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„… in tausend schimmernden Klangfarben …“

Glanz und Schatten der gitarristischen Virtuosität im 19. Jahrhundert – eine Untersuchung der Spielpraxis

von Leila Gudlin (Autor:in)
©2020 Dissertation 426 Seiten

Zusammenfassung

Die gitarrenbezogene historische Auffassung der Virtuosität sowie die Verbalisierung spielpraktischer Ansätze aus dem 19. Jahrhundert sind die Hauptthemen dieses Bandes. Die Untersuchung der Virtuosität basiert auf einer vergleichenden Analyse zwischen Bearbeitungen und deren Vorlagen, welche durch das Heranziehen von Gesangslehrbüchern, Instrumentalschulen und Konzertberichten ergänzt wird. Der Klang und die unterschiedlichen Klangkonzepte wie z. B. die musikalische Gestaltung mit Klangfarben oder das instrumentale Singen bilden den Kern der gitarristischen Virtuosität und werden praxisnah dargelegt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Thematik und Zielsetzung
  • Forschungsstand und Quellenlage
  • Methoden
  • Aufbau
  • 1 Aspekte der Bearbeitungspraxis
  • 1.1 ‚Bearbeitung‘ und ‚Bearbeiten‘ im 19. Jahrhundert
  • 1.2 Arrangierende Bearbeitungen
  • 1.3 Fantasierende Bearbeitungen
  • 1.3.1 Thema mit Variationen
  • 1.3.2 Fantasie
  • 1.3.3 Capriccio
  • 1.3.4 Potpourri
  • 1.4 Zusammenfassung
  • 2 Entwicklung der virtuosen Spielpraxis im 19. Jahrhundert
  • 2.1 Die Gitarre in der Musikkultur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
  • 2.1.1 Die Rolle der Gitarre in der Hausmusik
  • 2.1.2 Der Stellenwert der Gitarre in der Virtuosenkultur
  • 2.2 Bautechnische Änderungen als Reaktion auf neue Anforderungen
  • 2.3 Veränderungen der Spieltechnik am Ende des 18. Jahrhunderts
  • 2.4 Zusammenfassung
  • 3 „Traité d’instrumentation et d’orchestration“
  • 3.1 Spieltechnik der rechten Hand in der allgemeinen Klangbildung
  • 3.2 Einfluss des Pianofortes auf die Wahrnehmung des Gitarrenklanges
  • 3.3 Klangveränderungen in der Spielpraxis
  • 3.3.1 Klang als Variationsmittel
  • 3.3.2 Orquesta en miniatura
  • 3.4 Zusammenfassung
  • 4 „L’art du chant appliqué à la guitare“
  • 4.1 Konzept des instrumentalen Singens
  • 4.2 Differenzierte Klangerzeugung
  • 4.3 Lineare Stimmbewegung
  • 4.4 Balance
  • 4.5 Vertikales Zusammenspiel
  • 4.5.1 Arpeggieren
  • 4.5.1.1 Spielpraktische Ausführung
  • 4.5.1.2 Zeitliche Platzierung
  • 4.5.1.3 Unnotiertes Arpeggieren
  • 4.5.2 Metrisches Tempo rubato
  • 4.5.2.1 Melodieverschiebung
  • 4.5.2.2 Weitere Umsetzungen des Tempo rubato
  • 4.6 Klangentwicklung
  • 4.6.1 Tremolo
  • 4.6.2 Vibrato
  • 4.7 Zusammenfassung
  • 5 „Traité des agréments de la musique exécutés sur la guitare“
  • 5.1 Spieltechnische Ausführung ‚wesentlicher Manieren‘
  • 5.2 Portamento
  • 5.3 Freie Verzierungen
  • 5.4 Improvisatorische Anwendung
  • 5.4.1 Verzieren des vorhandenen Materials
  • 5.4.2 Improvisationseinschübe – Fermate und Rezitativ
  • 5.4.2.1 Fermate
  • 5.4.2.2 Rezitativ
  • 5.5 Zusammenfassung
  • 6 „In tausend schimmernden Farben“ – Das differenzierte Bild der virtuosen Spielpraxis
  • Anhang
  • Übersetzungen
  • Bibliografie
  • Abbildungsverzeichnis
  • Verzeichnis der Notenbeispiele
  • Tabellenverzeichnis
  • Personenverzeichnis

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Einleitung

Im Laufe der Vorbereitung der vorliegenden Arbeit bin ich auf eine Episode aus Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr gestoßen. Die Gitarre spielt dort – in der Begegnung des Kapellmeisters Kreisler mit Prinzessin Hedwiga und Fräulein Julia – eine Schlüsselrolle, wobei die Darstellung des Instrumentes ambivalent erfolgt. Von Kreisler gespielt, erscheint die Gitarre als „das miserabelste, unvollkommenste Instrument von allen Instrumenten, nur werth, von girrenden liebeskrankenden Schäfern in die Hand genommen zu werden“1. In Julias Händen aber verwandelt sich das Instrument und die Musik erklingt „[…] in tausend schimmernden Farben, wie das glänzende Pfauenauge“2.

Entsprechungen zu beiden Ansichten sind in historischen Quellen, die in der vorliegenden Arbeit vorgestellt und analysiert werden, zahlreich zu entdecken.3 Die Gitarre gilt einerseits als Dilettanteninstrument, dessen Spielweise keine Virtuosität bietet. Andererseits findet sie manchmal dank meisterhaften Spiels von Gitarrenvirtuosen ihre Anerkennung auf dem Konzertpodium. Diese Ambivalenz ist in Bezug auf die Gitarrenmusik des 19. Jahrhunderts oft auch in der Gegenwart feststellbar. In manchen Interpretationen scheinen die Kompositionen leer und einfallslos, während sie in anderen fantasievoll und fesselnd sind. Manche Gitarristen4 behaupteten und behaupten, diese Musik sei ‚Salonmusik‘ und keine wahrhaft großen Komponisten des 19. Jahrhunderts hätten für Gitarre komponiert. Die Salonmusik sei inhaltsleer und voll von einer auf sinnfreie Effekte gerichteten Virtuosität. Doch spiegelt diese Musik besonders das Innere des Interpreten wider und gibt denjenigen, die ihre Ausdrucksmöglichkeiten kennen, die Freiheit einer persönlichen und fantasievollen Gestaltung. Diese Arbeit ist der Versuch, ein Zeitfenster in das 19. Jahrhundert zu öffnen, den interpretatorischen Rahmen und die Ausdrucksmöglichkeiten der Gitarrenmusik zu erkunden und sie „in tausend schimmernden Farben“ erklingen zu lassen.

Thematik und Zielsetzung

Die virtuose Spielpraxis des 19. Jahrhunderts bildet den Hauptgegenstand dieser Untersuchung. Der Begriff Spielpraxis wird bewusst dem Begriff Aufführungspraxis vorgezogen. Obwohl beide Ausdrücke teils synonym verwendet werden, bezieht sich Spielpraxis öfter auf die Verwirklichung von Musik auf einzelnen Instrumenten. Durch diese Wortwahl wird die gitarristische Idiomatik der behandelten Aspekte unterstrichen. In der Spielpraxis sind Spieltechnik und Interpretation unzertrennlich. Diese Symbiose spiegelt die Wahrnehmung der wahren Virtuosität im 19. Jahrhundert wider. Demnach vereint Virtuosität vollkommenes Beherrschen der Spieltechnik, tiefes ← 13 | 14 → Musikverständnis sowie persönlichen Ausdruck.5 Die Spielpraxis wird weitgehend von der Spieltechnik bestimmt, die allerdings immer als Mittel zum Zweck angesehen und stets in ihrem musikalischen Kontext untersucht wird. Auf diese Weise entsteht ein vollständiges Bild der Virtuosität, wie sie im 19. Jahrhundert aufgefasst wurde. Die landläufige Auffassung, Virtuosität komme der schnellen Ausführung von Passagen gleich, wird dabei widerlegt, und anhand der Untersuchung historischer Quellen wird bewiesen, dass virtuoses Spiel zahlreiche Elemente des Musizierens einschließt.

Hinsichtlich der Virtuosität tritt die von Hoffmann dargestellte Dualität der Gitarre in historischen Quellen hervor. Die Rezensionen von Gitarrenkonzerten erklären das Instrument oft als unzulänglich für das virtuose Spiel und stufen es als Begleit- und Dilettanteninstrument ein.6 In den Händen mancher Virtuosen wird sie aber als Virtuoseninstrument anerkannt. Diese prägnante Ambivalenz kann bei der Untersuchung der Spielpraxis nicht ausgeklammert werden. Die vorliegende Arbeit sucht nach der Erklärung dieser Ansichten durch eine klare Identifizierung der virtuosen spielpraktischen Elemente.7 Zum einen wird die spieltechnische Ebene behandelt. Zum anderen unterstreichen die historischen Quellen die Notwendigkeit einer Idee hinter dem Notentext, die sich im Musizieren manifestiert. Die Identifizierung dieser Idee macht die Rolle konkreter Spielweisen klar und legt die möglichen Verbalisierungen interpretatorischer Ansätze nahe. Gerade in diesem Bereich versucht die vorliegende Arbeit, Neues zum wissenschaftlichen Diskurs über die Gitarrenspielpraxis beizusteuern. Durch fachübergreifende Untersuchungen wird nach Anwendungsmöglichkeiten einzelner Spielpraktiken gesucht und eine tiefere Einsicht in die Auffassung der Virtuosität auf der Gitarre vermittelt.8

Dass die notierten Gitarrenkompositionen nur einen Bruchteil der Informationen über die Werkaufführung liefern, ist die Grundaussage dieser Arbeit. Die gedruckten Gitarrenwerke sind von der spätromantischen Idee des reproduzierbaren Werkes9 weit entfernt. Diese Tatsache hat einen sozialhistorischen Hintergrund. Die finanzielle Situation vieler Gitarristen des 19. Jahrhunderts hat sie genötigt, den Wünschen des Publikums Folge zu leisten und das herauszugeben, was sich am besten verkauft. ← 14 | 15 → Beispielsweise berichtet Nicolai Petrowitsch Makaroff10, der Komponist und Gitarrist Johann Kaspar Mertz11 sei vom Verleger gebeten worden, seine Werke für den Druck zu vereinfachen.12 Die Kompositionen von Marco Aurelio Zani de Ferranti13 werden in einer Rezension für zu schwer befunden und ihr kommerzieller Erfolg wird deswegen ausdrücklich angezweifelt:

Wenn Herr Zani de Ferranti spielen kann, was er hingeschrieben, so muss er unter die ausgezeichnetsten Virtuosen auf diesem magern Instrumente gezählt werden, denn seine Kompositionen dafür sind sehr schwer. In dieser Hinsicht sollte man meinen, müsste den Verlegern bange für den Absatz werden, denn viele Zani de Ferranti’s gibt es gewiss in der ganzen Welt nicht. Indessen mögen die Stücke als Studien Manchen reizen, und diejenigen darunter, welche nach höherer Fertigkeit auf der Guitarre ringen und die nöthige Beharrlichkeit dazu besitzen, kann das Studium derselben sehr fördern.14

Dieses Zitat legt die Annahme nahe, die gedruckten Noten würden üblicherweise eine vereinfachte Version liefern. Vermutlich ist oft auf eine detaillierte Notation verzichtet worden, um den kommerziellen Erfolg nicht zu gefährden. Im Vergleich zu den Werken anderer Gitarristen beinhalten Zani de Ferrantis Werke viele Interpretations- und Ausführungsanweisungen, die eine Einsicht in die Feinheiten geben, welche höchstwahrscheinlich auch bei anderen Autoren Teil des aktiven Gitarrenspiels auf der Bühne waren. Die Suche nach diesen unnotierten, womöglich auch kaum notierbaren spielpraktischen Elementen und deren Interpretation bilden die Kernthemen der vorliegenden Arbeit. Diese Spielelemente sind das Wesen der Virtuosität, das die Gitarre von reiner Begleit- und Dilettantenmusik abhebt.

Einen naheliegenden Ausgangspunkt für die Untersuchung der Spielpraxis bilden die Gitarrenschulen. Allerdings sind sie meist für Dilettanten herausgegeben worden. Sie sollen es in vielen Fällen auch Amateuren ermöglichen, sich die Grundlagen des Instrumentes ohne Hilfe eines Lehrers anzueignen. Vereinfachungen sind deshalb unvermeidbar, und auch deswegen geben gerade Lehrbücher ein unvollständiges Bild der Spielpraktiken wieder. Eine Möglichkeit des wissenschaftlichen Umgangs mit ← 15 | 16 → diesen Quellen stellt das Miteinbeziehen weiterer Instrumental- bzw. Gesangsschulen dar. Allerdings ist eine direkte Übernahme von Anweisungen für die Gitarre in vielen Fällen nicht möglich. Andere Instrumente bzw. die Stimme haben andere Ausdrucksmöglichkeiten und deshalb ist eine Umgestaltung bei der Übertragung auf ein anderes Instrument notwendig. Dafür ist die Identifikation der interpretatorischen Absichten einzelner spielpraktischer Elemente von zentraler Bedeutung. Zu diesem Zweck lassen sich Querverbindungen in Bearbeitungen nachvollziehen. Im Vergleich zu ihren Vorlagen legen sie die Umsetzung interpretatorischer Ansätze offen und ermöglichen somit eine fundierte Rekonstruktion der virtuosen Spielpraxis.

Die Bearbeitungen bereiten dem Analytiker allerdings auch einige Schwierigkeiten. Die Herkunft der Themen wird in den Ausgaben oft nicht angegeben. Die Bearbeitung ist daher nicht immer als solche erkennbar. Beispielsweise hat erst eine neu entdeckte Ausgabe von Fernando Sors15 Les adieux op. 2116 ans Licht gebracht, dass ein fremdes Thema in dieser Fantasie benutzt worden ist. Auf der zweiten Seite dieser Ausgabe befindet sich der Hinweis „Paisiello“ und im Züge dieser Arbeit wird dort das Thema des Duetts „Ne’ giorni tuoi felici“ aus dem ersten Akt der Oper L’Olimpiade identifiziert werden.17 Das Erkennen der Vorlage kann die Interpretation der Bearbeitung auf mehreren Ebenen (Klang, Artikulation und Verzierpraxis) grundlegend verändern.

Das Verhältnis der Bearbeitungen zu Vorlagen ist von zentraler Bedeutung. Diesbezüglich unterscheiden sich die Ansätze stark: Ein fremdes Thema kann in eine andere klangliche Façon übertragen oder als Baustein für ein neues Werk benutzt werden. Die genaue Untersuchung der Bearbeitungsziele und die Beachtung gewonnener Schlussfolgerungen sind bei ihrer Interpretation wesentlich. Die Gegenüberstellung von Vorlage und Bearbeitung muss mehrere Aspekte (z. B. Bearbeitungsart sowie Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielmedium) miteinbeziehen. Nur eine gründliche, kritische Auseinandersetzung mit den Bearbeitungen liefert zufriedenstellende Erkenntnisse über die Spielpraxis.

Obwohl die meisten Beispiele in der vorliegenden Untersuchung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen, ist keine chronologische Abgrenzung der Quellenauswahl getroffen worden. So decken die verwendeten Quellen eine Zeitspanne vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ab. In dieser Zeitspanne wandelt sich die Spielpraxis ständig. Allerdings erlebt sie keine Umbrüche, die Zäsuren bilden. Genauso wenig sind nationale ‚Gitarrenschulen‘ isolierbar, weil in ganz Europa ähnliche Entwicklungen beobachtbar sind. Eine genauere zeitliche oder räumliche Eingrenzung wäre daher unbegründet.

Forschungsstand und Quellenlage

Die geläufige Ansicht der Musikzeitschriften aus dem 19. Jahrhundert, die Gitarre sei lediglich ein Dilettanteninstrument, hat sich im 20. Jahrhundert fortgesetzt. ← 16 | 17 → Gitarrenbezogene Artikel erscheinen fast ausschließlich in spezialisierten Gitarrenzeitschriften und die Musikwissenschaft ignoriert die Gitarre vollständig. Am Anfang des 21. Jahrhunderts finden hingegen gitarrenbezogene Themen immer mehr Eingang in das musikwissenschaftliche Schrifttum. Beispielsweise widmet im Jahr 2013 die Zeitschrift Early Music der Gitarre eine ganze Ausgabe.18

Eine gewisse Oberflächlichkeit mancher gitarrenbezogener Aufsätze und Bücher liegt darin begründet, dass ein breites Publikum erreicht werden soll, das nicht immer bereit ist, sich mit einer wissenschaftlichen Publikation zu befassen. Aus der Reihe monographischer Publikationen über Komponisten, welche den Anforderungen der musikwissenschaftlichen Arbeitstechniken entsprechen, heben sich beispielsweise The King’s Guitarist: The Life and Times of Marco Aurelio Zani de Ferranti (1801–1878)19 von Marcus Van de Cruys und Mauro Giuliani20 von Marco Riboni heraus. Die biographischen Daten werden durch Quellenangaben bewiesen und ausführliche Werkkataloge werden vorgestellt. In dieser Reihe steht auch die Publikation Der junge Gitarren- und Concertinavirtuose Giulio Regondi21 von Helmut Jacobs, die – wie ihr Untertitel erklärt – „eine kritische Dokumentation seiner Konzertreise durch Europa 1840 und 1841“ darstellt und sich durch eine Sammlung der Rezensionen von Giulio Regondis22 Konzerten auszeichnet.

Ebenfalls ist die Aufsatzsammlung Estudios sobre Fernando Sor 23 hervorzuheben. Die Aufsätze beschäftigen sich mit dem gesamten kompositorischen Opus von Sor, wobei ein großer Teil seinen Gitarrenwerken gewidmet ist. Dieses unter den gitarrenbezogenen Publikationen seltene Format präsentiert Erkenntnisse mehrerer Gitarrenforscher. Sors Sonaten, Fantasien, Variationsreihen, Etüden und Gitarrenschule werden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Gerade die Auseinandersetzung mit der Gitarrenmusik, die über die historiographische Darstellung hinausgeht, hebt diese Sammlung hervor. Der Aufsatz „Los armónicos en la música para guitarra de Sor“ von Julio Gimeno García ist für die vorliegende Arbeit relevant, weil er die Anwendung der Flageoletttöne in der Gitarrenmusik von Sor behandelt. Dabei werden eine kurze historische Übersicht dieser Spieltechnik präsentiert, verschiedene Arten der Flageoletttöne dargestellt und die Problematik der Notation angesprochen.

Eine weitere komponistenbezogene Aufsatzsammlung ist Ivan Padovec (1800–1873) and his time24. In dieser Publikation wird die Bedeutung von Ivan Padovec’25 Wirken ← 17 | 18 → sowohl im regionalen als auch im überregionalen Kontext behandelt. Ein Artikel ist in englischer Sprache verfasst, während die übrigen sechzehn in Kroatisch geschrieben sind mit englischer Zusammenfassung. Besonders relevant für die vorliegende Arbeit sind die Artikel „Operni i operetni predlošci u Padovčevim gitarskim transkripcijama“26 („Opern- und Operettenvorlagen in Padovec’ Gitarrenbearbeitungen“) von Rozina Palić-Jelavić und „Retorika melodrame u glazbi za gitaru u doba Ivana Padovca“27 („Die Rhetorik des Melodrams in der Gitarrenmusik in der Zeit von Ivan Padovec“) von Alessandro Boris Amisich. Die Gegenüberstellung dieser beiden Artikel verdeutlicht die Voraussetzungen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gitarrenmusik des 19. Jahrhunderts. Während Amisich die aufführungspraktische Seite von Padovec’ Opernbearbeitungen behandelt, betrachtet Palić-Jelavić diese aus einem theoretisch-analytischen Gesichtspunkt. Amisich schreibt aus dem Blickwinkel eines praktizierenden Gitarristen über die Übernahme der Operntraditionen bei der Aufführung der Bearbeitungen. Obwohl er wichtige aufführungspraktische Fragen aufgreift, muss das Fehlen jeglicher Belege bemängelt werden. Palić-Jelavić präsentiert die Rezeptionsgeschichte, identifiziert die Vorlagen und setzt sich mit formalen und satztechnischen Aspekten der Bearbeitungen auseinander. Bei Gitarrenwerken führt eine konventionelle Analyse oft zu Schlussfolgerungen, die den tatsächlichen Wert eines Werkes verkennen. Palić-Jelavić stellt „klischeehafte Vorgänge“ („klišeizirani postupci“28) im Variieren sowie „bescheidene reduzierte Basslinien“ („skromne reducirane basovske linije“29) im harmonischen Ablauf fest. Die Besonderheiten der Gitarre, die zwar mehrstimmige Texturen wiedergeben kann, allerdings nicht in dem Ausmaße des Pianofortes30, verlangen jedoch das Miteinbeziehen der technischen Gegebenheiten des Instrumentes und eine Anpassung des analytischen Vorganges. Bei der Werkanalyse ist neben dem Befolgen wissenschaftlicher Arbeitstechniken die Vertrautheit mit den Eigenschaften eines Instrumentes unabdingbar.

Unter den Beiträgen zur Gitarrengeschichte in einzelnen Ländern sind mehrere Publikationen hervorzuheben: The Guitar in England 1800–192431 von Stewart Button behandelt umfassend die in England wirkenden Gitarristen und Gitarrenbauer. Neben den Protagonisten wie Sor oder Regondi wird das Schaffen weniger berühmter ← 18 | 19 → Gitarristen und Gitarrenlehrer untersucht und eine breite Übersicht gegeben. Dadurch finden auch diejenigen Figuren Eingang in den musikhistorischen Diskurs, deren musikalisches Schaffen für eine Publikation unzureichend ist. Darüber hinaus ist ein Kapitel dem Gitarrenbau gewidmet; es beschreibt ausführlich die Wirkung der Gitarrenbauerfamilie Panormo. Außerdem werden verschiedene Bauänderungen und Bauweisen dargestellt, die von englischen oder in England lebenden Instrumentenbauern entwickelt wurden. Eine Rezension dieser Publikation aus dem Jahr 1993 illustriert treffend die geringe Bedeutung der Gitarre in der damaligen musikwissenschaftlichen Forschung: „this book is sure to find only a small audience of guitar scholars and instrument makers“32. Die steigende Zahl an Publikationen seit der Jahrtausendwende spricht für ein wachsendes Interesse an der Rolle der Gitarre im 19. Jahrhundert.

Zu den neueren Veröffentlichungen gehört Die Gitarre in Österreich: Von Abate Costa bis Zykan33 von Stefan Hackl; sie schließt die Komponisten aus dem ehemaligen Monarchiegebiet ein. Ein Kapitel ist der „Hochblüte der sechssaitigen Gitarre in Wien“34 im 19. Jahrhundert gewidmet und behandelt facettenreich die Gitarrengeschichte. Es werden der soziokulturelle Hintergrund, die verschiedenen Rollen der Gitarre (als Begleitinstrument, in Kammer- und Volksmusik), Gitarrenschulen, Spieltechniken und die wichtigsten Komponisten angesprochen. Das Einbetten der Gitarre in einen soziokulturellen Kontext ist hinsichtlich ihrer vielfältigen Rollen im 19. Jahrhundert für das Verständnis der Gitarrenmusik zentral. Ein Unterkapitel belegt Werke der Wiener Klassik als Bearbeitungsvorlagen in den Gitarrenkompositionen und verdeutlicht das Ausmaß der Bearbeitungspraxis.

Die Gitarrenmusik im deutschsprachigen Raum um 1800 wird in Thorsten Hindrichs’ Dissertation Zwischen ‚leerer Klimperey‘ und ‚wirklicher Kunst‘35 behandelt. Diese Publikation zeichnet sich durch einen tiefen musikästhetischen Diskurs aus, der vor allem die Kompositionsweise in den Vordergrund stellt. Anhand einer exemplarischen Untersuchung der Gitarrenkompositionen wird die „höhere Spielart“ von der „einfachen“ durch eine „den Regeln des ‚reinen Satzes‘“36 entsprechende „Behandlung von Bass- und Mittelstimmen im Verhältnis zur Melodiestimme“37 abgegrenzt. Die analytische Arbeit konzentriert sich auf die Satztechnik der Gitarrenkompositionen. Dieses Vorgehen ist aus Sicht der vorliegenden Arbeit unzureichend, um die „höhere Spielart“ zu besprechen, weil gedruckte Kompositionen nur einen Bruchteil der Informationen zur „Spielart“ liefern. Dennoch leistet Hindrichs’ Darstellung des historischen musikästhetischen Diskurses über den Wert der Gitarre einen wertvollen Beitrag zur Fachliteratur. ← 19 | 20 →

Mehrere wissenschaftliche Arbeiten beschäftigen sich spezifisch mit der Gitarrenspielpraxis des 19. Jahrhunderts. Eine für die vorliegende Arbeit besonders relevante Auswahl wird im Folgenden dargestellt. Die Dissertation Gitarrenmusik für Dilettanten von Peter Schmitz behandelt ausführlich das häusliche Musizieren auf der Gitarre und untersucht laut Untertitel „Entwicklung und Stellenwert des Gitarrenspiels in der bürgerlichen Musikpraxis der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum“38. Die enge Verbindung zwischen Schmitz’ Abhandlung und dieser Arbeit liegt in der Behandlung von Bearbeitungen. Laut Schmitz entstehe Gitarrenmusik für Dilettanten aus der Untersuchung des Werts und der Funktion von Opernbearbeitungen für Gitarre im 19. Jahrhundert. Dabei kristallisiere sich die wichtige Rolle der Gitarre im häuslichen Musizieren heraus.39 Schmitz behandelt detailliert zahlreiche Aspekte der Gitarrengeschichte: von einer Auswertung der herausgegebenen Noten über die soziokulturelle Rolle bis zu Bau und Spieltechnik. Im letzten Kapitel werden Bearbeitungen für Dilettanten denen für Virtuosen gegenübergestellt. Die Gegenüberstellung beruhe auf einer „Herausarbeitung der in den Gitarrenwerken vorkommenden Spieltechniken“40, anhand welcher der „Unterschied zwischen Dilettanten- und Virtuosenliteratur offenbar“41 werde. Das Dilettantenmusizieren steht im Mittelpunkt und die virtuosen Bearbeitungen werden nur zum Vergleich herangezogen. Wie bei Hindrichs werden lediglich gedruckte Kompositionen untersucht; die Aufarbeitung basiert auf einer Analyse notierter spieltechnischer Elemente. Erneut bleibt fraglich, ob virtuose Literatur nur anhand gedruckter Werke untersucht werden kann. Das Einbeziehen weiterer Quellen verspricht eine viel differenziertere Darstellung der Virtuosität.

Die Dissertation Classic Guitar Technique and its Evolution as Reflected in the Method Books ca. 1770–185042 von Paul Wathen Cox bietet eine Übersicht der spieltechnischen Ansätze aus den Gitarrenschulen. In der Dissertation Les guitaristes français entre 1770 et 1830. Pratiques d’exécution et catalogue des méthodes43 von Pascal Valois bilden die Gitarrenschulen ebenfalls die Grundlage für die Untersuchung der Spielpraxis. Allerdings sei die Spielpraxis nach Valois nur in einem breiteren Kontext historischer, soziologischer sowie instrumentenbautechnischer Zusammenhänge vollständig darstellbar. Zur Ergänzung der Gitarrenschulen werden andere Instrumentalschulen ← 20 | 21 → miteinbezogen und die aufführungspraktischen Themen Verzierung und Ausdruck44 aufgegriffen. Beide Publikationen leisten einen wertvollen Beitrag zur Untersuchung der Spielpraxis und bieten systematische Übersichten spieltechnischer Ansätze. Cox’ Dissertation kann als eine der Pionierarbeiten betrachtet werden und gibt eine klare Übersicht der in den Gitarrenschulen beschriebenen Spieltechniken. Valois baut auf den Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte auf und verdeutlicht die Rolle der Gitarrenschulen sowie das notwendige Einbeziehen weiterer Quellen. Während Cox den Akzent auf die Spieltechnik setzt, behandelt Valois neben spieltechnischen auch Fragen, welche die Interpretation betreffen. Die vorliegende Arbeit verfolgt Valois’ Idee einer fachübergreifenden Arbeitsweise, untermauert sie aber zusätzlich durch Querverbindungen aus den Bearbeitungen.

Aufführungspraktische Fragen werden auch in der Dissertation von Adrian Walter The Early Nineteenth Century Guitar: An Interpretive Context for the Contemporary Performer45 behandelt. Walter spricht die heutige Spielpraxis an und setzt sich mit den Fragen der aufführungspraktischen Herangehensweise und Integrierung historischer Thesen in die zeitgenössische Interpretation auseinander. Beispielsweise werden Ansätze zur Akzentuierung und zum Tempo rubato aus den historischen Schulen für andere Instrumente behandelt und auf Gitarrenkompositionen übertragen. Historische Anschlagstechniken werden geschildert und ihre mögliche Übertragung auf die moderne Spieltechnik untersucht. Walter stellt stets die Verbindung zur heutigen Spielpraxis her. Darin liegt der Hauptunterschied zur vorliegenden Arbeit. Diese versucht, Einblick in die historischen Spielpraktiken zu verschaffen; ihre Integrierung in das Spiel wird als Teil des Interpretationsprozesses gesehen, der – wie die Quellen in Zusammenhang mit der wahren Virtuosität suggerieren – stets der persönliche Ausdruck des Interpreten sein soll.

Aufschlussreiche Gedanken zum Thema Interpretationsansätze liefert der Artikel „Jouer d’un instrument pour inventer des émotions: expériences d’invention expressive dans les gestes des guitaristes au XIX siècle“46 von Caroline Delume. Sie thematisiert die Empfindung, einen zentralen Aspekt der Interpretation im 19. Jahrhundert. Unterschiedliche Elemente (Improvisation, Portamento und Klang) werden als Gesten zur Übertragung von Empfindung betrachtet. Die Empfindung und ihre Verbindung zu spielpraktischen Ansätzen nehmen auch in der vorliegenden Arbeit einen wesentlichen Teil ein, indem sie als Bestandteil der Virtuosität betrachtet werden und in unterschiedlichen Zusammenhängen erscheinen.

Die Bedeutung der Bearbeitungen für die Aufführungspraxis wird im Artikel „Sechs Schubert’sche Lieder von Mertz“47 von Cla Mathieu angesprochen. Er behandelt die „Transkriptionstechniken, mit denen Mertz versucht, eine möglichst gesangähnliche ← 21 | 22 → Wirkung zu erzielen“48. Nach einer geschichtlichen Einführung und Präsentation der Verbindung Schubert–Liszt–Mertz, bei der Franz Liszts Bearbeitungen als Inspirationsquelle für Mertz nachgewiesen werden, behandelt Mathieu die Verwendung des Portamentos in Mertz’ Bearbeitungen. Dabei wird die Übernahme unnotierter Traditionen postuliert und die Gitarrenbearbeitungen werden als Quelle für die Aufführungspraxis der Schubert’schen Lieder nahegelegt. Der Autor spricht zwei wesentliche Aspekte an: die Nachahmung des Gesangs auf dem Instrument sowie die aufführungspraktische Wechselwirkung zwischen Instrument und Stimme. Dennoch muss eine gewisse Oberflächlichkeit in diesem Artikel bemängelt werden, welche auf das kompakte Format zurückzuführen ist. Zweifelsohne wird aber ein Anstoß zu weiteren Abhandlungen gegeben.

Die letzten Jahrzehnte haben positive Entwicklungen in der Forschung der Gitarrenmusik des 19. Jahrhunderts gebracht. Sie bezeugen die zunehmende Anerkennung dieses Repertoires und stärken das Bewusstsein, dass sowohl die Musik als auch die Gitarrenspielpraxis adäquate Aufmerksamkeit brauchen. Trotz der neuen Erkenntnisse besteht weiterhin der Bedarf an wissenschaftlich fundierten Abhandlungen zur Gitarrengeschichte und zur gitarrenbezogenen Aufführungspraxis.

In den letzten Jahren sind zahlreiche gitarrenbezogene Quellen von Bibliotheken digitalisiert worden, wodurch mehrere umfangreiche Gitarrenmusiksammlungen im Netz frei verfügbar geworden sind:

The Rischel & Birket-Smith Collection aus The Royal Library in Copenhagen (http://www.kb.dk/en/nb/tema/fokus/rbs.html)

Boije Sammlung aus The Music and Theatre Library of Sweden (http://musikverket.se/musikochteaterbiblioteket/ladda-ner-noter/boijes-samling)

Hudleston Collection aus Royal Irish Academy of Music (http://www.riam.ie/19th-century-guitar-music-collection-now-available-online-from-the-royal-irish-academy-of-music)

GFA Archives aus University of Akron in Akron, Ohio (http://archives.guitarfoundation.org)

Die gitarristische Sammlung Fritz Walter und Gabriele Wiedemann aus der Bayerischen Staatsbibliothek (http://www.muenchener-digitalisierungszentrum.de)

Diese und weitere Sammlungen sind über die Suchmaschine Archive Search (http://digitalguitararchive.com/archive) von Robert Coldwell zugänglich. Dionisio Aguados49 Lehrwerke sowie weitere Notenquellen vor allem spanischer Komponisten sind im Digitalisierungsprojekt der spanischen Nationalbibliothek (http://www.bne.es/es/Catalogos/BibliotecaDigitalHispanica/Inicio) auffindbar. Die M. A. Zani de Ferranti Collection beinhaltet mehrere Handschriften unveröffentlichter Werke von Zani de Ferranti und liegt im Sydney eScholarship Repository (https://ses.library.usyd.edu.au/handle/2123/1731) digitalisiert vor. ← 22 | 23 →

Die aus den Digitalisierungsprojekten resultierende hervorragende Zugänglichkeit des Materials hat das Verfassen dieser Arbeit und die dazu nötige Auswertung vieler Quellen ermöglicht. Besonderer Wert ist auf die Auswahl der Ausgaben gelegt worden. Nur in Ausnahmefällen sind Nachdrucke benutzt, die meisten Quellen sind in den Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert herangezogen worden. Bei der Benutzung digitalisierter Quellen wird großer Wert darauf gelegt, dass der Quellenstandort sowie die Herkunft der Digitalisate bekannt sind. Um die Quellenverfügbarkeit zu gewährleisten, sind ausschließlich von Bibliotheken bereitgestellte Digitalisate benutzt worden. Die Quellenerfassung in der Bibliografie enthält deswegen neben den elektronischen Verweisen stets das Bibliothekssigel.

Methoden

In der vorliegenden Arbeit werden folgende Methoden angewendet:

Aufarbeitung der vorhandenen Literatur

Erschließung und Auswertung der Quellen

Vergleichende Analyse von Bearbeitungen und Vorlagen

Analyse der Originalwerke

Obwohl die Sekundärliteratur im Rahmen der Vorbereitung umfangreich untersucht worden ist, steht die Untersuchung historischer Quellen im Mittelpunkt. Die Sekundärliteratur wird dann miteinbezogen, wenn eine genauere Quellenuntersuchung unverhältnismäßig aufwendig ist. Da die Quellenauswahl zeitlich breit angelegt ist, ergibt sich eine unüberschaubare Anzahl von potenziellen Quellen. Der Grund für das großzügige Zeitfenster ist die Knappheit an relevanten Inhalten, die trotz der Quellenfülle festgestellt worden ist.

Die Textquellen werden großteils mithilfe digitaler Suchmaschinen ausgewertet. Wegen der geringen Bedeutung der Gitarre im 19. Jahrhundert sind nicht viele Textquellen für die vorliegende Arbeit relevant. Beispielsweise sind ausführliche Konzertrezensionen von großer Bedeutung. Jedoch gehen die Zeitschriftenberichte selten über bloße Ankündigungen hinaus. Publikationen wie Der junge Gitarren- und Concertinavirtuose Giulio Regondi50 oder A. T. Huerta: Life and Works51, die eine Auswahl an Konzertrezensionen zu einzelnen Künstlern zusammenstellen, bieten wertvolle Hilfe. Digitalisierte historische Zeitschriften ermöglichen eine schnelle Suche nach relevanten Inhalten. Es werden die Suchmaschinen der großen Bibliotheken wie Hemeroteca Digital (Zeitschriftensuchmaschine der Biblioteca Nacional de España52), Gallica (Digitalisierungsprojekt der Bibliothèque nationale de France53), Anno (Virtueller Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek54) oder Digitale ← 23 | 24 → Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek55 benutzt. Google Books wird ebenfalls zur Recherche herangezogen. All diese Ressourcen bieten eine Volltextsuche.

Durch die digitale Suche entstehen eigene Problematiken: Aufgrund der uneinheitlichen Rechtschreibung müssen Begriffe mit zum Teil sehr unterschiedlichen Schreibweisen (z. B. auf Deutsch Gitarre, Gitare, Gittare, Guitarre, Guitare) geprüft werden. Darüber hinaus schlägt die automatische Texterkennung manchmal fehl, sodass die Suche nicht alle vorhandenen Ergebnisse liefert. Der entscheidende Vorteil der digitalen Suche ist die große Quellenanzahl, die auf diese Weise durchsucht werden kann. Dies betrifft vor allem die allgemeine Presse, in der beispielsweise relevantere gitarrenbezogene Artikel und Rezensionen zu finden sind als in Musikzeitschriften. Die Auswertung dieser umfangreichen Quellenanzahl wäre in der Archivarbeit de facto unmöglich. Eine Einschränkung auf bestimmte Zeitschriften wäre andererseits wegen der begrenzten Anzahl relevanter Beiträge sehr einengend.

Die Auswertung der zahlreichen Lehrbücher (überwiegend Instrumentalschulen und Gesangsschulen) ist für diese Arbeit zentral. Es werden sowohl Standardwerke wie Carl Czernys Vollständige theoretisch-practische Pianoforte-Schule56 als auch weniger bekannte Lehrwerke miteinbezogen. Die Darstellungen aus Gitarrenlehrbüchern werden mit denen aus anderen Bereichen (andere Instrumente und Gesang) verglichen und nach Bedarf ergänzt. Dieser Schritt ist wegen der dürftigen Behandlung des virtuosen Spiels in vielen Gitarrenlehrbüchern notwendig. Für die Themen, zu denen Gitarrenlehrbüchern keine Angaben machen (z. B. Tempo rubato), werden relevante Lehrbücher konsultiert und anschließend entsprechende Beispiele in Gitarrenkompositionen gesucht.

Die vergleichende Analyse der Vorlagen und Bearbeitungen bildet den Kern der Kapitel 3, 4 und 5. Die Identifizierung der Vorlagen ist wegen oft sparsamer oder fehlender Angaben in den Bearbeitungen eine große Herausforderung. Die vergleichende Analyse beschäftigt sich vor allem mit der spieltechnischen und klanglichen Umsetzung auf der Gitarre. Die Beispiele werden deswegen auch einer ‚Analyse‘ auf dem Instrument unterzogen. Dieser Arbeitsschritt ergänzt die klassische Untersuchung, um aussagekräftige Schlüsse für Klang und Spieltechnik ziehen zu können. Eine formale oder satztechnische Analyse wird für die Werke gemacht, in denen sich diese Elemente auf die Umsetzung der Vorlage auswirken. Die Originalwerke für Gitarre werden analysiert, um Analogien zu den Erkenntnissen aus der Bearbeitungsanalyse zu finden. Obwohl das Thema der vorliegenden Arbeit die virtuose Spielpraxis ist, werden gelegentlich der Dilettantenliteratur zugehörende Kompositionen miteinbezogen. Sie geben Einsichten in Spielpraktiken, die im virtuosen Spiel selbstverständlich sind, aber in der Dilettantenliteratur aus didaktischen Gründen notiert werden.

Die länderübergreifende Untersuchung begründet die zahlreichen Zitate in verschiedenen Sprachen. Obwohl für viele Texte die Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert identifiziert und übernommen werden können, existieren bis heute keine deutschen Übersetzungen für etliche Schlüsselwerke. Beispielsweise ist kein Lehrwerk ← 24 | 25 → von Aguado vollständig ins Deutsche übersetzt worden.57 Für englische Zitate wird angenommen, dass keine Übersetzung nötig ist; französische, italienische und spanische Zitate werden hingegen übersetzt. Um eine möglichst genaue Übersetzung anzufertigen, werden historische Wörterbücher zu Hilfe genommen.58 Da jede Übersetzung interpretatorische Entscheidungen mit sich zieht, werden die originalen Zitate in den Haupttext eingefügt, während die Übersetzungen im Anhang 7.1 sind.

Obwohl die ikonografische Untersuchung nicht den Schwerpunkt der Arbeit bildet, illustrieren einige ausgewählte Abbildungen manche Themen besonders gut. Anhand dieser Bilder kann die Rolle der Gitarre in breiten Gesellschaftsschichten belegt werden. Darüber hinaus unterstützen die Bilder die Beschreibungen gitarrenähnlicher Instrumente. Zahlreiche Notenbeispiele werden vorgestellt, wobei einige Vorlagen zur besseren Lesbarkeit durch ein Notensatzprogramm neu gesetzt worden sind. Beim Vergleich von Kompositionen für Barockgitarre mit ihren Bearbeitungen aus dem 19. Jahrhundert wird die Tabulatur in die moderne Notenschrift übertragen. In analytischen Abschnitten entsprechen die Notennamen der Notation und nicht den erklingenden Tönen. Die Gitarrenquellen aus dem 19. Jahrhundert benutzten nämlich keinen nach unten oktavierenden Violinschlüssel, wie es heute in Gitarrenausgaben üblich ist.

Da die bibliographischen Angaben vor allem der Quellenidentifizierung dienen, werden sie weitgehend aus den Titelseiten übernommen. Einige Angaben werden allerdings ergänzt: Komponistennamen werden nach Bedarf und Möglichkeit ermittelt und vervollständigt. Unterschiedliche Schreibweisen werden vereinheitlicht. Schließlich werden die Gitarrenschulen anhand An Annotated Bibliography of Guitar Methods, 1760–186059 von Erik Stenstadvold datiert.

Aufbau

Die Arbeit gliedert sich in fünf Hauptkapitel. Die ersten beiden Kapitel haben einen einführenden Charakter und bilden die Grundlage für die darauffolgenden Analysen. Kapitel 1 erläutert vor allem die Verbindung zwischen Bearbeitungs- und Spielpraxis. Nach der Begriffsklärung wird das Bearbeiten in einen gitarrenspezifischen Kontext eingebettet. Die Schlussfolgerungen dieses Kapitels sind wesentlich, weil sie die Einbeziehung der Bearbeitungen bei der Untersuchung der Spielpraxis begründen. Kapitel 2 stellt kulturelle und gitarrenbautechnische Umstände dar, die der Entwicklung des ← 25 | 26 → virtuosen Spiels im 19. Jahrhundert vorausgingen oder sie begleiteten. Dieses Kapitel ist besonders wichtig, um die Stellung der Gitarre zu verdeutlichen und die daraus resultierenden spielpraktischen Ansätze herauszuarbeiten.

In den Kapiteln 3, 4 und 5 wird die Spielpraxis untersucht. Jedes Kapitel beschäftigt sich mit einem bestimmten spielpraktischen Ansatz. Im Mittelpunkt von Kapitel 3 steht der Klang. Es werden sowohl die allgemeine Klangauffassung als auch die spieltechnische und interpretatorische Umsetzung des Klangfarbenwechsels dargestellt. Der Titel „Traité d’instrumentation et d’orchestration“ ist eine Hommage an Hector Berlioz und an seine Instrumentationslehre.60 Sein Opus ist auf den ersten Blick von Gitarrenkompositionen und Gitarrenspielpraxis weit entfernt.61 Erst genauere Untersuchungen der Klangauffassung zeigen eine Verbindung.

Kapitel 4 untersucht das Konzept des ‚instrumentalen Singens‘. Der Titel paraphrasiert Sigismund Thalbergs „L’art du chant appliqué au piano“ 62, ein Werk, dessen Grundgedanken in diesem Kapitel mehrmals aufgegriffen werden. Das ‚instrumentale Singen‘ ist ein komplexes Thema und umfasst mehrere spielpraktische Elemente, die in den Abschnitten 4.2 bis 4.6 behandelt werden. Dabei geht es darum, dass der ausschwingende Toncharakter von Instrumenten wie Pianoforte oder Gitarre überwunden und der Anschein eines lange anhaltenden Klanges wie bei Streichinstrumenten oder beim Gesang erzeugt werden kann. Die verschiedenen Facetten der Verzierungspraxis auf der Gitarre stehen im Mittelpunkt von Kapitel 5. Es trägt den Namen eines Lehrwerkes von Joseph-Bernard Merchi63 „Traité des agréments de la musique exécutés sur la guitare“ 64 aus dem Jahr 1777. Im Vorwort postuliert Merchi die Ablösung von der Tabulatur, empfiehlt Einzelsaiten gegenüber Chören und ist somit richtungsweisend für die Gitarre im 19. Jahrhundert. Kapitel 5 befasst sich vor allem mit den Besonderheiten der gitarrenspezifischen Verzierungspraxis und es werden sowohl die Ausführung als auch die improvisatorische Anwendung von Verzierungen behandelt.


1 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Lebens-Ansichten des Katers Murr. Reimer: Berlin 1828, S. 49.

Details

Seiten
426
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631746981
ISBN (ePUB)
9783631746998
ISBN (MOBI)
9783631747001
ISBN (Hardcover)
9783631746974
DOI
10.3726/b15679
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Improvisation Cantabile-Spiel Tempo rubato Gitarrenbau Variation
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 426 S., 261 s/w Abb., 3 s/w Tab.

Biographische Angaben

Leila Gudlin (Autor:in)

Leila Gudlin studierte Gitarre Konzertfach und Instrumental(Gesangs)pädagogik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Der intensiven praktischen Beschäftigung mit der Historischen Aufführungspraxis folgte die Promotion im Fach Historische Musikwissenschaft an der Universität Mozarteum Salzburg.

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Titel: „… in tausend schimmernden Klangfarben …“
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