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Ein Dichter ist eben ein Dichter

Dostojewskij, Russland und die deutsche Literatur

von Gudrun Goes (Band-Herausgeber:in)
©2018 Dissertation 214 Seiten

Zusammenfassung

Der Band betrachtet die wechselseitige literarische Beziehung zwischen Deutschland und Russland am Beispiel des Autoren Fjodor Dostojewski. Die Beiträge spiegeln den aktiven Dialog, den Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Franz Kafka und Robert Musil in ihren Werken und ihrem Leben mit Dostojewskij führten, wider. Die Autoren geben einen Überblick zu den verschiedenen medialen Rezeptionsprozessen in Deutschland und gehen unter anderem auch dem Phänomen des „guten Herzens" bei russischen Dichtern nach.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort (Gudrun Goes)
  • Dostojewskij und die deutsche Kultur. Fragmentarische Notizen und Hinweise. (Horst-Jürgen gerigk)
  • „Life is a tale/Told by an idiot“ Zum Problem des „guten Herzens“ bei Dostojewskij und Gontscharow (Peter Thiergen)
  • „Eine unendliche Mischung von Absichten“ Betrachtungen zur Dostojewskij-Rezeption bei Franz Kafka. Mit einem Ausblick auf Lutz Seilers Kruso (Christiane Schulz)
  • Wunsch nach dem Tod des Vaters: Dostojewskij, Freud, Musil. (Maria Kiseleva)
  • Existenzformen des absoluten Ich. Gerhart Hauptmanns Der Narr in Christo Emanuel Quint und Dostojewskijs Idiot (Horst-Jürgen gerigk)
  • Antiwestliche Zivilisationskritik und Russlandmythos. Dostojewskij und Thomas Mann: Die Betrachtungen eines Unpolitischen. (Karla Hielscher)
  • Dostojewskij in den (bundes)deutschen Presseorganen Der Spiegel und Die Zeit. Ein russischer Autor des 19. Jahrhunderts im Kalten Krieg. (Christoph Garstka)
  • Dostojewskij und das deutsche Theater der Gegenwart: Potentiale-Probleme-Perspektiven (Wolfgang Stephan Kissel)
  • Kollektive Hysterie im Nebel der Ideologien: Dostojewskijs Roman Dämonen auf der Bühne des Staatsschauspiels Dresden (Felicitas Zürcher)
  • Der fotografierte Gedanke – Rodtschenko und Merkurows „Denkmal für Dostojewskij“ (Anne Rennert)
  • Deutsche Dostojewskij-Bibliographie 2015 (Nina Balz)
  • Autorenverzeichnis

GUDRUN GOES

Vorwort

Ein Dichter ist eben ein Dichter: Dostojewskij, Russland und die deutsche Kultur

Meissen, eine Stadt, eine Landschaft, bei Dresden, war prädestiniert für die Austragung einer Konferenz zum Thema Dostojewskij, Russland und die deutsche Kultur, das genau den Zeitgeist, dem wir gar nicht hinter laufen, sondern eher Weichen der Verständigung stellen wollen, entspricht. In Zeiten der Dissonanzen, die wir zwischen Russland und Deutschland leider ausmachen, kann das Dichterwort helfen, uns wieder besser zu verstehen. Aber die Tradition der deutsch-russischer Wechselbeziehungen ist ungebrochen.

Ich kann nicht alle deutschen Dichter, Philosophen aufzählen, die nicht nur die Werke des russischen Dichters gelesen, sondern auch darüber reflektiert und oft Motive aufgegriffen haben. Wir erinnern uns, dass Nietzsche und Einstein Dostojewskij als magistralen Vordenker bezeichnet haben.

Thomas Mann steht dabei u.a. im Zentrum der Rezeption von Dostojewskijs Schaffen, die Bezüge sind vielfältig. Dass die Freundin Tonio Krögers ausgerechnet eine Russin ist, wurde bei Thomas Mann durch seine bisherige Lektüre der russischen Literatur vorbereitet. Der Name Lisaweta erinnert an Dostojewskij, an die Schwester der Pfandleiherin aus Verbrechen und Strafe. Auf Tonio Krögers Monolog über den quälenden Gegensatz zwischen Kunst und Leben, erwidert sie, dass er die Dinge ansehe, wie sie nicht notwendig angesehen zu werden bräuchten; sie spricht von der reinigenden Wirkung der Literatur, Literatur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur Liebe. Lisaweta, meint darauf Tonio Kröger, habe ein Recht zu sprechen, und zwar im Hinblick auf die anbetungswürdige, ja heilige russische Literatur.1

Autobiographische Zeugnisse, die die intensive Auseinandersetzung mit dem Autor und seinem Werk belegen, existieren von Hermann Hesse, Robert Musil über Alfred Döblin bis zu Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann u.a. Man kann sogar behaupten, dass Dostojewskij der am intensivsten rezeptierte russische Schriftsteller im deutschsprachigen Raum ist.2 ← 7 | 8 →

Blicken wir in unsere Zeit: Dostojewskijs Werke, die von jeder Generation neu entdeckt werden müssen, zeigen sich nicht nur durch bunte Frontseiten neu (das gehört heute zur visuellen Aufmachung), sondern auch durch neue Übersetzungen. Die letzten 20 Jahre bestimmte Swetlana Geier die Übersetzung der Romane und Erzählungen des russischen Dichters, daneben existieren die von Hermann Röhl, Alexander Eliasberg u.a. Bei kleinen Einzelveröffentlichungen tauchen Namen neuer Übersetzer auf. Gespannt darf man sein, wann sich auch Alexander Nitzberg, der durch zahlreiche hervorragende Übersetzungen von Werken aus dem 20. Jahrhundert hervorgetreten ist, auch den „fünf Elefanten“, so bezeichnete einmal Svetlana Geier die fünf großen Romane des russischen Dichters, widmet. Seine Übersetzung des Spielers erschien im Herbst 2016.

Die stark dialogisch strukturierten Werke Dostojewskijs haben schon seit langer Zeit dem Theater als Vorlage für Dramatisierungen gedient. In Dresden werden die Dämonen gespielt, die Dramaturgin dieser Inszenierung haben wir zu unserer Tagung eingeladen. Anfang 2016 wurde unter der Regie von Matthias Hartmann der Idiot auf die Bühne gebracht. Alle Theater und ihre Aufführungen will ich nicht aufzählen. Aber Hamburg und auch Frankfurt a. Main scheinen ein Mekka für Dramatisierungen der Romane des russischen Schriftstellers geworden zu sein, am Thalia Theater gab es 32 Vorstellungen der Brüder Karamasow in der Regie von Luc Perceval, im Schauspielhaus „laufen“ in der Regie von Karin Henkel die Aufführung Der Idiot, und Schuld und Sühne in der Regie von Karin Beier. 2013 „startete“ das Schauspielhaus in Frankfurt a. Main mit der Dostojewskij-Trilogie: 2013 hatte also Der Idiot in der Regie von Stephan Kimmig Premiere als Teil 2, es folgten 2015 unter der Leitung von Sebastian Hartmann Dämonen und als dritten Teil brachte der Regisseur Bastian Kraft 2016 Schuld und Sühne erfolgreich auf die Bühne.

Im Gespräch mit André Mumot führte der Dramaturg Christian Tschirner vom Hamburger Schauspielhaus aus, warum er es völlig in Ordnung finde, dass die Dostojewskij-Welle nicht abreiße und neben tagesaktuellen Themen auch die Klassiker weiterhin auf dem Programm stehe: „Wir wollen ja nicht ein Museum sein, wir wollen schon Formen weiterentwickeln. Trotzdem: Jetzt zu sagen, wir werfen alles über Bord – das wäre traurig.“ Die Zuschauer sieht er dabei ganz auf seiner Seite: „Ich halte das für eine verzerrte Diskussion, wenn man sagt, das Theater müsse neue Wege gehen, um nicht das Publikum zu verlieren. Meine Erfahrung ist eher umgekehrt: Das Publikum wünscht sich schon die alten Stoffe.“ Wenn sich so viele Medien um Dostojewskij bemühen (Theater, Film, Hörbuch, Graphic Novel), so sollten wir nicht vorschnell von einer Renaissance der Rezeption der Werke des russischen Dichters im deutschen Sprachraum sprechen; die gab es schon oft. Zu Beginn der 1980er Jahre hat Horst Bienek in seiner Publikation Dostojewski für alle konstatiert, dass wir heute vor einer neuen Dostojewski-Renaissance stünden: „Der Gott, der keiner war, ist endlich gestürzt worden, eine uralte und immer gefährdete Menschheitsidee ist zur Ideologie verkommen […]. Und so vieles, was sich als Ideal, Utopie anbot (in diesem Sinne wurden auch eine Zeitlang seine Bücher gelesen), hat sich ← 8 | 9 → als Schein, als Ersatz, als Illusion erwiese. […] Dostojewski, das hat man lange vergessen, führt uns zu uns selbst zurück, in unsere einsame Existenz. […] Da er ein dialogischer Autor ist, zieht, zerrt, ja saugt er uns in seine Auseinandersetzungen mit hinein, mit ihm fragen, zweifeln und leiden wir noch heute, mit ihm zürnen, streiten und änstigen uns […].“3

Unser Jahrbuch will mit Ihnen, liebe Leser, in den Dialog über Fjodor Dostojewskij treten und dabei bleibt unser Thema im Blick. Nachdem der Beitrag von Horst-Jürgen Gerigk facettenhaft die Beziehungen zwischen dem russischen Dichter und der deutschen Kultur dargestelllt hat, läßt Peter Thiergen uns teilnehmen an einer größeren Studie zu dem Problem des „guten Herzens“ bei Dostojewskij und Gontscharow, dessen erste Ergebnisse er uns präsentiert. Er fagt nach dem guten Herzen und dem edlen Charakter und folgt ihnen auch als Leitbegriffe aus der deutschen Kultur, der Rezeption Schillers u.a. Danach lesen wir die Ausführungen von Christiane Schulz mit einem neuen Zugang zur Dostojewskij-Rezeption von Kafka mit dem Hinweis auf das neueste stark diskutierte Werk von Lutz Seiler Kruso; ein Beitrag zu Musil von Maria Kiseleva und nochmals von Horst-Jürgen Gerigk zu Gerhart Hauptmanns Rezeption und Karla Hielschers Auseinandersetzung mit Thomas Manns Text Betrachtungen eines Unpolitischen komplettieren die Diskussion. Christoph Garstka greift in seinem Aufsatz die direkte mediale Auseinandersetzung mit dem Werk Dostojewskijs in der Nachkriegszeit auf mit dem besonderen Fokus auf die Wochenzeitung Der Spiegel. Wolfgang Kissel entwirft mit seinem Beitrag zu Dostojewskij und das deutsche Theater der Gegenwart: Potential-Probleme-Perspektiven eine theoretische und analytische Grundlegung fuer das Phäniomen der vielen Dramatisierungen von Werken des russischen Schriftstellers auf deutschen und nicht nur deutschen Bühnen und kommt zu der interessanten Schlußfolgerung, dass Dostojewskij ein Autor der globalen Gegenwart sei. Ganz in der unmittelbaren Gegenwart und Praxis ist die Beschäftigung mit dem Werk des russischen Schriftstellers angekommen, wenn die Dramaturgin Felicitas Zürcher die Konzeption der Inszenierung der Dämonen am Schauspielhaus Dresden vorstellt, die 2014 in der Regie von Friedericke Heller Premiere hatte. Anne Rennert beschließt den Band mit kunstwissenschaftlichen Betrachtungen zu Sergej Merkurows Dostojewskij-Denkmal aus dem Jahr 1918 und Alexander Rodtschenkos Fotografie desselben aus dem Jahr 1932. ← 9 | 10 →


1      Vgl. Aleksej Bakakov: Ströme von Kraft. Köln 2014, S. 20f

2      Jürgen Lehmann: Russische Literatur in Deutschland. Stuttgart 2015, S. 739.

3      Dostojewski für alle, ausgewählt und eingeleitet von Horst Bienek. München 1981, S.32f.

HORST-JÜRGEN GERIGK

Dostojewskij und die deutsche Kultur
Fragmentarische Notizen und Hinweise

Peter der Grosse ist es gewesen, der zu Anfang des 18. Jahrhunderts das „Fenster nach Westen“ geöffnet hat: und das exemplarisch durch Gründung seiner Stadt, „St. Petersburg“, mitten im finnischen Sumpf. 1725 entstand die erste Russische Akademie der Wissenschaften – mit Leibniz als Vorbild. Ab sofort importiert Russland die Kultur Westeuropas. Stichwort: Diderot in Petersburg. Deutsche Hauslehrer und englische Gouvernanten gehören zum Alltag der Oberschicht. Und Nikolaj Karamsins Briefe eines russischen Reisenden (Pis'ma russkogo puteshestvennika, 1791) liefern zu diesem interkulturellen Ereignis das Protokoll. Die Kontaktaufnahme mit Westeuropa wird zum Ritual der russischen Intellektuellen.

Im 19. Jahrhundert allerdings bilden sich zwei Lager heraus, die miteinander konkurrieren, was die ideologische Gegenwart und die ideologische Zukunft Russlands betrifft: die „Slavophilen“ und die „Westler“. Hierzu hat die Russische Geistesgeschichte, wie sie Dmitrij Tschizewskij 1961 vorgelegt hat, den einschlägigen Kommentar geliefert (Russland zwischen Ost und West. 18. - 20. Jahrhundert; in: „rowohlts deutscher enzyklopädie“). So gehörte etwa Dostojewskij zu den „Slavophilen“, Turgenjew aber zu den „Westlern“, was nicht nur ihrer Publizistik, sondern vor allem auch ihren literarischen Werken anzusehen war.

Man denke nur an Dostojewskijs Roman Der Spieler (Igrok, 1866), worin alles Deutsche satirisch abgekanzelt wird, sowie an Turgenjews Roman Rauch (Dym, 1868), worin die Russen im Ausland satirisch dargestellt werden. Dass beide Werke Baden-Baden zum Schauplatz haben, ist ihrer Eignung zum Vergleich besonders zugute gekommen.

Im deutschen Vorwort zur ersten deutschen Übersetzung seines Romans Väter und Söhne, 1862, (Otcy i deti), vermerkt Turgenjew: „Ich verdanke zu viel Deutschland, um es nicht als mein zweites Vaterland zu lieben und zu verehren,“ – ein Bekenntnis, das Dostojewskij niemals unterschrieben härte.

Und doch gilt auch für Dostojewskij, dass er von der deutschen Kultur zutiefst geprägt wurde. Friedrich Schiller und E. T. A. Hoffmann haben Dostojewskijs literarisches Schaffen zutiefst beeinflusst.

Dass Schiller und Hoffmann in Russland zu festen literarischen Größen wurden, belegen insbesondere zwei inzwischen klassische Monografien: Schiller in der russischen Literatur. 18. Jahrhundert – erste Hälfte des 19. Jahrhunderts (Dresden 1998) ← 10 | 11 → von Rostislaw Daniljewkij und The Russian Hoffmannists (The Hague 1963) von Charles D. Passage. In beiden Monografien spielt Dostojewskij eine zentrale Rolle.

Details

Seiten
214
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631745274
ISBN (ePUB)
9783631745281
ISBN (MOBI)
9783631745298
ISBN (Paperback)
9783631745267
DOI
10.3726/b13251
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Slavistik Vergleichende Literatuwissenschaft Theater Motivforschung Printmedien
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 214 S., 22 s/w Abb.

Biographische Angaben

Gudrun Goes (Band-Herausgeber:in)

Gudrun Goes ist Hochschullehrerin für russische Literatur und Kulturwissenschaft an der Universität Magdeburg. Ihre Forschungsgebiete umfassen unter anderem die Rezeption russischer Literatur in Deutschland.

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Titel: Ein Dichter ist eben ein Dichter
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