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Räume schreiben

Literarische (Selbst)Verortung bei Tanja Dückers, Jenny Erpenbeck und Judith Hermann

von Katrin Dautel (Autor:in)
©2019 Dissertation 304 Seiten
Reihe: INTER-LIT, Band 17

Zusammenfassung

Im Spannungsfeld einer Abwendung von herkömmlichen Raumauffassungen in Zeiten der Globalisierung sowie einer gleichzeitigen ‚Rückkehr‘ des Raumes in Form einer Sehnsucht nach (Selbst)Verortung lässt sich in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahrzehnte eine Hinwendung zu komplexen Gestaltungen literarischer Räume beobachten. Der Raum ist nicht nur Ausdruck von (geschlechtsspezifischen) Machtverhältnissen und Lebensentwürfen, sondern wirkt auch selbst auf die Handlung ein. Auf der Basis verschiedener Raumtheorien, die im Zuge des spatial turn in den Literatur- und Kulturwissenschaften verstärkt Beachtung fanden, untersucht die Autorin Texte von Schriftstellerinnen, die mit dem umstrittenen Etikett «literarisches Fräuleinwunder» versehen wurden, aus raumkonstruktivistischer Perspektive.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Siglenverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Theoretische Kontextualisierung
  • 1.2 Fragestellung
  • 1.3 Auswahl der Korpustexte
  • 1.3.1 Die Autorinnen und das „literarische Fräuleinwunder“
  • 1.4 Methode und Gliederung
  • 2 Raumtheoretische Ansätze
  • 2.1 Spatial Turn – Topographical Turn: Zur Relevanz der Raumwende in den Literatur- und Kulturwissenschaften
  • 2.2 Michel Foucault: Von anderen Räumen (1967)
  • 2.3 Marc Augé: Nicht-Orte (1992)
  • 2.4 Der Benjamin’sche Flaneur, Raum und Geschlecht
  • 2.4.1 Die Figur des Flaneurs bei Walter Benjamin
  • 2.4.2 Der öffentliche Raum und seine Nutzung durch Frauen
  • 2.5 Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns (1980)
  • 2.6 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes (1957)
  • 2.7 Michail M. Bachtin: Chronotopos (1975)
  • 2.8 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Das Glatte und das Gekerbte (1980) und Die einsame Insel (2002)
  • 3 Judith Hermann: Sommerhaus, später (1998) und Nichts als Gespenster (2003)
  • 3.1 Forschungsstand
  • 3.1.1 Hermanns Texte als Ausdruck eines Generationengefühls
  • 3.1.2 Intertextuelles Verfahren und Gedächtnis
  • 3.1.3 Räumliche Untersuchungen
  • 3.1.4 Geschlechterkonstruktionen
  • 3.1.5 Verschränkung der Paradigmen Raum und Geschlecht
  • 3.2 Räumliche Analysen ausgewählter Erzählungen
  • 3.2.1 Sommerhaus, später: Evokation räumlicher Dichotomien
  • 3.2.1.1 Die Metropole als Nicht-Ort
  • 3.2.1.2 Das Gutshaus als Projektionsfläche utopischer Hoffnungen
  • 3.2.1.3 Das Taxi als Heterotopie im Sinne Foucaults
  • 3.2.1.4 Unterschiedliche Perspektiven auf das Land
  • 3.2.1.5 Das Aufheben der räumlichen Ordnung
  • 3.2.2 Diesseits der Oder: Ein Leben nach der Utopie
  • 3.2.2.1 Diesseits der Oder: Das Sommerhaus als sicherheitsstiftender Ort
  • 3.2.2.2 Das Verlassen des Grundstücks als Auslöser von Instabilitäten
  • 3.2.2.3 Jenseits der Oder: Schmerzhafte Erinnerung an verratene Ideale
  • 3.2.3 Nichts als Gespenster: Die Wüste als Läuterungsraum
  • 3.2.3.1 Wüste, ein Sandmeer
  • 3.2.3.2 Passagenraum Motel
  • 3.2.3.3 Hotel International: Mobilisator transitorischer Identitäten
  • 3.2.3.4 Fotografieren als Ausdruck von Vergänglichkeit
  • 3.3 Geschlechtsspezifische Räume: Tendenzen einer veränderten Raumnutzung und -produktion
  • 3.3.1 Die Umkehrung der Dichotomie von Land und Wasser
  • 3.3.2 Raumnutzung: Gesteigerte Mobilität von Frauen
  • 3.3.3 Angsträume: Einschränkung der Mobilität
  • 3.3.4 Geschlechtsspezifische Raumproduktion: Räumliche und soziale Umschreibungen
  • 3.3.5 Fazit: Inszenierung einer regressiven Utopie
  • 4 Tanja Dückers: Spielzone (1999)
  • 4.1 Forschungsstand
  • 4.1.1 Generationenkonflikt/Postmoderne
  • 4.1.2 Geschlecht, Sexualität und Körper
  • 4.2 Spielplatz der Geschlechter: Cross-Dressing und Selbstverstümmelung als Negation der Geschlechtsidentität
  • 4.2.1 Räumliche Opposition: Neukölln und Prenzlauer Berg
  • 4.2.2 „Doing Gender“
  • 4.2.3 Das Spiel mit Geschlechterkategorien über Cross-Dressing
  • 4.2.4 Körper-Raum als relationales Konzept
  • 4.2.5 Transvestismus als Schutzstrategie in Angsträumen
  • 4.2.6 Fazit
  • 4.3 Anti-Narzisse und Chamäleons: Das Wechselverhältnis von Stadt und Körper
  • 4.3.1 Körper zwischen Diskurs und Materie
  • 4.3.2 Die Materialisierung sozialer Praktiken im Raum
  • 4.3.3 Berliner Stadtteile als Ausdruck des Handelns ihrer Bewohner
  • 4.3.3.1 Neukölln
  • 4.3.3.2 Prenzlauer Berg
  • 4.3.4 Die Neugestaltung des Körpers am Prenzlauer Berg
  • 4.3.5 Die Verschiebung der Grenzen des ‚Normalen‘
  • 4.3.6 Fazit
  • 4.4 Das Motiv des Flaneurs in Dückers’ Spielzone
  • 4.4.1 Konzepte des Flanierens nach Poe, Baudelaire und Benjamin
  • 4.4.2 Das Lesen der Stadt als Zeichensystem
  • 4.4.3 Der postmoderne Flaneur und die Flaneurin
  • 4.4.4 Die Flaneur/innen in Spielzone als Mitgestalter/innen der Stadt
  • 4.4.5 Die Figur Rainer zwischen Flaneur und Sammler
  • 4.4.6 Ada als postmoderne Flaneurin
  • 4.4.7 Fazit
  • 5 Jenny Erpenbeck: Heimsuchung (2008)
  • 5.1 Forschungsstand
  • 5.1.1 Heimsuchung und Erinnerung
  • 5.1.2 Räumliche Lesarten von Heimsuchung
  • 5.1.3 Das zeitliche Paradigma in Heimsuchung
  • 5.2 Insel der Heimsuchung: Grenzüberschreitungen als Negation des Insularen
  • 5.2.1 Inseldiskurs im Anschluss an Moser und Deleuze
  • 5.2.2 Inszenierung der räumlichen Abgrenzung in Heimsuchung
  • 5.2.3 Subversion des Insularen durch Grenzüberschreitungen
  • 5.2.4 Fazit
  • 5.3 Verräumlichte Erinnerung: Die Inszenierung intimer Räume als Orte der Aushandlung von Vergangenheit
  • 5.3.1 Die literarische Aushandlung der Vergangenheit
  • 5.3.2 Raum als Speicher von Erinnerung
  • 5.3.3 Bachelards Verortung von Erinnerung im Haus
  • 5.3.4 Verborgene Räume als Speicher der Erinnerung
  • 5.3.5 Fazit
  • 5.4 Zeit wuchert im Rücken: Schichten der verräumlichten Zeit
  • 5.4.1 Das Zusammenspiel von Raum und Zeit
  • 5.4.2 Gesteinsschichten als Verräumlichung übergeordneter Zeit
  • 5.4.3 Verflechtung subjektiver und gesellschaftlich-historischer Zeit
  • 5.4.4 Fazit
  • 6 Schluss
  • Literaturverzeichnis

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1 Einleitung

„Der Raum kehrt zurück! Ebenso vollmundig könnte man jedoch erklären: Der Raum verschwindet! Denn unübersehbar ist das gleichzeitige Phänomen der globalen Enträumlichung und Entortung.“1 Mit diesem Spannungsfeld zwischen einer ‚Rückkehr‘ des Raumes und einer gleichzeitigen Auflösung von herkömmlichen räumlichen Paradigmen rekurriert die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick in ihren Ausführungen zum sogenannten spatial turn auf die verstärkte Hinwendung zur Kategorie Raum in der human- und kulturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte, sowie auf eine gleichzeitige Veränderung des individuellen wie kollektiven Verhältnisses zum Raum in Zeiten der Globalisierung. Ausgehend von einem Zitat des Kulturtheoretikers Fredric Jameson2 konstatiert Bachmann-Medick über die Zeiten der Postmoderne, dass wir in einer Epoche lebten, die vielmehr von Synchronie als von Diachronie geprägt sei, somit von einer Gleichzeitigkeit, die den Raum über die Zeit stelle und im Gegensatz zur vorherigen Bevorzugung des Historischen, der Entwicklung und der Kategorie Zeit stehe.3 Damit gehe auch eine veränderte Rezeption von Raum einher, die nun zu einer „zentralen Wahrnehmungseinheit“4 geworden sei, die die bisherige Vorherrschaft des Paradigmas Zeit überwinde. Besonders bemerkenswert sei an diesem cultural turn die Hinwendung zu einer Alltagskategorie, die sich vom rein Diskursiven des linguistic turn löse und stattdessen auch Fragen nach „Materialität, Handeln und Veränderung“5 einbringe. In diesem Kontext der Hinwendung zu räumlichen Kategorien in den Kultur- und Literaturwissenschaften verortet sich das Thema der vorliegenden ←13 | 14→Forschungsarbeit, die sich mit der literarischen Repräsentation und Konstruktion von Räumen im Spannungsfeld einer Wiederkehr und gleichzeitigen Veränderung von Raum als Wahrnehmungskategorie beschäftigt.

1.1 Theoretische Kontextualisierung

Aufgrund der Instrumentalisierung von geopolitisch orientierten Ansätzen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert für Zwecke der nationalsozialistischen Propaganda um den sogenannten Lebensraum im Osten war die Kategorie Raum als Untersuchungsgegenstand sowie Analysekategorie in der deutschsprachigen Wissenschaft lange mit großen Bedenken verbunden.6 Seit den 1980er Jahren ist jedoch auch in den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften eine Hinwendung zur Raumkategorie zu beobachten, die sich von der Raumbeschäftigung der amerikanischen Cultural Studies und deren Fokus auf die Untersuchung postkolonialer Räume deutlich unterscheidet (siehe auch Kapitel 2.1).7 Der Ausdruck „spatial turn“8 geht auf den amerikanischen Stadtgeographen Edward W. Soja zurück, der sich unter anderem in seinen Untersuchungen Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places einer kritischen Neubewertung des sozialen Raumes annahm, eine Wende zum Paradigma des Raumes aussprach und empfahl, den Fokus der Forschung von nun an vorrangig auf die bislang vernachlässigte Raumkomponente zu legen. Er verortet die neuerliche Hinwendung und Aktualisierung von Raumtheorien dabei in der Epoche der Postmoderne, im Zuge derer ein radikales räumliches Umdenken stattfindet:

[…] the most interesting and insightful new ways of thinking space and spatiality, and hence the most significant expansions of the spatial or geographical imagination, have been coming from what can be described as a radical postmodernist perspective.9

Sojas Raumauffassung geht, wie auch andere Raumtheorien, von der Raumtheorie des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre aus, dessen Vorstellung vom Raum die soziale Komponente des räumlichen Produktionsprozesses in den Vordergrund rückte und dabei zudem eine vom Raum ausgehende Konstituierung ←14 | 15→von sozialen Beziehungen berücksichtigte. Somit kann Lefebvre als Vorreiter der sogenannten Raumwende gelten, da er erstmals sowohl die soziale Praxis bei Raumkonstituierungsprozessen in den Blick nahm wie auch die materielle Seite des Raumes und dessen Einfluss auf soziale Relationen miteinbezog. Auf Lefebvre zurückgehend, rief Soja eine Raumkomponente ins Leben, die er Thirdspace nannte, und vertrat damit die Idee, dass es eine Vielfalt unterschiedlicher Raumdefinitionen gebe und nicht nur eine Betrachtungsweise.10

Als mögliche Gründe für das Aufkommen der veränderten und in den Fokus gerückten Wahrnehmung des Raumes im Alltag, die als Folge einer „fundamentalen Umwälzung“11 gelten kann, nennt Stephan Günzel in seiner kulturwissenschaftlichen Einführung in den Raum zum einen die zunehmende Gentrifizierung in den Städten, die mit dem Schaffen von alternativen Kunsträumen im New York der 1960er begann.12 Zum anderen führten ihm zufolge geopolitische Veränderungen zur Raumwende, zu denen vor allem die Wiedervereinigung Deutschlands und das Ende des Kalten Krieges zählt sowie der damit zusammenhängende Umbruch in Osteuropa; durch diese ‚Wende‘ kehrte ein Bewusstsein für den politischen Raum zurück.13 Ein weiterer wichtiger Grund für eine neue Sichtweise auf den Raum ist Günzel zufolge zudem der Wandel der Lebensweise durch die Digitalisierung, die eine drastische Veränderung unserer Kommunikation verursachte und zu einem „gleichzeitigen Beisammensein“14 in der gesamten Welt und dem Aufkommen einer neuen „Ortlosigkeit“15 führte, mit der ein Infragestellen herkömmlicher räumlicher Paradigmen einherging.16 Diese Gründe resümiert Günzel auch unter dem Begriff ‚Globalisierung‘, deren Veränderungen die traditionelle Auffassung eines Außen und Innen von ←15 | 16→Räumen aufweichen und eine grundsätzliche Veränderung in der Raumwahrnehmung mit sich bringen.17

Im Zuge der neuerlichen Hinwendung zum Paradigma Raum wurden verschiedene Raumtheorien, die seit den 1960er Jahre entstanden waren, einer kritischen Reflexion unterzogen. Diese wenden sich, wie auch Lefebvres Raumtheorie, ab von der Auffassung des Raumes als Container und sprechen stattdessen von einem Raumbegriff, der in einem gesellschaftlichen Produktionsprozess konstituiert wird und stark von den Handlungen im Raum ausgeht, ohne die symbolische Ebene der Raumrepräsentation zu vernachlässigen.18 Es geht somit um ein „Verständnis von Räumlichkeit, das sich von einer Vorstellung verabschiedet hat, die Albert Einstein sinnfällig als ‚Schachtel (container)‘19 [Hervorhebung im Original] bezeichnet hatte“20.

Durch die Auffassung von Raum als relationalem Begriff sowie als Produkt sozialer Prozesse bringt der sogenannte spatial turn einen Bezug zur Alltagswelt mit ein, was Möglichkeiten für eine vielfältige Verknüpfung von Themen aus räumlicher Perspektive eröffnet. Diese „Analogisierung von Alltagsleben und Kategoriengebrauch“21 ist aufschlussreich für eine veränderte Wahrnehmung des bisher vernachlässigten Paradigmas, was sich auch in einem geschärften Blick auf Bewegungen im Raum, wie beispielsweise in der Raumsoziologie, und ihrer (literarischen) Repräsentation äußert. So stehen die Mobilität von Kindern und Erwachsenen, individuelle und kollektive Selbstverortungen wie das Überschreiten von Grenzen, geopolitische Perspektiven und die Verknüpfung von Raum und Macht und deren Repräsentationsweisen im Zentrum von Analysen der Sozial- und Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte. Eng verknüpft mit der räumlichen Ausdrucksweise von sozialen Machtverhältnissen und deren Konstitutionsprozessen sind zudem geschlechtsspezifische Zuschreibungsverfahren, die sich im Räumlichen manifestieren und reproduzieren, mit denen sich in den letzten Jahren besonders die Humangeographie beschäftigt hat.

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Die Analyse von literarischen Repräsentationen räumlicher Produktions- und Zuschreibungsprozesse hat in den letzten Jahren auch in den Literaturwissenschaften verstärkt Anwendung gefunden, wobei die „Verflechtung mit kulturellen Praktiken und Mentalitäten […] eine wichtigere Rolle als Fragen des literarischen Rangs, der ästhetischen Komplexität oder der hermeneutischen Interpretierbarkeit“22 spielt, das heißt, dass vornehmlich der Plot und die darin beschriebene Raumkonstitution im Vordergrund von Untersuchungen stehen.

1.2 Fragestellung

Wie im Eingangszitat angesprochen, lässt sich in Zeiten der Globalisierung das Spannungsfeld einer zunehmenden Auflösung von traditionellen räumlichen Bezugsgrößen, ausgelöst unter anderem durch eine gesteigerte Mobilität und schnelle Entwicklung von Kommunikationstechnologie, ausmachen. Zudem lässt sich von einer gleichzeitigen Rückkehr des Raumes in Form einer verstärkten Hinwendung durch die Wissenschaft sowie von einer Gegenbewegung zur scheinbaren Enträumlichung durch multilokale Lebensweisen sprechen. So kann man eine synchrone Rückkehr des Lokalen und eine Suche nach alternativen Modellen der individuellen wie kollektiven Verortung beobachten, die sich von herkömmlichen Raumentwürfen unterscheiden. In diesem ambivalenten Verhältnis von Distanznahme und Prozess des Wiedergewinnens ergibt sich die Notwendigkeit und „Herausforderung einer kritischen Raumreflexion“23, die mit der Forderung nach neuen dynamischen Raumdefinitionen einhergeht, sich auf die Hervorbringung von Raum durch soziale Prozesse stützt und sich von herkömmlichen Begriffen wie „Territorialität, Behälter von Traditionen oder gar Heimat“24 distanziert.

Ausgehend von den drei Begriffen Verortung, Heimsuchung und Mobilität beschäftigen sich die folgenden Untersuchungen mit der Darstellung räumlicher Rezeption und Produktion in ausgewählten Texten der deutschen Gegenwartsliteratur um die Jahrtausendwende. Auf der Basis von relevanten Raumtheorien, die im Zuge der Raumwende verstärkt rezipiert wurden, stehen die Inszenierungen räumlicher Konstitutionsprozesse im Hinblick auf individuelle Verortungsversuche im Fokus, eng verknüpft mit der Suche nach einem Ort der räumlichen ←17 | 18→Zugehörigkeit; dies geht einher mit der Frage nach der Evokation von etablierten Raumdiskursen und deren implizierten Lebensweisen und Beziehungsformen. Bei der Analyse räumlicher Produktionsverfahren sind besonders die inszenierten Bewegungen und Grenzüberschreitungen innerhalb sowie zwischen urbanen und ländlichen Räumen von Bedeutung, die aufschlussreich für alternative Konstitutionsprozesse und Verschiebungen von Machtverhältnissen, jedoch auch für die Gestaltung von räumlichen Settings und Übergangsräumen und deren Auswirkungen auf die Handlungen der Protagonist/innen sein können.

Die in den Texten dargestellten Bewegungen und Grenzüberschreitungen spielen somit eine zentrale Rolle, denn lediglich durch ihr Fortbewegen im Raum lassen sich individuelle und kulturelle Entwicklungen aufzeigen.25 Die dargestellten Bewegungen lassen darüber hinaus Aussagen hinsichtlich der Manifestation, aber auch der Subversion von herkömmlichen Geschlechterverhältnissen zu; besonders das Analyseinstrumentarium der Sozialgeographie eignet sich für die Untersuchung literarischer Inszenierungen von geschlechtsspezifischen Ein- und Ausschlussverfahren, wie zum Beispiel der gesellschaftlichen Produktion von Angsträumen, sowie der Differenzierung einer geschlechtsspezifischen (Im)Mobilität. Im Zuge der Aufweichung und Diskussion von geschlechtsspezifischen Rollenmustern in der Postmoderne lässt sich anhand der Bewegungen der Protagonist/innen untersuchen, inwiefern durch sie alternative Lebens- und Selbstentwürfe zu den bisher bekannten konstituiert werden, die ebenfalls geschlechtsspezifisch konnotiert sind oder binäre Zuschreibungen überwinden. Des Weiteren soll im Sinne der beiden Bedeutungen des Begriffes Heimsuchung die Ambivalenz der Suche nach einem festen Ort der Zugehörigkeit in Form eines behüteten Rückzugsorts einerseits und die gleichzeitige Ablehnung von herkömmlichen Lebensmodellen andererseits untersucht werden. Somit lässt sich eine Rekurrenz auf traditionelle Entwürfe feststellen, jedoch ein gleichzeitiger Versuch des Aufbrechens von etablierten Modellen der Selbstverortung. Bei der Untersuchung der ausgewählten Texte soll die literarische Inszenierung der soeben skizzierten Themen im Zentrum stehen, und darüber hinaus die Frage nach der Produktivität der Analysekategorie Raum, die in den letzten Jahren in den Literatur- und Kulturwissenschaften auf große Resonanz gestoßen ist. Dies ist zugleich ein produktiver Ansatz zur Betrachtung von Texten der deutschen Gegenwartsliteratur, zu denen trotz ihrer breiten Beachtung in den Medien und ihrer ästhetischen Komplexität noch wenig Forschungsliteratur vorliegt. Durch den Raumansatz kann eine Verbindung (mit Parallelen wie Kontrasten) ←18 | 19→zwischen den einzelnen Korpustexten hergestellt werden, die eine literaturwissenschaftliche Einordnung der Texte ermöglicht und ihre Relevanz für die Darstellung aktueller Veränderungen sowohl urbanen Lebens als auch von Geschlechtsidentitäten und ihren möglichen Gegenentwürfen aufzeigt. Gerade aufgrund des Realitätsgehalts und der Wiederkehr des realistischen Erzählens in den Gegenwartstexten des sogenannten literarischen „Fräuleinwunders“ (siehe Kapitel 1.3.1) lassen sich Rückschlüsse auf neue Lebensentwürfe ziehen.

1.3 Auswahl der Korpustexte

Die für die Analysen ausgewählten Texte der Berliner Autorinnen Tanja Dückers, Jenny Erpenbeck und Judith Hermann wurden im Zeitraum um die Jahrtausendwende verfasst und bieten aufgrund ihrer prägnanten räumlichen Inszenierung eine fruchtbare Grundlage für die topographische Analyse auf Basis relevanter Raumtheorien im Kontext der Raumwende.

Judith Hermann entwirft in ihren ersten beiden Erzählbänden Sommerhaus, später (1998) und Nichts als Gespenster (2003), ausgehend von einem urbanen Setting als Lebensmittelpunkt, eine Vielzahl an unterschiedlichen Gegenentwürfen zum Leben in der Stadt. Die dargestellten Bewegungen der Protagonist/innen gehen mit zahlreichen Grenzüberschreitungen einher, die Fragen nach möglichen Lebensentwürfen und geschlechtsspezifischen Bewegungsmustern aufwerfen. Dabei konzentrieren sich Judith Hermanns Geschichten auf das Private und lassen eine politische Komponente weitgehend außen vor. Auf den ersten Blick evoziert Judith Hermann scheinbar unveränderbare Räume, die mit etablierten Semantisierungen einhergehen und herkömmliche Raumdiskurse in den Blick treten lassen.

Die räumliche Darstellung von Tanja Dückers in ihrem Romandebüt Spielzone (1999) konzentriert sich dagegen auf die episodische Gestaltung von zwei Berliner Stadtteilen und ihren Bewohner/innen in Zeiten des räumlichen wie gesellschaftlichen Umbruchs im Jahrzehnt nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. In Dückers’ differenzierter Inszenierung der Stadtmilieus von Neukölln und Prenzlauer Berg werden vor allem Themen wie die wechselseitige Bedingung von Körper und Raum und das Flanieren durch die Stadt eingebracht, das einen Rekurs auf moderne Großstadttheorien nahelegt. Mit ihren mikrobenhaften Bewegungen im Raum erschaffen sich die jugendlichen Charaktere ihren Stadtraum neu und scheinen dabei herkömmliche Kategorien im Hinblick auf Geschlecht und Körper zu unterlaufen. Der (Körper-)Raum wird hier zu einem Experimentierfeld für postmoderne Lebensformen, losgelöst von einer Beschäftigung mit der spezifisch deutschen Vergangenheit.

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Im Gegensatz dazu entwirft Jenny Erpenbeck in ihrem autobiographisch motivierten Roman Heimsuchung (2008) thematisch wie räumlich ein Setting, das sich von den bei Hermann und Dückers inszenierten Räumen grundsätzlich unterscheidet. Sie macht ein Haus in der ländlichen Umgebung Berlins zum Protagonisten ihres Narrativs, das über einen Zeitraum von hundert Jahren von verschiedenen Besitzern bewohnt wird. Über die diachrone Anlage des Episodenromans wird zusätzlich zur synchronen Perspektive auf den Raum noch ein weiterer Aspekt in die Raumanalyse eingebracht: Erpenbecks Text beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Geschichte und Raum und ordnet sich somit in den theoretischen Diskurs um die Verschränkung der Paradigmen Raum und Zeit sowie um die NS-Vergangenheitsbewältigung der deutschen Nachkriegsliteratur ein. In ihrem Roman wird die Suche nach einem schutzbietenden Ort des Rückzugs inszeniert, der jedoch von den Ereignissen im Deutschland des 20. Jahrhunderts eingeholt bzw. ‚heimgesucht‘ wird und somit ein traditionelles Konzept von Heimat negiert.

Tanja Dückers’, Jenny Erpenbecks sowie Judith Hermanns Debüt-Texte erfuhren Ende des 20. Jahrhunderts erhöhte Aufmerksamkeit durch die Literaturkritik aufgrund des von Volker Hage ausgerufenen und umstrittenen Etiketts „literarisches Fräuleinwunder“ (siehe Kapitel 1.3.1). Bei Hages Auswahl der Texte der Ende der 1990er Jahre debütierenden Autorinnen stand besonders Judith Hermanns Erzählband Sommerhaus, später im Fokus der Diskussion um ein neues Schreiben in der Gegenwartsliteratur um die Jahrtausendwende, weshalb eine Auswahl von Hermanns Erzählungen für die vorliegende Arbeit als exemplarisch für eine neue Ästhetik gelten soll, die auch eine verstärkte Hinwendung zu raumästhetischen Ausdrucksmitteln erkennen lässt. Obwohl etwas später als Judith Hermann, wurde auch Tanja Dückers’ Debüt-Roman Spielzone mit dem Label „literarisches Fräuleinwunder“ in Verbindung gebracht. Mit Dückers’ Roman, der aufgrund seines prägnanten Großstadtsettings und der engen Verflechtung von Geschlecht bzw. Körper und Raum wichtige Aspekte der Verbindung des Paradigmas Raum zu anderen Kategorien der kulturwissenschaftlichen Forschung in die Diskussion einbringt, wird daher zusätzlich zu den kurzen Erzählungen von Hermann eine weitere Textsorte in Form des Episodenromans für die Raumanalyse fruchtbar gemacht. Jenny Erpenbecks Debüt-Roman Die Geschichte vom alten Kind (1999) – ebenfalls in Hages Artikel hervorgehoben – kann sich zwar hinsichtlich körperkonstruktivistischer Aspekte als produktiver Text erweisen, aus raumkonstruktivistischer Perspektive ist jedoch ihr neun Jahre später erschienener Episodenroman Heimsuchung am vielversprechendsten, durch den über die Verflechtung von Raum und Körper bzw. Geschlecht hinaus wichtige Aspekte der Verbindung von Raum und Erinnerung, Raum ←20 | 21→und Zeit sowie Fragen nach Kodierungen von Zentrum und Peripherie in die Diskussion um die Produktivität der topographischen Analyse miteingebracht werden. Auf diese Weise wird ein Zeitraum von ungefähr zehn Jahren abgedeckt und so die Schreibweise der Autorinnen des „literarischen Fräuleinwunders“ für eine (spätere) Literaturgeschichtsschreibung auch über die Debüttexte hinaus verfolgt.

Wie die Auswahl der Texte zeigt, umfassen die Texte ein breites Spektrum an räumlichen Aspekten, die einen produktiven Textkorpus für die Analyse im Hinblick auf Raumkonstruktionen bieten. Darüber hinaus steht die Auswahl für eine Entwicklung in der deutschen Literatur um die Jahrtausendwende. Während sich in vielen Publikationen zu Ende des 20. Jahrhunderts eine Bevorzugung des thematisch Gegenwärtigen beobachten lässt, ausgelöst durch gesellschaftliche Veränderungen im Zuge der Wiedervereinigung und Globalisierungsprozesse, lässt sich zu Beginn des neuen Jahrtausends eine Rückwendung zu Themen der deutschen Vergangenheit feststellen.26 Diese Entwicklung repräsentiert auch die Auswahl der Texte, beginnend mit Judith Hermanns Erzählbänden, die sich thematisch fast ausschließlich dem Privaten widmen, über Tanja Dückers’ literarische Gestaltung des Post-Wende Berlins, bis hin zu Jenny Erpenbecks Beschäftigung mit ihrer Familienvergangenheit im Kontext der historischen Ereignisse im Deutschland des letzten Jahrhunderts.

1.3.1 Die Autorinnen und das „literarische Fräuleinwunder“

Judith Hermann sowie Jenny Erpenbeck und Tanja Dückers wurden im Zuge der Diskussion um ein neues Schreiben in der deutschen Gegenwartsliteratur Ende der 1990er Jahre von der Literaturkritik mit dem Etikett „literarisches Fräuleinwunder“ versehen. In seinem einflussreichen Spiegel-Artikel Ganz schön abgedreht aus dem Jahr 199927 fasste der Literaturkritiker Volker Hage eine Gruppe von jungen debütierenden Autorinnen unter dem von ihm geprägten Etikett „literarisches Fräuleinwunder“28 zusammen. Die Bezeichnung löste in der Literaturkritik sowie -wissenschaft eine heftige Debatte zum Thema Etikettierung und Autorinszenierung aus; auch einige der als ‚Fräuleinwunder‘ bezeichneten ←21 | 22→Autorinnen distanzierten sich von dem abwertenden Label und wehrten sich gegen die Gleichsetzung ihrer Schreibweise mit der anderer Autorinnen, die ihrer Ansicht nach nur auf ihrem Alter und Geschlecht basierte. Neben der Berliner Autorin Karen Duve mit ihrem Regenroman (1999) wurden in Hages Artikel vor allem Judith Hermann und die Schweizerin Zoë Jenny als Autorinnen des sogenannten literarischen ‚Fräuleinwunders‘ genannt, die kurz zuvor mit ihren Erstlingswerken debütiert hatten. Volker Hage konstatierte in seinem Artikel eine Rückkehr des Erzählens in der deutschen Gegenwartsliteratur, das die Texte auch für den internationalen Markt attraktiv mache,29 erwähnte jedoch zudem die Popularität der Texte in Bezug auf ihre Verkaufszahlen auf dem deutschen Buchmarkt und die ungewöhnlich vielen Autorinnenporträts, mit denen für die Bücher geworden wurde. Somit ordnete er das literarische Schaffen der Autorinnen in einen Kontext um mediale Inszenierungspraktiken und Vermarktungsstrategien ein, was ein Urteil über die ästhetische Qualität der Texte vernachlässigte. Der Kreis der sogenannten ‚Fräuleinwunder‘-Autorinnen wurde von Hage in einem weiteren Artikel erweitert, in dem er unter anderen auch Jenny Erpenbeck mit ihrem Debüt Geschichte vom alten Kind (1999) mitaufnahm.30 Tanja Dückers wurde in den Spiegel-Artikeln von Volker Hage zunächst nicht mit dem Label verbunden, jedoch direkt im Anschluss damit in Zusammenhang gebracht. Bereits während der Leipziger Buchmesse im selben Jahr wurde sie vom Feuilleton in den Kreis der ‚Fräuleinwunder‘-Autorinnen aufgenommen,31 und der Kulturjournalist Gerrit Bartels schrieb wenige Monate später:

nur allzu gut passen Buch und die 31jährige, in Schöneberg geborene Autorin in Kategorien wie „Fräuleinwunder“ (Spiegel) und „Hauptstadtliteratur“, und fast so schnell wie sonst nur Romane von Großschriftstellern wie Grass, Walser oder Handke wurde „Spielzone“ dann in den medialen Verwertungskreislauf eingespeist.32

Die Texte der von Hage als ‚Fräuleinwunder‘ bezeichneten Autorinnen wurden in den Jahren nach ihrer Veröffentlichung von der Literaturwissenschaft in zahlreichen Untersuchungen hinsichtlich ihrer thematischen wie ästhetischen Vergleichbarkeit, der Inszenierungspraktiken durch die Verlage sowie in Bezug auf ←22 | 23→weibliche Autorschaft analysiert. Besonders Judith Hermanns Texte erfuhren große Resonanz. So verglich Peter J. Graves beispielsweise Texte von drei von Hage als ‚Fräuleinwunder‘ bezeichneten Autorinnen und schlussfolgerte, dass Karen Duve, Kathrin Schmidt und Judith Hermann in Hinblick auf Inhalt und Stil kaum Gemeinsamkeiten aufwiesen. Die drei Autorinnen teilten ihm zufolge nicht mehr als ihr Geschlecht und entzögen dem Etikett damit jegliche Grundlage.33 Ursula Kocher kommt in ihren Untersuchungen zu Hermanns Texten im Vergleich mit Zoë Jenny und Jenny Erpenbeck dafür zum entgegengesetzten Ergebnis: Ihr zufolge weist die Erzählweise der drei Autorinnen durchaus Gemeinsamkeiten in Bezug auf das dargestellte Gefühl des Verlorenseins und der Passivität der Protagonist/innen auf.34 Mit dem Paratext der Erzählbände von Judith Hermann beschäftigt sich unter anderem Jörg Döring, der besonders Autorinnen des sogenannten literarischen ‚Fräuleinwunders‘ eine verstärkte Bereitschaft zuschreibt, sich für Werbezwecke fotografisch abbilden zu lassen, um Spekulationen über autobiographische Elemente zu fördern.35 Brigitte Weingart untersucht am Beispiel von Judith Hermanns Debüt den Stellenwert von Erfolgsgeschichten weiblicher Autorinnen im patriarchalisch geprägten Literaturbetrieb und dessen Kanondiskussion, die zwangsläufig die Fragestellung nach weiblicher Autorschaft hervorrief. Besonders im Hinblick auf das von Volker Hage geprägte Etikett sieht sie geschlechtsspezifische Abwertungsstrategien. Der letztlich doch große, aber als nur weiblich zugestandene Erfolg der Autorin werde durch den Paratext ihres Debüts und die geschlechtsspezifisch geprägte Thematik ihrer Erzählungen unterstützt, in denen sich herkömmliche Klischees über Weiblichkeit fortschrieben.36

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Die im Jahr 2011 erschienene Dissertation von Katrin Blumenkamp zur Funktionsweise des Labels „literarisches Fräuleinwunder“ beschäftigt sich zum einen mit ästhetischen Gemeinsamkeiten der Texte der Autorinnen, die dem literarischen Etikett zugeordnet wurden, untersucht zudem jedoch Parallelen der Rezeption durch die Literaturkritik. Darüber hinaus widmet sie sich weiteren Gründen für das Aufkommen des Etiketts und Aspekten von dessen Verwendung in den zehn Jahren danach. Teil ihres Textkorpus sind der Erzählband Sommerhaus, später von Judith Hermann sowie der Roman Spielzone von Tanja Dückers, die sie auf die von Volker Hage angeführten Merkmale des sogenannten ‚Fräuleinwunders‘ wie Authentizität, generationsstiftendes Potenzial, Aufbruchsstimmung und Berlin-Syndrom hin untersucht. Mit Bezug auf Hermanns Erzählungen bestätigt sie Hages Diagnose einer authentischen Schreibweise sowie des generationsstiftenden Potenzials, kann jedoch die beiden Letzteren nicht bestätigen.37 Obwohl Tanja Dückers die Assoziation mit dem Etikett ablehnte, arbeitet Blumenkamp Aspekte von Dückers’ Schreiben heraus, die durchaus mit den Charakteristika anderer ‚Fräuleinwunder‘-Texte vergleichbar sind. Dies sieht die Literaturwissenschaftlerin beispielweise im generationsstiftenden Potential der Generationenobjekte, der Nähe zur Alltagskultur, der Authentizität und den axiologischen Werten wie Wirklichkeitsnähe bestätigt. Allerdings bewertet sie Dückers’ Debütroman als komplexer als andere aufgrund von Merkmalen autonomer Literatur, wie zum Beispiel dem Wechsel von heterodiegetischem und homodiegetischem Erzähler. Auch die von Hage erwähnte Wiederkehr des Erzählens sieht sie in Dückers’ Roman aufgrund der Episodenhaftigkeit nicht bestätigt.38

Während es vonseiten mancher Autorinnen den Wunsch gab, mit dem Label „literarisches Fräuleinwunder“ in Verbindung gebracht zu werden,39 wehrten sich andere vehement gegen die Etikettierung durch den Literaturbetrieb und den Vorwurf des Belanglosen, denn „Literatur für junge Frauen stand schon immer im Ruf des Trivialen, ein Vorwurf, der von Seiten des Feuilletons gern gegen die Autorinnen der ‚Fräuleinwunder-Generation‘ erhoben“40 wurde. Mit „Literatur für junge Frauen“ spielt Christina Ujma zudem auf die Marketingstrategie ←24 | 25→der Verlage an, mit dem Label „literarisches Fräuleinwunder“ besonders eine weibliche Leserschaft anzusprechen, die herkömmlich als Zielgruppe für Unterhaltungsromane im Fokus steht.41 Während Judith Hermann die Etikettierung weitestgehend protestlos hinnahm, stieß besonders die Vorhaltung des Unpolitischen bei den journalistisch versierten Autorinnen Tanja Dückers und Juli Zeh beispielsweise auf großen Unmut. Tanja Dückers reagierte auf den Vorwurf des Trivialen der deutschen Popliteratur um die Jahrtausendwende und machte sich stark für einen eigenen, „unverbrauchten Realitäts- und Politikbegriff“ mit einer „durchaus gewollten Utopielosigkeit“42 ihrer Autor/innen-Generation, die ihr zufolge jedoch auch ein ganz eigenes „Biedermeier“ entworfen habe, das sich in einigen Aspekten von dem der vorhergehenden Jahrzehnte unterscheide.43 Dass sich Tanja Dückers literarisch auch dem Thema der Vergangenheitsbewältigung widmen kann, zeigt sie ein paar Jahre nach ihrem Romandebüt mit ihrem „ausgesprochen komplexen“44 Roman Himmelskörper (2003) über den Untergang des Schiffes Wilhelm Gustloff, an dem sie zeitgleich mit Günter Grass und seinem Roman Im Krebsgang (2002) gearbeitet hatte und der auf dasselbe historische Ereignis zurückgeht. Dückers’ Gustloff-Roman ist Christina Ujma zufolge „Teil einer Politisierung der jüngeren Schriftstellerinnengeneration“45 zu Beginn des 21. Jahrhunderts, was in den darauffolgenden Jahren zu einer Polemik über die Rolle von Literat/innen in der Politik führte; an dieser beteiligten sich auch weitere als ‚Fräuleinwunder‘ und Popliterat/innen bezeichnete Autor/innen wie Juli Zeh, Eva Menasse oder Benjamin Lebert.46 Im Gegensatz zu Judith Hermann widmet sich auch Jenny Erpenbeck in ihrem späteren Schaffen historischen Themen wie zum Beispiel der deutschen Kriegsvergangenheit in Heimsuchung (2008) oder Aller Tage Abend (2012) sowie der Flüchtlingsdebatte in ihrem Roman Gehen, ging, gegangen (2015), mit dem sie für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.

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Die kontinuierliche Präsenz und Arbeit der Autorinnen seit Hages Artikeln im Spiegel und der letztliche Erfolg des Labels liegt eben nicht (nur) in den Vermarktungsstrategien der Verlage begründet, sondern vor allem in der Qualität der Texte, die, wie Christiane Caemmerer, Walter Delabar und Helga Meise in ihrem 2017 erschienen Sammelband zum Nachleben des Etiketts „Fräuleinwunder“ schreiben, auch Teil oder sogar Mitbegründer eines narrative turn waren, der davon zeugt, dass die Texte der Autorinnen nicht „Ausdruck von Beliebigkeit und frechen, unvoreingenommenen Erzählens“ waren, „sondern des bewussten und eben auch gekonnten Umgangs mit dem Reservoir moderner Erzählkunst“47.

1.4 Methode und Gliederung

Im Anschluss an die Debatte um das literarische Etikett werden in den folgenden Analysen ausgewählte Texte von Autorinnen, die Ende der 1990er als ‚Fräuleinwunder‘-Autorinnen bezeichnet wurden, einer Lesart aus raumkonstruktivistischer Perspektive unterzogen. Doris Bachmann-Medick ruft in ihrem Beitrag zum Sammelband Raum und Bewegung in der Literatur dazu auf, sich abzuwenden von der

bloßen Repräsentation von Räumen in der Literatur, hin zur Raumwahrnehmung des Subjekts, zur Hervorbringung von Räumen durch die Bewegung von Körpern, ja – so wäre zu ergänzen – durch die aktive oder passive (individuelle und kulturelle) Subjektverortung.48

Ausgehend von ausgewählten theoretischen Überlegungen zur Raumkonstitution im Zuge des spatial turn wird somit in einem close reading der ausgewählten Texte die Darstellung der räumlichen Rezeption sowie Produktion über Bewegungen und Grenzüberschreitungen der Protagonist/innen sowie deren Implikationen im Hinblick auf die Kategorien Geschlecht und Subjektverortung analysiert, geleitet von der Fragestellung, auf welche Weise literarische Texte Handlungen verräumlichen und damit Aussagen über die Subjektposition und räumliche Zugehörigkeit der Protagonisten/innen getroffen werden können. Das Ziel dieses Forschungsprojekts ist die Untersuchung der literarischen Darstellung der ←26 | 27→Verortung der Protagonist/innen auf Basis eines relationalen Raumbegriffs, wobei Abstand genommen werden soll von einer bloßen Untersuchung des Repräsentationscharakters der literarisch inszenierten Räume und stattdessen eine handlungstheoretische Perspektive in den Fokus rückt. Dabei steht die Handlung der Texte im Vordergrund, Fragestellungen nach sprachlicher Beschaffenheit und geschlechtsspezifischer Autorschaft werden weitestgehend ausgeklammert. Ausgehend vom Plot werden relevante Raumtheorien herangezogen, die im Zuge der Raumwende in den Kultur- und Literaturwissenschaften eine verstärkte Rezeption erfahren haben, um verschiedene Bedeutungsebenen herauszuarbeiten. Die Untersuchungen umfassen dementsprechend nicht nur einen Beitrag zur Frage nach der Darstellung der Raumproduktion in der deutschen Gegenwartsliteratur um die Jahrtausendwende, sondern zudem nach der Produktivität von verschiedenen Raumkonzepten bei der Untersuchung literarischer Texte und deren Verhältnis zu gelebten Räumen der außerliterarischen Wirklichkeit. Es soll gezeigt werden, wie sich in der literarischen Produktion der Gegenwart eine veränderte Wahrnehmung hinsichtlich der räumlichen Konstruktion von Wirklichkeit entwickelt hat, die dem Raum einen höheren Stellenwert zugesteht und ihm als sozio-kulturell bedingte Einheit mehr Bedeutsamkeit im Alltag einräumt.

Details

Seiten
304
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631778357
ISBN (ePUB)
9783631778364
ISBN (MOBI)
9783631778371
ISBN (Hardcover)
9783631777916
DOI
10.3726/b15096
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Deutsche Gegenwartsliteratur Spatial turn Geschlechterstudien "literarisches Fräuleinwunder" Raumkonstruktionen Kulturwissenschaften
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2019. 304 S.

Biographische Angaben

Katrin Dautel (Autor:in)

Katrin Dautel studierte Germanistik, Italianistik und Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten Tübingen, Bonn und Florenz. Sie promovierte an der Universität Malta, wo sie derzeit als Dozentin für deutsche Literatur und Sprache tätig ist. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Raum, Geschlecht und Literatur.

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Titel: Räume schreiben
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