich von Kleist
  • 3. Zweig an und über Zweig: Die Beziehung im Spiegel von Briefen und Publikationen
  • IV. „und im Tun“? – Publizistische Positionen in der Zwischenkriegszeit
  • 1. Die politische und wirtschaftliche Ordnung
  • 1.1 Erziehung zum republikanischen Bewusstsein und zum Antimaterialismus
  • 1.2 Bildet die Einheitsfront! Plädoyers für eine Zusammenarbeit der „Linken“
  • 1.3 Urteile über den sowjetischen Nachbarn und seine Form des Sozialismus
  • 2. Die Konflikte und Herausforderungen in Europa
  • 2.1 Engagement für Frieden und Demilitarisierung
  • 2.2 Thesen zur historischen Entwicklung und zum europäischen Gedanken
  • 2.3 Vorschläge zur „moralischen Entgiftung“ und zur „Vergeistigung der Politik“
  • 3. Die Gegenwart und Zukunft der Juden
  • 3.1 Illustrationen jüdischen Wesens und jüdischer Leistung
  • 3.2 Haltungen zum Zionismus und zu Palästina als jüdischer Heimstatt
  • 3.3 Umgang mit Antisemitismus und Judenverfolgung
  • V. Resümee und Ausblick
  • 1. Psychologen mit weitgehend übereinstimmenden weltanschaulichen Grundlagen zwischen Psychoanalyse, Idealismus und biblischer Tradition
  • 2. Parteipolitisch unabhängige zeitkritische Publizisten mit einem moralischen Führungsanspruch und oftmals übereinstimmenden Standpunkten
  • 3. Weitgehend Gleichgesinnte, in einer ambivalenten Beziehung verbunden
  • 4. Musterfälle für die Editions- und Interpretationspraktiken des Kalten Krieges und ihre bis heute andauernden Folgen
  • 5. Vordenker ihrer Zeit, Wegweiser für die Zukunft?
  • Dank
  • Literatur- und Quellenverzeichnisse
  • Unveröffentlichte Quellen
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Online-Quellen
  • Reihenübersicht

Jasmin Sohnemann

Arnold Zweig und Stefan Zweig in der
Zwischenkriegszeit

Publizistisches Engagement, Beziehungsgeschichte
und literaturwissenschaftliche Rezeption bis in das 21. Jahrhundert

Autorenangaben

Jasmin Sohnemann absolvierte zunächst ein betriebswirtschaftliches Studium. Später studierte sie in London und Potsdam Literaturwissenschaften. Sie war Stipendiatin im Walther-Rathenau-Graduiertenkolleg des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien.

Über das Buch

Arnold und Stefan Zweig sahen sich als „geistige Führer“, gelten aber, bis auf ihr Interesse an der Psychoanalyse, als sehr verschieden. Die Auswertung ihrer Publizistik – darunter viele unbekannte Texte – zeigt erstmals systematisch, wie sie sich an Debatten der Zwischenkriegszeit beteiligten. Die Autorin prüft Aussagen über Demokratie, Sozialismus, Nationalismus, Europa, Pazifismus, die UdSSR, ihr jüdisches Erbe, Zionismus und Antisemitismus. Die Zweigs erschei-nen als unabhängige Zeitkritiker, die oft übereinstimmend und wegweisend urteilten. Ihre unveröffentlichten Briefe (1919–1940) bieten Einblick in diese kaum bekannte Beziehung. Die Studie stellt in der Germanistik verbreitete Zweig-Bilder infrage, die wesentlich durch den Kalten Krieg beeinflusst wurden..

Zitierfähigkeit des eBooks

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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

1. Zwei Lebenswege und -aufgaben, nebeneinandergestellt

2. Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung

3. Anmerkung zur Quellenlage und -auswahl

II. Arnold Zweig und Stefan Zweig in der Literaturwissenschaft in Deutschland

1. Die Rezeption der Schriftsteller bis 1945

2. Zwei(g-) Geschichten in ,West‘ und ,Ost‘ (1945–1989)

3. Neue Perspektiven und alte Fortschreibungen seit der Wiedervereinigung 1990

III. „im Analysieren Psycholog“ – Zwei Schriftsteller gleichen Namens und gleicher Passion

1. Freundschaft mit Freud und publizistisches Engagement für den „Vater“ und „Meister“

2. Die psychologischen Perspektiven der Zweigs im Vergleich: Heinrich von Kleist

3. Zweig an und über Zweig: Die Beziehung im Spiegel von Briefen und Publikationen

IV. „und im Tun“? – Publizistische Positionen in der Zwischenkriegszeit

1. Die politische und wirtschaftliche Ordnung

1.1 Erziehung zum republikanischen Bewusstsein und zum Antimaterialismus

1.2 Bildet die Einheitsfront! Plädoyers für eine Zusammenarbeit der „Linken“

1.3 Urteile über den sowjetischen Nachbarn und seine Form des Sozialismus←7 | 8→

2. Die Konflikte und Herausforderungen in Europa

2.1 Engagement für Frieden und Demilitarisierung

2.2 Thesen zur historischen Entwicklung und zum europäischen Gedanken

2.3 Vorschläge zur „moralischen Entgiftung“ und zur „Vergeistigung der Politik“

3. Die Gegenwart und Zukunft der Juden

3.1 Illustrationen jüdischen Wesens und jüdischer Leistung

3.2 Haltungen zum Zionismus und zu Palästina als jüdischer Heimstatt

3.3 Umgang mit Antisemitismus und Judenverfolgung

V. Resümee und Ausblick

1. Psychologen mit weitgehend übereinstimmenden weltanschaulichen Grundlagen zwischen Psychoanalyse, Idealismus und biblischer Tradition

2. Parteipolitisch unabhängige zeitkritische Publizisten mit einem moralischen Führungsanspruch und oftmals übereinstimmenden Standpunkten

3. Weitgehend Gleichgesinnte, in einer ambivalenten Beziehung verbunden

4. Musterfälle für die Editions- und Interpretationspraktiken des Kalten Krieges und ihre bis heute andauernden Folgen

5. Vordenker ihrer Zeit, Wegweiser für die Zukunft?

Dank

Literatur- und Quellenverzeichnisse

Unveröffentlichte Quellen

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Online-Quellen←8 | 9→

I. Einleitung

„[…] bleiben wir, wie durch den Namen, auch innerlich verbunden durch den Willen anständig zu wirken, jeder nach seiner Begabung und seinen Kräften.“

Stefan Zweig an Arnold Zweig am 20. November 19371

Abstract: The introduction outlines the study’s aims: Arnold and Stefan Zweig are seen as different, yet both sought to morally educate their readers. Focussing on lesser-known journalistic works, their positions during the interwar period will be identified and compared, their mostly unpublished correspondence examined, and their reception history reviewed.

1. Zwei Lebenswege und -aufgaben, nebeneinandergestellt

Weihnachten 1925 erschien von Arnold Zweig folgende Erklärung in Die literarische Welt:

Daß ich […] weder Bruder noch Vetter des mit mir sicher ebendort wie ich mit ihm geplagten ausgezeichneten Stefan Zweig bin, möchte ich hier dokumentarisch niederlegen. Ob wir jemals Bosheit genug aufbringen werden, die Verwirrung auf den Gipfel zu führen und ein gemeinsames, einfach: „von St. A. Zweig“ signiertes Opus in die Welt zu setzen, wird lediglich von der Epoche abhängen: je heiterer sie wird, umso mehr läßt man sie tanzen. Als Titel schwebt mir zurzeit vor: „Amok um Claudia“, „Jeremias in Ungarn“ (auch: „Die Sendung Jeremias“), „Söhne aus Kinderland“ und „Lessing, Kleist, Nietzsche“ oder „Das ostdeutsche Antlitz“.2

Neben dieser Passage, mit der er humorvoll das nicht vorhandene Verwandtschaftsverhältnis zu seinem damals wie heute weitaus bekannteren Kollegen gleichen Familiennamens klarstellte, enthält dieser Text ein Resümee seiner bisherigen Entwicklung. Zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erklärte Arnold Zweig: „Ich hätte mich niemals an eine ästhetizistische Haltung verlieren können, wenn ich nicht der Überzeugung gelebt hätte, daß die Menschheit reif geworden sei zur ästhetischen Erziehung […].“ Erst durch das „Erdbeben“ Krieg habe er begonnen, „Wirklichkeit zu schmecken“. Was er retrospektiv als persönlichen Erziehungsprozess beschrieb,←9 | 10→ wurde auch zum Gegenstand seines über Jahrzehnte entstandenen, schließlich sechsteiligen Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer, in dem er den Übergang vom Kaiserreich zur Republik in seinen moralischen Implikationen und gesellschaftlichen Veränderungen ausleuchtete, sowohl im Zusammenleben der sozialen Schichten als auch zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen.

Der 1887 im niederschlesischen Glogau geborene Sohn eines jüdischen Sattlermeisters war ab 1896 in Kattowitz in finanziell bedrängten Verhältnissen aufgewachsen und hatte von 1907 bis 1914 in Breslau, später in München, Berlin, Göttingen und Rostock Germanistik, Philosophie, Psychologie, Kunstgeschichte und moderne Sprachen studiert. Nach ersten, ab 1905 unternommenen literarischen Versuchen waren 1910 ein Sonettzyklus (Der Englische Garten), im Folgejahr der erste Roman (Aufzeichnungen über eine Familie Klopfer), 1912 sein erster Erfolg Novellen um Claudia und in den Jahren darauf Dramen (Abigail und Nabal, Ritualmord in Ungarn) erschienen. Im Laufe des Ersten Weltkrieges, den er als Armierungssoldat zunächst an der Westfront, später im Pressedienst beim Oberbefehlshaber Ost verbrachte, verstärkte er seine Beschäftigung mit jüdischen Fragen, war ab 1919 erneut für ein Semester in Tübingen eingeschrieben, schloss jedoch eine bereits vor 1914 begonnene Dissertation nicht ab.3

Seit den Gewalterfahrungen der Kriegsjahre und dem politischen Umbruch von 1918/1919 hatte für Arnold Zweig nicht mehr die ästhetische, sondern die moralische Erziehung Priorität. Sein neues Selbstverständnis erklärte er spätestens 1920 auch öffentlich: Derzeit bestünden, so stellt er in „Theater, Drama, Politik“ fest, besonders für die Dichtung gute Bedingungen, um durch künstlerische Gestaltung die Gegenwart „zu bändigen, zu distanzieren, zu läutern“.4 Sofern sich allerdings „die Aufgabe, einen sittlicheren Zustand des Lebens zu schaffen [als] die dringlichste“ herausstellen sollte, sei es ebenso möglich, dass „selbst der dichterische Genius auf ein nicht-ästhetisches Gebiet abgedrängt“ wird und „die großen Lehrer des Lebens erstehen“.5 Auch „ein an seiner Läuterung arbeitendes Geschlecht ohne←10 | 11→ Poeten“ sei „gutzuheißen“, denn „nicht jede Epoche hat ein Recht auf Kunst“. Seine Kollegen sollten „sich das gesagt sein lassen und vor allem diejenigen, die vergessen, daß die spielende Literatur von 1912 noch in ihren vortrefflichsten Produkten etwas Verbrecherisches an sich hat, wenn sie nicht dem Menschen irgendwie zum Leben des Lebens verhilft“.6 Das angeführte Jahr wählte Arnold Zweig sicherlich bewusst, denn Novellen um Claudia steht geradezu exemplarisch für diese nunmehr als unzeitgemäß, sogar als unverantwortlich betrachtete ästhetizistische Haltung. Anfang der 1920er Jahre beschäftigte er sich vorwiegend in theoretischer Form mit Zionismus und Antisemitismus. Außerdem verarbeitete er seine während des Krieges gewonnenen Eindrücke über das traditionell lebende Ostjudentum (Das ostjüdische Antlitz). Erst ab Mitte des Jahrzehnts widmete er sich wieder verstärkt der literarischen Gestaltung; 1927 erschien mit Der Streit um den Sergeanten Grischa [fortan: Grischa] der erste, international erfolgreiche und bis heute bekannteste Roman seines Zyklus.7

Auch Stefan Zweig reflektierte in den 1920er Jahren seine bisherige Entwicklung. Der 1881 in der damaligen Metropole und Residenzstadt Wien geborene jüngere Sohn eines wohlhabenden jüdischen Textilfabrikanten hatte 1904 ein Studium der Philosophie und Philologie mit einer Dissertation über Hippolyte Taine abgeschlossen. Nach der Entscheidung für ein Leben als freier Literat hatte er Europa, Asien und Amerika bereist, internationale Kontakte geknüpft und sich als Übersetzer und Vermittler zwischen Intellektuellen und Künstlern engagiert. Ersten eigenen Gedichtbänden (Silberne Saiten, Die frühen Kränze) und Erzählungen (Im Schnee, Die Wanderung) waren Porträts anderer Künstler (Emile Verhaeren, Jakob Wassermann), Novellen (Die Liebe der Erika Ewald, Brennendes Geheimnis) und Dramen (Tersites, Das Haus am Meer) gefolgt. Nach Kriegsbeginn diente er bis zum Herbst 1917 im Archiv des österreichischen Kriegsministeriums und intensivierte brieflich seine Verbindungen mit französischen Kriegsgegnern, vor allem mit Romain Rolland. In diesen Jahren entwickelte er einen pazifistischen und internationalistischen Standpunkt und lebte ab November 1917 bis nach Kriegsende in der neutralen Schweiz.8←11 | 12→

In seinem 1927 für die CV-Zeitung verfassten Selbstporträt „Flüchtiger Spiegelblick“ beschreibt auch Stefan Zweig eine nachhaltige persönliche Wandlung durch das Kriegserlebnis. So habe er 1918 in einer „entschlossene[n] Lebensbilanz“ erkannt, „die Leichtigkeit des Vordem, das Brio, das Spielende des Schaffens, das flutende Dahin über die Erde, die allzu enthusiastische Gläubigkeit“ für immer verloren zu haben.9 Geblieben sei indes „jene alte leidenschaftliche Liebe zur Erkenntnis hin und, plötzlich hinzugewachsen, ein neuer harter Mut und volles Gefühl der Verantwortlichkeit nach so vielen verspielten und verlorenen Jahren“. Als seine derzeitige Hauptaufgabe nennt er „zwei große Reihen, jede eine Anzahl Bände umfassend“. Einerseits wolle er in Form von Novellen „einen immer anderen Typus des Gefühls, der Leidenschaft, der Zeit und Alterszone in verschiedener Abwandlung deuten“ und so „durch Gestalten und durch Formeln“ eine Typologie der Gefühlswelt entwickeln. Dabei solle „das absolut Reale, das Zeithafte und Wirkliche ins Dichterische aufsteigen und zu psychologischem Gesetz“. Andererseits entwerfe er mit Baumeister der Welt „in paralleler Linie in anderem Element essayistisch eine Typologie des Geistes“, in der er in Form von Porträts „historische Gestalten ins Mythische, in heroische Plastik“ erhebe. Dass Stefan Zweig mit dieser ambitionierten Zielsetzung eine mit Arnold Zweigs Forderungen übereinstimmende Aufklärungsabsicht verfolgte, wird spätestens in Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1934) [fortan: Erasmus] deutlich, wo er über die gewählte Symbolfigur schreibt: „Jede Epoche, die sich erneuern will, projiziert ihr Ideal zunächst in eine Gestalt. […] Neue Gefühle und Gedanken sind immer nur einem auserlesenen Kreise verständlich, die breite Masse vermag sie in abstrakter Form niemals zu erfassen, sondern ausschließlich sinnlich und anthropomorph; darum setzt sie gerne an die Stelle der Idee einen Menschen, ein Bild, ein Vor-Bild, dem sie sich gläubig nachzubilden sucht.“10 Bereits 1920 hatte er festgestellt, dass eine „Idee lebt, wenn sie von hundert Millionen auch nur ein Dutzend Menschen, ja wenn sie nur ein einziger Mensch mit seinem ganzen Wesen darstellt“.11 Legitimes←12 | 13→ Mittel zur Verbreitung einer Überzeugung sei ausschließlich „Werk und Wesen“. Ähnlich formulierte es um diese Zeit Arnold Zweig, der „Erziehung durch das Beispiel“ zur einzigen Möglichkeit erklärte, um zukunftsweisenden Ideen zur Durchsetzung zu verhelfen.12

Arnold Zweig und Stefan Zweig stimmten nach dem Ersten Weltkrieg in ihrem Anspruch überein, mit ihrem Werk erzieherisch auf ihr Publikum einzuwirken. Sie zielten darauf ab, an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken, versuchten also ihren Schriften Zukünftigkeit zu verleihen, verstanden mit Amir Eshel als „die Fähigkeit der Literatur, durch die fantasievolle Beschäftigung mit der Vergangenheit komplexe politische und ethische Probleme zu behandeln, die für die menschliche Zukunft ausschlaggebend sind“.13 Für welche Überzeugungen und Zukunftsvorstellungen sich die Schriftsteller in der Zwischenkriegszeit konkret engagierten, wird im Verlauf dieser Untersuchung ermittelt. Wesentliche Normen, die beide bewarben, waren für große Teile der Intellektuellen ihrer Zeit charakteristische humanistische Werte wie geistige Unabhängigkeit und Moral bzw. Sittlichkeit, aber auch (soziale) Gerechtigkeit. So erklärte es Stefan Zweig 1930 zur schriftstellerischen Pflicht, „nicht die Macht an sich zu bewundern, sondern nur jene seltenen Menschen, die sie redlich und gerechterweise gewonnen“ – und ergänzte, dies sei „eigentlich nur immer der geistige Mensch“, der Wissenschaftler, Künstler oder Dichter, „denn was er gibt, das ist niemandem genommen“.14 Noch während des Ersten Weltkrieges hatte er Rolland brieflich mitgeteilt, dass es nicht sein Ziel sei, „ein bedeutender Kritiker oder eine literarische Berühmtheit zu werden, sondern eine moralische Autorität“.15 Arnold Zweig stellte im März 1933 in einer Umfrage zu den Folgen des Machtwechsels im Deutschen Reich fest:←13 | 14→

Immer ist der Schriftsteller von seinen Zeitgenossen befehdet worden, der die sittlichen Grundlagen jedes nationalen Lebens – Wahrheit, Gerechtigkeit, Anstand und Mitgefühl – in Schutz nahm. Immer hat er erlebt, daß seine Motive verkannt wurden, seine Haltung verleumdet, seine Wirkung geschmälert, seine Person verunglimpft. Niemals ist es gelungen, ihn zum Schweigen oder von seinem Wege abzubringen. Unsere großen Vorbilder ermutigen uns, auszuhalten, und rufen eine Gesellschaft der sauberen Herzen und Köpfe aus allen Lagern zusammen, um das geistige Gut der Nation hinüberzutragen in diejenige Zukunft, die der Grad unseres Könnens uns zumisst. Ihrem Urteil unterwerfen wir uns, keinem anderen.16

Details

Seiten
476
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631748893
ISBN (ePUB)
9783631748909
ISBN (MOBI)
9783631748916
ISBN (Hardcover)
9783631746967
DOI
10.3726/b13490
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Psychoanalyse in der Literatur Zionismus 1918-1939 Kulturkritik Europa 1930er Jahre Europäische Einigung Pazifismus nach 1918 Antisemitismusforschung vor 1945
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 476 S.

Biographische Angaben

Jasmin Sohnemann (Autor:in)

Jasmin Sohnemann absolvierte zunächst ein betriebswirtschaftliches Studium. Später studierte sie in London und Potsdam Literaturwissenschaften. Sie war Stipendiatin im Walther-Rathenau-Graduiertenkolleg des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien.

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