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#Engagement. Literarische Potentiale nach den Wenden

Band 2

von Elżbieta Kapral (Band-Herausgeber:in) Joanna Jablkowska (Band-Herausgeber:in) Gudrun Heidemann (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 206 Seiten

Zusammenfassung

Angesichts enormer digitaler Vernetzungen, die den Informationsfluss im Radius (a)sozialer Netzwerke wie in seiner Aktualität beträchtlich erhöhen, und gesellschaftlich einschneidender Krisen erweist sich heutzutage gerade die engagierte Literatur verstärkt als verspätet. So fällt der einschlägigen Forschung zufolge auch das Wendejahr der Gegenwartsliteratur ins Jahr 1995.
Die Beiträge des Bandes beleuchten das Potential literarischen Engagements sowohl unter den neuen Konditionen digitaler Streuung samt ihrer Echoeffekte als auch hinsichtlich medialer wie literarischer Felder, deren Ausgestaltung teils in die jüngere (deutsche) Geschichte – durchaus mit Bezügen zu einschneidenden Vorgeschichten wie dem nationalsozialistischen Genozid und dem Kolonialismus – zurückreicht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Gudrun Heidemann: #Literarisches_Engagement. Vom politischen Durchbuchstabieren zum medialen Streufeld 2
  • Torsten Erdbrügger: „Genormt, bespaßt und verwaltet – eine Bürgerherde“. Juli Zehs Engagement für das Politische
  • Saskia Fischer: Katharina Hackers Poetik einer engagierten Erinnerungsliteratur am Beispiel von Tel Aviv – Eine Stadterzählung (1997), Eine Art Liebe (2003) und Skip (2015)
  • Lena Wetenkamp: „Politik in Texten meint vor allem Wahrnehmen statt Meinen.“ Postmemory und Engagement in Ulrike Draesners Sieben Sprünge vom Rand der Welt
  • Elżbieta Tomasi-Kapral: Ankunft in einer neuen Welt – Christoph Heins Gesellschaftskritik am Beispiel der Romane Willenbrock und Landnahme
  • Johann Holzner: Die gefesselten Phantasien der Grenzgänger
  • Ewelina Kamińska-Ossowska: (Wie) Kann man Kleinkindern über Flüchtlinge berichten?
  • Emmanuelle Terrones: „Bis nach dem Krieg um sechs!“: Terézia Moras Alle Tage (2004)
  • Monika Wolting: Der Neue-Kriege-Diskurs als Hintergrund erzählter Geschichten. Eine Studie zur Erzählperspektive
  • Lothar L. Schneider: Engagement & Enttäuschung. Lukas Bärfuss’ Roman Hundert Tage.
  • Autor*innenverzeichnis

←6 | 7→

Gudrun Heidemann

#Literarisches_Engagement. Vom politischen
Durchbuchstabieren zum medialen Streufeld 2

Abstract: Anhand einiger Werke von Günter Grass wird ein Paradebeispiel für das Verschwimmen der Grenzen zwischen Politik und Dichtung ausgemacht. Im digitalen Zeitalter kommt für die engagierte Literatur erschwerend hinzu, dass sie angesichts ebenso zahlreicher wie sich blitzschnell verbreitender politischer Äußerungen im Netz besonders verlangsamt erscheint. Über den (möglichen) Umgang damit wie mit weiteren einschneidenden Veränderungen im Literaturbetrieb wird im Zeitungsfeuilleton wie in den (a)sozialen Netzwerken seit einigen Jahren lebhaft diskutiert.

Keywords: Engagement, Günter Grass, Wende 1989, digitale Medien

„Das immerhin leistet die Literatur: Sie schaut nicht weg, sie vergisst nicht, sie bricht das Schweigen“,1 bemerkte Günter Grass 2000, nachdem er im Jahr zuvor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war. Spätestens seit dieser Würdigung zählt der Literat zu den bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Seitdem sich Grass als Schriftsteller etablierte, engagierte er sich in seinen literarischen Werken politisch – etwa in dem Erstling seiner Danziger Trilogie Die Blechtrommel von 1959, worin Oskar Mazerath nicht nur als Wachstumsverweigerer rebelliert wie kollaboriert. Seine Prominenz verschaffte Grass auch Zutritt auf die politische Bühne, er setze sich für SPD-Spitzenkandidaten – von Willy Brandt über Björn Engholm bis zu Gerhard Schröder – und für deren Programme – wenn auch nicht völlig kritiklos – ein, bis er 1993 aus Protest gegen die Asylpolitik aus der Partei austrat. Wenn es im letzten Vers seines Wahlgedichts Gesamtdeutscher Herbst von 1965 ohne Umschweife heißt „ich rat Euch, Es-Pe-De zu wählen!“,2 so haben wir es hier nicht nur mit einem parteipolitischen Bekenntnis zu tun, sondern ebenso mit einem literarischen – mehr noch, mit dem Appell verschwimmen die Grenzen zwischen Dichtung und Politik.

Während Oskar aus Die Blechtrommel das von der jungen Bundesrepublik weitgehend verdrängte Kriegsgeschehen und die nationalsozialistischen ←7 | 8→Gräueltaten teils buchstäblich hinausschreit, setzte sich sein Erschaffer für die Ostpolitik von Willy Brandt ein.3 Wie eng Grass mit dem späteren Bundeskanzler verbunden war, wird etwa in Aus dem Tagebuch einer Schnecke4 von 1972 deutlich, worin ein Ich-Erzähler anhand des Schneckentempos versucht, Kindern zu veranschaulichen, wie mühselig der Fortschritt in Deutschland zu erlangen ist. Das Buch beginnt 1969 mit der Ära Brandt, sein Inhalt ist fiktiv, auch wenn es sich an tatsächlichen Ereignissen orientiert. Wenn der Autor die Langsamkeit in der Politik poetisiert, so inszeniert er sich hier teils als kritischer Hofdichter. In dem Tagebuch von 1990, das 2009 als Unterwegs von Deutschland nach Deutschland publiziert wurde, gewährt Grass unter anderem Einblicke in sein politisches Denken und dessen Auswirkungen auf sein literarisches Schreiben. Wie oft in solchen Fällen maskiert sich der Autor in dem Text ebenso als Literat wie als teils scharfer Kritiker der politischen Situation ein Jahr nach der Einheit, aber auch als mal kochende, mal gärtnernde Privatperson und in zahlreichen weiteren Nuancen.

Korrespondenzen zwischen literarischen Konstrukten und politischer Realität resp. nichtfiktive Reflexionen darüber lassen sich bei Grass vielfach ausmachen. In dem umstrittenen, kontrovers diskutierten und von Marcel Reich-Ranicki verrissenen Roman Ein weites Feld von 1995 etwa wird der längst erfolgten deutschen Wiedervereinigung widersprochen. Vierzehn Jahre später stellte der Autor selbst in einem Zeit-Interview fest: „Die Einigung hat bis heute nicht stattgefunden, die Einheit ist vollzogen, steht aber nur auf dem Papier.“5 Dass zu solchen Parallelen auch und gerade im fortgeschrittenen Medienzeitalter ein öffentlichkeitswirksames Kalkül gehört,6 zeigte sich 2006, als die Kriegsvergangenheit von Grass zu einem explosiven Erzählstoff wurde. Kurz bevor das die eigene Kindheit, den Krieg und die Anfänge im Nachkriegsdeutschland behandelnde Werk Beim Häuten der Zwiebel 7 erschien, offenbarte der 1927 geborene Verfasser, von dem bisher weitgehend angenommen wurde, dass er wie unzählige Altersgenossen ←8 | 9→in der Wehrmacht diente, in einem FAZ-Interview seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Bezeichnenderweise begründet Grass diese Enthüllung literarisch:

Ich mußte eine Form für dieses Buch finden, das war das Schwierigste daran. Es ist ja eine Binsenwahrheit, daß unsere Erinnerungen, unsere Selbstbilder trügerisch sein können und es oft auch sind. Wir beschönigen, dramatisieren, lassen Erlebnisse zur Anekdote zusammenschnurren. Und all das, also auch das Fragwürdige, das alle literarischen Erinnerungen aufweisen, wollte ich schon in der Form durchscheinen und anklingen lassen. Deshalb die Zwiebel. Beim Enthäuten der Zwiebel, also beim Schreiben, wird Haut für Haut, Satz um Satz etwas deutlich und ablesbar, da wird Verschollenes wieder lebendig.8

Dass diese Einsicht heftige Reaktionen – von der Verlogenheit einer 60-jährigen Verspätung bis zum Respekt vor dem späten Selbstbekenntnis – auslöste, hat sich längst in die jüngere deutsche (Literatur)Geschichte eingeschrieben. Als Politikum gehören hierzu auch die Andeutungen eines möglicherweise gemeinsamen Lageraufenthalts mit Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. Empört fragte die Zeit-Journalistin Evelyn Finger in ihrem Artikel Geständnis-Event nicht nach den von Grass vorgegebenen Gründen für die späte ‚Beichte‘, sondern nach denjenigen für das lange Schweigen.9 In Beim Häuten der Zwiebel wiederum bleibt offen, „wer wem was in den Mund gelegt hat, wer genauer lügt, [die fiktive Figur; G.H.] Oskar oder ich, wem man am Ende glauben soll, was hier wie da fehlt und wer wem die Feder geführt hat.“10

Als überaus umstritten ist das politische Gedicht Was gesagt werden muss, im April 2012 in der Süddeutschen Zeitung, in der italienischen Tageszeitung La Repubblica und der spanischen El País veröffentlicht, gleichfalls bereits in die (Literatur)Geschichte eingegangen. Dies gilt vor allem für die Debatten darüber, wie das poetisch anklagende oder aufrufende lyrische Ich zu verstehen ist – warnt es vor einer politischen Eskalation, steht es angesichts der Vergangenheit des Verfassers mit sich selbst als Kritiker in Konflikt usf.

Der Fall Günter Grass wird hier deshalb exemplarisch rekapituliert, weil der Autor mit seiner Danziger Herkunft, worauf unter anderem die Trilogie – Die Blechtrommel (1959), Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963) – zurückgeht, als deutschsprachiges Paradebeispiel für einen Schriftsteller gilt, dessen ←9 | 10→dezidierte politische Ansichten sich nicht nur in der Presse, sondern auch literarisch niederschlagen. Hierdurch verwischen allerdings häufig die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, was den Autor ebenso schützt wie angreifbar macht.11 Wie Harro Zimmermann resümiert, lernte

die bundesdeutsche Republik […] [w];ie mit keinem anderen Autor mit Günter Grass das politische Buchstabieren. Zugleich stieg Grass im Kanon der Weltliteratur zur Berühmtheit auf. Nur eine Ikone wie er vermochte über Jahrzehnte die geschichtspolitischen ebenso wie die aktuellen Debatten so glaubhaft wie skandalumwittert zu schüren.12

Vor allem Letztgenanntes provozierte nur wenige Wochen nach Was gesagt werden muss die Verspottung eines weiteren Politgedichts von Grass unter den Bedingungen neuer medialer Mitteilungsmöglichkeiten und deren Vernetzung. Im Mai 2012 erschien das politische Griechenland-Gedicht Europas Schande online und unter anderem in der Süddeutschen Zeitung. Grass trug die Verse zudem im Radio Bremen vor. Der Literaturkritiker Volker Weidermann behauptete in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass das Satiremagazin Titanic und nicht Grass selbst Urheber des Gedichts sei.13 Diese Satire wurde in diversen Internetforen wie Twitter nicht als solche erkannt, bis die Süddeutsche Zeitung gleichfalls online klärte, dass es sich durchaus um Verse von Grass handelt. Am Ende dieser Medienfarce kursierten zahlreiche spöttische Nachdichtungen in unterschiedlichen Internetforen. Markiert ist damit nicht nur der Übergang ins digitale Zeitalter, sondern auch und vor allem die hiermit einhergehende Beschleunigung möglicher Reaktionen auf literarisierte Kritik an politischen Ereignissen. Das ‚politische Buchstabieren‘ ist vom papiernen Schwarz auf Weiß zu weniger verlässlichen digitalen Posts übergegangen und unterliegt damit vollends neuen Konditionen. Mit dem Wechsel der Datenträger veränderten sich allmählich auch die literarischen Potentiale politischen Engagements, da nicht nur die Verbreitung von Nachrichten, Positionen und Debatten im digitalen Zeitalter erheblich beschleunigt wurde, sondern sich im weltweiten Netz auch die Möglichkeiten von Meinungsäußerungen zu einem unkontrollierbaren Kreis von Verfasserinnen und Verfassern ausweiteten. Zudem erweisen sich ←10 | 11→im Zeitalter von Fake News, Hate Speech und Trollen die sogenannten sozialen Netzwerke als zunehmend asozial, denn in der auf das schnelle Eintippen und Posten beschränkten Kommunikation fallen Hemmungen, was die Schnelligkeit des digitalen Mediums befördert, und Algorithmen verpassen Hassreden einen vermeintlich von der breiten Masse geteilten Echoeffekt.

Dass es sich bei der Literatur um ein Medium unter vollends anderen Produktions- und Rezeptionsbedingungen handelt, wirkt sich teils wesentlich auf das engagierte Schreiben und Erzählen aus. Naturgemäß sind es keine spontanen Äußerungen, sondern vielmehr umfangreiche Narrative, die derzeit vor allem über die Krisen in Europa und andernorts sowie deren Eindringen in unterschiedliche Lebenswelten handeln. Dem literarischen Engagement wies Sartre bereits nach dem II. Weltkrieg vor allem einen Appell-Charakter zu, denn „Schreiben heißt an den Leser appellieren, dass er die Enthüllung, die ich mittels der Sprache unternommen habe, zur objektiven Existenz übergehen lasse.“14 Dem fügt Adorno später kritisch hinzu, dass engagierte Literatur „nicht Maßnahmen, gesetzgeberische Akte, praktische Veranstaltungen herbeiführen [will] wie ältere Tendenzstücke gegen die Syphilis, das Duell, den Abtreibungsparagraphen oder die Zwangserziehungsheime, sondern auf eine Haltung [hinarbeitet].“15 Manfred Frank wendet aus poststrukturalistischer Perspektive schließlich ein, dass „jene Art von Kommunikationstheorie, die darauf setzt, dass ein regelkonform enkodierter Inhalt von einem Sprecher gleicher Kompetenz auf exakt die gleiche Weise dekodiert werden müsse“,16 längst obsolet ist. Exemplarisch zeugen diese inzwischen literaturhistorischen Standpunkte von der Brisanz engagierter Schreibpotentiale, die in der Postmoderne von der Massen- resp. Popkultur teils erschüttert, teils befördert wurden und nach der Wende von 1989 unter ideologischen Verdacht gerieten.17 Angesichts der enormen digitalen Vernetzung, die ←11 | 12→den Informationsfluss im Radius wie in seiner Aktualität beträchtlich erhöhen,18 und gesellschaftlich einschneidender Krisen erweist sich gerade die engagierte Literatur zwischenzeitlich verstärkt als ‚verlangsamtes‘ Medium, wird oft als verspätet wahrgenommen.

Eine fünfjährige Verspätung attestiert Heribert Tommek daher im gleichnamigen Sammelband dem Wendejahr 1995 literarischen Werken mit eben diesem Erscheinungsjahr, die in den Kanon eingegangen sind.19 Dazu gehört unter anderem Thomas Brussigs Schelmenroman Helden wie wir, der schon ein Jahr später auf die Bühne und 1999 auf die Kinoleinwand kam. Satirisch beansprucht der Ich-Erzähler darin, mit seinem ‚Pimmel‘ für den Mauerfall verantwortlich zu sein.20 Neben diesem Wenderoman, der die sozialistische Entwicklung des interviewten Helden überspitzt dokumentiert, zählt zu den ‚verspäteten‘ Wendewerken auch der bereits erwähnte Roman Ein weites Feld von Grass, worin die urteilsfreie Ich-Perspektive eines namenlosen Potsdamer Archivars eingenommen wird. Hinzu kommt neben prosaischen wie lyrischen Texten weiterer Autorinnen und Autoren Christian Krachts Debütroman Faserland.21 Schon dass hierin ein gleichfalls namenloser Ich-Erzähler von Sylt über Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und Meersburg nach Zürich reist und damit das Terrain der alten Bundesrepublik von Norden in den Süden ‚erfährt‘, mag der ←12 | 13→Zuordnung zur deutsch-deutschen Wendethematik widersprechen. Zugleich klingt bereits in dem Titel das englische ‚fatherland‘ ebenso an wie die Fasern von Textilien, mit denen sich die schnöseligen Protagonisten in einem elitären Markenwahn einkleiden. Zudem wurde der Text – lateinisch ‚textus‘ – aus unterschiedlichen Erzählfäden zusammengesponnen. Auch lässt sich die eigenwillige Durchquerung des vermeintlichen Vaterlands ebenso als Politikum eines Konsumbesessenen mit eigenwilligen Kindheitserinnerungen und obsessiven Reflexen zum Nationalsozialismus lesen wie als popliterarischer Reisetext in Anlehnung an die Beat-Literatur, wobei der Ich-Erzähler eine ambivalente Figur zwischen ironischem Dandy und abstoßendem Schnösel bleibt. Seine Gedächtnislücken nach diversem Alkohol- und Drogenkonsum begründen zwar einige Auslassungen, jedoch zerfasert der Erzählfaden auch ansonsten beim Fort- oder Weiterfahren. Es soll hier nicht um die Frage nach der Rolle von Faserland als Vorreiter einer neuen Deutschen Popliteratur gehen, was andernorts längst verhandelt wurde,22 sondern um die Halbwertszeit der politischen Aktualität, die dem ‚Sofort‘ und ‚Jetzt‘ der digitalen Medien zeitlich hinterherhinkt.

Hinzu kommt, dass auf Kracht, Sohn eines Verlagsmanagers, das zutrifft, was Florian Kessler im Januar 2014 in Die Zeit an der jungen deutschen Gegenwartsliteratur kritisiert. In seinem Kommentar-Artikel „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“23 konstatiert Kessler, dass sich im Literaturbetrieb diejenigen durchsetzen, die sich aufgrund ihrer sozioökonomischen Herkunft das finanziell riskante Dasein als Literatin oder Literat leisten können, da sie notfalls von ihren Eltern unterstützt werden. Dies wirke sich insofern auf das Schreiben aus, dass hierin kontroverse Themen fehlten. Kessler führt die literarische Angepasstheit und Bravheit direkt darauf zurück, dass die „Absolventen der Schreibschulen von Leipzig und Hildesheim aus demselben saturierten Milieu kommen“.24 Seiner Absage an die „Repolitisierung der deutschsprachigen Literatur“25 und Zuspitzung von Thematisierungen als „Distinktionsprosa“26 löste eine kurze, aber heftige Debatte im Feuilleton aus. Hierbei wurde Kesslers Kurzschluss teils ←13 | 14→als Insiderwissen, teils als selbstironische Inszenierung eines Professorensohns, der selbst die Hildesheimer Schreibschule besuchte, gelesen. Provokant macht Maxim Biller im Februar 2014 gleichfalls in Die Zeit eine Eintönigkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus, die er auf die Überzahl von Deutschen im Literaturbetrieb zurückführt:

Kritiker, aber auch Verleger, Lektoren und Buchhändler sind zu 90 Prozent Deutsche. Sie, als echte oder habituelle Christen, als Kinder der Suhrkamp-Kultur und Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten, bestimmen, was gedruckt wird und wie, sie sagen, was bei Hugendubel, Thalia und Dussmann auf die alles entscheidenden Verkaufstische kommt, sie zahlen die Vorschüsse, sie verleihen die Preise, sie laden als Verleger zum Abendessen ein.27

Der Autor diagnostiziert hierbei eine übereifrige Integrationserwartung in einem Deutschland, das danach strebe „Einwanderer und Fremde bis zur Unkenntlichkeit ihrer eigenen Identität zu integrieren, so wie die Hugenotten und die Polen im Ruhrgebiet.“28 Dies schlage sich letztlich wegen der Anpassung an den Buchmarkt auch literarisch nieder.

Abseits vom Feuilleton fordert Enno Stahl ein Jahr zuvor in seiner Essaysammlung Diskurspogo. Zu Literatur und Gesellschaft einen literarischen Realismus, der Ursachen von und mögliche Lösungen für Missstände vorführt.29 2015 rehabilitiert Bernd Stegemann einen Realismus, den er von den Strömungen des 19. Jahrhunderts ebenso abgrenzt wie vom zeitgenössischen Reality-TV. In Lob des Realismus plädiert der Dramaturg dafür, verdeckte Zusammenhänge entsprechend erfahrbar und wahrnehmbar zu machen.30 Gleichfalls 2015 erscheint in der Zeit-Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse ein Gespräch Ijoma Mangolds mit Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow.31 Deren Ansichten zur Politisierung von Literatur, die Mangold zufolge von der Kritik verlangt werde, sind sehr unterschiedlich. Erpenbeck lässt die Art und Weise weitgehend offen, indem sie auf individuelle Wege des politischen Engagements im Privaten oder in Bewegungen anführt: „Man schreibt über Dinge, die einen beschäftigen, die einem widerfahren.“32 Peltzer verweist auf die Notwendigkeit, ←14 | 15→„Kausalitäten“, „Kohärenz“ und „Zusammenhänge“33 aufzuzeigen, und Trojanow führt unter anderem Kontexte an, die darüber entscheiden, ob und wie etwas oder jemand politisch ist. Bereits im April 2015 fand im Berliner Brecht-Haus eine Tagung unter dem leitmotivischen Titel Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik statt, woran sich rund ein Dutzend Autorinnen und Autoren beteiligten. Diskutiert wurde unter anderem über die Auswirkungen von elektronischen Medien, digitaler Hyperbeschleunigung und Globalisierungseffekten auf den Kapitalismus und die Gesellschaft überhaupt. Wie und warum dieses Treffen und eine Folgeveranstaltung 2016 im Feuilleton stark rezipiert wurden,34 erläutert Helmut Peitsch, der selbst im Brecht-Haus beteiligt war, in Band 1.35

Angesichts der im zeitnahen Feuilleton und in den hochaktuellen (a)sozialen digitalen Netzwerken verhandelten Positionen zum literarischen Engagement stellt sich mit Olga Martynova in ihrem Essay Über die Dummheit der Stunde die Frage,

wie die Themen der Aktualität so zu behandeln wären, dass das Ergebnis nicht danach aussehen würde, dass sie vom medialen Feld aufgezwungen oder ihm entnommen sind und zwar deswegen, weil der Autor entweder nicht weiß, was und worüber er sonst schreiben sollte, oder weil er Angst hat, zurückzubleiben. Dabei muss man sich gar nicht bemühen, gegenwärtig zu sein. Man lebt in der Gegenwart.36

Viele der Beiträge dieses Bandes beleuchten eine solche Gegenwart sowohl angesichts heutiger medialer Streufelder als auch angesichts medialer wie literarischer ←15 | 16→Felder, deren Ausgestaltung teils in die jüngere (deutsche) Geschichte – durchaus mit Bezügen zu einschneidenden Vorgeschichten wie dem nationalsozialistischen Genozid und dem Kolonialismus – zurückreicht. In beiderlei Hinsicht werden narrative Strategien aufgedeckt, die zeigen, wie sich das Politische artikuliert – etwa in der Figurenrede, der Erzählperspektive, auf (mitunter fingierter) realistischer wie explizit fiktionalisierter Ebene, durch beabsichtigte Auslassungen oder in transmedialer Weise, die die Internetpräsenz von literarischen Werken ebenso betrifft wie Strategien des Literaturbetriebs.

***

Band 2 von #Engagement. Literarische Potentiale nach den Wenden steigt mit dem Beitrag Genormt, bespaßt und verwaltet – eine Bürgerherde“. Juli Zehs Engagement für das Politische ein, da Torsten Erdbrügger (Łódź) darin auch grundlegend nach den Prinzipien heutiger literarisierter Gesellschaftskritik fragt. Als Beispiele dienen dem Verfasser die teils kontrovers diskutierten Texte von Juli Zeh, und zwar ebenso essayistische Schriften wie der Roman Unterleuten von 2016. Gerade durch die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Genres solle gezeigt werden, dass Zehs Argumentationsweisen und vor allem die Legitimationen bzw. Instanzen der Gesellschaftskritik wenig überzeugen bzw. kaum Berücksichtigung finden.

Dagegen entdeckt Saskia Fischer (Bielefeld) gerade in der Erzählweise einer Autorin deren politisches Engagement, das sich damit als ‚literarisches‘ erweise. Mit Katharina Hackers Poetik einer engagierten Erinnerungsliteratur am Beispiel von Tel Aviv – Eine Stadterzählung (1997), Eine Art Liebe (2003) und Skip (2015) berücksichtigt die Verfasserin zum einen eine chronologische Linie im Schaffen Hackers, zum anderen eine exemplarische Übersicht zu deren Haltungen gegenüber Ethik und Ästhetik. Derart operierend ermittelt Fischer, dass sich in Hackers literarischen Texten eben keine direkte politische Positionierung finden lässt. Vielmehr attestiert Fischer der Autorin ein literarisch ausgestaltetes Engagement, das auf ästhetische Reflexionen über Selbstverständlichkeiten, die keine seien, über Widersprüche sowie über literarische Potentiale, die durchaus mit Selbstbezug erfolgten, beruht.

Auch Lena Wetenkamp (Mainz) macht im Schaffen einer Gegenwartsautorin eine spezifische Form politischen Engagements aus. In „Politik in Texten meint vor allem Wahrnehmen statt Meinen.“ Postmemory und Engagement in Ulrike Draesners Sieben Sprünge vom Rand der Welt widmet sich Wetenkamp genanntem Roman gemäß Sartres Devise der literarischen Erfahrbarmachung aktueller Debatten in der Gesellschaft. Zu Letztgenannten zählten derzeit Gedächtnistheorien, die angesichts des allmählichen Verschwindens der Zeugengeneration, die den Zweiten Weltkrieg und Genozid noch miterlebten, und ←16 | 17→zunehmender Äußerungen der Folgegeneration unter neuen Prämissen relevant würden. Schon als Generationenroman betreffe dies Draesners Werk, das eine entsprechende Figurenkonstellation aufweise, wodurch zum einen erlebte Flucht und Vertreibung, zum anderen das hierum kreisende familiäre Trauma aufgegriffen würden. Als Besonderheit macht Wetenkamp bei dieser ‚postmemory‘-Variante aus, dass die Trauma-Vererbung nicht nur in vertikaler Weise von der Eltern- auf die Kindergeneration erfolgt, sondern auch horizontal zwischen Mitgliedern der Folgegeneration. Die Beiträgerin weist diese laut Marianne Hirsch ‚affiliative postmemory‘ insbesondere in der Internetpräsenz von Recherchematerialien zum Roman nach, was eine direkte Einbeziehung der Leserschaft ermöglicht.

In gewisser Weise beschäftigt sich der Beitrag Ankunft in einer neuen Welt – Christoph Heins Gesellschaftskritik am Beispiel der Romane Willenbrock und Landnahme ebenfalls mit Traumatisierungen, denn beide Werke analysiert Elżbieta Tomasi-Kapral (Łódź) auch unter dem Aspekt des nachträglichen Leidens unter dem Gesellschaftssystem der DDR. Explizit weist die Beiträgerin auf das bereits in dieser Zeit bestehende gesellschaftskritische Engagement des Autors Christoph Heins hin, das sich nach dem Mauerfall unter neuen Konditionen fortsetzte. Von Interesse ist für Tomasi-Kapral, worin das Engagement in den beiden Post-Wende-Romanen besteht. Hierbei macht sie an den jeweiligen literarischen Helden Züge von Kleists Michael Kohlhaas aus, da sich beide gegen herrschende Staatsorgane wehrten. Die Enttäuschung der Figuren vom bundesrepublikanischen System gehe mit der Offenlegung von Schieflagen in der Gesellschaft einher, worin sich die gesamtdeutsche Realität nach 1989 widerspiegle. Eben diese Misere würde Hein im Gewand literarischer Schilderungen engagiert kritisieren.

Herkunft und Sozialisation sind ebenso für Die gefesselten Phantasien der Grenzgänger grundlegend, worin sich Johann Holzner (Innsbruck) mit Literatinnen und Literaten befasst, die einen sogenannten Migrationshintergrund aufweisen. Hierauf werden sie dem Beiträger zufolge auch nach einem Vierteljahrhundert allzu oft reduziert. Zugleich würden sie gerade aufgrund dieses Hintergrunds enorm gefördert, erlangten Aufmerksamkeit durch Preise, durch Publikationen in bekannten Verlagen und nicht zuletzt als ‚biografische‘ Expertinnen und Experten für Migration und Flucht, für Erfahrungen von Fremdheit, Interkulturalität und das politische Potential von Literatur. Als widersprüchlich erweise sich hierbei, dass das Migrationssiegel zwar längst hinfällig sei, dennoch immer wieder zur Anwendung komme, so dass die Betreffenden geopolitische und damit kulturelle Grenzgängerinnen und -gänger blieben. Dieser Bestandsaufnahme des Literaturbetriebs setzt Holzner die Stimmen der Künstlerinnen ←17 | 18→und Künstler selbst sowie entsprechende Reflexionen in ihrem Schaffen entgegen, allen voran die Äußerung der vietnamesischen Theoretikerin Minh-ha Trinh, dass sich das wahre Zuhause nicht in Häusern, sondern im Schreiben finde. Hinzu kommen Einwände zum Migrationssiegel von Samar Yazbek, Julya Rabinowich, Zsuzsa Bánk, Catalin Dorian Florescu sowie literarisiert von Olga Grjasnowa in Der Russe ist einer, der Birken liebt von 2012. Damit negiert Holzner keineswegs die literarische Rolle von Kulturraum und Nation, er möchte sie aber nicht stärker gewichtet wissen als die ästhetische Dimension.

Zentral ist ebenfalls im Beitrag von Ewelina Kamińska-Ossowska (Szczecin) das Thema ‚Flucht‘, das sie angesichts von Kinder- und Jugendliteratur folgendermaßen befragt: (Wie) Kann man Kleinkindern über Flüchtlinge berichten? Auf die in unserer Zeit virulent gewordenen Migrations- und Fluchtwellen reagiere auch die Literatur, indem sie die Wege und Erfahrungen der zum Bestandteil der Gesellschaft gewordenen Neuankömmlinge nachzeichne. Das Besondere der Kinder- und Jugendliteratur seien deren Ziele, die unterschiedlichen Biografien altersgerecht zu vermitteln, entsprechend zu erzählen, zu erklären, zu sensibilisieren und zu erziehen. Kamińska-Ossowska macht hierbei ebenso fiktive wie dokumentarische Narrative sowie deren Fiktionalisierungen aus und bietet einen umfangreichen Überblick. Ausführlicher widmet sich die Beiträgerin Claude K. Dubois’ Akim rennt von 2013 und Kirsten Boies Bestimmt wird alles gut von 2016, um die literarische, aber auch illustrative Vielfalt eines altersgerechten Erzählens über die Flucht zu zeigen.

Mit „Bis nach dem Krieg um sechs!“: Terézia Moras Alle Tage (2004) wendet sich auch Emmanuelle Terrones (Tours) der literarischen Darstellung von Flucht zu. Moras Debütroman behandle den Jugoslawienkrieg, ohne diesen direkt zu thematisieren, jedoch auch nicht als Nebensächlichkeit. Terrones geht von einer entsprechenden essayistischen Aussage Moras aus, wonach sie die beiläufige Erwähnung etwa des Balkankriegs ablehnt und stattdessen auf die Handlung fokussiert. Dies findet die Verfasserin in Alle Tage bestätigt, worin der durchgehend unbenannte Jugoslawienkrieg stets mitschwinge – etwa die Identität, den Werdegang und das tägliche Leben der Romanfiguren bestimme oder beeinflusse. Besonders gelte dies für den wegen des Zerfalls der alten jugoslawischen Heimat zwischenzeitlich Staatenlosen Abel Nema, der einst vor dem Einzug in die Armee geflohen war. Seine Geschichte stehe prototypisch für die Opfer, mit denen Mora nicht historisieren und politisieren, sondern sich positionieren wolle. Hieraus leitet Terrones eine neue Variante von literarischem Engagement mit Akzenten von Autonomie ab.

Details

Seiten
206
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631808917
ISBN (ePUB)
9783631808924
ISBN (MOBI)
9783631808931
ISBN (Hardcover)
9783631780404
DOI
10.3726/b16430
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Gegenwartsliteratur Wende Politik Flucht Gesellschaftskritik Neue Kriege
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 206 S.

Biographische Angaben

Elżbieta Kapral (Band-Herausgeber:in) Joanna Jablkowska (Band-Herausgeber:in) Gudrun Heidemann (Band-Herausgeber:in)

Gudrun Heidemann ist Assistenzprofessorin, Joanna Jabłkowska ist ordentliche Professorin und Elżbieta Tomasi-Kapral ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Germanistik der Univesität Łódź.

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Titel: #Engagement. Literarische Potentiale nach den Wenden
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