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Die «Selbstreinigung» von Unternehmen nach Kartellrechtsverstößen

Die Wiederherstellung der vergaberechtlichen Zuverlässigkeit

von Jeanie Henn (Autor:in)
©2018 Dissertation 236 Seiten

Zusammenfassung

Die Frage der «Selbstreinigung» von Unternehmen stellt sich im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe. Wenn in einem Unternehmen ein Kartellrechtsverstoß begangen wurde, stellt dies, als Verstoß gegen den das Vergaberecht prägenden Wettbewerbsgrundsatz, einen Grund dar, dieses Unternehmen nicht zu berücksichtigen. Ein Unternehmen darf jedoch nicht über das Erforderliche hinaus von Vergabeverfahren ausgeschlossen werden. Es ist von der Vergabestelle zu berücksichtigen, wenn das Unternehmen hinreichende Maßnahmen ergriffen hat, um künftige Rechtsverstöße zu verhindern. Die Autorin befasst sich detailliert mit den Voraussetzungen einer solchen erfolgreichen «Selbstreinigung» und setzt sich dabei insbesondere kritisch mit dem Erfordernis einer Schadenswiedergutmachung auseinander.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung und Gang der Untersuchung
  • Kapitel 1: Die Strukturmerkmale des Vergaberechts
  • A. Die Grundsätze des Vergaberechts
  • I. Geschichtliche Entwicklung und Bedeutung
  • II. Der Wettbewerbsgrundsatz
  • III. Der Transparenzgrundsatz
  • IV. Der Gleichbehandlungsgrundsatz
  • V. Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz
  • VI. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • B. Die wesentlichen Vorschriften des Vergaberechts und ihr Anwendungsbereich
  • I. Regelungen auf europäischer Ebene
  • II. Die Unterscheidung zwischen ober- und unterschwelligem Bereich
  • III. Das »Kaskadensystem« der Vorschriften für den oberschwelligen Bereich
  • IV. Vorschriften für den unterschwelligen Bereich
  • V. Die Voraussetzungen der Anwendbarkeit des Vergaberechts
  • 1. Öffentlicher Auftraggeber
  • 2. Öffentlicher Auftrag
  • C. Die unterschiedlichen Verfahrensarten
  • I. Das offene Verfahren
  • II. Das nicht offene Verfahren
  • III. Das Verhandlungsverfahren
  • IV. Der wettbewerbliche Dialog
  • V. Anwendung der richtigen Verfahrensart
  • VI. Verfahrensarten im unterschwelligen Bereich
  • VII. Weitere Vorgaben zum Verfahren
  • D. Der Rechtsschutz im Vergaberecht
  • Kapitel 2: Die Einhaltung kartellrechtlicher Vorschriften als Anforderung an Bewerber und Bieter nach deutschem Vergaberecht
  • A. Die Einhaltung von Gesetzen als Eignungskriterium
  • I. Die Definition der »Zuverlässigkeit« eines Auftragnehmers
  • II. Keine Änderung der Anforderungen durch die Einfügung des Begriffs »gesetzestreu«
  • III. Die umfassten Vorschriften
  • IV. Verstöße gegen kartellrechtliche Vorschriften
  • 1. Submissionsabsprachen
  • 2. Kartelle ohne konkreten Bezug zu Ausschreibungsverfahren
  • B. Prüfungsstandort und Prüfungsmaßstäbe
  • I. Die einzelnen Schritte der Angebotsprüfung
  • II. Die Relevanz von Kartellrechtsverstößen im Rahmen der Prüfung von Ausschlussgründen
  • 1. Ein Kartellrechtsverstoß als zwingender Ausschlussgrund
  • a) Eine wettbewerbsbeschränkende Abrede in Bezug auf die Ausschreibung
  • b) Eine rechtskräftige Verurteilung wegen Betrugs
  • c) Rechtsfolge: Grundsätzlich kein Ermessen der Vergabestelle
  • 2. Ein Kartellrechtsverstoß als fakultativer Ausschlussgrund
  • a) Ein Kartellrechtsverstoß als »schwere Verfehlung«
  • b) Infragestellung der Zuverlässigkeit
  • c) Die Anforderungen an den Nachweis für das Vorliegen einer schweren Verfehlung
  • (1) Nachweispflicht der Vergabestelle
  • (2) »Gesicherte Erkenntnis«
  • (3) Kein Erfordernis einer rechtskräftigen Entscheidung
  • (4) Informationsquellen
  • (aa) Offizielle Register
  • (bb) Präqualifikationssysteme
  • (cc) Eigenerklärungen
  • (dd) Auskunft durch Behörden
  • (5) Anhörung des betroffenen Unternehmens
  • d) Beurteilungsspielraum der Vergabestelle
  • e) Rechtsfolge: Ermessensentscheidung der Vergabestelle
  • III. Die Relevanz von Kartellrechtsverstößen bei der Frage der Verhängung einer Sperre für künftige Vergabeverfahren
  • 1. Die Zulässigkeit längerfristiger Ausschlüsse
  • 2. Die Voraussetzungen einer Auftragssperre
  • 3. Die Anforderungen an den Nachweis des Fehlverhaltens
  • 4. Das Erfordernis einer Anhörung
  • 5. Die zulässige Dauer einer Sperre
  • IV. Die Zurechnung von Fehlverhalten
  • 1. Die Zurechnung innerhalb des Unternehmens
  • a) Das Handeln von Führungspersonen
  • b) Das Handeln untergeordneter Mitarbeiter
  • c) Der Bezug zur beruflichen Tätigkeit
  • 2. Die Zurechnung im Konzernverbund
  • 3. Die Zurechnung der Verfehlungen von Niederlassungen
  • 4. Bietergemeinschaften und Nachunternehmer
  • 5. Die Zurechnung nach Unternehmenskäufen und Verschmelzungen
  • V. Der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt und die Berücksichtigung von Veränderungen im Laufe des Vergabeverfahrens
  • VI. Der zu berücksichtigende Zeitraum
  • Kapitel 3: Die Möglichkeit der »Selbstreinigung«
  • A. Begriff und Hintergründe
  • I. Der Begriff der »Selbstreinigung«
  • II. Die Gründe für das Bestehen der Möglichkeit der Selbstreinigung
  • 1. Die Zielrichtung der vergaberechtlichen Vorschriften
  • 2. Die vergaberechtlichen Grundprinzipien
  • 3. Keine Zuständigkeit der Vergabestelle für Sanktionsmaßnahmen
  • 4. Rechtspolitische Erwägungen
  • 5. Besonderheiten bei einem oligopolistischen Anbietermarkt
  • B. Die Selbstreinigung als zu berücksichtigender Gesichtspunkt bei der Bewertung der Zuverlässigkeit
  • I. Anerkannter Prüfungspunkt
  • II. Prüfungsstandort
  • 1. Bei zwingenden Ausschlussgründen
  • 2. Bei fakultativen Ausschlussgründen
  • 3. Bei der Verhängung und Aufhebung von Auftragssperren
  • III. Das Erfordernis einer Anhörung
  • IV. Der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt und die Berücksichtigung von Veränderungen im Laufe des Vergabeverfahrens
  • V. Beurteilungsspielraum der Vergabestelle
  • VI. Ermessensentscheidung der Vergabestelle
  • C. Die Elemente einer erfolgreichen Selbstreinigung
  • I. Die Aufklärung des Sachverhalts
  • 1. Das erforderliche Ausmaß der Sachverhaltsaufklärung
  • 2. Kein Erfordernis eines Geständnisses
  • 3. Die Mittel der internen Sachverhaltsaufklärung
  • a) Einzusetzende Ressourcen
  • b) Mitarbeiterinterviews
  • c) Screenings
  • d) Mitbestimmungsrechte
  • 4. Grenzen der internen Ermittlungsmöglichkeiten
  • a) Auskunftsverweigerungsrecht der Mitarbeiter
  • b) Einschränkungen im Hinblick auf Screenings
  • c) Freiwillige Einhaltung strafprozessualer Vorgaben
  • 5. Die Zusammenarbeit mit den Verfolgungsbehörden und der Vergabestelle
  • 6. Die Kooperation mit den Kartellbehörden im Speziellen
  • 7. Die Aufklärung in Bezug auf einen möglichen Schaden
  • 8. Die Offenlegung der Einzelheiten einer Kooperation mit den Kartellbehörden
  • II. Personelle Maßnahmen
  • 1. Die betroffenen Personen
  • 2. Die erforderlichen Konsequenzen
  • a) Grundsätzliche Anforderungen
  • (1) Der Entzug der Möglichkeiten zur Einflussnahme
  • (2) Angemessenheit in Bezug auf den Handlungsbeitrag
  • (3) Angemessenheit in Bezug auf die Position der betreffenden Person
  • (4) Kein Handlungsgebot bei bloßen Verdachtsmomenten
  • b) Besonderheiten bei mittelständischen und Familienunternehmen
  • c) Im Hinblick auf Gesellschafter im Speziellen
  • d) Flankierende Maßnahmen
  • e) Einfluss auf die Anstellungspolitik
  • 3. Grenzen des Arbeitsrechts
  • 4. Entgegenstehende Interessen in Zusammenhang mit der Aufklärung des Sachverhalts: Für und Wider des Einsatzes eines Amnestieprogramms
  • 5. Entgegenstehende Interessen in Zusammenhang mit einer Kooperation mit den Kartellbehörden
  • III. Strukturelle und organisatorische Maßnahmen
  • 1. Die Einführung oder Anpassung eines Compliance-Systems
  • a) Grundsätzliche Anforderungen an die Kartellrechts-Compliance
  • b) Spezielle Anforderungen vor dem Hintergrund einer vergaberechtlichen Selbstreinigung
  • c) Die Einführung eines Wertemanagements
  • 2. Umstrukturierungen
  • 3. Personalbezogene Strukturmaßnahmen
  • 4. Die Einführung eines whistle-blower-Systems
  • IV. Wiedergutmachung des Schadens
  • 1. Bisherige Rechtsprechung und Entscheidungspraxis der Vergabekammern
  • 2. Aktuelle Rechtstextlage
  • 3. Gründe, die gegen das Erfordernis einer Schadenswiedergutmachung sprechen
  • a) Komplexität der Bestimmung des Schadens
  • b) »Erkaufen« der Zuverlässigkeit
  • c) Wahrnehmung berechtigter Interessen
  • d) Kein Einfluss auf künftige Zuverlässigkeit
  • e) Entgegenstehende rechtliche Wertungen aus anderen Bereichen
  • f) Machtposition der Vergabestelle
  • 4. Gründe, die für das Erfordernis einer Schadenswiedergutmachung sprechen
  • a) Zumeist fehlende Begründung dieser Anforderung
  • b) Wiedergutmachung als Zeichen der Reue
  • c) Einfluss auf die künftige Zuverlässigkeit
  • d) Prävention von Kartellrechtsverstößen
  • e) Heranziehung der Rechtsprechung zu anderen Rechtsgebieten
  • 5. Eigene Position
  • a) Erheblichkeit des Merkmals der Schadenswiedergutmachung
  • b) Differenzierung nach streitigen und unstreitigen Ansprüchen
  • (1) Die Unterscheidung von streitigen und unstreitigen Forderungen
  • (2) Die Anforderungen bei unstreitigen Forderungen
  • (3) Die Anforderungen bei streitigen Forderungen
  • 6. Zwischenergebnis
  • V. Einzelfallprüfung
  • D. Die Anforderungen an den Nachweis entsprechender Maßnahmen
  • I. Grundsätzliche Anforderungen
  • II. Der Nachweis der Sachverhaltsaufklärung
  • III. Der Nachweis personeller Maßnahmen
  • IV. Der Nachweis struktureller und organisatorischer Maßnahmen
  • 1. Compliance-Maßnahmen
  • 2. Umstrukturierungen
  • V. Der Nachweis der (Bereitschaft zur) Schadenswiedergutmachung
  • E. Die Berücksichtigung von Selbstreinigungsmaßnahmen im Konzernverbund sowie bei Bietergemeinschaften und Nachunternehmern
  • F. Die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Entscheidungen über die Selbstreinigung
  • G. Beispiel aus der Praxis für die Anforderungen an eine erfolgreiche Selbstreinigung: Das Feuerwehrfahrzeugkartell
  • H. Zusammenfassender Überblick zu den Voraussetzungen einer Selbstreinigung
  • Zusammenfassung und Thesen
  • Anlage 1: Übersicht der zitierten Landesvorschriften
  • Anlage 2: Übersicht der maßgeblichen Entscheidungen der Gerichte und Vergabekammern
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung und Gang der Untersuchung

Die aktuelle Entwicklung im nationalen Kartellrecht ist geprägt von der Tatsache, dass das Bundeskartellamt sich mit Hochdruck vor allem der Aufdeckung so genannter Hardcore-Kartelle, also Preis-, Quoten-, Gebiets- und Kundenabsprachen,1 widmet. Die Ressourcen für die Bearbeitung solcher Fälle wurden in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut. Zunächst wurde im März 2002 eine in personeller und sachlicher Hinsicht spezialisierte Sonderkommission Kartellbekämpfung (SKK) geschaffen, die die jeweils zuständige Beschlussabteilung in Kartellverfahren unterstützt.2 Im Juni 2005 wurde die Organisationsstruktur des Bundeskartellamtes dahingehend geändert, dass nunmehr die 11. Beschlussabteilung branchenübergreifend und ausschließlich für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten zuständig ist.3 Im Oktober 2008 kam eine neu geschaffene 12. Beschlussabteilung hinzu, die sich ebenfalls allein der Verfolgung von Kartellen widmet.4 Schließlich wurde Mitte 2011 mit der 10. Beschlusskammer eine weitere Kammer für ausschließlich für solche Wettbewerbsverstöße zuständig erklärt.5 Damit sind nun drei von zwölf Beschlusskammern mit der »Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten in Verbindung mit Verstößen gegen § 1 GWB und Art. 101 AEUV« befasst.6 Eine weitere Maßnahme zur Erhöhung der Aufdeckungsquote war die Einrichtung eines anonymen Hinweisgebersystems 2012.7 Ein eindrucksvoller Beleg für den Erfolg der Behörde bei der Aufdeckung und Sanktionierung von Kartellen war das Jahr 2014, in dem erstmals eine Rekordsumme von über 1 Mrd. EUR Bußgelder verhängt wurden.8

Immer häufiger kommen schwerwiegende Kartellverstöße ans Tageslicht, die Märkte betreffen, auf denen Aufträge durch öffentliche Ausschreibungen vergeben ← 15 | 16 → werden. Das Bundeskartellamt hat seine Aufdeckungsbemühungen in diesen Bereichen intensiviert und vor dem Hintergrund der Strafbarkeit von Submissionsabsprachen die Zusammenarbeit mit der parallel zuständigen Staatsanwaltschaft forciert.9 Zudem veröffentlichte die Kartellbehörde eine Informationsbroschüre für Vergabestellen, die mittels einer Checkliste mit typischen Indikatoren die Aufdeckung von Submissionsabsprachen erleichtern soll.10 Bereits im Jahr 2000 war das Bundeskartellamt mit diesem Thema befasst, namentlich in Verfahren gegen Hersteller von Kampfschuhen für die Bundeswehr11 und gegen Unternehmen des Rohrleitungsbaus12. Es folgten 2008 Bußgelder den Produktbereich Auftausalze betreffend13 und 2010 gegen Hersteller von Dampfkesseln.14 Mit den Verfahren gegen Hersteller von Feuerwehrlöschfahrzeugen15 bzw. Feuerwehrdrehleiterfahrzeugen16 sowie gegen Hersteller von Schienen, Weichen und Weichenzungen17 liegen in jüngster Vergangenheit umfangreiche Kartellverfahren vor, die Absprachen auf Märkten zum Gegenstand hatten, die vor allem die öffentliche Hand betreffen. 2012 wurden außerdem gegen Hersteller von Leistungstransformatoren Bußgelder ← 16 | 17 → wegen Absprachen bei Ausschreibungen verhängt.18 Bei einem Verfahren wegen Kundenschutzabsprachen bei Serviceleistungen für Wärmetauscher in Kraftwerken und bei einem Verfahren gegen Anbieter von Bergbauspezialarbeiten, die beide 2014 abgeschlossen wurde, ermittelte die Staatsanwaltschaft parallel und in Abstimmung mit dem Bundeskartellamt gegen die betroffenen Personen wegen des Verdachts auf Submissionsbetrug.19

Angesichts dieser vermehrten Aufdeckung von Kartellabsprachen durch die Ermittlungsbehörden stehen öffentliche Auftraggeber verstärkt vor der Frage, wie mit der Tatsache umzugehen ist, dass Anbieter, die sich an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen, Kartellrechtsverstöße begangen haben. Bei der Vergabe von Aufträgen ist die öffentliche Hand verpflichtet, darauf zu achten, nur solche Bieter auszuwählen, von denen zu erwarten ist, dass sie zuverlässig sein und sich an die Gesetze halten werden. Dabei spielt das bisherige Verhalten des Bieters eine entscheidende Rolle. Der Auftraggeber muss beurteilen, inwiefern eine Verfehlung in der Vergangenheit Auswirkungen auf die Prognose über das zukünftige Handeln eines Unternehmens haben kann oder sogar muss und unter welchen Voraussetzungen ein Fehlverhalten unberücksichtigt bleiben darf bzw. muss. Diese Aspekte spielen vor allem auf solchen Märkten eine große Rolle, auf denen wegen der hohen Spezialisierung des Produkts und/oder der geringen Größe des Marktes nur wenige Anbieter überhaupt zur Verfügung stehen. Es stellt sich die Frage, ob anbietende Unternehmen, die in wettbewerbswidrige Absprachen verwickelt waren, von vorneherein von Ausschreibungen ausgeschlossen werden müssen oder können. Für die ehemaligen Kartellanten ist es von hoher Relevanz, inwieweit sie auf die Entscheidung der Vergabestelle Einfluss nehmen können, um weiterhin die Chance zu haben, öffentliche Aufträge zu erhalten. Andererseits muss gewährleistet sein, dass konkurrierende Bieter, die sich in der Vergangenheit korrekt verhalten haben, durch die Berücksichtigung von Unternehmen, die sich gesetzeswidrig verhalten haben, nicht benachteiligt werden. Die Vergabeentscheidung des öffentlichen Auftraggebers bewegt sich dabei im Spannungsfeld von effektiver Auftragsvergabe und den Erfordernissen eines transparenten, diskriminierungsfreien Vergabeverfahrens im freien Wettbewerb, wie § 97 Abs. 1 und 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen20 es vorschreiben. In einzelnen Branchen mit oligopolistischer Anbieterstruktur ist denkbar, dass sämtliche in Betracht kommenden Unternehmen sich bei früheren Auftragsvergaben abgesprochen haben und somit streng genommen keines für einen Zuschlag in Frage kommt. Dennoch muss die öffentliche Hand die Möglichkeit haben, ihre notwendigen Beschaffungsvorgänge zu organisieren und ← 17 | 18 → zu beauftragen. Wenn es keinen alternativen Anbieter gibt, hat die Vergabestelle ein Interesse daran, das »kleinste Übel« wählen zu dürfen, also dasjenige Unternehmen, das die größten Bemühungen unternommen hat, sich wieder gesetzestreu zu verhalten und dies nachzuweisen.

So stellte sich etwa für die auftraggebenden Kommunen nach Bekanntwerden des Feuerwehrfahrzeugkartells die schwierige Frage, wie mit der Situation umzugehen ist, dass sämtliche der wenigen Hersteller in ein Kartell verwickelt waren. Da keine alternativen Anbieter vorhanden waren, erfolgten trotz Verfehlungen in der Vergangenheit Auftragsvergaben an solche Unternehmen, von denen die entsprechende Vergabestelle glaubte, dass sie »geläutert« seien.21 Vor einer ähnlichen Situation stand die Deutsche Bahn AG als Hauptbetroffene des Schienenkartells, das im Mai 2012 aufgedeckt wurde. Sie vergab den hochdotierten Auftrag der Lieferung ihres Schienenbedarfs für 2012 dennoch an zwei der Beteiligten des Schienenkartells, das im Mai 2011 durch das Bundeskartellamt aufgedeckt wurde, da durch diese beiden Unternehmen ein umfassender Beitrag zur Aufklärung der Vorwürfe geleistet worden sei.22 Eines der beiden Unternehmen, das sich trotz ungeklärter Schadensersatzansprüche um Aufträge der Deutschen Bahn AG bewarb, schloss die Deutsche Bahn AG allerdings bei der nächsten Ausschreibung zwei Jahr später vom Vergabeverfahren aus, da keine Wiedergutmachung für den durch das Kartell verursachten Schaden geleistet worden sei und das Unternehmen auch nichts dazu beitrage, sondern in dem dazu anhängigen Zivilprozess auf Zeit spiele.23

Anhand welcher Kriterien die Vergabestelle zu beurteilen hat, ob sie einem Unternehmen, das in der Vergangenheit einen Kartellrechtsverstoß begangen hat, einen öffentlichen Auftrag erteilen kann, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Bereits seit einigen Jahren ist in der Rechtsprechung und in der Praxis der Vergabekammern anerkannt, dass so genannte »Selbstreinigungsmaßnahmen« von Unternehmen, die bezwecken, nach Kartellrechtsverstößen die für einen Zuschlag erforderliche Zuverlässigkeit des betreffenden Unternehmens wiederherzustellen, von der Vergabestelle zu berücksichtigen sind. Die Anforderungen an eine erfolgreiche Selbstreinigung im Einzelnen sind demgegenüber in vielen Aspekten noch nicht abschließend geklärt. Insbesondere stellt sich die Frage, ob eine Schadenswiedergutmachung für die Wiederherstellung der Zuverlässigkeit erforderlich ist. Ferner befindet sich die Thematik durch die Reform der Europäischen Richtlinien zum Vergaberecht, welche die Berücksichtigung von Selbstreinigungsmaßnahmen in einigen der neuen Vorschriften explizit vorsieht, aktuell in der Entwicklung. ← 18 | 19 →

Im Folgenden wird nach einer Skizzierung der Grundlagen des Vergaberechts (siehe Kapitel 1) zunächst dargestellt, in welchen Situationen sich die Vergabestelle mit der Frage der Zuverlässigkeit von Unternehmen zu beschäftigen hat (siehe Kapitel 2). In Kapitel 3 wird en détail untersucht, wie Selbstreinigungsmaßnahmen von Unternehmen nach Kartellrechtsverstößen in die Zuverlässigkeitsprüfung einzubeziehen sind, welche Elemente für eine erfolgreiche Wiederherstellung der Zuverlässigkeit erfüllt sein müssen und wie eine durchgeführte Selbstreinigung nachgewiesen werden kann. Die Frage der Selbstreinigung eines Unternehmens stellt sich auch nach anderen Verfehlungen, insbesondere nach Korruptionsdelikten. In den folgenden Ausführungen soll jedoch auf die relevanten Gesichtspunkte unter besonderer Berücksichtigung der Konstellation von Kartellrechtsverstößen eingegangen werden. Die vorliegende Darstellung fokussiert sich ferner auf die Selbstreinigungsmöglichkeiten von Unternehmen, da es nur selten vorkommt, dass natürliche Personen – unabhängig von einer Unternehmenszugehörigkeit – Kartellrechtsverstöße begehen und es auch weit überwiegend Unternehmen sind, die sich um öffentliche Aufträge bemühen.


1 Krauß in Langen/Bunte, Kommentar zum Deutschen Kartellrecht, § 1 GWB, Rn. 12; Lober in Schulte/Just, Kommentar Kartellrecht, § 1 GWB, Rn. 55.

2 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 5. März 2002, abrufbar unter http://bit.ly/1sIyLGJ; Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 2001/2002, BT-Drs. Nr. 15/1226 vom 27. Juni 2003, S. 9, 44/45.

3 Siehe Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 2005/2006, BT-Drs. Nr. 16/5710 vom 15. Juni 2007, S. 9.

4 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 18. Dezember 2008, abrufbar unter http://bit.ly/1vSXeew; Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 2007/2008, BT-Drs. Nr. 16/13500 vom 22. Juni 2009, S. 32.

5 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 14. Juli 2011, abrufbar unter http://bit.ly/1AXC41Q.

6 Siehe Organigramm des Bundeskartellamtes, abrufbar unter http://bit.ly/1tOmAtE (Stand: 1. August 2014).

7 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 1. Juni 2012, abrufbar unter http://bit.ly/1pbc1LH.

8 Siehe Jahresbericht 2014 des Bundeskartellamtes von Mai 2015, S. 2 u.a., abrufbar unter http://bit.ly/1UuWbBG.

9 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 15. April 2013, abrufbar unter http://bit.ly/VVZKnM; Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 10. Februar 2012, abrufbar unter http://bit.ly/1qluedy.

10 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 19. August 2015, abrufbar unter http://bit.ly/1ipOdbV; Informationsbroschüre abrufbar unter http://bit.ly/1PxU21b.

11 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 6. Dezember 2000, abrufbar unter http://bit.ly/1lj3Y4D.

12 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 4. Dezember 2000, abrufbar unter http://bit.ly/1mZIQvH.

13 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 12. November 2008, abrufbar unter http://bit.ly/XWJ3Kk; Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamtes 2007/2008, BT-Drs. Nr. 16/13500 vom 22. Juni 2009, S. 68.

14 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 12. August 2010, abrufbar unter http://bit.ly/1qGXAEh; Fallbericht des Bundeskartellamtes vom 1. September 2010, abrufbar unter http://bit.ly/1wKlOCJ.

15 Siehe Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 7. März 2012, abrufbar unter http://bit.ly/1sL6tvh; Pressemitteilung des Bundeskartellamtes vom 10. Februar 2011, abrufbar unter http://bit.ly/1AYP6vZ; Fallbericht des Bundeskartellamtes vom 18. Februar 2011, abrufbar unter http://bit.ly/VRa28u.

Details

Seiten
236
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631749555
ISBN (ePUB)
9783631749562
ISBN (MOBI)
9783631749579
ISBN (Paperback)
9783631746073
DOI
10.3726/b13551
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Auftragsvergabe Auftragssperre Ausschluss Sachverhaltsaufklärung Compliance Schadenswiedergutmachung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 235 S.

Biographische Angaben

Jeanie Henn (Autor:in)

Jeanie Henn studierte Rechtswissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Université Robert-Schumann in Strasbourg. Im Anschluss an das Rechtsreferendariat war sie vier Jahre lang als Rechtsanwältin im Bereich Kartellrecht tätig, bevor sie in den höheren Justizdienst des Landes Baden-Württemberg eintrat.

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