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Fundamente. Edith Steins Klassik- und Psychoanalyse-Rezeption

Texte – Kommentare – Dokumente

von Bernd Urban (Autor:in)
©2018 Monographie 404 Seiten

Zusammenfassung

Der Band versammelt grundlegende Studien zur Klassik-Rezeption (Herder, Goethe, Schiller) und zur Psychoanalyse-Rezeption (Freud) Edith Steins, die längere Zeit im Gymnasium und als Deutschlehrerin tätig war denn als Karmelitin. Sie schrieb über die genannten Autoren und zeigt in einem Literaturbrief eine außerordentliche Literaturkenntnis; auch begrüßt sie die neue «Tiefenpsychologie». Texte, Dokumente und Kommentare ergänzen ihre Arbeit und den Denkweg einer Phänomenologin, deren Positionen ohne diese Fundamente nicht angemessen zu verstehen sind, weil sie dort auch ihren Ursprung haben. Der Band beschließt – nach «Zugänge» und «Wirkungszusammenhänge» – die Trilogie «Edith Stein und die Literatur».

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • Bücher
  • Die Bücher, die Texte: lesen, „durcharbeiten“, übersetzen, schreiben – beten.
  • Säkulare Formen der Lebensbewältigung und Heiligkeit bei Edith Stein
  • 1. Einleitung
  • 2. Lesen
  • 3. „Durcharbeiten“
  • 4. Übersetzen
  • 5. Schreiben
  • 6. Beten
  • Rezeption
  • Edith Stein und Johann Gottfried Herder: „verloren gegangen“.
  • Frühe Schritte zu „Einfühlung“, Erkenntnis und „Gottesschau“ im (gebrochenen) „Humanitätsideal“
  • 1. Einleitung
  • 2. Eugen Kühnemann: Herder
  • 3. Herder: „Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele“ (1778)
  • 4. „Gespräche über Gott“
  • 5. „Humanitätsideal“ und „Menschheitsentwicklung“
  • 6. „Ebräische Poesie“
  • Edith Steins Goethe-Rezeption.
  • Grundlinien – Interpretationen – Phänomenologie
  • 1. Einleitung: Erinnerungen
  • 2. Studium und Goethe-Wissen
  • 3. Goethe im Umkreis „metaphysischer Gespräche“
  • 4. Goethe in St. Magdalena
  • 5. Goethe und Thomas von Aquin
  • 6. Gehorsam – Selbstbestimmung – „Frauenseele“ (Iphigenie)
  • 7. Natur und Übernatur (Faust)
  • 8. Nachfolge Goethes?
  • 9. Exkurse
  • 9.1 Goethe-Rezeption bei Sigmund Freud
  • 9.2 Goethe-Rezeption bei Hugo von Hofmannsthal
  • 10. Rückblick
  • Edith Stein und Friedrich Schiller: „die mir genehme Weltanschauung“.
  • Literarisch-philosophische Rezeptionsvorläufe zu „Gottesschau“, „Aufstieg“ und „Sühnopfer“
  • 1. Einleitung
  • 2. Ideal und Leben
  • 3. Eugen Kühnemann: Schiller – „Philosophische Briefe“
  • 4. Schiller: Philosophie und Ästhetik
  • 5. Zwischen-Spiel: das „Schöne“ und die „Tat“ – Schiller in St. Magdalena
  • 6. Zitat-Stützen: chronologisch
  • 7. Kreuz – Kassandra-Trauer – „edle Seele“
  • Anhang 1
  • Anhang 2
  • Kommentare
  • Edith Stein: Ein Literaturbrief [1932].
  • Text – Kommentar – Perspektive
  • 1. Einleitung
  • 2. „Katholische“ Literatur und „großer Krieg“.(E. v. Handel-Mazzetti, G. v. Stockhausen – R. Huch)
  • 3. Romane – historisch-erzieherisch: Gertrud von Le Fort* (Der Papst aus dem Ghetto; Das Schweißtuch der Veronika)
  • 4. Der „Erwecker“: Hermann Hesse (1877–1962)
  • 5. „Große Entwicklungsromane“ – „Stichproben“(Wilhelm Meister, Der grüne Heinrich, Maler Nolten)
  • 5.1 Wilhelm Meister
  • 5.2 Der grüne Heinrich
  • 5.3 Maler Nolten 267
  • 6. „Lebendige Gegenwartsdichtung“ – „hochwertig“ [1932]
  • Edith Stein: Freud und die Psychoanalyse („Tiefenpsychologie“) [1932/33].
  • Text – Kommentar – (theologisches) Wirkungsfeld
  • 1. Einleitung
  • 2. Dokumente: Vorlaufend orientierende Stichpunkte
  • 3. Edith Stein: „Das tiefenpsychologische Bild“ [I] – „Christliche Metaphysik“ [II]
  • 4. Der Aspekt: Psychoanalyse im theologischen Wirkungsfeld
  • Dokumente
  • Bertha Zuckerkandl
  • Hugo von Hofmannsthal
  • Thomas Mann
  • Oswald Kroh
  • M. M.
  • Erich Przywara
  • Siegfried Behn
  • Sigmund Freud
  • Pius XII.
  • Pius XII.
  • Romano Guardini
  • II. Vatikanisches Konzil
  • Christoph Böttigheimer
  • Literaturverzeichnis
  • Namenregister

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Vorwort

Edith Steins Goethe-Rezeption war im Kontext ihrer umfänglichen Literaturrezeption als „außerordentlich“ bemerkt worden1, eine in Aussicht genommene „größere erste Orientierung“ (ebd.) liegt nun hier im Band Fundamente vor2, eingerahmt von Rezeptions-„Vorläufen“ bei Herder und Schiller und Beobachtungen zur Lese- und Schreib-Praxis Edith Steins.3

Die Ausführungen zu einem Rat gebenden Literaturbrief (1932) Edith Steins sollten ihren „Brief an einen jungen Dichter“ (1938)4 ergänzen, um die Breite des einflussreichen Literaturwissens der Dozentin und Karmelitin zu zeigen, flankiert vom fast gleichzeitigen Aufscheinen einer Kenntnis Freuds und der Psychoanalyse, deren Dokumenteneinbindung bis in die Gegenwart führt, auch in Anregungen für eine diesbezügliche Edith-Stein-Forschung.5

Der Aufbau der Fundamente in Klassik-Rezeption, Kommentarteil und Dokumentenauswahl vervollständigt mit Wirkungszusammenhänge (2014) und Zugänge (2016) die „Trilogie“ Edith Stein und die Literatur.

Flörsheim, im November 2017Bernd Urban ← 11 | 12 →

1 Siehe das Vorwort in Bernd Urban: Zugänge. Edith Stein und die Literatur. Lektüren in Tradition und Spiritualität, Frankfurt a. M. 2016, S. 11.

2 S. u., S. 69–176.

3 Diese im Literaturverzeichnis (s. u., S. 394–396) aufgeführten Zeitschriften-Aufsätze wurden für den Fundamente-Band überarbeitet und z. T. stark erweitert; der Beitrag über Lessing (Edith Stein und Gotthold Ephraim Lessing: „gut durchgearbeitet“ – nicht „zerbröckelt“. Offenbarung und Erlösung zwischen „Glauben“ und „Wissen“, „Versöhnung“ und „Abschied“) in: Zugänge, wie Anm. 1, S. 43–67.

4 Bernd Urban: Edith Stein. Brief an einen jungen Dichter (Walter Warnach) [1938]. Engelweisheit und Schmerz-Erfahrung, in: Zugänge, wie Anm. 1, S. 253–287.

5 Siehe z. B. Andreas Tapken: Der notwendige Andere. Eine interdisziplinäre Studie im Dialog mit Heinz Kohut und Edith Stein, Mainz 2003.

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Einleitung

Auf ihre Weise sind auch Literatur und Kunst für das Leben der Kirche von großer Bedeutung. Denn sie bemühen sich um das Verständnis des eigentümlichen Wesens des Menschen, seiner Probleme und seiner Erfahrungen bei dem Versuch, sich selbst und die Welt zu erkennen und zu vollenden; sie gehen darauf aus, die Situation des Menschen in Geschichte und Universum zu erhellen, sein Elend und seine Freude, seine Not und seine Kraft zu schildern und ein besseres Los des Menschen vorausahnen zu lassen. So dienen sie der Erhebung des Menschen in seinem Leben in vielfältigen Formen je nach Zeit und Land, das sie darstellen.1
Die oberste Sorge muß […] sein, dem Text seine stärkste Präsenz und größtmögliche Unabhängigkeit zu sichern: seine Eigenexistenz möge sich konsolidieren, auf daß er sich uns mit allen Merkmalen der Autonomie darbiete. Er soll seine Verschiedenheit herausstellen und seinen Abstand wahren können. Der Gegenstand meiner Aufmerksamkeit befindet sich nicht in mir; er steht mir gegenüber, und mein Hauptinteresse liegt nicht darin, mich seiner nach Maßgabe meines Begehrens zu bemächtigen (ich wäre sonst selbst Gefangener meiner Launen), sondern ihn alle seine Eigenschaften und besonderen Bestimmungen zeigen zu lassen. Noch diesseits des eigentlichen Dialogs verstärken die sogenannten objektiven Methoden die materialen Aspekte des Gegenstandes, geben ihm schärferes Profil, prägnantere Gestalt und vertäuen ihn mit benachbarten Gegenständen in Zeit und Raum. Die Fülle des Dokumentarischen, mag sie im Verhältnis zu einem großen Text mitunter noch so äußerlich ← 13 | 14 → und unwesentlich erscheinen, fügt doch etwas zu dem hinzu, was von innen heraus seine Einzigartigkeit bedingt. Denn der Erkenntniswille muß allererst sich zum Verbündeten des Gegenstandes machen – gerade bezüglich seiner Kraft, uns Widerstand entgegenzusetzen.2
Echte Überlieferung ist so wenig der Schleppzug von Lasten des Vergangenen, daß sie mit uns vielmehr in das Gegenwartende befreit und so die tragende Weisung in die Sache des Denkens wird.3
[Edith Stein:] Bis heute gibt ihr Leben Zeugnis vom Gott der Wahrheit und Freiheit.4

Verwunderlich ist es schon, dass der stattliche Band „Alles Wesentliche läßt sich nicht schreiben“. Leben und Denken Edith Steins im Spiegel ihres Gesamtwerks5 kaum ein Wort über Edith Steins Verhältnis zur Literatur, zur ihrer Literaturkenntnis verliert, hatte sie doch Deutsch studiert, als Lehrerin zehn Jahre lang Literatur vermittelt und interpretiert und weisen doch die Register im „Gesamtwerk“ der Edith-Stein-Gesamtausgabe [ESGA] eine Fülle dichterischer Namen auf.6 Eine noch „unbekannte“ Edith Stein?7 1934 schrieb sie über die „Berufsentscheidung“ der heiligen Teresa von Jesus in deutlichem Selbstbezug8:

Bald wurde sie von den Büchern, die der Oheim ihr in die Hand gab, ganz gepackt. Die Briefe des hl. Hieronymus, St. Gregors Moralia, die Schriften des hl. Augustin nehmen ihren lebhaften Geist gefangen und erwecken in ihr aufs neue die heilige Begeisterung ihrer Kinderjahre. Oft wird die Lektüre unterbrochen, und im Anschluß daran besprechen der heilige Greis und die jugendliche Vorleserin miteinander die Fragen des ewigen Lebens. In dieser Umgebung reift Theresias Entschluß. (ESGA 19, S. 70). ← 14 | 15 →

Zum hl. Gregor weiß die spätere Exerzitiennotiz der Karmelitin: Er „nimmt die Ewige Wahrheit gegen den Verdacht der Lüge in Schutz. Er nennt den Heiland einen bildenden Künstler, der seine Erscheinung so gestaltet, wie sie der geistigen Verfassung der Jünger entspricht. […] Der Auferstandene hat eine ganz andere Macht und Freiheit dem Leib gegenüber als unter den irdischen Bedingungen. Er ist viel mehr ‚Bildner‘.“ (ESGA 20, S. 62)9

Die Goethe-Spur leuchtet auf und ist erhalten10: „Bilde, Künstler! Rede nicht! // Nur ein Hauch sei dein Gedicht“11: Schöpfungshauch und Homer-Anspielung („quae quasi spirare videtur atque expressa est Homeri carminibus virtutis et honestatis vis“)12 und nochmals die Spur im Lynkeus-Auge angesichts von St. Benedikts „magna visio“; Teresia Benedicta a Cruce schrieb (Oktober 1938):

Die sancta discretio ist […] radikal unterschieden von menschlichem Scharfsinn. Sie unterscheidet nicht durch schrittweise vorgehendes Denken wie der forschende Menschengeist, nicht durch Zergliedern und Zusammenfassen durch Vergleichen und Sammeln, durch Schließen und Beweisen. Sie unterscheidet, wie das Auge im klaren Tageslicht mühelos die scharfen Umrisse der Dinge vor sich sieht. Das Eindringen in Einzelheiten läßt den Überblick über die Zusammenhänge nicht verlieren. Je höher der Wanderer steigt, desto mehr weitet sich der Blick, bis vom Gipfel die ganze Rundsicht frei wird. Das von himmlischem Licht erleuchtete Geistesauge reicht in die weiteste Ferne, nichts verschwimmt, nichts wird ununterscheidbar. Mit der Einheit wächst die Fülle, bis im einfachen Strahl des göttlichen Lichtes die ganze Welt sichtbar wird wie bei St. Benedikt in der magna visio. (ESGA 20, S. 117)13

Goethes „erleuchtetes Geistesauge“ in der „Rundsicht“ hilft im Vergleich, sie sind mit die literarischen Details und Feinheiten in den sich entwickelnden und tragenden Lebenslinien Edith Steins.14 Diese liest und schreibt in großer ← 15 | 16 → literarischer Tradition15, sie liest und schreibt im Wissen um die Moderne16, sie liest und schreibt mit prägenden Texten17 und sie bewegt sich in der Geistesgeschichte der Weimarer Republik.18

Edith Stein, die Lehrerin, kann Literatur empfehlend raten, „hochwertige Dichtung“ (ESGA 2, S. 248) muss es sein, „lebendige Gegenwartsdichtung“ (ebd.) und aus dem Traditionsbestand (Goethe, Keller, Mörike), Literatur aus Dichter-Freundschaft (Le Fort, W. Warnach)19 und Klassiker-Lektüre, die „Weihetext“ und „Testament“ (ESGA 1, S. 373–375: „Sühnopfer“, der Tod „mit Freuden“) untergründig beeinflussen20, ehe sie selbst gestalthaft in Literatur (Hochhuth, Köhlmeier) wiederkehrt.21 ← 16 | 17 →

Die Literaturkenntnis Edith Steins am Ende der Speyerer Lehrtätigkeit (1932/33) und zu Beginn der Arbeit in Münster ist umgeben und durchtränkt von psychologisch-anthropologischen Vertiefungen, Ausarbeitungen und Forschungsliteratur (Testament [1939]: „Die wissenschaftlichen Bücher würden gewiß bei unseren Patries, den Trappisten oder Jesuiten, mit Freuden als Geschenk angenommen“; ESGA 1, S. 374), Freud und seine Psychoanalyse sind mit im Blick, 1924/25 waren die elf Bände seiner Gesammelten Schriften erschienen, im ← 17 | 18 → Band 9 die Schriften zu Literatur und Kunst.22 Edith Stein begrüßt und kritisiert, wir lesen Kontexte und Fortwirkungen, bis in unsere Gegenwart.23

Die Bücher, die Texte, in Formen (auch) der Lebensbewältigung bei Edith Stein: Im Lesen, „Durcharbeiten“, Übersetzen, Schreiben24 – „gut durchgearbeitet“ auch ← 18 | 19 → die „Werke“ Lessings (ESGA 1, S. 256)25, vor allem aber Schriften HERDERS für das erste Kapitel der Dissertation: „Geschichte des Einfühlungsproblems von Johann Gottfried Herder bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“ (ESGA 5, S. XX).26 Nicht nur aus dem Herder-Buch des Philosophie-Professors Kühnemann27 war Grundlegendes zu erfahren, auch Wilhelm Scherers Geschichte der Deutschen Literatur (1883) musste studiert werden, vor allem das Kapitel „Das Zeitalter Friedrichs des Großen“ (mit den Schwerpunkten „Herder und Goethe“, „Die literarische Revolution und die Aufklärung“), der „gewaltige Kollege“ (ESGA 1, S. 255) Edward Schröder hatte 1910 die erweiterte und ergänzte 12. Auflage [!] des Studienbuchs des 1886 Verstorbenen herausgebracht, auch zur Examensvorbereitung für Edith Stein also griffbereit.28 Wiederbegegnung mit Herder dann in Speyer; das Lesebuch Mimirs Quell bot für den Unterricht Texte aus Kühnemann, aus den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschen, zu Herders „Hochachtung“ gegenüber Kant („Sein Bild steht angenehm vor mir“)29 und bald schon findet die Lehrerin den Hinweis auf ein Herder-Gedicht in Heideggers Sein und Zeit-Kapitel (1927) „Die Bewährung der existentialen Interpretation des Daseins ← 19 | 20 → als Sorge aus der vorontologischen Selbstauslegung des Daseins“.30 Heidegger war dem Hinweis auf Herders „Cura“-Fabel in Konrad Burdachs Faust-Sorge-Aufsatz31 gefolgt, hatte sie zitiert und auf Herders Gedicht „Das Kind der Sorge“ (mit Saturnus, dem „Zeit“-Entscheider) gewiesen (ebd., S. 198), nachdenklich genug für die Lehrerin, die gerade die similitudo-Stellen des Thomas von Aquin in der Disputation De Veritate übersetzt.32 Gegenwärtig für Edith Stein auch die Psalmen-Übersetzungen Herders33 und in seinem und ihrem Idealismus kann sie die „Paradigmen der Hermeneutik“ mitlesen, „aktuell“ zusammengefasst: „[…] ist die bei Herder, Schleiermacher und Dilthey sich vollziehende Hinwendung zur konkreten Individualität […] zugleich eine Kritik am reinen Vernunftsubjekt der Aufklärung. Die Anerkennung der geschichtlichen Konstituiertheit des Menschen und die Betonung des Einflusses der Sprache (und der Tradition, in der man steht) auf das Denken verdeutlichen den Übergang zur Betonung der Intersubjektivität. Noch bei Gadamer bilden die (intersubjektiven) Kategorien der Sprache und der Geschichtlichkeit wesentliche Elemente der Verstehensbedingungen.“34 ← 20 | 21 →

In Kühnemanns Herder-Buch las die Studentin Edith Stein über GOETHE, textbekannt seit der Jugend, eine „außerordentliche“ Rezeption kündigte sich an und war so vermutet worden.35 Der Edith Stein zugeschriebene Satz. „Du sollst sein wie ein Fenster, durch das Gottes Liebe durchleuchtet in die Welt. Die Scheibe darf nicht stumpf und schmutzig sein, sonst verhinderst du das Leuchten der Liebe Gottes“36, spielt nicht nur metaphorisch mit Goethes „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“37, lässt auch an die Worte des erblindeten Faust denken: „Die Nacht scheint tiefer tief hereingedrungen, / Allein im Innern leuchtet helles Licht; / Was ich gedacht, ich eil’ es zu vollbringen / Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht“38: Ein anderer Herr ist es hier, der irdische, nicht der himmlische des „Prologs“, von dem Edith Stein in den Überlegungen zu „Natur und Übernatur in Goethes Faust“ (ESGA 16, S. 157–168)39 spricht, „Erlöser“ und Spender der „Ströme von Gnaden“ (ebd., S. 168), der das „Leuchten“ seiner Liebe bewirkt.

Edith Stein und Goethe-Lektüre heute: „Weshalb es sich überhaupt lohne“ – so fragte Albrecht Schöne40 –, „Altes von neuem zu lesen?“ Wir gehen mit:

Es sei nicht mehr derselbe Fluß, in den wir ein zweites Mal steigen, sagt die Gleichnisrede Heraklits. Denn andere und wieder andere Wasser strömten uns in ihm zu. (B 12.49a) Die gleichen Bücher lesend, lesen wir sie deshalb anders zu verschiedenen Zeiten unseres Lebens. Und anders auch verstehen wir Kinder unserer Zeit aus diesem Grunde alte Schriften als deren frühere Leser. Es „ist die Zeit ein wunderlich Ding“, bemerkte Goethe im Gespräch mit Eckermann, „ein Tyrann, der seine Launen hat, und der zu dem, was einer sagt und tut, in jedem Jahrhundert ein ander Gesicht macht.“ (25.2.1824) [Ebd.]

Edith Steins Äußerungen zu Friedrich SCHILLER (in den philosophischen Gedichten „fand ich die mir genehme Weltanschauung“; ESGA 1, S. 128) und die gegenüber Roman Ingarden („ich halt es im Leben mit der Kultur und in der Kunst mit der Schönheit, und in beidem suche ich so etwas wie »Harmonie«“; 12.1.1917; ESGA 4, S. 33) wirken lebenslang, Theorie-Begriffe und Zitate belegen es.41 Die Ausführungen des Kölner und Königsberger Professors Paul Hankamer ← 21 | 22 → (1891–1945) in seiner Literaturgeschichte (1930) stimmen zeitatmosphärisch zu, sprechen sogar mit Goethe von der Schiller eingeborenen „Christustendenz“42 und ergänzen die Lesebuch-Fülle, der Edith Stein als Deutsch-Lehrerin in Speyer begegnet und die im Einzelnen im Unterricht zu interpretieren und zu erklären war.43 Ihr „Fenster“-Bild („durch das Gottes Liebe durchleuchtet in die Welt“) begegnet in Max Piccolominis Tod („[…] sein Leben / Liegt faltenlos und leuchtend ausgebreitet, / Kein dunkler Flecken blieb darin zurück […]“; V. 3423-25) und hätte Aufsatz-Thema sein können44, konnte aber auch bei der gleichzeitigen Thomas von Aquin-Übersetzung begegnen, bezeichnet doch der Kommentar der Deutschen Thomas-Ausgabe Schiller als „Nachfahre“ der thomistischen Schönheitslehre mit Bezug auf den 15. und 18. Brief der „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“.45 ← 22 | 23 →

Des Thomas „drei Dinge“ der Summa theologica werden von Edith Stein aufgegriffen und bedacht, auch ihr Streben nach „Harmonie“; sie haben im Gegenwartsfeld von „Idealität und Realität in der Ethik“ ihren Platz, zusammen mit „Pflicht“ und „Wohltätigkeit“, „Empathie“ und „Selbstvervollkommnung“.46

Der LITERATURBRIEF (1932) zeigt Edith Steins Lieblingslektüre (Le Fort), Traditionsfestigkeit (Goethe, G. Keller, Mörike) und im Zeitrundblick H. Hesse und geforderte „hochwertige Dichtung“. Geht man Inhalten und Strukturen nach, so füllt sich ein Theorie-Gerüst, das mit dem Kapitel „Einfühlung in der ästhetischen Sphäre“ (ESGA 5, S. XXI) der Dissertation (1916) begonnen hatte, sich in der „Schlußbetrachtung“ der Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften (1922; „Die prinzipielle Scheidung von psychischem und geistigem Sein, Psychologie und Geisteswissenschaften“; ESGA 6, S. 246–262) fortsetzt, in der Deutung des Gedichtes als „Sinngebilde“ in Endliches und ewiges Sein (1935–1937; ESGA 11/12, S. 322) im „Gegenstand der Geisteswissenschaften“ (ebd.) integrativ erscheint47 und den „Brief an einen Dichter“ (1938) ergänzt, um in der „Studie“ (1942) über Johannes vom Kreuz zu einem Schlusspunkt zu gelangen, dessen Ziel und Eigenart die Karmelitin Edith Stein/Teresia Benedicta a Cruce im „Vorwort“ umschreibt:

Auf den folgenden Blättern wird der Versuch gemacht, Johannes vom Kreuz in der Einheit seines Wesens zu fassen, wie sie sich in seinem Leben und in seinen Werken auswirkt – von einem Gesichtspunkt aus, der es möglich macht, diese Einheit in den Blick zu bekommen. Es wird also keine Lebensbeschreibung gegeben und keine allseitig auswertende Darstellung der Lehre. Aber die Tatsachen des Lebens und der Inhalt der Schriften müssen herangezogen werden, um durch sie zu jener Einheit vorzudringen. Die Zeugnisse kommen ausführlich zu Wort, aber nachdem sie gesprochen haben, wird eine Deutung versucht, und in diesen Deutungsversuchen macht sich geltend, was die Verfasserin in einem lebenslangen Bemühen von den Gesetzen geistigen Seins und Lebens erfaßt zu haben glaubt. Das gilt vor allem für die Ausführungen über Geist, Glauben und Beschauung, die an verschiedenen Stellen eingeschaltet sind, besonders in dem Abschnitt Die Seele im Reich des Geistes und der Geister. Was dort über Ich, Freiheit und Person gesagt ist, stammt nicht aus den Schriften des hl. Vaters Johannes. Es lassen sich bei ihm wohl gewisse Ansatzpunkte dafür aufweisen. Ausführungen darüber lagen seiner leitenden Absicht fern und auch seiner Denkweise. Die Herausarbeitung einer Philosophie der Person, wie in den genannten Stellen angedeutet wird, hat sich ja erst die neuzeitliche Philosophie zur Aufgabe gestellt. (ESGA 18, S. 3) ← 23 | 24 →

Für Edith Steins Lektüren und Umgang mit Literatur gilt hier ihr übergreifendes Wort, was sie „in einem lebenslangen Bemühen von den Gesetzen geistigen Seins und Lebens erfaßt zu haben glaubt“, im Blick auf eine „Philosophie der Person.“ Dem dient auch ihre Beschäftigung mit der Psychologie, der Psychoanalyse, der „Tiefenpsychologie“.

Edith Stein greift FREUD und seine PSYCHOANALYSE positiv auf, sieht Gefahren, kritisiert, befindet sich in einem Rezeptionsfeld, das „Berührungen“ und „Komplemente“ mit dem großen jüdischen Psychologen zulässt und in die theologische Wirkungsgeschichte seiner Lehre eingreift.48 Die ausgewählte Dokumentation49 gibt der Position Edith Steins ihren Stellenwert und bindet sie in die psychoanalytische Rezeptionsgeschichte ein.

Die Beiträge sind in sich geschlossen und wollen in ausführlicher Textbasis, in Kommentar und Dokument, eine gründliche Lektüre als Fundament vermitteln und in den Lebens- und Lesehorizont Edith Steins konstituierend einbeziehen.


1 Konzilsdokument Gaudium et Spes (62), in: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen, lt. u. dt., Kommentare, Teil III, Freiburg 1986 [1968], S. 481.

2 Jean Starobinski: Le texte et l’interprète, 1974, S. 169; zit. in Ilse Grubrich-Simitis: Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen, Frankfurt a. M. 1993, Vorsatzblatt.

3 Martin Heidegger: Hegel und die Griechen, in GA, Bd. 9: Wegmarken. Frankfurt a. M. 32004, S. 428.

4 Katharina Seifert: „Ich bin ja durchaus keine Heilige“. Edith Stein in Freiburg, Freiburg 32017, S. 23.

5 Hg. v. Andreas Speer u. Stephan Regh, Freiburg 2016.

6 Zur Forschungslage siehe hier das Vorwort, S. 7.

7 In Anlehnung an Beate Beckmann-Zöller/Hanna Barbara Gerl (Hg.): Die unbekannte Edith Stein: Phänomenologie und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 2006.

8 S. u. der präludierende Beitrag „Die Bücher, die Texte […]. Säkulare Formen der Lebensbewältigung“, S. 27–44.

9 Edith Stein hatte schon in der Speyerer Zeit Gregors Festhymnus „Ex more docti mystico“ (ESGA 20, S. 287) übersetzt. Viele Predigten des Heiligen fanden Eingang in das kirchliche Stundengebet, das sie schon damals „ergriffen“ betet; siehe Seifert, wie Anm. 4, S. 21.

10 S. u. „Edith Steins Goethe-Rezeption“, S. 69–176.

11 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge, hg. v. Heinz Nicolai, Frankfurt a. M. 1992, S. 686.

12 So das dt.-lat. Wörterbuch von Friedrich Adolph Heinichen, Leipzig 1883, S. 363.

13 „Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt“: Lynkeus, der Türme, auf der Schloßwarte, singend; Faust II, V. 11289–11303.

14 Seifert spricht von ihnen in Kürze und Präzision, auch vom Beginn der „mystischen Spiritualität“ und der „spirituellen Reife“ Edith Steins (wie Anm. 4, S. 3 f.).

15 Siehe Bernd Urban: Edith Stein und die Literatur. Lektüren, Rezeptionen, Wirkungen, Stuttgart 2010; Ders.: Wirkungszusammenhänge. Neue Studien zu Edith Stein und Bernhard von Clairvaux, Cusanus, Rilke, Max Planck, der Oper und der Literatur, Frankfurt a. M. 2014; Ders.: Zugänge. Edith Stein und die Literatur. Lektüren in Tradition und Spiritualität, Frankfurt a. M. 2016.

16 Im Sinne einer Wissenschaften-Vielfalt (Neurologie, Anatomie, Psychologie, Biologie, Psychiatrie, Anthropologie, Medizin; Philosophie), wie sie analog Marcus Hahn für Gottfried Benn (1886–1956) dokumentiert hat (Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, 1905–1932; Göttingen 2011).

17 Siehe auch ähnlich Michael Sievernich (Hg.): Papst Franziskus. Texte, die ihn prägten, Darmstadt 2015.

18 Siehe Stephan Loos/Holger Zaborowski: Leben, Tod und Entscheidung. Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Berlin 2003; darin Johannes Schaber OSB: Phänomenologie und Mönchtum. Max Scheler, Martin Heidegger, Edith Stein und die Erzabtei Beuron; ebd., S. 71–100. – Ferner: Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, 1918–1933, München 2017.

19 Zu Le Fort siehe Bernd Urban: Edith Stein und die Literatur, wie Anm. 15, S. 60–63; zu Warnach Ders.: Zugänge, wie Anm. 15, S. 253–288.

Details

Seiten
404
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631765272
ISBN (ePUB)
9783631765289
ISBN (MOBI)
9783631765296
ISBN (Hardcover)
9783631765074
DOI
10.3726/b14554
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Edith Stein und Herder Edith Stein und Goethe Edith Stein und Schiller Edith Stein und Psychoanalyse/Freud Edith Stein und zeitgenössische Literatur Edith Stein und Literaturrezeption
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 404 S.

Biographische Angaben

Bernd Urban (Autor:in)

Bernd Urban promovierte mit quellenkundlichen Untersuchungen über Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse. Er ist als Herausgeber tätig und ist Autor zahlreicher Aufsätze u. a. zu Hofmannsthal, Schnitzler, Werfel, Döblin, Benn und Thomas Mann. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Thomas von Aquin-Rezeption in der neueren Literatur sowie Edith Stein und die Literatur.

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Titel: Fundamente. Edith Steins Klassik- und Psychoanalyse-Rezeption
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