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Kopula, Auxiliar, Prädikativ

Zur Satzstruktur in nordslavischen Sprachen

von Hagen Pitsch (Autor:in)
©2018 Monographie 316 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch thematisiert die lexikalischen und morphosyntaktischen Eigenschaften prädikativer Nomina sowie des Kopulalexems im Polnischen und Russischen. Im Mittelpunkt stehen die Formvariationen an den Prädikativen: Nominativ vs. Instrumental und Kurzform vs. Langform. Sie werden durch ein Modell ikonischer Oppositionen erklärt. Der Autor unterscheidet außerdem zwei Typen von Auxiliaren. Eine wichtige Erkenntnis der syntaktischen Analyse betrifft schließlich das Verhältnis von Semantik und Morphosyntax: Flexionsmarker sind nicht in jedem Fall die unmittelbaren Träger grammatischer Bedeutung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Objektsprachen
  • 1.2 Prädikative
  • 1.3 Variationen von Prädikativformen
  • 1.4 Interpretative Effekte (kursorischer Forschungsstand)
  • 1.5 Präpositionale Prädikative
  • 2. Bestandsaufnahme: Kopulasätze im Polnischen und Russischen
  • 2.1 Substantivische Prädikative
  • 2.1.1 Polnisch
  • 2.1.2 Russisch
  • 2.2 Adjektivische Prädikative
  • 2.2.1 Polnisch
  • 2.2.2 Russisch
  • 2.3 “Zustandsprädikativa”
  • 2.3.1 Polnisch
  • 2.3.2 Russisch
  • 3. Besprechung relevanter Analysen zu den Variationen
  • 3.1 Semantisch-deskriptiver Ansatz
  • 3.1.1 Nichols (1981)
  • 3.1.2 Ueda (1992)
  • 3.1.3 Richardson (2001)
  • 3.2 Semantosyntaktischer Ansatz
  • 3.2.1 Matushansky (2000)
  • 3.2.2 Harves (2002)
  • 3.2.3 Markman (2008)
  • 3.2.4 Matushansky (2008)
  • 3.3 Syntaktischer Ansatz
  • 3.3.1 Roy (2006)
  • 3.3.2 Pereltsvaig (2007)
  • 3.3.3 Bailyn (2012)
  • 3.3.4 Bondaruk (2013b)
  • 3.4 Semantopragmatischer Ansatz
  • 3.4.1 Timberlake (1986)
  • 3.4.2 Geist (2006)
  • 3.5 Formbasiert-pragmatischer Ansatz
  • 3.5.1 Hentschel (1991)
  • 3.5.2 Hentschel (1993a)
  • 3.5.3 Guiraud-Weber (1993)
  • 3.5.4 Bogusławski (2001)
  • 3.6 Rein struktureller Ansatz
  • 3.7 Fazit
  • 4. Theoretischer Rahmen
  • 4.1 Grammatikmodell
  • 4.2 Mentales Lexikon und Lexikoneinträge
  • 4.3 Morphosyntaktische Merkmale
  • 4.3.1 Wortarten
  • 4.3.2 Finita und Infinita
  • 4.3.3 Aktiv und Passiv
  • 4.3.4 “l-Formen”
  • 4.3.5 “Kurzformen”
  • 4.4 Argumentstruktur und Syntaktifizierung
  • 4.4.1 Verben
  • 4.4.2 Substantive
  • 4.4.3 Adjektive
  • 4.5 Syntax
  • 4.6 Semantik und Morphosyntax
  • 4.6.1 Flexionsmorphologie als Reflex semantischer Operatoren
  • 4.6.2 Semantische Operatoren und Auxiliare in I0
  • 4.6.3 Die Interaktion zwischen I0 und V0
  • 4.7 Zwei-Ebenen-Semantik
  • 5. Kopulasätze
  • 5.1 “Prädikation” und “Prädikativität”
  • 5.2 Die Formen von ‘sein’
  • 5.2.1 I-Auxiliare und V-Auxiliare
  • 5.2.2 Bestand und Distribution der V-Auxiliare
  • 5.2.3 Exkurs: Vorgangspassiv und “Zustandspassiv” im Russischen
  • 5.2.4 Bestand und Distribution der I-Auxiliare
  • 5.2.5 Fazit
  • 5.3 Primäre und sekundäre Prädikation
  • 5.3.1 Primäre Prädikation
  • 5.3.2 Sekundäre Prädikation
  • 5.3.2.1 Generelle Annahmen
  • 5.3.2.2 Gerundiale Strukturen
  • 5.3.2.3 Strukturen ohne Gerundien
  • 5.3.2.4 Strukturen mit jako und kak
  • 5.4 “Prädikatsphrasen”
  • 5.5 Kasuskongruenz und Kasuszuweisung
  • 5.5.1 Russisch
  • 5.5.2 Polnisch
  • 5.5.3 Fazit
  • 5.6 Die Gebrauchsweisen von (prädikativen) Adjektiven
  • 5.6.1 Lang- und Kurzformen
  • 5.6.2 Mögliche syntaktische Strukturen
  • 5.6.3 Zustandsprädikative
  • 6. Der “formbasierte” Vorschlag
  • 6.1 Ikonische Oppositionen
  • 6.2 Verschiedene “Modelle”
  • 6.2.1 Prädikative Adjektive im Russischen
  • 6.2.2 Prädikative Substantive im Russischen
  • 6.2.3 Prädikative Adjektive im Polnischen
  • 6.2.4 Prädikative Substantive im Polnischen
  • 7. Zusammenfassung und Ausblick
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Quellenverzeichnis
  • Appendix

1. Einleitung

Diese Arbeit befasst sich mit der Grammatik prädikativer Ausdrücke bzw. mit den grammatischen Eigenschaften von Prädikatsnomina im Russischen und Polnischen. Diese Themenstellung bedarf der mehrfachen Konkretisierung, die im Mittelpunkt der folgenden Abschnitte stehen wird.

1.1 Objektsprachen

Die Grundlage meiner Betrachtungen sind das moderne Russische und Polnische. Ich nehme eine synchrone Perspektive ein, was nicht ausschließt, dass an geeigneten Stellen – stets aber im Sinne von Hintergrundinformationen und in gebotener Kürze – auf sprachgeschichtliche Aspekte rekurriert wird. Was die Objektsprachen betrifft, so stellen Daten aus deren Standardvarietäten den Großteil des sprachlichen Materials. Jedoch erweist sich dieser Rahmen als mitunter zu eng, so dass ggf. auch andere Varietäten des Polnischen und Russischen (etwa die Umgangssprache in ihren diversen Abtönungen) Erwähnung finden.

Polnisch und Russisch als moderne Einzelsprachen werden genetisch-typologisch der indoeuropäischen Sprachfamilie, und innerhalb dieser dem slavischen Sprachzweig zugeordnet. Innerhalb des letzteren wird Russisch der ostslavischen, Polnisch der westslavischen Gruppe zugerechnet, jedenfalls sofern der in der Slavistik üblicherweise akzeptierten Dreiteilung gefolgt wird.1

Die Wahl der Objektsprachen Polnisch und Russisch ist mehrfach begründbar. Zum einen sind beide Sprachen die jeweils sprecherstärksten Vertreter ihrer Gruppe und können daher als repräsentativ gelten.2 Relevanter ist, dass sie als nordslavische Sprachen viele prinzipielle grammatische Parallelen zeigen, innerhalb derer jedoch häufig spezifische Unterschiede vorliegen. Demnach besteht gewissermaßen Varia ← 11 | 12 tion bei grundsätzlicher Ähnlichkeit, was die geeignete Grundlage einer vergleichenden Analyse darstellt. Schließlich kommen sowohl im Polnischen als auch im Russischen in vergleichbarer Qualität und Quantität nominale Prädikative zum Einsatz, die das Hauptthema dieser Arbeit bilden, wobei auch bei dieser prinzipiellen Parallele im Detail deutliche Unterschiede bestehen. Die derart festzustellenden Gemeinsamkeiten und Differenzen im Hinblick auf die Verwendung von Prädikatsnomina im Polnischen und Russischen können somit zu Antworten auf bis dato oft nur unzureichend beantwortete Fragen nach ihren sowohl sprachspezifischen als auch sprachübergreifenden Eigenschaften führen.

1.2 Prädikative

Der Begriff “Prädikativ” meint eine Wortform oder Phrase, die nicht der Wortart “Verb” angehört und die als Satzprädikat fungiert. Hierunter fallen prädikative Substantive, prädikative Adjektive, womöglich prädikative Adverbien sowie prädikative Präpositionalphrasen.

Traditionell und auch in dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass jede Satzstruktur auf einer flektierten Verbform basiert. Die invariante (sowohl deskriptive als auch grammatische) Bedeutung eines Verblexems lässt sich als Prädikat-Argument-Struktur darstellen, die im Satzkontext in eine vollständige Äußerung überführt wird. Ein Verb referiert jeweils auf einen Sachverhalt (Zustand, Prozess, Aktivität, Ereignis), der in der außersprachlichen Welt statthat und in der Äußerung als konkrete Instanz der jeweiligen Verbbedeutung ausgewiesen wird. Ferner bringt jedes Verb die an ‘seinem’ Sachverhalt jeweils beteiligten Partizipanten mit. Diese Argumente erhalten im Satz eine bestimmte morphosyntaktische Realisierung.

Jedoch ist offensichtlich, dass die rein verbale Form der Prädikation nicht die einzig mögliche in natürlichen Sprachen ist. Nicht für alle Sachverhalte bzw. Sachverhaltstypen in der außersprachlichen Welt liegen verbale Lexeme vor. Dies gilt v. a. für Zustandscharakterisierungen, die primär durch Kopulasätze versprachlicht werden.3 Hierher gehören auch die russischen und polnischen sog. “Prädikativa”. ← 12 | 13

Als konkrete Untersuchungsobjekte der vorliegenden Arbeit ergeben sich demnach Prädikative sowie “Prädikativa”. Ich werde jedoch versuchen zu zeigen, dass letztere ebenfalls als Prädikative gelten können, was die Annahme einer eigenständigen Wortart “Prädikativum” überflüssig macht. Im Fokus stehen somit Prädikative in ihren diversen Erscheinungsformen, primär aber Prädikatsnomina, d. h. Substantive und Adjektive. Diese Beschränkung begründet sich damit, dass nur letztere flektierbar sind und morphologische Markierungen tragen. Die Tatsache, dass ein und dasselbe prädikative Lexem in russischen sowie polnischen Kopulasätzen häufig in zwei oder mehr Formen bzw. mit zwei oder mehr Markierungen erscheinen kann, ist in der Forschung seit jeher Ursprung diverser, zum Teil deutlich divergierender Beschreibungen und Erklärungen. Auf die erwähnten Variationen und auf ihre wichtigsten bis dato vorliegenden Analysen wird im folgenden Abschnitt eingegangen.

1.3 Variationen von Prädikativformen

Zu den erwähnten Erscheinungsformen von Prädikativen in Kopulasätzen gehören (i) der “doppelte Nominativ” im Gegensatz zum “prädikativen Instrumental” sowie (ii) die adjektivische Kurzform im Gegensatz zu ihrer Langform.4 Die theoretische Diskussion in diesem Zusammenhang dreht sich naturgemäß um die Frage, ob diese Variationen in der Form der Prädikatsnomina mit einem Unterschied in ihrer ‘Bedeutung’ bzw. in der Interpretation der aus ihnen resultierenden Kopulasätze einhergehen. Sofern dies bejaht wird, was mindestens für das Russische auf der Basis von empirischen Beobachtungen und Aussagen kompetenter Sprecher meist der Fall ist, schließt sich folgerichtig die Frage an, worauf dieser ‘Bedeutungsunterschied’ beruht bzw. wie er zustande kommt.

In diesem Kontext hält sich besonders in der russistischen Grammatikschreibung hartnäckig die Ansicht, der angedeutete Bedeutungsunterschied sei im Sprachsystem angelegt. Dabei variieren die Analysen zum einen in der Beschreibung der Bedeutungsunterschiede an sich und zum anderen in Bezug auf die Verortung ihrer Quelle/n im Sprachsystem. Entweder werden die feststellbaren interpretativen Effekte5 direkt auf die Prädikativformen bzw. auf deren jeweilige morphologische ← 13 | 14 Markierung zurückgeführt (vgl. u. a. Geist 2006, 2010), oder es wird von verschiedenen “Konstruktionen” ausgegangen, denen die jeweilige ‘Bedeutung’ eigen sei (vgl. u. a. Kuznetsova & Rakhilina 2010); schließlich wird vorgeschlagen, die alternierenden Prädikativformen bzw. Interpretationen der Kopulasätze folgten aus distinkten syntaktischen Strukturen (vgl. u. a. Matushansky 2000; Markman 2008; Bailyn 2012).

Was in der vorliegenden Arbeit insbesondere bezweifelt wird, ist die oftmals nicht hinterfragte bzw. stillschweigend vorausgesetzte Grundannahme, die Form- bzw. Markierungsvarianten der Prädikative reflektierten etwas im grammatischen System Angelegtes. Dies impliziert, dass (a) im mentalen Lexikon eine invariante semantische Komponente vorhanden sei, die direkt oder indirekt durch die variierenden Prädikativformen sprachlich realisiert bzw. reflektiert wird, oder dass (b) distinkte syntaktische Strukturen (oder gar “Konstruktionen” vor)gegeben seien, die ihrerseits die alternierenden Prädikativformen und somit auch die interpretativen Effekte determinieren und erklären.

Es gibt jedoch gute Gründe, an dieser Annahme zu zweifeln. Dabei geht es durchaus nicht darum, die interpretativen Effekte an sich in Frage zu stellen. Allein ihre ständige Erwähnung in Grammatiken und Analysen belegt, dass sie real sind.6 Vorsicht ist jedoch geboten, wenn diese Effekte auf eine fixe Quelle im Sprachsystem zurückgeführt werden, unabhängig davon, ob diese ihrer Natur nach semantisch oder syntaktisch sei.

Dagegen spricht allein schon, dass die Effekte selbst überaus heterogen beschrieben werden. Offenbar fällt es nicht nur kompetenten Sprechern7, sondern auch LinguistInnen schwer, für sie eine stabile Beschreibung zu finden. Ferner ← 14 | 15 treten die Effekte in russischen und (sofern für sie überhaupt angenommen) auch in polnischen Kopulasätzen – anders als z. B. im Spanischen – keineswegs konsequent auf.8 Zu ihnen kommt es überhaupt nur dann, wenn mindestens zwei Prädikativformen bzw. -markierungen in potenzieller Opposition zueinander stehen. Wichtig ist zudem, dass die meisten Arbeiten zum Russischen von der Situation ausgehen, wie sie für die normierte Standardsprache (russkij literaturnyj jazyk) besteht bzw. per definitionem bestehen soll. In anderen Varietäten des Russischen, z. B. in der russkaja razgovornaja reč’, im prostorečie oder in der journalistischen Sprache etc., gelten offenbar mitunter eigene, abweichende “Regeln”.9 So ergibt sich eine recht diffuse Gesamtlage. Zwar lässt sich die Existenz interpretativer Effekte nicht bestreiten, ihr Charakter jedoch ist offenbar nur schwerlich einheitlich erfassbar, da sich je nach Varietät allein schon das Spektrum möglicher Prädikativformen, auf denen die Effekte offensichtlich beruhen, unterscheidet.

Dieses komplexe Gesamtbild spricht gegen die (deterministische) Annahme einer semantisch-lexikalisch, konstruktionsbasiert und/oder syntaktisch-strukturell vorbestimmten, also im Sprachsystem manifesten und somit invarianten Distinktion, die sich mittelbar oder unmittelbar in den alternierenden Prädikativformen realisiere. Von einer solchen Distinktion wäre ja gerade zu erwarten, dass sie konsequent stattfindet. Jedoch trifft dies v. a. für das Russische gerade in dem Maße nicht zu, wie es umgekehrt etwa für das Spanische bei adjektivischen Prädikativen zutrifft (vgl. Maienborn 2003a, 2005a). Dieser Unterschied muss im Rahmen einer theoretischen Rekonstruktion Beachtung finden, für die also schon an dieser Stelle prognostiziert werden kann, dass sie für das Russische deutlich anders ausfallen dürfte als für das Spanische, wenn auch z. B. Geist (2006) entgegengesetzt argumentiert. Freilich be ← 15 | 16 stehen auch Unterschiede hinsichtlich der Prädikativmarkierungen und ihrer Effekte zwischen dem Russischen und Polnischen – sie sind aber anderer Natur und gewissermaßen ‘weniger gewichtig’ als jene Unterschiede, die beide slavischen Sprachen im Vergleich zum Spanischen zeigen. Was sowohl Polnisch als auch Russisch vom Spanischen absetzt – so die hier vertretene These –, ist das Fehlen einer im engeren Sinne grammatisch determinierten Distinktion:10

Arbeitshypothese

Polnisch und Russisch verfügen über variierende morphosyntaktische Formen von bzw. Markierungen an Prädikatsnomina. Die resultierenden Variationen werden in beiden Sprachen verschiedentlich ausgenutzt, um bestimmte interpretative Effekte zu erzielen. Den Variationen liegen jedoch keine semantischen und/oder syntaktischen Invarianten zugrunde.

Anders formuliert: “Sprachlich real” sind im Polnischen und Russischen allein die verfügbaren Formen von Prädikatsnomina. Sie werden in beiden Sprachen zwar unterschiedlich eingesetzt, haben jedoch gemeinsam, dass es sich bei ihnen in der Tat lediglich um Varianten in der Form handelt, denen von sich aus keine (grammatische) Bedeutung zukommt. Mit Hentschel (1993a) lässt sich auch von “diakritischen” Markierungen sprechen. Es ist zu betonen, dass eine bestimmte Form bzw. Markierung überhaupt nur dann eine ‘Bedeutung’ oder Lesart erhalten kann, wenn sie in Opposition zu einer alternativen Form bzw. Markierung steht, d. h. bei einer “Variation im eigentlichen Sinne” (Bogusławski 2001, 127).

1.4 Interpretative Effekte (kursorischer Forschungsstand)

Die hauptsächlich für das Russische (und hier wiederum v. a. für Prädikatssubstantive) beschriebenen interpretativen Effekte treten, wie bereits erwähnt, nur dann auf, wenn mindestens zwei variierende Prädikativformen bzw. -markierungen potenziell konkurrieren. Nur in diesem Fall besteht eine Opposition zwischen ihnen, und nur dann kann Isačenkos (1962, 146-147) Formulierung wörtlich gelten, dass nämlich ← 16 | 17 jede grammatische Form auch etwas “meine”.11 Freilich bedeutet das nicht, dass in Fällen, in denen nur eine Prädikativform verwendet werden kann, diese nicht dennoch eine Bedeutung trägt. An sich hat sie selbstverständlich ihre deskriptive Bedeutung und Funktion im Satz. Jedoch steht sie in einem solchen Fall nicht in Opposition zu einer alternativen Form (oder alternativen Formen) und kann insofern nichts Zusätzliches “meinen”, das sich erst aus dem möglichen Gegensatz verschiedener sprachlicher Zeichen in ein und derselben Funktion/Position ergibt, d. h. ein ‘interpretativer Effekt’.

Die interpretativen Effekte im Zusammenhang mit russischen Kopulasätzen werden in der Fachliteratur sehr heterogen beschrieben und – wenn überhaupt – auch sehr unterschiedlich hergeleitet. In den Tabellen 1 bis 6 sind einige Arbeiten zusammengestellt, die Bezug auf die in Konkurrenz zueinander stehenden Kasusformen an russischen Prädikatsnomina (Nominativ vs. Instrumental, mehrheitlich Substantive) nehmen (vgl. auch Geist 2006; Pitsch 2008). Ich ordne die Ansätze in folgende “Lager”, die durch den Faktor bestimmt werden, der für die Wahl der Prädikativform bzw. des Kasus als ausschlaggebend betrachtet wird:12

   1.     semantisch-deskriptive Ansätze

   2.     semantosyntaktische Ansätze

   3.     syntaktische Ansätze

   4.     semantopragmatische Ansätze

   5.     formbasiert-pragmatische Ansätze

   6.     rein strukturelle Ansätze

Die Mehrzahl der traditionellen – und dabei so gut wie immer deskriptiven – Beschreibungen, aber auch eine Reihe jüngerer, explikativ orientierter Arbeiten können als rein semantisch bezeichnet werden (Tab. 1). Hier wird davon ausgegangen, eine bestimmte Semantik bzw. ein bestimmter Bedeutungsanteil sei für die Wahl der Prädikativform ursächlich. Dieser Bedeutungsanteil muss – was oft nicht thematisiert oder offengelassen wird – in irgendeiner Form im Sprachsystem angelegt sein, höchstwahrscheinlich als Teil der grammatischen Bedeutung einer ← 17 | 18 bestimmten lexikalischen Einheit im mentalen Lexikon (d. h. als Komponente in ihrem Lexikoneintrag).

Als semantosyntaktisch bezeichne ich Analysen, die eine semantische Distinktion als Grundlage für differente syntaktische Strukturen betrachten, die ihrerseits die variierenden Prädikativformen determinieren (Tab. 2).

Die zuletzt genannten Analysen stehen zwischen den anfangs erwähnten (rein) semantischen Arbeiten und einem weiteren “Lager”, das ich syntaktisch nenne (Tab. 3), da die interpretativen Effekte hier als “Produkt” distinkter syntaktischer Strukturen betrachtet werden. Folglich wird die Syntax als zentraler (meist einziger) Faktor benannt, der sowohl die Prädikativform(en) als auch die schließliche Satzinterpretation determiniere. Der Übergang zu den semantosyntaktischen Analysen ist mitunter fließend.

Details

Seiten
316
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631737552
ISBN (ePUB)
9783631737569
ISBN (MOBI)
9783631737576
ISBN (Paperback)
9783631737545
DOI
10.3726/b12286
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Syntax Morphologie Morphosyntax Polnisch Russisch Korpulasätze
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 315 S., 15 s/w Abb., 21 Tab., 31 Graf.

Biographische Angaben

Hagen Pitsch (Autor:in)

Hagen Pitsch studierte Ostslavistik, Polonistik sowie Ost- und Südosteuropawissenschaften in Leipzig. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Slavische Philologie der Universität Göttingen und wurde dort promoviert.

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Titel: Kopula, Auxiliar, Prädikativ
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