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Zwischenzeiten, Zwischenräume, Zwischenspiele

Ergebnisse des Arbeitstreffens des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft 2017 in Hamburg

von Katarzyna Adamczak (Band-Herausgeber:in) Ina Sdanevitsch (Band-Herausgeber:in) Ina Hartmann (Band-Herausgeber:in) Clemens Günther (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband IV, 262 Seiten
Reihe: Symbolae Slavicae, Band 36

Zusammenfassung

Der vorliegende Sammelband präsentiert die Beiträge des 15. Treffens des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft (JFSL), das 2017 an der Universität Hamburg stattfand. Der Band bietet entlang der thematischen Leitbegriffe Zwischenzeiten, Zwischenräume, Zwischenspiele eine Momentaufnahme der aktuellsten Forschung von Nachwuchswissenschaftler/innen der deutschsprachigen slavistischen Literatur- und Kulturwissenschaft. Die transgressiven Beziehungen von Literatur und Politik, Text und Medium, Identität und Kultur werden in den Beiträgen aus verschiedenen slavischen Literaturen unter vielfältigen methodischen Ansätzen sowie in breiter zeitlicher und räumlicher Auffächerung untersucht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort (Katarzyna Adamczak / Clemens Günther / Ina Hartmann/ Ina Sdanevitsch)
  • Zwischenzeiten: Literatur und Erinnerung
  • Facetten hybrider Subjektivität. Benedykt Dybowskis Reisetagebuch O Syberji i Kamczatce (1912) (Stefan Schmidt)
  • Heimat und Exil in der Lyrik von Anatolij S. Štejger und Vladimir S. Pozner (Angelika Salzer)
  • Zerrissene Fäden zusammenfügen. Autorinnen auf Spurensuche in Ost(mittel)europa (Yvonne Drosihn)
  • „All diese prätentiösen Kleinigkeiten“ – Literarische Anatomie-Lektionen mit Hanemann von Stefan Chwin (Nora Schmidt)
  • Zeugnis und Dokumentation. Transtextuelle Verflechtungen in Ivica Đikićs Srebrenica-Roman (Eva Kowollik)
  • Anwesend in Abwesenheit. Die Shoah-Vergegenwärtigung in Irena Douskovás Roman Hrdý Budžes (Lucie Voitová)
  • Zwischenräume: Literatur als politische Kraft
  • Literatur zwischen Ideologie und Markt. Zur Nachfrage im belarussischen Literaturfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Natallia Pakhomchyk)
  • Die Sowjetunion als Bauernutopie? Konservative Zukunftsvisionen in der frühen sowjetischen Literatur (Eliane Fitzé)
  • Sind wir immer schon postfaktisch gewesen? Zum Verhältnis von Faktographie und Transition in Russland im 20. Jahrhundert (Clemens Günther)
  • Die zeitgenössische belarussische Literatur und ihr ‚Markt‘ im Spiegel des Verhaltens (potenzieller) Leser (Kristina Kromm)
  • Russland-Bilder in der ukrainischen Kultur: Evolution oder Stagnation? (Olena Kuprina)
  • Posturale Strategien im Web 2.0: Selbstdarstellungen russischer Schriftsteller/innen auf Social-Media-Plattformen (Anna Lange-Böhmer)
  • Theater als „Pulp Fiction“: Textpraktiken bei Jurij Klavdiev (Evgeniya Safargaleeva)
  • Gender, Migration, and the Problems of Representation in Ben Judah’s This is London (Hannah Schroder)
  • Zwischenspiele: intertextuelle und intermediale Einsichten
  • Polyperspektivität in Michail Lermontovs Geroj našego vremeni (Maria Mamaeva)
  • Die Metaphorik der Reproduktion in der Lyrik von Marina Cvetaeva (Ekaterina Starodubtceva)
  • Metamorphosen in Odessa: Ovids Figuren im Roman Pjatero von Vladimir Žabotinskij (Tetyana Yakovleva)
  • Modernist observer figure in Russian émigré literature: Gaito Gazdanov’s Nochnye dorogi (Night Roads) and the new “flâneur” (Anastasia Abdelmalik)
  • Lebende Bilder der Toten. Filmische Körperpräsenzen in Grezy (Tagträume) (Clea Wanner)
  • Der schöne Missbrauch der Worte: Literatursatiren von Dubravka Ugrešić und Svetislav Basara (Goran Lazičić)
  • Kurzbiographien der Beiträgerinnen und Beiträger
  • Reihenübersicht

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Katarzyna Adamczak/ Clemens Günther/ Ina Hartmann/ Ina Sdanevitsch

Vorwort

Die im vorliegenden Band präsentierten Beiträge gehen auf die 15. Tagung des Jungen Forums Slavistische Literaturwissenschaft (JFSL) zurück, die vom 21. bis zum 23. September 2017 an der Universität Hamburg (UHH) stattfand. Bei dem Forum, das 1996 in Hamburg gegründet wurde, handelt es sich um eine Austauschplattform für junge Nachwuchsslavist/innen aus dem deutschsprachigen Raum. Ihnen bietet die Tagung die Gelegenheit, ihre Promotions- oder Habilitationsprojekte vorzustellen und mit den Teilnehmenden zu diskutieren.

An der Tagung nahmen 29 Referent/innen teil. Der Hauptfokus der Beiträge lag wie schon bei den vorherigen Treffen auf Russland bzw. auf der russischsprachigen Literatur. Vier Teilnehmer/innen setzten sich mit serbischen/ kroatischen, jeweils drei mit belarussischen und polnischen Texten bzw. mit der deutsch- und englischsprachigen Migrationsliteratur, zwei mit der tschechischen und eine mit der ukrainischen Literatur auseinander. Als Resultat spiegelte das Forum paradigmatisch die vielfältigen Forschungsinteressen des derzeitigen slavistischen Nachwuchs im deutschsprachigen Raum wider. Durch eine finanzielle Unterstützung seitens der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e. V. (DGO) konnte zudem ein Rahmenprogramm in Form einer Podiumsdiskussion zum Thema „Slavistik als soft-power? Zur Relevanz der literaturwissenschaftlichen Forschung“ angeboten werden. An dem Gespräch beteiligten sich Dr. Gabriele Freitag (DGO, Berlin), Dr. Christine Gölz (Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Leipzig), Dr. Nina Frieß (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin) sowie Dr. Matthias Schwartz (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin). Die Diskussion wurde von Prof. Dr. Anja Tippner (Institut für Slavistik, Universität Hamburg) moderiert. Im Podiumsgespräch wurden folgende Fragen aufgegriffen: Was macht die slavistische Literaturwissenschaft heute aus und wofür steht sie? Welche Perspektiven gibt es für die Slavistik und vor welchen Herausforderungen werden künftig die Slavist/innen gestellt? Welche Themen stehen im Fokus der literaturwissenschaftlichen Forschung und wie weit öffnet sich diese für interdisziplinäre Ansätze? Worin liegt ihre gesellschaftliche Relevanz und nimmt die Öffentlichkeit hiervon Kenntnis?

Die hier publizierten Beiträge beantworten diese Fragen auf ihre eigene Art und Weise. Sie zeugen davon, dass sich die jungen Slavist/innen zunehmend von ← 5 | 6 → der traditionellen durch Narratologie und Erzähltheorien geprägten und überwiegend in der Russistik angesiedelten Literaturwissenschaft entfernen, und sich für andere Disziplinen und Slavinen öffnen. Dies verdeutlicht sich zum einen in den nichtliterarischen Themen, zum anderen in der interdisziplinären Herangehensweise und der Sprachenvielfalt und wird in der leitenden Topologie des „Dazwischen“ Überschriften der einzelnen Teile in diesem Band hervorgehoben.

Die Privilegierung des „Dazwischen“ verweist auf eine Topik, die sich binärer Beschreibung entzieht. Hiervon zeugt die Konjunktur von Begrifflichkeiten wie Liminaliter und Hybridität, die Disziplinen übergreifend mittlerweile zum Glossar der Kultur- und Sozialwissenschaften zählen. Auch als temporale Größe lässt sich das „Dazwischen“ fruchtbar machen, wenn es z. B. im Anschluss an Antonio Gramscis Konzept des Interregnums für die Gegenwartsanalyse herangezogen wird (vgl. Geiselberger 2017). Solche Denkfiguren drücken dabei einerseits eine kategoriale Verzagtheit aus, die der Komplexität der Gegenwart die Uneindeutigkeit des „Dazwischen“ nicht nehmen kann bzw. möchte. Sie zeugen aber auch von einer prinzipiellen Kritik kategorialer Zuschreibungen, die von einer Episteme der Repräsentation und Referenz ausgehen, die zunehmend unangemessen erscheint.

Im vorliegenden Band zeigt sich die Bedeutsamkeit des „Dazwischen“ für die slavistische Literaturwissenschaft vor allem auf zwei Ebenen. Beobachtbar ist eine Hinwendung zur Interdisziplinarität, die sich im Rahmen des immer stärker werdenden kulturwissenschaftlichen Paradigmas u. a. in den literatursoziologischen Beiträgen und intermedialen Ansätzen im Band zeigt. Des Weiteren ist erkennbar, dass nationalliterarische Untersuchungen zunehmend von inter- und transnationalen Fragestellungen komplementiert werden, die „[s]lavische Literaturen als Weltliteratur“ perspektivieren (vgl. Hitzke/ Finkelstein 2018).

Die dem ersten Teil Zwischenzeiten: Literatur und Erinnerung zugeordneten Beiträge von Stefan Schmidt, Angelika Salzer, Yvonne Drosihn, Nora Schmidt, Eva Kowollik und Lucie Voitová setzen den Schwerpunkt auf die in der Literatur tradierten (trans)nationalen Erinnerungen und beschäftigen sich mit ihnen anhand der Texte von polnischen bzw. deutsch-polnischen, russischen, serbischen/ kroatischen und tschechischen Autor/innen. Die Sektion zeugt vom hohen Aktualitätsgrad erinnerungskultureller Topoi in der gegenwärtigen Slavistik. Das Spektrum erstreckt sich dabei über etablierte Themen wie der Erinnerung an Exil, Krieg, Shoah und Vertreibung, in denen postmemoriale Ansätze zunehmend in den Fokus geraten, bis zur Erinnerung an Ereignisse wie das Massaker von Srebrenica, deren literarische Bearbeitung erst langsam in den Fokus rückt.

Der zweite Teil Zwischenräume: Literatur als politische Kraft handelt von der Macht des geschriebenen Wortes. Diesem Aspekt hinsichtlich Belarus widmet ← 6 | 7 → sich Natallia Pakhomchyk, und mit Bezug auf den (post-)sowjetischen Raum: Eliane Fitzé, Clemens Günther, Kristina Kromm, Olena Kuprina, Anna Lange Böhmer und Evgeniya Safargaleeva. Hannah Schroder befasst sich mit ihm hingegen in ihrer Analyse eines englischen Textes, dessen Protagonistinnen aus Ost(mittel)europa kommen. Mit Berücksichtigung historischer Genealogien und Fallbeispiele zeigt sich in dieser Sektion, wie Schriftsteller/innen politische Haltung unter den Bedingungen autoritärer Staatlichkeit und aufgeheizter politischer Debatten reflektieren und ausagieren.

Der dritte Teil Zwischenspiele: intertextuelle und intermediale Einsichten lotet textuelle und mediale Grenzen nicht nur einer künstlerischen Darstellung, sondern auch ihrer wissenschaftlichen Analyse aus. Davon zeugen die Beiträge von Maria Mamaeva, Ekaterina Starodubtceva, Tetyana Yakovleva, Anastasia Abdelmalik, Clea Wanner und Goran Lazičić, die auf Beispiele aus dem russischen bzw. sowjetischen und post-jugoslawischen Raum zurückgreifen. Hier zeigt sich, wie eine philologisch informierte Slavistik in der Lage ist, neue Perspektiven auf Klassiker des Kanons zu werfen.

Für die Förderung der Tagung und der vorliegenden Publikation gilt unser großer Dank der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung sowie der Fakultät Sprache, Literatur und Medien der UHH. Darüber hinaus danken wir allen Teilnehmer/innen der Podiumsdiskussion für ihre Bereitschaft nach Hamburg zu kommen, um mit Nachwuchsslavist/innen ihre Erfahrungen auszutauschen. Ganz besonders sind wir Frau Dr. Christine Gölz verbunden, die das 1. JFSL-Treffen in Hamburg mitorganisierte, und den Tagungsteilnehmer/innen mit ihrer Einführung wertvolle Einblicke in die Anfänge des Forums ermöglichte. Des Weiteren danken wir herzlich Frau Prof. Dr. Anja Tippner, die das Vorhaben, das JFSL-Treffen nach 21 Jahren wieder in der Hansestadt durchzuführen, von Anfang an unterstützte. Bei Prof. Dr. Dr. h. c. Thede Kahl und Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut Schaller möchten wir uns für die Begutachtung des Bandes und seine Aufnahme in die Reihe Symbolae Slavicae bedanken. Abschließend danken wir den Beitragenden für eine fruchtbare Zusammenarbeit, deren Ergebnis dieser Sammelband ist.

Literaturverzeichnis

Geiselberger, Heinrich (Hg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin 2017.

Hitzke, Diana/ Finkelstein, Miriam (Hg.): Slavische Literaturen als Weltliteratur. Hybride Konstellationen. Innsbruck 2018.

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Zwischenzeiten:
Literatur und Erinnerung

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Stefan Schmidt

Facetten hybrider Subjektivität. Benedykt Dybowskis Reisetagebuch O Syberji i Kamczatce (1912)

Abstract: This paper applies some of Homi K. Bhabha’s concepts to the Siberian travel diary of the Polish scientist Benedykt Dybowski. He subverts the hegemonic discourse of the Russian Empire but is himself confronted with these concepts while telling his own story as a success of Polish positivism.

Als Benedykt Dybowski im Dezember 1878 in Richtung Kamčatka aufbricht, um auf der Pazifikhalbinsel eine Stelle als Bezirksarzt anzutreten, sind die vor ihm liegenden Landstriche Sibiriens für den Naturforscher und späteren Zoologie-Professor längst keine Terra incognita mehr: In den Januaraufstand von 1863 involviert, wurde Dybowski 1864 strafverbannt und verbrachte bis zu seiner Rückkehr nach Warschau 1877 die folgenden Jahre an verschiedenen Stationen jenseits des Urals, wobei er neben der eigentlichen Zwangsarbeit u. a. naturkundliche Studien am Baikalsee betrieb.1 In der Ausweitung dieser Studien auf Kamčatka schließlich ist auch seine eigentliche Motivation für die Rückkehr nach Sibirien zu suchen, während der Arztposten2 hierfür eher einen äußeren Vorwand abgibt (Dybowski 1912, 4f.). Nachdem Dybowski 1883 von dieser zweiten Reise zurückgekehrt war, erschien sein dazugehöriges Tagebuch erst 19123 – also mit einem ← 11 | 12 → Abstand von fast 30 Jahren, wobei unklar bleibt, ob er seinen Text (abgesehen von dem Einfügen verschiedener Paratexte) vor der Veröffentlichung noch einmal einer redaktionellen Bearbeitung unterzog.4

Textform, Hybridität, Mimikry

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht kann dieser Text als Reisetagebuch den memoiristischen Gattungsformationen5 zugerechnet werden – zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen wird hingegen deutlich, dass eine eindeutige Genre-Bestimmung für O Syberji i Kamczatce problematisch ist: So offenbart die Lektüre eine enorme inhaltliche Heterogenität, in der Wegbeschreibungen, Erlebnisberichte und Reminiszenzen an die Verbannungszeit mit zoologisch-botanischen Taxonomien oder ethnographisch-anthropologischen Einstreuungen alternieren. Dazu stellte Dybowski dem eigentlichen Tagebuch noch ein Biogramm seines verstorbenen Bruders Władysław voran (IX–XX) und schloss es mit einem kurzen Résumé über die weiteren Forschungsaktivitäten seines Wegbegleiters Jan Kalinowski (557–559).

Diese sprichwörtliche Hybridität, die O Syberji i Kamczatce auf der gattungstypologischen, thematischen und diskursiven Ebene kennzeichnet, lässt sich mit dem gleichlautenden Begriff von Homi K. Bhabha6 theoretisch beschreiben, wenn man die innerrussischen Machtverhältnisse berücksichtigt, unter denen die geschilderte Sibiriendurchquerung stattfand:7 Als Angehöriger einer Adelsfamilie mit Sitz in den Kresy (den östlichen Territorien der ehemaligen polnischen Adelsrepublik) gehörte Dybowski einerseits zu den nationalen Minderheiten des ← 12 | 13 → Russischen Imperiums, nahm aber andererseits in dessen sozialer Hierarchie als Wissenschaftler und Mediziner eine recht privilegierte Stellung ein.8 So konnte er auch im imperialen Setting, das dem Tagebuch zugrunde liegt, sowohl als Bewohner einer marginalisierten Peripherie erscheinen als auch von eben dieser Position aus den hegemonialen Diskurs des Imperiums verunsichern, sofern er als staatlicher Funktionsträger handelte.

Äußeres Zeichen dieser bedingten Zugehörigkeit zur Macht ist eine Amts-Kappe, die sich Dybowski zu Beginn seiner Reise in St. Petersburg besorgen muss, um seine Dienstwürde zu belegen (28). Diese sprichwörtliche Transvestie erinnert wiederum an ein weiteres Schlüsselkonzept aus Bhabhas Denken – das der Mimikry, eine Strategie, die die Macht in ihrem äußeren Erscheinungsbild imitiert und dadurch irritiert.9

In O Syberji i Kamczatce entsteht eine solche Irritation z. B. auf der Überfahrt von Vladivostok nach Kamčatka: Hier muss sich Dybowski vor dem Schiffslinienbetreiber Filipeus verantworten, da er von einem Landgang auf Sachalin einen Ainu-Schädel10 mit an Bord gebracht hatte (551f.). Diese Entweihung sterblicher Überreste würde für Filipeus, der früher außerdem russischer Konsul in Hakodate war, nun aber zu Problemen in seinen Beziehungen zu den Japanern führen (ebd.).11 Dybowski hält schließlich dagegen, dass russische Soldaten die Japaner selbst scharenweise mit Ainu-Knochen belieferten (ebd.). Die Auseinandersetzung legt nahe, dass Dybowski, obwohl er als Arzt und Naturforscher durch imperiale ← 13 | 14 → Institutionen12 legitimiert ist, in der Praxis offenbar über weniger Befugnisse verfügt als ethnische Russen. Nicht nur, dass die Aktivitäten der örtlichen Soldaten das Argument Filipeus’ – die Knochensammlungen seien pietätlos – widerlegen,13 auch den Schädel, um den es geht, hatte Dybowski von einem russischen Arzt – Dr. Voronkov – als Geschenk erhalten (545), ohne dass dessen Besitz des anthropologischen „Objekts“ als problematisch erscheint. Gegenüber Filipeus also versetzten weder sein Rang, noch seine Kontakte Dybowski in die Lage, ihm als gleichberechtigter Vertreter des Imperiums auf Augenhöhe zu begegnen.

Polnisches Sendungsbewusstsein als Gegenstand kolonialer Irritation

Man kann Dybowskis Hybridität und seine Mimikry zum Anlass nehmen, um, wie gezeigt, die Widersprüche imperialer Macht in Sibirien zu untersuchen. Damit würden aber die hegemonialen Verhältnisse, die sich aus Dybowskis Anwesenheit ergeben, nur ungenügend erfasst. Denn die kulturelle, sprachliche und religiöse Diversität dort weist einen Komplexitätsgrad auf, der bei einer ausschließlichen Betrachtung des polnisch-russischen Verhältnisses leicht aus dem Fokus geriete: So trifft Dybowski auf seinem Weg in Richtung Kamčatka nicht nur auf russische Siedler, Behörden und Geistliche. Auch religiöse Minderheiten wie Juden und Altgläubige kreuzen seinen Weg, ebenso wie indigene (Burjaten, Ainu) oder benachbarte asiatische Nationen (Chinesen, Japaner). Ihnen gegenüber führt Dybowski seinen ganz eigenen hegemonialen Diskurs, abseits von dem des Imperiums, das er lediglich partiell und situationsbedingt repräsentiert.

Dieser Diskurs beinhaltet eine spezifische narrative Konzeption polnischer Reise- und Forschungsaktivitäten, die eng mit den Idealen des Positivismus verzahnt ist: Zu ihren Konventionen gehörte es, den Aufenthalt polnischer Reisender als Beispiel von Tugend und Tüchtigkeit darzustellen, in dem wissenschaftliche mit sozialer Arbeit verschränkt wird. Polnische Reisende agierten als Zivilisationsagenten, deren von Empathie und Solidarität getragenes Engagement auch die lokale ← 14 | 15 → Bevölkerung betraf.14 Ihre Aktivitäten affirmierten auf diese Weise das Potential der polnischen Wissenschaften sowie die Zugehörigkeit des Landes zur westlichen Kulturgemeinschaft in – oder gerade trotz seiner verlorenen Eigenstaatlichkeit.15

Details

Seiten
IV, 262
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631787373
ISBN (ePUB)
9783631787380
ISBN (MOBI)
9783631787397
ISBN (Hardcover)
9783631784785
DOI
10.3726/b15518
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Slavistische Literaturwissenschaft Slavistische Kulturwissenschaft Intertextualität, Intermedialität Russistik, Polonistik Bohemistik, Südslavistik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. IV, 262 S., 8 s/w Abb.

Biographische Angaben

Katarzyna Adamczak (Band-Herausgeber:in) Ina Sdanevitsch (Band-Herausgeber:in) Ina Hartmann (Band-Herausgeber:in) Clemens Günther (Band-Herausgeber:in)

Katarzyna Adamczak, M.A., Studium der Japanologie, Slavistik und Ethnologie in Hamburg, Hiroshima und Krakau. Seit 2015 Doktorandin am Institut für Slavistik der Universität Hamburg. Clemens Günther, M.A., 2010-2015 Studium der Europäischen Ethnologie, Philosophie und der Osteuropastudien in München, Berlin und New York. Seit 2016 Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der FU Berlin. Ina Hartmann, M.A., Studium der Slawistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache in Greifswald, St. Petersburg, Pilsen und Prag. Seit 2016 Doktorandin an der Universität Hamburg zu „(Inter-)Textuelle Räume in der neueren tschechischen Literatur". Seit 2017 Lehrbeauftragte am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Ina Sdanevitsch, M.A., 2008-2015 Studium der Slavistik und VWL an der Universität Hamburg. Seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik der Universität Hamburg.

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Titel: Zwischenzeiten, Zwischenräume, Zwischenspiele
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