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Nur Freundschaft oder «fare affidamento»?

Die Anerkennungspraxis in den Briefen der Renaissanceprinzessinnen Anna von Rohan und Luise von Coligny

von Daniela Tomasini (Autor:in)
©2018 Dissertation XXVIII, 254 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch beschäftigt sich mit Formen der weiblichen Solidarität und Empathie. Als theoretische Grundlage dienen die Schriften des Mailänder Autorinnenkollektivs, das sich in den 1970er-Jahren zusammengeschlossen hat. Sich auf die Philosophie dieser Autorinnen einzulassen, ist angesichts des gegenwärtigen Standes der Genderforschung, in der multiple Identitäten und fließende Subjekte im Fokus stehen, eine erfrischende Herausforderung, wird diesem Autorinnenkollektiv doch ein essenzialistischer Begriff von «Frau» vorgeworfen. Der Nachweis einer Frühform des fare affidamento im Frankreich der Spätrenaissance stützt sich in seiner historischen Textanalyse auf zeitgenössische Brieftexte zweier Prinzessinnen: der Anna von Rohan und der Luise von Coligny.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • I. Differenz, Geschlecht Und Autorität – Kategorien Des Mailänder Modells Im Soziohistorischen Kontext Der Spätrenaissance
  • 1. Begehren nach Differenz
  • 1.1 Der italienische Differenzfeminismus und das frühneuzeitliche Geschlechterkonzept
  • 1.1.1 Weiblichkeit
  • 1.1.2 Frühneuzeitliche Weiblichkeitskonzepte
  • 1.1.3 Die Kategorie sex
  • 1.1.4 Codpieces als Geschlechtsmerkmale
  • 1.2 „Wir sind nämlich nicht alle gleich“ – Differenzen unter den Frauen
  • 2. Begehren nach Autorität – Auf der Suche nach dem Autoritätsentwurf der Mailänderinnen
  • 2.1 Autoritätsvermittlung durch Sprache
  • 2.2 Der Autoritätsbegriff Hannah Arendts
  • 2.3 Autorisierungsprozesse in der Spätrenaissance
  • 2.4 Kongruente Elemente zwischen dem frühneuzeitlichen Autoritätsbegriff und dem des Modells der Mailänder Denkerinnen
  • II. Die Autoritätsinstanz Hof
  • 3. Kommunikationsformen am französischen Königshof
  • 3.1 Formale Strukturen: die sozialen Rollen der Prinzessinnen
  • 3.2 Formalität und Informalität kommunikativer Akte: Erziehung der Prinzessinnen
  • 3.3 Die Mémoires: Formalität und Informalität im Text
  • 4. Subjekt und Handlungsautonomie
  • 4.1 Zum Begriff des Handlungsspielraums
  • 4.1.1 Individuelle Rahmenbedingungen
  • 4.1.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
  • 4.2 Der Handlungsspielraum der Prinzessinnen
  • 4.3 Affidamento als sozialer Tausch
  • 4.3.1 Individuelle Fähigkeiten
  • 4.3.2 Persönliche Ansprüche und Bedürfnisse
  • 4.3.3 Wissen und Bildung
  • 4.3.4 Verinnerlichte Wertvorstellungen
  • 4.3.5 Rahmenbedingungen für den affidamento-Tauschprozess
  • 5. Die symbolische Ordnung des Adels
  • 5.1 „Souveraineté – autorité“
  • 5.2 Das Symbol der perfekten Weiblichkeit
  • III. Briefe
  • 6. Theoretische Prämissen der Gattung Brief
  • 6.1 Der Renaissancebrief
  • 6.2 Das Text-Ich der Prinzessinnen
  • 7. Die Quellenlage
  • 8. Freundschaft und affidamento?
  • 8.1 Anna von Rohan – Charlotte-Brabantine von Nassau
  • 8.1.1 Leidenschaft für Neuigkeiten
  • 8.1.2 Wissendes Ich – vertrauliches Du
  • 8.1.3 Politische Freundschaft
  • 8.1.4 Handlungsspielraum in der Sprache
  • 8.1.5 Frühe Spuren eines affidamento?
  • 8.1.6 Autorität und Anerkennung
  • 8.2 Luise von Coligny – Charlotte-Brabantine von Nassau
  • 8.2.1 Die Quellenlage
  • 8.2.2 „Die Mutter lieben können“ – „Die Tochter lieben können“
  • 8.2.3 Das Text-Ich in den Briefen der Luise von Coligny
  • 8.2.4 Das Text-Du
  • 8.2.5 Das Freundschaftskonzept des sechzehnten Jahrhunderts
  • 8.2.6 Anerkennung
  • 8.2.6.1 Strategien der Anerkennung unter Adeligen
  • 8.2.6.2 Das „politische“ Text-Ich
  • 8.2.6.3 Die erzählbiographische Ich-Du-Beziehung
  • 8.2.6.4 Charlotte-Brabantine von Nassau: Begehren nach Anerkennung
  • 8.2.6.5 Luise von Coligny: Anerkennung der Einzigartigkeit
  • 8.2.7 Fare affidamento: Selbstöffnung
  • IV. Resümee
  • Kurzzusammenfassung
  • Abstract
  • Anhang
  • Briefe
  • Bibliographie
  • Quellen
  • Forschungsliteratur
  • Nachschlagewerke
  • Sitographie

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Vorwort

Mit dem Interesse an der Geschichte weiblichen Selbstverständnisses und weiblicher Lebensstrategien reiht sich diese Arbeit in die Feminismusforschung ein, die sich mit der Frage nach den Ursprüngen des Feminismus beschäftigt1.

Die Frage, ob in früheren Jahrhunderten vergleichbare Phänomene existierten, um daraus einen Feminismusbegriff ableiten zu können, der einen Prozess der longue durée und somit die jeweiligen historischen Herrschaftsverhältnisse abbildet und beschreibt, ist heute noch fixer Bestandteil der Feminismusdebatte. Durch die Einbeziehung eines historisch gefassten Feminismusbegriffs in die Forschung sollte gewährleistet werden, dass anstelle eines modernen, sich allzu sehr auf aktuelle Phänomene beschränkenden Begriffs ein Zugang erschlossen wird, der imstande ist, vielfältige Feminismen aufzudecken.

Diese Arbeit versteht sich als Gegenpol zu einem Begriff, der den modernen Feminismus verallgemeinert und tritt für einen differenzierenden Ansatz der Feminismusforschung ein, der epochenspezifische Gegebenheiten als Grundlage seiner Begriffsbildung miteinbezieht. So gewinnt die Feminismusdebatte nicht nur durch eine zeitliche Ausdehnung an Vielfalt, sondern auch durch unterschiedliche Denkarten und Handlungsformen, die sich im Laufe der Epochen aufgrund von gesellschaftlichen Parametern ergaben.

Die vorliegende Studie stützt sich in ihrer historischen Textanalyse auf zeitgenössische Brieftexte. Diese Ego-Dokumente stellen eine Schnittfläche vielfältiger Diskurse ihrer Epoche dar. Unterschiedliche Lesarten dieser Schriften bieten zudem die Möglichkeit, aus ihnen neue literaturwissenschaftliche Erkenntnisse herauszufiltern. 2 Dieses Potenzial soll mit der vorliegenden Arbeit ausgeschöpft und eine mögliche Frühform einer feministischen Bewegung, deren Theorieentwicklung sich im zwanzigsten Jahrhundert vollzog, für das späte sechzehnte Jahrhundert beschrieben werden. ← XIII | XIV →


1 Es existieren zahlreiche Forschungen, in denen die Rolle als Protofeministinnen von Christine de Pizan, Marie Le Jars de Gournay oder die Preziösen, um nur einige zu nennen, untersucht wird. Vgl. Renate Kroll/ Margarete Zimmermann (Hg.), Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik, Stuttgart [u. a.], 1995, S. 56.

2 Vgl. Maria-Christina Lutter, Politische Kommunikation an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Die Beziehungen zwischen der Republik Venedig und Maximilian I. (1495–1508), Wien [u. a.], 1998, Einleitung.

← XIV | XV →

Einleitung

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begann sich in der akademischen Frauenforschung in Europa3 Widerstand zu rühren: Die Unzufriedenheit mit dem männlichen Wissenschaftsbetrieb wurde verstärkt thematisiert.4 Dieses Unbehagen an der männlich geprägten Wissenschaft führte zu einem Überdenken der wissenschaftlichen Methoden. Als wesentliches Resultat dieser Überlegungen ist die Abwendung von einer fraglichen Objektivität hin zu einem subjektiven Erfassen und Bewerten zu sehen, das die Forscherinnen befähigen sollte, umfassende Analysen der Frauensituation zu erstellen, die eine Veränderung der Lebensbedingungen von Frauen einleiten sollten. Bei diesem methodischen Ansatz spielt die Identifikation der forschenden Frau mit der zu untersuchenden Gesellschaftsgruppe eine wichtige Rolle.5 Persönliche Identifikation löste die als zu starr empfundene Objektivität ab.

Diese Entwicklung nahm ihren Anfang bereits in den siebziger Jahren: In der Frauenbewegung gewann der Ausdruck subjektiver Empfindungen immer mehr an Bedeutung. Die empathische Haltung unter den Frauen wurde als Motor für feministische Aktionen genützt. Solidarität wurde großgeschrieben und die Unterdrückung der Frauen wurde zur kollektiven Frage aller Frauen erhoben. Persönliche Erfahrungswerte6, Betroffenheit und Identifikationsvermögen sind einerseits Instrumentarien, die dazu verhalfen, Frauen tatsächlich als Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse zu betrachten. Andererseits wurden sie in den achtziger Jahren auch immer mehr dazu eingesetzt, diese Haltung zu ← XV | XVI → überwinden und neue Perspektiven zu entwickeln. Allerdings benötigte diese Art von Forschungsprozess7 auch eine Form, in der er praktiziert werden konnte. Man entdeckte die Gruppe als passende Sozialform, um neue Sichtweisen zu erarbeiten. Sowohl innerhalb des universitären Wissenschaftsbereichs8 als auch außerhalb der Universität fand das Nachdenken im Kollektiv zu dieser Zeit immer mehr Anwendung, da diese Form der Reflexion über komplexe Themen als fruchtbar und freudvoll erlebt wurde9. Insgesamt gesehen wurde geprüft, ob das Suchen nach Lösungen für die gesellschaftliche Existenz der Frauen im Wesentlichen über die beiden Pole Kollektivität und Subjektivität zu verhandeln sei.

In diesem soziopolitischen Kontext der achtziger Jahre erschien das Buch Wie weibliche Freiheit entsteht10, das mittlerweile zu einem Klassiker der Frauenbewegung avanciert ist11. Der Grund für dieses große Interesse ist sicher vielfältig, beruht aber grundsätzlich auf zwei wesentlichen Elementen: Einerseits versteht sich die Theorie der Mailänderinnen nicht als strikter Verhaltenskatalog, den es zu befolgen gilt. Vielmehr vermittelt sie einen ideellen Hintergrund, vor dem Beziehungen unter Frauen ausverhandelt werden sollen. Dadurch erhalten individuelle Lebenssituationen, Vorstellungen und Ansprüche Raum und fungieren als konstitutive Bestandteile persönlicher Beziehungen. Es handelt sich also um eine Theorie, die stark praxisbezogen ist und immer wieder aufs Neue die Lebenserfahrungen der beteiligten Frauen ins Spiel bringt.12 Insbesondere die Tatsache, dass die Theorie ihre Realisierung im Alltäglichen der Frauen verortet, ist möglicherweise der Grund dafür, dass die Theorie auch in nicht-akademischen Kreisen auf hohe Akzeptanz stieß. Andererseits liegt der Erfolg eventuell auch in den Begrifflichkeiten selbst begründet: Begriffe wie „Dankbarkeit“, ← XVI | XVII → „symbolische Mutter“, „weiblicher Ursprung“ könnten die Sehnsucht nach einer spirituellen oder gar religiösen Frauensolidarität wachrufen13.

Das Werk ist eine Reflexion der neuen Frauenbewegung in Italien, das, ganz der Idee des kollektiven Prozesses folgend, in Zusammenarbeit von mehreren Autorinnen entstanden ist14. Die Kernthese, die die Autorinnen in diesem Buch entwickeln, lautet, dass die Frauen jenseits von materieller und symbolischer Abhängigkeit vom Staat ihre Freiheit verwirklichen und leben sollen. Wenn nicht mehr der Staat mit seinen Institutionen und Gesetzen um Gerechtigkeit in der Geschlechterfrage angerufen werden könne, dann müssten die Frauen den Ausgangspunkt ihrer Freiheit auf die Beziehung untereinander begründen. Das bedeutet, dass auf dieser theoretischen Grundlage Frauenbeziehungen nicht nur auf privater Basis eingegangen und gepflegt werden sollten, sondern auch eine politische Komponente miteinschließen.

Das Konzept der neuen politischen Praxis der Italienerinnen ist somit der Devise „Das Private ist politisch“ verpflichtet. Um so ein Prinzip prägen zu können, muss erst einmal eine Trennung der beiden Sphären Privatheit und Öffentlichkeit vollzogen sein, die in einem Prozess über longue durée seit der frühen Moderne vonstattengeht. Die Trennlinie ist kein gerader Schnitt, sondern zeigt sich in Rissen und Brüchen, die sich u. a. in der Entwicklung einer Selbstreflexion bzw. in einem Identitätsanspruch widerspiegeln. Das eigene Handeln ist nicht mehr zwingend in einem übergeordneten System verankert, denn die umfassende religiöse Bindung weicht allmählich einer Selbstdarstellung, die man als private Handlungsfähigkeit deuten kann.

Der Prozess der Individualisierung kann für die Frühe Neuzeit nicht ohne den Kontext der gesellschaftlichen Differenzierung gedacht werden. Das Primat der stratifikatorischen Differenzierung der vormodernen Gesellschaft bildete eine Vorstellung des Individuums aus, deren Grundlage die gesellschaftliche Rangordnung bildete, im Speziellen die Unterscheidung von Volk und Adel. Dieser hierarchische Unterschied wurde über verschiedene Mechanismen permanent reproduziert und dadurch stabil gehalten.

Als grundlegende Notwendigkeit zur Herstellung einer stabilen Schichtgesellschaft kann die relativ große Einheitlichkeit gewertet werden, die insbesondere ← XVII | XVIII → die adelige Oberschicht der Frühen Neuzeit auszeichnete und sich durch ein streng geregeltes Rollenverhalten manifestierte. Dementsprechend bildeten Schicht- und Familienzugehörigkeit und die damit verbundenen Verhaltensnormen die Basis sowohl der Ansprüche jedes Einzelnen als auch der an ihn gestellten Erwartungen. Die innerlichen Beweggründe seiner Handlungen waren für die Angehörigen der frühneuzeitlichen Adelsschicht daher eher unerheblich.15

Die Theorie der Mailänder Denkerinnen erscheint hingegen als ein Konzept, das in der Auseinandersetzung mit restriktiven gesellschaftlichen Normen die individuelle Innerlichkeit sichtbar macht und fördert. Es besteht daher die Möglichkeit, dass ihr Modell durch sein spezifisches Verfahren innere Motive der Briefautorinnen ein Stück weit offenlegt.

Die Frauen um den Mailänder Frauenbuchladen wandten keine wissenschaftliche Methode bei der Theoriebildung an, sondern schöpften aus ihren persönlichen Erfahrungen. Die Kommunikation unter sich zu fördern, stand im Mittelpunkt ihrer Interessen, denn, so dachten sie, die Männerkultur hätte zwischen sie einen Keil gedrängt, der sie voneinander trennte16. Um die Authentizität der Kommunikation zu gewährleisten, fanden die Treffen in Kleingruppen statt. Authentizität bedeutete in diesem Kontext, dass so wenig Selbstzensur wie möglich ausgeübt werden sollte. Die Frauen versuchten ihre eigenen Worte für ihr eigenes Erleben zu finden. Daraus lässt sich ableiten, dass das Gespräch in der Entstehungsgeschichte der Theorie der Mailänderinnen eine wesentliche Rolle spielte.

Die Analyse der Beziehungen zwischen Frauen im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert anhand der Perspektive der Theorie der Mailänderinnen erfordert demzufolge, dass die Quellen insbesondere drei Kriterien erfüllen sollten: Sie sollten das Element der Mündlichkeit17, das das Gespräch charakterisiert, beinhalten, Einblicke in persönliche Einstellungen und Gefühlswelten gewähren und im Besonderen das Beziehungsgeschehen unter Frauen zugänglich machen. ← XVIII | XIX →

Persönliche Dokumente aus der zu untersuchenden Zeitspanne sind rar. Und dennoch lassen sie sich finden: Die Frauen der großen Adelsfamilien trugen die Verantwortung, ein soziales Netz innerhalb dieser Familien zu spinnen und dieses aufrechtzuerhalten und waren aus diesem Grund eifrige Briefschreiberinnen. Innerhalb dieser Korrespondenzen lassen sich Textdokumente finden, welche eine Analyse eines Beziehungsgeschehens zwischen Frauen ermöglichen.

Diese Briefe gewähren einen Einblick in die Organisation und den Umfang dieser Briefnetze und – gleichsam erst beim zweiten Blick – liefern sie Material von Beziehungszusammenhängen, die Antworten auf die spezifischen Fragestellungen der vorliegenden Studie zu geben vermögen. Die Briefe sind gewissermaßen das Feld, auf dem sich die Beziehungen entspinnen. Die Vielschichtigkeit des Mediums Brief erschwert allerdings jegliche Eindeutigkeit in der Analyse. Mitunter greifbarer könnten noch die strengen Normen ausfallen, denen der Brief im sechzehnten Jahrhundert unterlag. Unter der obersten Schicht, bestehend aus jenen Briefregeln, die quasi den Rahmen bildeten, stößt man auf die in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit eng miteinander verknüpften Kategorien, die keinesfalls voneinander getrennt betrachtet werden können: Jeder Einzelne war von seiner sozialen Stellung geprägt und diese konstituierte sich aus Stand, familiärer Position und Geschlecht. Ebenfalls prägend für die gesellschaftliche Position in der Frühen Neuzeit – und damit verbunden mit Ansehen und Macht – waren die beiden Kategorien Konfession und Alter. Sehr im Verborgenen, gleichsam in der untersten Schicht, formten sich all diese Kategorien zu einem Selbstbild einer Person, das insbesondere im Brief seine Konturen entfaltete. All diese Kategorien und Positionen sind in einem Brieftext miteinander verwoben und bestimmten das Beziehungsgeschehen.

Briefkulturen können keinesfalls abseits von Geschlechtlichkeit gelesen werden. Für die Analyse von Brieftexten der Frühen Neuzeit ist es unumgänglich zu klären, auf welche Strategien weibliche Textsubjekte rekurrierten und damit möglicherweise Transgressionsleistungen wagten.

Der Fokus dieser Arbeit liegt nicht nur der Beziehungsprozess zwischen den historischen Personen, sondern auch die Wünsche und Vorstellungen der Prinzessinnen, die sie offen oder verborgen zu Papier bringen. Denn auch das Konzept der Mailänderinnen über neue Formen von Politik und Gesellschaft ist auf Visionen und Utopien hin angelegt, die die Mailänder Theoretikerinnen in ihrem persönlichen Leben auch versuchten umzusetzen. Der Brief scheint in diesem Sinn das Genre schlechthin zu sein, um die Sehnsüchte dieser adeligen Frauen zu erforschen. Denn das Briefeschreiben erlaubt, im Gegensatz zum direkten Gespräch, ohne Furcht vor der unmittelbaren Kritik Ideal-Bilder von ← XIX | XX → sich selbst und dem Anderen zu entwerfen18. Zu erwarten ist freilich, dass die imaginierten, im Briefwechsel entstandenen Bilder sich innerhalb der Grenzen ihrer kulturellen Identität bewegen.

Die Briefautorinnen leben in dem Bewusstsein, dass an sie als weibliche Geschlechtswesen Anforderungen gestellt werden, die sie zu erfüllen haben19, aber dennoch lässt sich die Frage stellen, inwieweit die Verschriftlichung von vertraulichen und freundschaftlichen Gefühlen zu Frauen mit dem Prozess der Ausbildung von Selbst-Bildern in Zusammenhang steht, die Ausdruck dafür sein können, dass die Autorinnen spezifische Identitätspositionen verstärkt einnehmen.

Der Theoriepool der Mailänderinnen hat eine Praxisanleitung für eine Beziehungsform anzubieten, in der vertrauensvolle Verbindungen die Basis dafür bilden, dem speziell Eigenen in jeder Frau Wert zu verleihen. Fare affidamento20, so die Mailänderinnen, gibt jeder Frau die Sicht frei auf ihr individuelles Potenzial. Der Prozess, diese individuellen Anteile freizulegen, kann sich – wenn nicht dauerhaft so punktuell – in einem Briefwechsel zwischen zwei einander zugeneigten Frauen einstellen.

Das Mailänder Konzept impliziert schon allein durch seine Entstehungsgeschichte den bewussten Zugang zu dieser Beziehungsform. Die in dieser Arbeit untersuchten Briefquellen können die Begrifflichkeiten, welche die Mailänder Denkerinnen im Rahmen ihres kollektiven Projekts entwickelten, hingegen nicht aufweisen. Gegenstand der Studie wird dennoch sein, inhaltliche Übereinstimmungen zum Mailänder Ansatz aufzuspüren: Es wird zu klären sein, auf welche Weise das Denken in der Frühen Neuzeit über Geschlecht und dessen kulturelle Implikationen mit dem Mailänder Ansatz21 in Relation gesetzt werden kann. ← XX | XXI →

Das Selbstbild der Frauen der Frühen Neuzeit und der damit verbundene Lebensentwurf waren geprägt von einem Weiblichkeitsideal, das von Männern derart festgelegt wurde, dass es der Selbstsetzung ihrer eigenen männlichen Identität dienlich war. Dieser normierte Inbegriff von Weiblichkeit steht dem Anspruch der Mailänderinnen entgegen, Weiblichkeit als eine dem Männlichen unterschiedlichen Seinsweise wahrzunehmen, deren Definition nicht über die Männlichkeit erfolgt ist22. Ihrem Begriff von autonomer Weiblichkeit kann die in den gender studies verankerte Position entgegengehalten werden, dass weibliche und männliche Identitäten stets miteinander korrelieren.

Beim Vergleich des Weiblichkeitskonzepts der Mailänderinnen mit dem der Renaissance lässt sich eine partielle Kongruenz der Positionen feststellen: Beide Entwürfe gehen von einer Differenz der Geschlechter aus, die zwar auf unterschiedliche Weise, aber dennoch quasi an den Geschlechtskörper gekoppelt ist: In der Renaissance gibt es neben dem theologischen Differenzdiskurs auch den medizinisch-anthropologischen Diskurs, von dem die Geschlechtsnatur abgeleitet wird.

Im Gegensatz dazu vertreten die Mailänderinnen ein Konzept von Weiblichkeit, welches ausdrücklich nicht von der Natur her bestimmt wird, welches von den Frauen jedoch gelebt und mit Sinn versehen werden soll. Auch wenn die Mailänderinnen stets darauf pochen, dass ihre Definition von Geschlecht unabhängig jeglichen biologistischen Gedankenguts zu sehen sei, gehen sie davon aus, dass sich Menschen nur als Frau oder als Mann denken können. Die Be­deutung von „Frau“ ist laut dem Mailänder Ansatz jedoch keine feststehende Kategorie: Während der Begriff „Weiblichkeit“ im sechzehnten Jahrhundert in seiner ganzen Fülle definiert ist, distanziert sich der Mailänder Ansatz von jegli­cher Bestimmung von Weiblichkeit und betrachtet sie als Folie, die mit Inhalten unterlegt werden kann. Die Tatsache, dass für die Mailänder Autorinnen weibliche Identität eine Hülle darstellt, die mit Bedeutungen gefüllt werden kann, erleichtert die Aufgabe, affidamento-Beziehungen zu definieren. Hier kann die vollständige Palette weiblicher Identitätsbildung wirksam werden. Gerade diese ← XXI | XXII → Weiblichkeitsentwürfe, so argumentieren die Mailänderinnen, bilden die Stärke der Frauen und einen Quell ihrer Freiheit.23

Da der Mailänder Ansatz im Wesentlichen im Dialog verankert ist, scheint es unumgänglich, das dialogische Element in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu rücken. Bekanntermaßen finden sich dialogische Strukturen auch in anderen Gattungen. Besonders relevant für die Fragestellung dieser Arbeit sind, neben dem Brief, die Gattungen Dialog, Gespräch und Erzählung. Jedes dieser Genres weist in Bezug auf das Dialogische unterschiedliche Funktionsweisen auf, deren Einzelaspekte miteinander verknüpft werden können. Diese Verschränkung könnte als Instrumentarium dienen, das es möglich macht, gleichsam einen Blick hinter den Vorhang zu werfen: Welche Vielfalt an Bedeutungen verbirgt sich hinter dem schreibenden Ich, das ohne dem lesenden Ich nicht zu denken wäre?

Bei der Zuschreibung von Bedeutungen an das „Ich“ ist zu bedenken, dass die Erwartungshaltung, die eine Leserin oder ein Leser einer Gattung gegenüber einnimmt, Wandlungen unterworfen ist: Liest man heute die Korrespondenz der Prinzessinnen, werden diesem „Ich“ die Bedeutungen zugeschrieben, die aus heutiger Sicht ein Ich in Freundschaftsbriefen besitzt. Um 1600 jedoch wurden dem Ich andere Funktionen unterstellt. Daher werden folgende Fragen als wesentlich erachtet: Welche Positionen beansprucht ein Ich, das zur Jahrhundertwende des sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert „Ich“ schreibt? Welche Rollen übernimmt das Text-Ich, ein Ich, welches als Prinzessin der Spätrenaissance schreibt und eingebettet ist in einen hierarchisch strukturierten Zusammenhang?

Zur Periode, die in dieser Arbeit beleuchtet werden soll, fokussieren sich ältere Studien im Wesentlichen auf die Regierungszeit Franz I. oder Heinrich II., unter deren Herrschaft die humanistische Kultur am Königshof ihre Blüte erlangte. Die meisten Studien widmen sich einzelnen Persönlichkeiten24 und, abgesehen ← XXII | XXIII → von den beiden Margareten25 – die eine berühmt für ihr reichhaltiges literarisches Werk, die andere für ihr skandalumwittertes tragisches Leben – und der großen Katharina von Medici, sind es vorwiegend Könige und Prinzen26, die das Forscherinteresse erregten. Meist finden sich einzelne Studien über Königinnen und Prinzessinnen in Sammelbänden oder Monographien, die ganz allgemein das Thema „Frauen“ behandeln27.

Die letzten beiden Jahrzehnte haben indes umfassende Arbeiten hervorgebracht, die nicht nur die historische Person der Prinzessin oder Königin im Blickpunkt haben, sondern auch das Sujet aus einer breiter gefassten kulturhistorischen Perspektive erfassen.28 Kulturphilosophische Studien hingegen, die ← XXIII | XXIV → sich zu Herrscherinnen und Elitevertreterinnen aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive nähern, wie es die vorliegende Untersuchung unternimmt, sind noch immer ein Desiderat.

Details

Seiten
XXVIII, 254
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631758274
ISBN (ePUB)
9783631758281
ISBN (MOBI)
9783631758298
ISBN (Hardcover)
9783631756287
DOI
10.3726/b14232
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Briefe Barock Prinzessinnen Freundschaft Französische Adelshäuser Libreria delle donne di Milano
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. XXVIII, 254 S.

Biographische Angaben

Daniela Tomasini (Autor:in)

Daniela Tomasini studierte französische und spanische Philologie an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck und absolvierte Forschungsaufenthalte in Béthune, Paris und Montpellier. In Wien ist sie unter anderem als Übersetzerin für das Kinderfilmfestival und das Queer-Filmfestival tätig und unterrichtet Französisch und Spanisch an einer allgemeinbildenden höheren Schule.

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