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Gemeine Dirnen und gute Fräulein

Frauenhäuser im spätmittelalterlichen Österreich

von Michael M. Hammer (Autor:in)
©2019 Dissertation 296 Seiten
Reihe: Beihefte zur Mediaevistik, Band 25

Zusammenfassung

Frauenhäuser, die Bordelle spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Städte, stellen ein Phänomen mediävistischer Forschung dar, das an Aktualität kaum verloren hat. Die Existenz der geordneten Prostitution hat nicht nur wirtschaftliche, sondern auch ordnungspolitische Gründe. Sie diente vorwiegend zum Erhalt eines friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Dirnen des Frauenhauses nahmen dadurch eine Sonderrolle innerhalb der heterogenen Randgruppen ein. In den Gebieten des heutigen Österreich und Südtirol florierten Bordelle in städtischem oder herrschaftlichem Besitz. Dieses Buch beleuchtet das Frauenhauswesen in jenem Raum erstmals systematisch aus sozialer, rechtlicher und wirtschaftlicher Sicht und ordnet die Quellenbefunde einzelner Standorte in das überregionale Gesamtbild der Frauenhausprostitution ein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Stand der Forschung I
  • 3 Quellen und Methoden ihrer Erschließung
  • 4 Prostitution – Definition und Abgrenzung des Begriffs
  • 4.1 Versuch einer allgemeinen Definition
  • 4.2 Kirche und Prostitution
  • 4.2.1 Die Prostitution bei Augustinus von Hippo
  • 4.2.2 Die Prostitution bei Thomas von Aquin
  • 4.2.3 Lust als Übel
  • 5 Die Prostituierte zwischen Ausgrenzung und Integration
  • 5.1 Prostitution und Gesellschaft – die Prostituierten als Randgruppe?
  • 5.1.1 Randgruppen: Phänomen und Definition
  • 5.1.2 Die soziale Position
  • 5.1.2.1 Die (Un-)Ehre der Dirnen
  • 5.1.2.2 Das Sozialprofil der Prostituierten
  • 5.2 Die rechtliche und wirtschaftliche Position der Prostituierten
  • 5.3 Kleiderordnungen und öffentliche Stigmatisierung
  • 5.4 Die Teilnahme Prostituierter am gesellschaftlichen Leben der Stadt
  • 5.5 Die Möglichkeiten des Ausstiegs und der Resozialisierung
  • 5.5.1 Der Ausstieg in Theorie und Praxis
  • 5.5.1.1 Freikauf
  • 5.5.1.2 Heirat
  • 5.5.1.3 Bettel – die „Sündfegerinnen“
  • 5.5.1.4 Das Magdalenerinnen- und Büßerinnenwesen
  • 5.5.1.4.1 Der Magdalenenorden in Wien
  • 5.5.1.4.2 Das Büßerinnenhaus St. Hieronymus in Wien
  • 6 Das Frauenhaus
  • 6.1 Legitimation und Organisation
  • 6.2 Ausstattung und Alltag
  • 6.3 „Die frawenwirttin zinst“ – Abgaben und deren Verwendung
  • 6.4 Topographie
  • 6.5 Kundschaft und Kosten
  • 6.6 Personalia
  • 6.6.1 Die Frauenwirte und Frauenwirtinnen
  • 6.6.1.1 Sozialprofil
  • 6.6.1.2 Rechte und Pflichten
  • 6.6.2 Die gemeinen Frauen
  • 6.6.2.1 Sozialprofil
  • 6.6.2.2 Rechte und Pflichten
  • 6.6.2.3 Berufsunfähigkeit: Krankheit, Schwangerschaft und Alter
  • 6.7 (Un-)Zucht und (Un-)Ordnung: Delinquenzen im Frauenhaus
  • 7 Das Ende der Frauenhäuser
  • 7.1 „… und geben fromen ehefrawen und irn kindern boes exempell“ – die Hure als Sündenbock im Sittendiskurs des 16. Jahrhunderts
  • 7.1.1 Die „neue Sittlichkeit“
  • 7.1.2 Sittenreform und die „gute Policey“
  • 7.1.3 Die Rolle der Syphilis und der Reformation
  • 8 Die „österreichischen“ Frauenhäuser
  • 8.1 Stand der Forschung II
  • 8.2 Herzogtum Österreich
  • 8.2.1 Klosterneuburg
  • 8.2.2 Korneuburg
  • 8.2.3 Krems-Stein
  • 8.2.4 Wien
  • 8.2.5 Wiener Neustadt
  • 8.3 Herzogtum Steiermark
  • 8.3.1 Graz
  • 8.3.2 Judenburg
  • 8.4 Grafschaft Tirol
  • 8.4.1 Bozen
  • 8.4.2 Hall in Tirol
  • 8.4.3 Innsbruck
  • 8.4.4 Meran
  • 8.5 Herrschaft Feldkirch
  • 8.5.1 Feldkirch
  • 8.6 Erzbistum Salzburg
  • 8.6.1 Salzburg
  • 9 Schlussbetrachtung
  • 10 Quellen
  • [1] Frauenhausordnungen
  • [1.1] Frauenhausordnung von Nördlingen, 1472
  • [1.2] Nürnberger Frauenhausordnung, um 1480
  • [1.3] Erhaltenes Fragment der Ordnung des Frauenhauses zu Ulm, 1410 oder 1510
  • [2] Judenburg
  • [2.1] Urkunde, 1415, März 25
  • [2.2] Urkunde, 1415, März 25
  • [2.3] Frauenhaus Judenburg, 1425, September 1
  • [3] Wien
  • [3.1] Allgemeine Quellen
  • [3.1.1] Satzung aus dem Stadtrecht vom 12. Februar 1296 betreffend Unzucht und Bestrafung der Bürgersöhne, die sich ihrer schuldig gemacht haben
  • [3.1.2] Beschwerdeschrift der Wiener Bürger, 1403
  • [3.1.3] Antwort des Frauenrichters auf die Beschwerdeschrift der Bürger – Betretungsverbot für Dirnen in Weinschenken am Frauenfleck, 1403
  • [3.1.4] Erste urkundliche Erwähnung des hinteren Frauenhauses bezüglich dessen Verkauf von Oswald Ingelsteter, Harnischmeister des Herzogs, an Konrad Poppenberger, 1415, April 15
  • [3.1.5] Lehensbrief Herzog Albrechts V. an Oswald Inglsteter bezüglich des Frauenhauses, 1415, April 16
  • [3.1.6] Lehensbrief Herzog Albrechts V. zum Verkauf des hinteren Frauenhauses von Poppenberger an den Bürgermeister und Rat von Wien, 1428, Februar 26
  • [3.1.7] Lehensbrief Herzog Albrechts V. bezüglich des vorderen und hinteren Frauenhauses am Widmertor; ersteres in Besitz der Stadt, zweiteres in Besitz des St.-Martin-Spitals sowie den herzoglichen Dienstleuten Paul und Linhart, 1435, Mai 27
  • [3.1.8] Bestätigung des Privilegs der beiden Besitzer des vorderen Frauenhauses zur Einsetzung einer Frauenmeisterin durch Herzog Friedrich V., 1441, Jänner 26
  • [3.1.9] Weisung Kaiser Friedrichs V. an den Bürgermeister, Richter und Stadtrat zu Wien bezüglich des Frauenrichters und seines Dieners, welche vom Rat zuvor gefangen genommen wurden, Wiener Neustadt, 1476, Mai 6
  • [3.1.10] Ordnung bezüglich des Weinausschanks vor dem Widmertor, 1482
  • [3.1.11] Polizeipatent Ferdinands I. gegen leichtfertige Beiwohnung und allgemeinen Lastern, 1542
  • [3.2] Quellen zum Büßerinnenhaus St. Hieronymus
  • [3.2.1] Freiheitsbrief Herzog Albrechts für das Büßerinnenhaus, 1384, Februar 25
  • [3.2.2] Urkunde zum Grundstücksverkauf von Hainrich von Potendorf an Chunrat Sneider, dem Verweser des Hauses, 1384 November 16
  • [3.2.3] König Friedrich III. an den Wiener Stadtrat bezüglich der geflohenen und folglich der Stadt verwiesenen Insassin des Büßerinnenhauses Martha Elblinn, welche wieder in die Stadt aufgenommen werden möge, Wiener Neustadt, 1450 Jänner 3
  • [3.2.4] Bestätigung der Privilegien und Rechte der Büßerinnen zu St. Hieronymus durch Kaiser Friedrich III., 1480 August 31
  • Anhang

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1 Einleitung

Das Thema der Prostitution ist heute so brisant wie seit Langem nicht mehr. In öffentlichen Diskussionen wird das Für und Wider der käuflichen Liebe diskutiert; die Politik ergreift Maßnahmen, um die Prostitution von der Straße in eigens dafür eingerichtete Etablissements zu bringen sowie die allgemeine Sicherheit aller Beteiligten an der Prostitution zu gewährleisten. Inoffiziell dürften auch moralische und ästhetische Gründe eine wesentliche Rolle spielen. Darüber hinaus dient die Verlagerung der Straßenprostitution in die Laufhäuser und Bordelle auch einem anderen, ordnungspolitisch viel wichtigeren Grund: Sie wird kontrollierbarer. Dieser Versuch der Kontrolle ist kein neues Phänomen – seine Tradition reicht bis ins Mittelalter und weiter zurück, als die Obrigkeiten ein Problem in der öffentlichen Prostitution orteten und diese zu ordnen trachteten. In eigens dafür eingerichteten Frauenhäusern sollte der Prostitution Raum gegeben werden – Raum, der von der Stadt und ihren Exekutivorganen verwaltet und kontrolliert wurde. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die offizielle Prostitution weitestgehend erst erforschbar gemacht wurde, da sie durch ihre Institutionalisierung begann, in den Quellen vermehrt Erwähnung zu finden.

So regelmäßig das Thema Prostitution in den heutigen Medien behandelt wird, so sehr stellte es in der Forschung lange Zeit ein absolutes Tabu dar – erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich dies; allein, eine vollkommene Rehabilitation beziehungsweise eine damit einhergehende Aufwertung des Berufs der Prostituierten hat sich bis dato noch nicht eingestellt. Das zunehmende Forschungsinteresse des 19. Jahrhunderts wurde von den Zeitgenossen missmutig betrachtet. Die Beforschung der Prostitution galt jedoch auch lange über das 19. Jahrhundert hinaus als skandalös und anrüchig und taugte kaum als seriöser Forschungsgegenstand. Seither hat sich glücklicherweise viel getan, die Tabus wurden gebrochen und die Erforschung der Geschichte der Prostitution vorangetrieben. Dies liegt nicht zuletzt am erhöhten Interesse an der Randgruppen- und Frauen-/Geschlechtergeschichte sowie der Geschichte der Sexualität im Allgemeinen. Trotz alledem ist ein sachlicher, objektiver und vor allem wertfreier Umgang mit der Thematik keine Selbstverständlichkeit, wiewohl essentiell. Insofern verschreibt sich diese Arbeit ebendiesen zitierten Geboten der Wissenschaftlichkeit und Objektivität.

Im Folgenden wird zunächst auf den allgemeinen Stand der Forschung eingegangen, um im Anschluss die Quellenlage und die verschiedenen Quellentypen sowie deren methodische Aufbereitung zu betrachten. Die begriffliche Definition der Prostitution ist bei der Behandlung der Thematik ebenso ←11 | 12→unabdinglich, zumal sie Auskunft über das Bild der Prostituierten und ihr Gewerbe geben. Darüber hinaus wird danach die räumliche und zeitliche Eingrenzung des Forschungsvorhabens erläutert, welches dieser Arbeit zugrunde liegt. Es folgt schließlich ein Kapitel über die soziale, wirtschaftliche und rechtliche Position der Prostituierten, ehe im Anschluss das Frauenhaus und seine Belegschaft betrachtet werden. Dieser theoretische Teil fällt relativ umfassend aus, um einerseits die teilweise unterschiedlichen Ergebnisse und Zugänge älterer Forschungen zusammenzufassen und einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und um andererseits bislang unberücksichtigte Quellen und neue Erkenntnisse in den bisherigen Forschungsstand einzuarbeiten.

In weiterer Folge wird das Hauptthema, die städtische Frauenhausprostitution des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit im „österreichischen“ Raum, chronologisch von der Etablierung der Frauenhäuser ab dem 13. Jahrhundert bis zu ihrer Prohibition im 16. Jahrhundert, behandelt. Ziel ist es, eine Forschungslücke zu füllen und ein möglichst detailliertes Bild des österreichischen Frauenhauswesens zu zeichnen. Deshalb wird, so ausführlich es die Quellenlage zulässt, die Geschichte eines jeden Frauenhauses rekonstruiert, um diese in den Forschungsstand einzubetten. Hierbei ist von einem erweiterten Österreich-Begriff auszugehn: Frauenhäuser können für die Herzogtümer Österreich und Steiermark, die Grafschaft Tirol (einschließlich des heutigen Südtirols), die Herrschaft Feldkirch sowie das Erzbistum Salzburg nachgewiesen werden. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass Quellen zu anderen Frauenhäusern bislang unentdeckt und somit unberücksichtigt blieben. Bei der Untersuchung wird möglichst quellennah gearbeitet und ein Vergleich zu den bisherigen Ergebnissen aus vorwiegend deutschen, aber auch französischen und italienischen Städten gezogen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuzeigen. Dafür bedarf es zunächst eines theoretischen Grundgerüsts zur allgemeinen Verfassung der städtischen Prostitution respektive des Frauenhauswesens, ehe im Anschluss die Verbreitung der Frauenhäuser im hier gewählten Raum in einer dichten Beschreibung näher betrachtet wird.

Die vorliegende Publikation basiert auf einer adaptierten und ergänzten Version meiner Dissertation, die im Jahr 2016 an der Karl-Franzens-Universität Graz angenommen und mit dem Stiftungspreis der Stiftung Pro Civitate Austriae 2018 prämiert worden ist.

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2 Stand der Forschung I

Von der Forschung lange Zeit ignoriert, erfreut sich die Prostitution sowohl in ihrer gegenwärtigen als auch in ihrer vergangenen Erscheinung erst seit wenigen Jahrzehnten einer konstanten Erforschung. Dennoch entstanden für den in dieser Arbeit zu untersuchenden Raum bereits im 19. Jahrhundert wesentliche Arbeiten, welche der Sitten- und Kulturgeschichte zuzuschreiben sind und sich explizit mit der Thematik befassen. Hierbei sind Joseph von Hormayr1, Johann Evangelist Schlager2, Franz Seraph Hügel3 sowie Josef Schrank4 zu nennen. Schlagers Versuch, das Wiener Prostitutionswesen zu rekonstruieren, fußt zweifelsohne verstärkt auf einem medizingeschichtlichen Interesse; Gleiches gilt für Hügel und Schrank, die Anleihen bei Schlager machen. Beide stützen sich auf eine recht quellennahe Arbeitsweise, verfolgen jedoch trotz aller Beteuerungen keine objektive, wertfreie Schilderung. Diese Arbeiten sind demnach einer starken Kritik zu unterziehen und unter Berücksichtigung des Kontexts ihrer Entstehung zu lesen. Darüber hinaus beziehen sie sich lediglich auf die Stadt Wien und mitunter auf Grundsätzliches zur Geschichte der Prostitution in diachroner wie synchroner Hinsicht. Zu würdigen ist allenfalls die penible Quellenarbeit, von welcher auch diese Arbeit profitiert hat. Ähnlich weist die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Desiderate in Bezug auf Objektivität und Wertfreiheit auf, wie die Arbeit Wolfgang Sorges5 zur Geschichte der Prostitution eindeutig beweist; doch ist auch hier der Wille einer umfassenden Aufarbeitung der Thematik zu würdigen.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem ab den 70er-Jahren, interessierte sich die Forschung wieder für das Thema der Prostitution – auch im geschichtswissenschaftlichen Kontext. Sie baute dabei auf Iwan Blochs6 umfassendes Werk zur Prostitution auf. Die Umbrüche der 68er-Jahre machten die wissenschaftliche Erforschung der Sexualität salonfähig. Insbesondere die Soziologie sowie die Frauenforschung interessierten sich für die (moderne) Prostitution als Forschungsgegenstand, verklärten die ←13 | 14→Prostituierten mitunter aber zu Kämpferinnen gegen patriarchalische Strukturen beziehungsweise zu Opfer derselben.7

Die neuere Forschung rückt das Prostitutionswesen des 19. und 20. Jahrhunderts vermehrt in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen und versucht verstärkt dem Objektivitätsanspruch gerecht zu werden, klammert jedoch die Prostitutionsgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit großteils aus.8 Die Genese der Prostitution im Mittelalter tritt zumeist im Rahmen alltagsgeschichtlicher oder sozialgeschichtlicher Untersuchungen zutage; so sind Peter Ketsch und Annette Kuhn9, Werner Danckert10, Otto Borst11, Harry Kühnel12 sowie Franz Irsigler und Arnold Lassotta13 zu nennen, deren Forschungen die Prostitution im Rahmen der Unterschicht(en) und Randgruppen kontextualisiert haben, was dem Wesen der Prostitution jedoch nicht gänzlich gerecht wird.14

Das Aufleben des Interesses an der Randgruppen- und Marginalitätsforschung fußte auf den Arbeiten von Bronislaw Geremek15 zu den ‚marginaux‘ sowie auf den soziologischen Studien zur Devianz von Günter Wiswede16 und Edwin Schur17. Als richtungsweisend gilt weiters der viel zitierte Aufsatz František Grausʼ18, in dem er eine Definition der ‚Randgruppe‘ bietet, die bis ←14 | 15→heute noch diskutiert wird. Auch Wolfgang Hartung19 knüpft daran an, wenn er in seinem Werk die Marginalisierungsmechanismen spätmittelalterlicher Prägung beschreibt. Anders als Graus bedient er sich mehr soziologischer Erklärungsmodelle und nimmt eine gegensätzliche Position ein, wenn er den Etikettierungsprozess auf das Randgruppenphänomen anwendet. Dieser Beitrag ist Teil des Sammelbandes von Bernhard Kirchgässner und Fritz Reuter20, der nicht nur den Randgruppen, sondern auch den Minderheiten der mittelalterlichen Stadt gewidmet ist. Zur Erforschung von Randgruppen und Devianz nimmt die vorliegende Arbeit neben den beiden Obgenannten auch Anleihen bei den Werken von Robert Jütte21 und Wolfgang von Hippel22, die beide unabhängig voneinander die Marginalisierungsmechanismen vor allem in Verbindung mit der Armutsproblematik aufzeigen. Auch die Forschungen von Bernd Roeck23 zur Randgruppenproblematik in der Frühen Neuzeit sowie von Ernst Schubert24, der die Entstehung sozialer Randgruppen im Spiegel der Bevölkerungsentwicklung behandelt, werden berücksichtigt. Mit der Konstruktion von Randgruppen im Mittelalter beschäftigt sich auch Bernd-Ulrich Hergemöller25 und liefert dabei neue Interpretationsansätze, die sich vor allem der Konstruktion von Marginalität durch den Zuschreibungswillen der Entscheidungsträger und der damit einhergehenden Etikettierung einzelner ←15 | 16→Individuen sowie Gruppen widmen. Auch die Soziologie interessiert sich für das Feld der Devianz und die damit verbundenen Stigmatisierungsmechanismen; umfassendere Publikationen darüber wurden etwa von Manfred Brusten und Jürgen Hohmeier26 oder Howard S. Becker27 herausgegeben.

Eng verbunden mit Randständigkeit und Marginalität ist die Unehrlichkeit. Prominente Forschungen dazu stammen von Werner Danckert28, der die Unehrlichkeit bei verschiedenen Gruppen der städtischen Bevölkerung analysiert, Wolfgang Oppelt29, der speziell über die Unehrlichkeit des Henkers ein ausführliches Werk verfasst hat, oder Richard van Dülmen30, der Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Neuzeit beforscht. Einen Versuch der Dekonstruktion von Marginalisierungsmechanismen sowie der Zuschreibung von Unehrlichkeit hat Bob Scribner31 unternommen und dabei gängige Thesen kritisch betrachtet.

Sexualität im Allgemeinen rückte ebenfalls verstärkt ins Zentrum des Forschungsinteresses. Hierbei ist das Werk von Vern L. Bullough und James Brundage32 zu nennen, das sich mit der Sexualität im Spiegel der mittelalterlichen Kirchenlehren auseinandersetzt.

Speziell die Frauenhausforschung wird in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts forciert: 1992 erschien eine umfangreiche Arbeit über das Frauenhaus im Mittelalter von Peter Schuster33, in der das Thema erstmals systematisch für den deutschen Raum beforscht wird. Seine Untersuchungen konzentrieren sich vor allem auf die Verbreitung der städtischen Bordelle in nord- und süddeutschen Städten im ausgehenden Spätmittelalter. Ein weiteres umfassendes Werk wurde 1995 von Beate Schuster34 publiziert; im Jahr darauf folgte eine ←16 | 17→weitere Publikation, welche den Schwerpunkt auf die Stadt Konstanz legt.35 Die von Dagmar Hemmie36 im Jahr 2007 veröffentlichte Dissertation widmet sich nicht nur den Bordellen im Speziellen, sondern allgemein der Prostitution im Hanseraum vom ausgehenden Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Ebenfalls ein größeres Vorhaben setzte Nils Johannes Ringdal37 mit seiner Weltgeschichte der Prostitution um.

Doch nicht nur im deutschsprachigen, sondern auch im englischen und französischen Raum sind größere Werke entstanden, die sich der Aufarbeitung der Geschichte der Prostitution im Mittelalter verschrieben haben. Für den französischen Bereich sind die Arbeiten Leah Lydia Otisʼ zu nennen, welche einerseits die mittelalterliche Prostitution im Languedoc behandeln,38 sowie andererseits die Geschichte der Paarbeziehungen im Mittelalter aufarbeiten.39 Jacques Rossiaud40 arbeitete ebenfalls allgemein zur Prostitution im Mittelalter und legte dabei den Fokus auf südfranzösische Städte. Im englischsprachigen Raum leisteten die Bemühungen Ruth M. Karrasʼ einen großen Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Prostitution41 sowie der Geschichte der Sexualität in Europa im Allgemeinen.42

Für den österreichischen Raum sind bis dato keine umfangreicheren Werke publiziert worden; doch wird das Thema seit einigen Jahren konstant beforscht. Aus diesem Bemühen sind einige Aufsätze hervorgegangen. So beschäftigte sich Brigitte Rath43 mit dem Prostituiertengewerbe im ←17 | 18→österreichischen Raum, Käthe Sonnleitner44 publizierte zum Frauenhaus in Judenburg, Corinna Lorenzi45 zu den Prostituierten in Innsbruck. Die Thematik wird ansonsten meist nur beiläufig angesprochen; vor allem in der älteren Stadtgeschichtsschreibung finden sich spärliche Erwähnungen von Frauenhäusern. Auf die vorhandene Literatur zu den österreichischen Frauenhäusern wird jedoch noch eingegangen werden.46 Ein umfassendes Werk zur Genese des österreichischen Frauenhauswesens des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, also von seiner Entstehung bis zur Prohibition und dem damit einhergehenden Verschwinden der öffentlichen, „geordneten“ Prostitution, ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Diese vorliegende Arbeit soll ebendiesem Desiderat abhelfen und die Lücke schließen.


1 Hormayr, Joseph von: Wien, seine Geschichte und seine Denkwürdigkeiten, Bd. 4, Wien 1825.

2 Schlager, Johann Evangelist: Wiener Skizzen aus dem Mittelalter. 3 Bände, Wien 1835/1842/1846.

3 Hügel, Franz Seraph: Zur Geschichte, Statistik und Regelung der Prostitution, Wien 1865.

4 Schrank, Josef: Geschichte der Prostitution in Wien, Wien 1886.

5 Sorge, Wolfgang: Geschichte der Prostitution, Berlin 1920.

6 Bloch, Iwan: Die Prostitution, Bd. 1+2, Berlin 1912/1925.

7 Vgl. Rath, Brigitte: Prostitution und spätmittelalterliche Gesellschaft im österreichisch-süddeutschen Raum. In: Appelt, Heinrich (Hg.): Frau und spätmittelalterlicher Alltag (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, 473), Wien 1986, S. 556.

8 Vgl. ebda.

9 Ketsch, Peter; Kuhn, Annette (Hgg.): Frauen im Mittelalter, Bd. 1: Frauenarbeit im Mittelalter. Quellen und Materialien (= Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien, 14), Düsseldorf 1983; Ketsch, Peter; Kuhn, Annette (Hgg.): Frauen im Mittelalter, Bd. 2: Frauenbild und Frauenrechte in Kirche und Gesellschaft. Quellen und Materialien (= Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien, 19), Düsseldorf 1983.

10 Danckert, Werner: Unehrliche Leute, Bern/München 1963.

11 Borst, Otto: Alltagsleben im Mittelalter, Frankfurt am Main 1983.

12 Kühnel, Harry (Hg.): Alltag im Spätmittelalter, Graz/Wien/Köln 1984.

13 Irsigler, Franz; Lassotta, Arnold: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Randgruppen und Außenseiter in Köln 1300–1600, Köln 1984.

14 Vgl. Rath (1986), S. 557.

15 Geremek, Bronislaw: Criminalité, vagabondage, paupérisme: La marginalité à l’aube des temps modernes, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 21/4 (1974), S. 337–375; Geremek, Bronislaw: Les marginaux parisiens aux XIVe – XVe siècles, Paris 1976.

16 Wiswede, Günter: Soziologie abweichenden Verhaltens, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1973.

17 Schur, Edwin M.: Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle. Etikettierung und gesellschaftliche Reaktionen, Frankfurt am Main/New York 1974.

18 Graus, František: Randgruppen in der städtischen Gesellschaft im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 384–447; ferner auch Graus, František: Juden und andere Randgruppen in den Städten des Spätmittelalters. In: Schrader, Ludwig (Hg.): Alternative Welten in Mittelalter und Renaissance (= Studia humaniora, Düsseldorfer Studien zu Mittelalter und Renaissance, 10), Düsseldorf 1988, S. 87–109.

19 Hartung, Wolfgang: Gesellschaftliche Randgruppen im Spätmittelalter. Phänomen und Begriff. In: Kirchgässner, Bernhard; Reuter, Fritz (Hgg.): Städtische Randgruppen und Minderheiten (= Stadt in der Geschichte, 13), Sigmaringen 1986, S. 49–114.

20 Kirchgässner, Bernhard; Reuter, Fritz: (Hgg.): Städtische Randgruppen und Minderheiten (= Stadt in der Geschichte, 13), Sigmaringen 1986.

21 Jütte, Robert: Poverty and Deviance in Early Modern Europe, Cambridge 1994; Jütte, Robert: Minderheiten und ihre Stigmatisierung. In: Borst, Otto (Hg.): Minderheiten in der Geschichte Südwestdeutschlands, Tübingen 1996, S. 27–34.

22 Hippel, Wolfgang von: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit (=Enzyklopädie deutscher Geschichte, 34), München 1995.

23 Roeck, Bernd: Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde in Deutschland der frühen Neuzeit, Göttingen 1993; Roeck, Bernd: Randgruppen und Minderheiten in der deutschen Geschichte der frühen Neuzeit. In: Borst, Otto (Hg.): Minderheiten in der Geschichte Südwestdeutschlands, Tübingen 1996, S. 9–27.

24 Schubert, Ernst: Soziale Randgruppen und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, in: Saeculum 39 (1988), S. 294–339.

25 Hergemöller, Bernd-Ulrich (Hg.): Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch, Warendorf 32001; Hergemöller, Bernd-Ulrich: „Randgruppen“ im späten Mittelalter. Konstruktion – Dekonstruktion – Rekonstruktion. In: Goetz, Hans-Werner (Hg.): Die Aktualität des Mittelalters, Bochum 2000, S. 165–190.

26 Brusten, Manfred; Hohmeier, Jürgen (Hgg.): Stigmatisierung, Bd. 1+2. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt 1975.

Details

Seiten
296
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631798706
ISBN (ePUB)
9783631798713
ISBN (MOBI)
9783631798720
ISBN (Hardcover)
9783631798515
DOI
10.3726/b16236
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Bordell Prostitution Stadt Sexualität Geschlechtergeschichte Stadtgeschichtsforschung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 296 S.

Biographische Angaben

Michael M. Hammer (Autor:in)

Michael M. Hammer ist Professor für Fachdidaktik Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung sowie Fachbereichsleiter an der Pädagogischen Hochschule Steiermark. Zuvor war er Mitarbeiter des Fachbereichs Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz.

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