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Ästhetik, sinnlicher Genuss und gute Manieren

Ein biblisches Menü in 25 Gängen Festschrift für Hans-Winfried Jüngling SJ

von Melanie Peetz (Band-Herausgeber:in) Sandra Huebenthal (Band-Herausgeber:in)
©2018 Andere 462 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch versammelt Beiträge zum Thema Ästhetik, sinnlicher Genuss und gute Manieren nicht nur als Selbstzweck, sondern auch als möglichem Ort der Begegnung mit Gott und Menschen. Die einzelnen Beiträge beleuchten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven und nehmen dabei einschlägige biblische Texte sowie deren Kulturräume in den Blick. Auf der Basis unterschiedlicher exegetischer Methoden arbeiten die Autorinnen und Autoren heraus, dass sich im Feiern, Singen, Tanzen und Lachen, im stilvollen und manierlichen Benehmen die Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen konkretisiert.
Die Festschrift würdigt das exegetische Wirken von Hans-Winfried Jüngling SJ, für den die «sinnlichen Genüsse» als Thema in eine Theologie hineingehören, in der es um Gott und Mensch geht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort (Melanie Peetz / Sandra Huebenthal)
  • I. Ästhetik
  • Die kontrastreichen Tänze im Buch Exodus. Das Goldene Kalb und wie Mirjam den Takt für biblische Tänze vorgibt (Melanie Peetz)
  • „Gewänder der Heiligkeit“ (Ex 28). Wer schmückt sich mit was – und vor allem mit wem? (Bernhard Klinger)
  • Dresscode der Gottesbegegnung. Erwägungen zum Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl in Mt 22,1–14 (Konrad Huber)
  • Vögel des Himmels und Lilien des Feldes (Mt 6,25–34). Wer sind die Adressaten des Bildworts? (Norbert Lohfink SJ)
  • Ein bisschen Luxus darf schon sein … Zu Gast bei Frauen im Alten Testament (Irmtraud Fischer)
  • II. Sinnliche Genüsse
  • a. Lebensfreude
  • Jede Woche eine Hochzeit. Erotische Genüsse (?) Salomos in Literatur und Musik (Elisabeth Birnbaum)
  • Vom historischen zum messianischen Salomo. Von den vielen Frauen zur einen Geliebten (Hld 8,11–12; Koh 2,8; 9,9) (Ludger Schwienhorst-Schönberger)
  • Von der Trauerklage zur Lebensfreude. Emotionen in Psalm 30 und die Suche nach dem „Ort“ der Begegnung von Gott und Mensch (Sigrid Eder)
  • Psalm 32. Die Freude der Vergebung (Gianni Barbiero SDB)
  • „Du salbest mein Haupt mit Öl“ (Ps 23,5). Die ökonomische und historische Bedeutung des Öls in biblischer Zeit (Wolfgang Zwickel)
  • b. Essen, Trinken, Gastmahl
  • Fettspeisen, Süßgetränke und die Freude am Herrn. Text- und Literarkritisches zu Neh 8,10 (Dieter Böhler SJ)
  • Alltägliche Ernährung und festliches Mahl im Buch Deuteronomium. Vom Essen Israels in der Wüste, im Verheißungsland und im Tempel (Georg Braulik OSB)
  • Die Perversion des Festmahls als Thema des Amos-Buches (Rainer Kessler)
  • Nomadische Wurzeln des Päsach-Mahls? Aporien bei der Rekonstruktion einer Vorgeschichte der Päsach-Feier von Ex 12,1–13*.28 (Hans-Christoph Schmitt)
  • Eine himmlische Speisung im Hier und Jetzt. Zur visuellen Exegese der Werke von Tintoretto in San Giorgio Maggiore (Viera Pirker)
  • Der Jüngling und das Himmelsbrot. Exegetische Beobachtungen zu Joh 6,9 (Ansgar Wucherpfennig SJ)
  • Der gute Wein. Zur Geschichte von der Hochzeit von Kana Joh 2,1–11 (Johannes Beutler SJ)
  • III. Gute Manieren
  • Beziehung(s)feiern. Warum Fasten für die Söhne des Hochzeitssaals nicht in Frage kommt (Sandra Huebenthal)
  • Zwischen Paradies und dem Himmel. Speisetabus als Ordnungsprinzip der biblischen Welt (Andrea Pichlmeier)
  • Mäßigkeit im Essen und Trinken (abstinentia, moderation) in den Fürstenspiegeln des Buchs der Sprichwörter (Hans Ulrich Steymans OP)
  • Lehren für das Leben des weisen Kohelet für Jünglinge (Bernd Willmes)
  • „Gemeinsam sollen sie essen, gemeinsam Lobsprüche sagen und gemeinsam beraten“ (1QS 6,2–3). Überlegungen zum Gemeinschaftsmahl der Gemeinde von Qumran (Heinz-Josef Fabry)
  • „Auch dem Arzt gewähre Raum …“ (Sir 38,12). Schöpfer, Wissenschaft und Frömmigkeit in Sir 38,1–15 (Johannes Marböck)
  • Verschiedene Akzentuierungen für das „Benehmen bei Tisch“ (Sir 31,12–24). Ein synoptischer Vergleich der hebräischen, griechischen und syrischen Version (Burkard Maria Zapff)
  • „Zur Unzeit sollst du nicht philosophieren“ (Sir 32,4). Das Symposion als Lehr- und Lernort nach griechischen und frühjüdischen Quellen (Angela Standhartinger)
  • Die Beiträgerinnen und Beiträger
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Gutes Essen, Benehmen bei Tisch, Literatur, Kunst und edle Stoffe – das alles sind Stichwörter, die man mit Hans-Winfried Jüngling SJ verbindet. Der Band zu Ehren des Jubilars, der seine Schülerinnen und Schüler stets zu Lebensfreude und nachhaltigem Genuss angehalten hat, versammelt Beiträge zu Ästhetik, Lebensfreude und guten Manieren nicht nur als Selbstzweck, sondern auch als möglichem Ort der Begegnung mit Gott und Menschen. Die einzelnen Beiträge beleuchten die Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven und nehmen dabei einschlägige biblische Texte sowie deren Kulturräume in den Blick.

Hans-Winfried Jüngling SJ hat in Forschung und Lehre zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Essen und Trinken ein vergessenes Thema der Theologie ist. Nicht müde ist der Jubilar geworden zu betonen, dass die „sinnlichen Genüsse“ als Thema in eine Theologie, in der es um Gott und den Menschen geht, hineingehören!

Vor allem den Weisheitslehrer Kohelet zieht Jüngling gern als Gewährsmann für eine Theologie der Genüsse und der Ästhetik heran. Kohelet plädiert für das Konzept einer Frömmigkeit, die den Menschen darin einübt, das Gute von Gott zu empfangen und sich daran zu erfreuen – etwa am Essen und Trinken: „Iss freudig dein Brot und trink vergnügt deinen Wein …!“ (Koh 9,7). Das Gegenkonzept einer solchen Haltung wird ganz offensichtlich beim Propheten Jesaja beklagt: Die Jerusalemer trinken Wein und feiern mit Harfe und Flöte, ohne jedoch auf das Tun des Herrn zu schauen, ohne das Werk seiner Hände zu sehen (vgl. Jes 5,12). Die Reihung der Weherufe in Jes 5,8–23 legt nahe, dass das Feiern der Jerusalemer auf Kosten anderer Menschen geht, die geradezu zermahlt werden (vgl. Jes 3,15).

Essen und Trinken, das Feiern und die sinnlichen Genüsse haben also auch eine Kehrseite. Sie sind nicht per se gut. Denn je nach Kontext können das Genießen von Trank und Speise, von Tanz und Musik den Gotteswillen pervertieren und damit gerade den Abfall von Gott erwirken.

Ästhetik, sinnlicher Genuss und gute Manieren sind folglich keine Randthemen der Bibel. Im Feiern, Singen und Lachen, im stilvollen und manierlichen Benehmen konkretisiert sich nicht nur für einen Jüngling die Beziehung zu Gott und anderen Menschen. Daher lohnt es sich, diese vergessenen Themen der Theologie genauer in den Blick zu nehmen. Der Band möchte den Jubilar daher zu seinem 80. Geburtstag mit einem Menü aus 25 biblischen Genüssen beglücken und verzücken.

Die Beiträge dieses Bandes sind entsprechend der drei Stichwörter des Haupttitels „Ästhetik, sinnlicher Genuss und gute Manieren“ in drei Rubriken angeordnet. Der Band setzt mit der ersten Rubrik Ästhetik stilvoll ein – mit Beiträgen, ← 9 | 10 → die von anmutigen Tänzen, von Frauen als Gastgeberinnen, von einem sorglosen Lebensstil und von schönen Kleidern handeln. In dieser Rubrik wird deutlich: Ästhetik und guter Stil wirken bei der Begegnung mit Gott und den Menschen, aber auch bei der Begegnung der Menschen untereinander mit: Der „Dresscode“ ist keineswegs unerheblich.

Sinnlich mit den Genüssen Salomos setzt die zweite Rubrik ein, die das Lieben und die Lebensfreude, aber auch die süßen und die fetten Sachen, das Himmelsbrot und den guten Wein zum Thema haben. Nicht jeder Beitrag ist hier gleichermaßen gut verdaulich. Die Mitte der Festschrift, der 13. Gang, ist ein hartes Stück Brot, da er die Kehrseite des Festmahls thematisiert, das auf Kosten anderer gefeiert wird.

Die Beziehungsfeiern der Jünger mit Jesus, die als „Dasein im Fest“ und als Identitätsmarker beschrieben werden können, leiten zur dritten Rubrik Gute Manieren über. Sie handelt von Speisetabus als Ordnungsprinzip der biblischen Welt, von der Mäßigung im Essen und Trinken, von den Lehren des Kohelet, vom Charakter des Gemeinschaftsmahls der Gemeinde in Qumran und vom Ablauf griechischer und jüdischer Symposien. Das rechte Benehmen bei Tisch stiftet nicht nur Identität, sondern ist auch ein konkreter Testfall im Umgang mit dem oder der Nächsten (vgl. Sir 31,15.18).

Mit diesem reichhaltigen und vielfältigen Menü möchten wir uns bei Hans-Winfried Jüngling SJ bedanken für sein Engagement als Lehrer und als Kollege und ihm mit Kohelet zurufen: „Freu dich Jüngling“! (Koh 11,9)

Die Entstehung dieser Festschrift wurde durch die Mithilfe von vielen ermöglicht: Wir danken zunächst den Beiträgerinnen und Beiträgern für die Bereitschaft, sich auf das delikate Thema einzulassen. Wir haben uns über die vielen kreativen Ideen und deren gelungene Umsetzung in Delikatessen sehr gefreut.

Wir danken ferner Prof. Georg Braulik OBS, der als Herausgeber die Festschrift in die Reihe Österreichische Biblische Studien aufgenommen und unser Projekt engagiert unterstützt hat. Bei Frau Alexandra Marciniak, der Lektorin vom Peter Lang Verlag, bedanken wir uns für die kompetente Betreuung. Frau Gisela Meindl, Sekretärin des Lehrstuhls für Exegese und Biblische Theologie an der Universität Passau, danken wir für das sorgfältige Korrekturlesen.

Für die finanzielle Unterstützung bei den Druckkosten bedanken wir uns bei den Diözesen Mainz, Limburg und Osnabrück sowie bei den Mitgliedern des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem, Komturei Frankfurt, und dem Freundeskreis Sankt Georgen e.V.

Frankfurt, im Januar 2018

Melanie Peetz und Sandra Huebenthal

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I. Ästhetik

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Melanie Peetz

Die kontrastreichen Tänze im Buch Exodus

Das Goldene Kalb und wie Mirjam den Takt für biblische Tänze vorgibt

Abstract: Miriam’s dance, the first dance mentioned in the Bible, praises YHWH for the liberation from Egypt. It opens up a space of encounter with God. On the contrary, the dance around the Golden Calf praises gods other than YHWH for the Exodus. It sets a contrast both in form and content with Miriam’s dance that establishes the ideal for other dances in the Bible.

1. Einleitung

Was sind die Zutaten für ein erfolgreiches Fest? Gewiss gutes Essen, auch gepflegte Weine, anregende Gespräche in netter Gesellschaft, musikalische Untermalung und ein ansprechendes Ambiente gehören für viele dazu. Ein gutes Fest spricht viele Sinne an. Als Zeichen ausgelassener Freude wird auf Festen aber auch gern getanzt. Hochzeiten, Faschings- und Silvesterpartys, auch viele Kindergeburtstage wären heutzutage ohne Tanz wohl kaum vorstellbar.

Der Tanz ist nicht nur Teil des säkularen Lebens, auch in vielen Religionen gehört er zum rituellen Vollzug dazu. In der islamischen Mystik zum Beispiel halten Derwische eindrücklich vor Augen, dass der Tanz ein Mittel der Kommunikation mit Gott sein kann. Im Hinduismus gibt es sogar die Vorstellung von tanzenden Göttern. Auch das Judentum hat eine positive Einstellung zum Tanz. Vor allem für die jüdische Bewegung der Chassidim gehört Tanzen zum Gottesdienst selbstverständlich dazu.1 Im Christentum feiern speziell in Amerika, in der „Neuen Welt“, afro-amerikanische Gemeinden Gottesdienste mit Jazz und Blues. Gospelchöre und Bands halten die Gläubigen selten auf ihren Sitzen: Es wird geschunkelt und zum Rhythmus der Musik geklatscht, teilweise sogar ekstatisch.

Traditionell herrscht allerdings im Christentum, vor allem in den konventionellen Großkirchen Europas, gegenüber dem Tanz die Skepsis vor. Bis in das ← 13 | 14 → 20. Jahrhundert hinein spielt der Tanz im Christentum als Teil des rituellen Lebens kaum eine Rolle. Die Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt führt diese Zurückhaltung gegenüber dem Tanz auf den Leib-Seele Dualismus zurück: Anders als beispielsweise im Judentum würden im Christentum der Körper und der Geist lange Zeit als getrennt und als einander fremd angesehen.2 Es wundert daher nicht, dass in der Alten Kirche vor dem Tanz vielfach gewarnt wird. Der Kirchenvater Johannes von Chrysostomos bringt den Tanz sogar mit dem Teufel in Verbindung: „Wo getanzt wird, dort ist der Teufel.“3 Im frühen Mittelalter erlässt die Kirche sodann regelrechte Tanzverbote. Einen Höhepunkt der Abneigung markiert das Konzil von Würzburg, das im Jahr 1298 den Tanz zur Sünde erklärt.4 Neben dieser den Tanz ablehnenden Hauptlinie gibt es aber auch eine positive Rezeption in der christlichen Tradition. So folgt beispielsweise der Jesuitenorden nicht dem Mainstream, sondern tanzt sprichwörtlich aus der Reihe: Im 17. Jahrhundert ist in den Jesuitenschulen Tanzen ein Pflichtfach.5

Was aber weiß eigentlich die Hebräische Bibel über das Tanzen zu erzählen? Es gibt einige Szenen, in denen getanzt wird, doch eine viel beachtete biblische Tanzszene hat vor allem für die negative Bewertung des Tanzes in der christlichen Tradition gesorgt: Der Tanz der Israeliten um das Goldene Kalb in Ex 32,19.6 Denn in dieser Szene ist Tanzen Bestandteil eines Götzenkults. Die Tänze in Ex 32,19 drücken den Abfall von Gott aus.

Ex 32 ist aber längst nicht die einzige Textstelle der Hebräischen Bibel, die vom Tanzen erzählt. Es gibt weitere Texte – prosaische und poetische –, die mehr oder ← 14 | 15 → weniger ausführlich vom Tanzen (מחלה) handeln und sprechen.7 Hier ist der Kontext, in dem getanzt wird, fast immer ein (völlig) anderer als in Ex 32.8

Eine biblische Tanzperformance soll in diesem Aufsatz der Tanzszene um das Goldene Kalb gegenübergestellt werden: Der Tanz der Mirjam mit den Frauen Israels am Schilfmeer in Ex 15,20–21. Warum ergibt es Sinn, diese beiden Textstellen miteinander zu vergleichen? Das Wort Tanz, מחלה (im Plural מלחות), kommt im Buch Exodus nur in diesen beiden Szenen vor. Wie zu zeigen sein wird, ragen beide Szenen kompositorisch aus dem für die Geschichte Israels so entscheidenden Buch Exodus heraus. Die Tanzszene der Mirjam mit den Frauen in 15,20–21 schließt den ersten Hauptteil des Buches Exodus, die Befreiung Israels aus Ägypten, in den Kapiteln 1,1–15,21 feierlich als Höhepunkt ab.9 Die Erzählung vom Goldenen Kalb in Ex 32 dagegen schiebt sich „wie ein Keil“10 zwischen die Anweisungen und Ausführungen zum Bau des Zeltheiligtums in den Kapiteln 25–40. Sie sticht innerhalb des zweiten11 Hauptteils des Buches Exodus (Ex 19–40) ebenfalls ← 15 | 16 → als ein Extremum heraus: Der Tanz um das Goldene Kalb markiert einen regelrechten erzählerischen Tiefpunkt.

Die Tanzperformance der Mirjam mit den Frauen in Ex 15,20–21 stellt aber, wie weiter gezeigt werden wird, nicht nur eine Schlüsselszene innerhalb des Buches Exodus dar. Sie liest sich wie ein Muster und formales Vorbild für viele folgende biblische Tanzszenen, worauf am Ende des Aufsatzes exemplarisch eingegangen wird. Kaum eine andere Szene im Buch Exodus und kaum eine andere Tanzszene der Bibel ist derart kunstvoll gestaltet wie der Tanz der Mirjam mit den Frauen am Schilfmeer. Sowohl die kunstvolle Gestaltung dieser Szene als auch ihre kompositorisch hervorgehobene Stellung innerhalb des Buches Exodus sprechen für die inhaltliche Relevanz dieser Tanzperformance.

Der Aufsatz wird aufzeigen, dass der „Tanz um das Goldene Kalb“ in Ex 32,17–19 als Gegenentwurf12 zum Tanz der Frauen in Ex 15,20–21 gestaltet ist: Der Tanz um das Goldene Kalb bildet inhaltlich und formal den größtmöglichen Kontrast zum Tanz der Mirjam mit den Frauen. Die Tänze für das Kalb pervertieren und konterkarieren den Tanz der Mirjam. Dabei wird sich zeigen, dass Mirjam den Takt für viele biblische Tänze vorgibt.

Zu Ehren des Jubilars, der die schönen Dinge des Lebens und vor allem die musischen Künste zu schätzen und zu vermitteln weiß, will dieser Artikel der Bedeutung des Tanzens, מחלה, in der Hebräischen Bibel nachgehen. Welche Funktion kommt dem Tanz insbesondere im Buch Exodus in den Texten Ex 15,20 und Ex 32,19 zu? Wie lässt sich der „Tanz um das Goldene Kalb“, kanonisch gelesen13, im Kontext des Buches Exodus insbesondere vor dem Hintergrund der vorangestellten ← 16 | 17 → Tanzperformance der Frauen Israels bei der Errettung am Schilfmeer in Ex 15,19–21 verstehen?

2. Der Tanz der Mirjam mit den Frauen in Ex 15,20–21

Die erste Tanzperformance der Bibel ereignet sich im Buch Exodus. Diese allererste Tanzperformance ist nicht der berühmte Tanz um das Goldene Kalb in Ex 32, sondern zuvor findet der weniger bekannte Tanz der Mirjam mit den Frauen Israels nach der Errettung am Schilfmeer in Ex 15 statt. Damit hat es sich erst einmal ausgetanzt: Im gesamten Buch Exodus, diesem umfangreichen und für die Geschichte Israels so bedeutenden und dramaturgisch hin- und herwogenden Werk, wird eben nur zweimal, in Ex 15 und in Ex 32, getanzt. Allerdings markieren die Tänze – wie noch zu zeigen sein wird – in beiden Fällen zwei entscheidende Wendepunkte der Geschichte Israels. Damit drängt sich ein Vergleich dieser beiden Szenen geradezu auf.

2.1 Stellung und Bedeutung der Tanzszene am Schilfmeer im Buch Exodus

Die „Urszene des Tanzes“ in Ex 15,20 ist Bestandteil der sogenannten Mirjamszene in den Versen 15,20–21. Dort heißt es:

Der Tanz der Mirjam mit den Frauen ragt kompositorisch aus dem Buch Exodus heraus. Wenn man sich dem Text von der Totalen zum Detail nähert, kann man drei Ebenen unterschiedlicher Größe abgrenzen, in denen die Mirjamszene unter formalen und inhaltlichen Aspekten bedeutsam ist:

(1) Die Tanzperformance in Ex 15,20–21 schließt formal den ersten Hauptteil des Buches Exodus, die „Exoduserzählung“15, in den Kapiteln 1,1–15,21 ab. Ein erster Abschluss der Exoduserzählung liegt allerdings bereits in den Versen 12,37–42 vor, die feierlich davon erzählen, dass die Israeliten endlich nach nunmehr vierhundertdreißig Jahren aus Ägypten ausziehen (יצא). Doch kaum sind die Israeliten aus Ägypten weggezogen, da setzt ihnen der Pharao nach ← 17 | 18 → (vgl. Ex 14,5–9). Israel wird von der ägyptischen Streitmacht am Schilfmeer umzingelt. Der Auszug der Israeliten aus Ägypten wird damit erneut in Frage gestellt.16 Umso eindrücklicher ist dann die überraschende Rettung, die durch das „geteilte Meer“ endgültig möglich wird und dann von Mirjam und den Frauen ausgiebig gefeiert wird.
Formal knüpft die Tanzperformance am Schilfmeer an die Exoduserzählung durch das Wort יצא (= ausziehen) an (vgl. z.B. Ex 12,41; 13,8).17 Durch den Tanz der Frauen, die hinter Mirjam ausziehen (יצא), wird der Auszug aus Ägypten „wie auf eine Bühne gerückt“ und damit feierlich zu Ende gebracht.18 Die Tanzszene am Schilfmeer grenzt sich sodann von den darauffolgenden Erzählungen ab. Mit Vers Ex 15,22 liegt formal ein Neueinsatz vor. Vers 22 leitet zu den sogenannten Wüstenerzählungen in den Kapiteln 15,22–18,27 über, die sich vor allem formal durch das Leitwort מדבר (= Wüste) von dem ersten Hauptteil des Buches Exodus abgrenzen.19 Ein formaler Einschnitt liegt insbesondere aber auch deshalb vor, weil die Ägypter als handelnde Akteure ab Ex 15,22 endgültig „von der Bühne“ abgetreten sind.
Die Tanzperformance der Frauen am Schilfmeer bildet um den ersten Hauptteil des Buches Exodus sogar formal einen Rahmen: Der Auszug aus Ägypten in den Kapiteln 1,1–15,21 wird von Erzählungen bzw. von Textpassagen, in denen Frauen die Hauptrolle spielen, ummantelt (vgl. Ex 1,11–2,10 mit Ex 15,20–21).20 Auf der Wortebene ist das Verb ענה augenfällig, das in beiden Rahmenteilen vorkommt (vgl. Ex 1,11–14 und Ex 15,21). Aufgrund der Kontexte, in denen das Wort begegnet, steht die Bedeutung des Wortes jeweils ← 18 | 19 → konträr zueinander: In Ex 1 bedeutet das Wort ענה „unterdrücken“, in Ex 15 dagegen „singen“ (bzw. „antworten“ oder „rufen“).
Auch die Gattung der Szene sticht hervor: Die Handlungen der Mirjam und der Frauen in Vers 20 sind als Prosa gestaltet. Das Lied der Mirjam in Vers 21 ist dagegen ein formvollendeter imperativischer Hymnus
21. Als solcher ragt er aus den vornehmlich erzählenden Partien der Exoduserzählung in den Kapiteln 1–14 heraus.
Der Abschluss der Exoduserzählung in den Versen 15,20–21 stellt zugleich deren inhaltlichen Höhepunkt dar: Der dramatische Konflikt der Exoduserzählung, die Unterdrückung der Israeliten durch die Ägypter (vgl. Ex 1,11–14), wird mit der Errettung am Schilfmeer (vgl. Ex 14,27–29; 15,19) endgültig aufgelöst: Das Volk ist definitiv aus der Hand der Ägypter befreit. Der Moment der Befreiung wird in der Mirjamszene bejubelt und auf JHWH zurückgeführt. Wie in Arien vieler Opern wird hier der Höhepunkt kunstvoll zelebriert. Die „Zuschauer“ können innehalten und genießen.

(2) Der Tanz der Mirjam mit den Frauen in Ex 15,20–21 ist formal ein feierlicher Abschluss der Exoduserzählung, aber zugleich auch feierlicher Abschluss der sogenannten Meerwundererzählung. Die Meerwundererzählung in Ex 13,17–15,21 stellt den letzten großen Erzählbogen der Exoduserzählung dar. Die Israeliten werden am Schilfmeer von den Ägyptern eingeholt (vgl. Ex 14,9–12). Doch die Wasser des Meeres spalten sich, so dass Israel den Ägyptern für immer entkommen kann (vgl. Ex 14,15–30).
Die literarische Verbundenheit der Tanzperformance am Schilfmeer mit der Meerwundererzählung in den Kapiteln 13,17–15,21 springt auf der Wortebene markant ins Auge: Die Begriffe „Pferd“ (סוס), „Wagen“ (רכב) und „Meer“ (ים) in Vers Ex 15,21 greifen die entscheidenden Schlüssel- und Leitwörter der Meerwundererzählung explizit auf (vgl. zum Beispiel Ex 14,2.6.7.9.16–18.22.23.25–29).

(3) Zugleich stellt die Mirjamszene formal den Abschluss des zweiten Hauptteils der Meerwundererzählung in Kapitel 15 dar. Der zweite Hauptteil der Meerwundererzählung besteht aus dem Moselied in den Versen 15,1b–18 und der Mirjamszene in den Versen 15,20–21. Dieser zweite Hauptteil setzt sich von dem ersten Hauptteil der Meerwundererzählung in den Versen 13,17–14,31 dadurch ab, vornehmlich Poesie zu sein. Der erste Hauptteil der Meerwundererzählung ist dagegen als Prosa gestaltet. Sowohl das Moselied als auch die Mirjamszene stellen eine Deutung der Ereignisse am Schilfmeer ← 19 | 20 → dar. Das Moselied ist als erster feierlicher Abschluss der Meerwundererzählung gestaltet. Die Mirjamszene stellt einen zweiten feierlichen Abschluss der Meerwundererzählung dar, der den ersten Abschluss, das Moselied, an Feierlichkeit und Intensivität überbietet. Im Unterschied zum wortreichen Gesang des Moses beschränkt sich der Hymnus der Mirjam auf die Deutung des einen entscheidenden Moments der Errettung am Schilfmeer22 und ruft euphorisch durch den Imperativ „Singt“ dazu auf, in den Lobpreis auf JHWH einzustimmen. Zugleich wird der Hymnus der Mirjam durch Musik und Tanz inszeniert. Die Trias von Musik, Tanz und Lobpreis verleiht dem Text Feierlichkeit und Dignität.

Formal rahmt der Hymnus der Mirjam in Ex 15,21 zusammen mit dem Aufgesang des Moses und der Israeliten in Ex 15,1 den zweiten Hauptteil der Meerwundererzählung in Kapitel Ex 15. Der Aufgesang des Moses und der Israeliten in Ex 15,1b entspricht dem Hymnus der Mirjam beinahe wörtlich und liest sich wie eine gesungene Antwort auf Mirjams Aufforderung: „Singt JHWH, denn erhaben, ja erhaben ist er. Pferd und Wagen warf er ins Meer.“ (Ex 15,21) – „Ja, ich will JHWH singen, denn erhaben, ja erhaben ist er. Pferd und Wagen warf er ins Meer.“ (Ex 15,1b)

Kurzum: Die Mirjamszene ist inhaltlich sowohl als feierlicher Höhepunkt der Exoduserzählung als auch der Meerwundererzählung gestaltet. Auf der Wortebene ist sie formal mit dem ersten Hauptteil des Buches Exodus insgesamt, noch deutlicher aber mit der Meerwundererzählung verbunden. Formal rahmt sie zusammen mit den ersten beiden Kapiteln den ersten Hauptteil des Buches Exodus. Zugleich bildet der poetisch gestaltete Hymnus der Mirjam mit dem Aufgesang des Moseliedes einen Rahmen um den zweiten Hauptteil der Meerwundererzählung.

Die Mirjamszene ist ein durch Musik und Tanz inszenierter Hymnus, der inhaltlich die Errettung am Schilfmeer feiert und deutet. Sie ist aber auch selbst Bestandteil der Meerwunderszenerie. Vers 19 bindet die Mirjamszene narrativ in den Erzählverlauf der Meerwundergeschichte in Ex 14,1–29 ein.23

14,29 Und die Kinder Israels gingen im Trockenen inmitten des Meeres. Und die Wasser (waren) für sie eine Mauer, zur Rechten und zur Linken (…) 15,19 Als24 die Pferde des Pharaos ← 20 | 21 → mit seinen Streitwagen und mit seinen Reitern ins Meer gekommen sind, ließ JHWH über sie das Wasser des Meeres zurückkehren. Die Kinder Israels gingen aber im Trockenen inmitten des Meeres. 20 Und Mirjam, die Prophetin, die Schwester Aarons, nahm die Handtrommel in ihre Hand …

Die Verse Ex 15,19–21 sind als Rückblick gestaltet. Sie knüpfen direkt an den Verlauf der Meerwundererzählung in Ex 14,29 an.25 Die Mirjamszene ereignet sich nicht etwa irgendwann nach der Errettung am Ufer des Meeres,26 sondern auf dem Höhepunkt: In dem Moment, in dem JHWH das Meer zurückkehren lässt, wohl noch während die Kinder Israels im Trockenen durch das Meer gehen und die Ägypter von den Wassern des Meeres überflutet werden (vgl. Ex 14,29 und 15,19).27

2.2 Tanzen für Gott – ein fulminanter Lobpreis

In diesem höchst dramatischen und entscheidenden Moment der Geschichte Israels ergreift Mirjam plötzlich die Initiative. Doch wer ist diese Mirjam? Sie wird in der Bibel zum allerersten Mal in dieser Tanzszene am Schilfmeer erwähnt. In dieser Szene steht der Name Mirjam sodann gleich zweimal (vgl. Ex 15,20.21). Formal werden die Handlungen der Frauen von dem Namen „Mirjam“ sogar gerahmt.

Mirjam wird in Vers 20 sogleich als Prophetin eingeführt. Sie ist die erste Person, die in der Bibel den ungemein wichtigen Titel „Prophet(in)“ (הנביא/הנביאה) trägt – sogar noch vor Mose.28 Mirjam ist also nicht irgendeine. Mirjam ist die ersterwähnte Mittlerin zwischen Gott und Israel. Ihr Handeln und ihr Sprechen haben theologische Relevanz.

Aus Num 26,59 und 1Chr 5,29 geht explizit hervor, dass Mirjam nicht nur die Schwester des Aarons ist, sondern auch die Schwester des Moses. Die Schwester Moses spielt auch in Ex 2 für die Errettung des Moses im Säuglingsalter und damit auch für die Errettung und Befreiung Israels eine entscheidende Rolle. Die Schwester des Moses bleibt in Ex 2 jedoch namenlos. Daher muss offenbleiben, ob es sich um Mirjam handelt. ← 21 | 22 →

In Ex 15,20–21 auf jeden Fall spielt Mirjam die Hauptrolle. Obwohl sie zuvor in den Kapiteln Ex 1–15 kein einziges Mal in Erscheinung tritt (zumindest nicht namentlich), scheint Mirjam dennoch eine Autorität in Israel gewesen zu sein: Sie handelt und spricht für ganz Israel, und alle Frauen ziehen ihr tanzend nach (vgl. Ex 15,19f.). Für den Bibelleser und für die Bibelleserin mag Mirjam eine unbekannte Erzählfigur sein, die plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Für die Israeliten der Textwelt hingegen ist sie offensichtlich eine vertraute Akteurin. Das Ansehen Mirjams in Israel lässt sich auch daran ablesen, dass das Volk, als Mirjam in Num 12,15 auf Anweisung JHWHs aus dem Lager der Israeliten ausgesperrt wird, nicht weiterwandert. Erst als Mirjam wieder in das Lager hereingeholt wird, setzt Israel die Wanderung fort (vgl. Num 12,16). Es wundert daher auch nicht, dass sich der Prophet Micha an Mirjam als eine von drei Führergestalten des Exodus erinnert. Wie Mose und Aaron, so ist auch Mirjam von Gott gesandt (vgl. Mi 6,4).29 Insofern ist Mirjam eine „natürliche“ Führerin Israels.

In der Tanzszene am Schilfmeer tritt Mirjam in einem entscheidenden Wendepunkt innerhalb der Geschichte Israels als Führerin auf: Sie setzt zusammen mit den Frauen Israels unter die Befreiung Israels aus Ägypten einen feierlichen Schlussstrich. In Ex 15,20 greift Mirjam als Zeichen der Freude zur Handtrommel30. Der Ausdruck von Jubel wird literarisch zudem dadurch potenziert, dass alle Frauen Israels Mirjam mit Handtrommeln folgen und ihr hinterherziehen (יצא אחרי). Die Beschreibung in Ex 15,20 lässt an einen gewaltigen, feierlichen Zug, sogar an eine Prozession denken.

Die Freude über die Befreiung wird aber nicht nur durch das Spiel unzähliger Handtrommeln zum Ausdruck gebracht, sondern vor allem auch durch Tänze. Die Frauen ziehen Mirjam nicht nur einfach hinterher, sondern sie bewegen sich ganz offensichtlich im Takt der Musik: Sie alle tanzen.

Die Szenerie, die hier vorgestellt wird, ist fulminant. Ein gewaltiger Zug von anmutig tanzenden Frauen schreitet aus den Wassern des Meeres heraus (vgl. Ex 14,22.29). Die im Text beschriebene Szenerie mag in den Rezipierenden die Vorstellung an wogende Wellen aufkommen lassen. Tanzen die Frauen zum ← 22 | 23 → „Rauschen“ des Meeres? Zumindest lautmalerisch passt die Szene am Meer zur Vorstellung ästhetischer, schwungvoller und rhythmischer Bewegungen. Vielleicht nicht zufällig klingt im Namen Mirjam, מרים, das hebräische Wort für Meer, ים, an. Ist Mirjam so benannt, weil sie zur Musik des Meeres im Rhythmus der Wellen so tanzt, dass ihr alle folgen?

Im Hebräischen steht für „Tänze“ das Wort מחלות. Das dazugehörige Verb ist חול, „tanzen“. Ein Wort derselben Wurzel, das auch „tanzen“ bezeichnet, ist מחול. מחלות und מחול sind die einzigen Wörter, die in der Hebräischen Bibel in ihrer Grundbedeutung „tanzen“ bzw. „Tanz“ bedeuten. Das Nomen מחול begegnet insgesamt sechsmal31, das Nomen מחלה bzw. מחלות achtmal32. Nur in Hld 7,1 kommt das Wort מחלה im Singular vor. An allen anderen Stellen steht der Plural מחלות. Das Nomen מחול dagegen steht stets im Singular und kommt vornehmlich in poetischen Texten vor. Das Verb חול kommt insgesamt zehnmal vor.33 Von der Sache her wird „tanzen“ bzw. „Tanz“ aber auch von anderen Verben ausgedrückt.34 Neunmal bezeichnet das Verb רקד „tanzen“, neunmal das Verb שחק, dreimal das Verb כרר, und einmal das Verb פזז.35

Getanzt wird in der Bibel also nicht allzu oft. Nicht selten steht der Tanz aber an literarisch herausragenden Stellen. Der Tanz markiert in den biblischen Texten oft einen Höhe-, Wende- oder Tiefpunkt (vgl. Ex 15,20–21; Ex 32,19; Ps 149 und Ps 150; vgl. auch Jdt 15).36

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist: Die Wörter חג (= Fest) und das Verb פסח (= vorübergehen) bedeuten ursprünglich wohl auch „tanzen“.37 Diese Wörter rahmen den ersten Abschluss der Exoduserzählung in den Versen 12,29–34.35–36.37–42. Die Verse 12,1–27 und 12,43–13,16 enthalten die Anordnungen zu den Festen JHWHs (vgl. חג ליהוה in 12,14 und 13,6), zu Pessach (פסח) und Massot. Die beiden „Abschlüsse“ bzw. Höhepunkte der Exoduserzählung werden ← 23 | 24 → demnach durch Wörter markiert, die „tanzen“, מחלות, bedeuten bzw. die der Bedeutung „tanzen“, חג und פסח, ursprünglich nahestehen.

Häufig steht der Tanz, מחול/מחלה, im Kontext einer Siegesfeier (vgl. Ri 11,34; 1Sam 18,6; 21,12; 29,5) oder im Kontext eines Gotteslobs (vgl. Ex 15,20–21; Ri 21,21; Ps 149; Ps 150). In Jer 31,4.13 steht er sogar in einer Gottesrede über die Heilszeit. Nur in Ex 32 steht der Tanz, מחלה, im Zusammenhang eines Götzenopferfestes, das aber widersinnigerweise in Ex 32,5 von Aaron als ein Fest für JHWH (חג ליהוה) ausgerufen wird.38 In vielen Fällen wird die Tanzperformance wie in Ex 15,20–21 durch Musikinstrumente oder durch Gesang mitgestaltet (vgl. z.B. Ri 11,34; 1Sam 18,6; Ps 150; Ps 87,7).

Der Paartanz ist in der Bibel nicht bezeugt, weder durch ein Wort der Wurzel חול noch durch ein anderes Verb, das von der Sache her „tanzen“ ausdrückt. Anders als in den Texten der Umwelt Israels gibt es in der Bibel auch keinen Totentanz, keinen Klagetanz und keinen Trauertanz.39 Der „Tanz“ ist in der Bibel Ausdruck der Freude. In Jer 31,13, Klg 5,15 und Ps 30,12 wird der Tanz (מחול) sogar ausdrücklich mit Freude (שמח ,משוש bzw. שמחה) assoziiert.

Das Verb חול, „tanzen“, wird aber gelegentlich in Zusammenhängen verwendet, die nichts mit Freude zu tun haben. In Hos 11,6 meint das tanzende Schwert ein Wüten und Zerstören. Und in Jer 23,19 und 30,29 sucht der tanzende Wirbelsturm das Volk Israel heim (vgl. auch 2Sam 3,28f.). Die Wurzel חול, „tanzen“, trägt also die Bedeutung „wirbeln“, „hin- und herwenden“ und „kreisen“.40 Je nach Kontext ist das Wort daher nicht immer positiv konnotiert.

Wie schön der Tanz (מחלה) in biblischer Zeit aussehen kann, lässt sich zum Beispiel aus Hld 7,1 folgern: Dort wird der Tanz, מחלה, von rhythmischen Bewegungen bestimmt, vom Hin und Her der Füße und vom Kreisen der Hüfte (vgl. Hld 7,2). Ein solcher Tanz löst Begeisterung und Bewunderung seiner Betrachter aus. In Hohelied 7,1–7 wird die Tänzerin enthusiastisch besungen.41

Die Errettung am Schilfmeer wird aber nicht nur durch Musikinstrumente und durch Tanz, sondern auch durch Gesang ausgedrückt: „Und Mirjam sang (ענה) für sie: Singt (שיר) JHWH, denn erhaben, ja erhaben ist er. Pferd und Wagen warf er ins Meer.“ ← 24 | 25 →

Der Gesang der Mirjam spricht ganz Israel – Männer und Frauen – an. Das Personalpronomen „ihnen“ (להם) und der Imperativ „Singt“ (שירו) steht im Maskulin-Plural und bezieht hier beide Geschlechter ein. Handlungssubjekte in Vers 20 sind zwar nur Frauen, ihr Handeln ist aber für ganz Israel relevant und gültig.42 Der Gesang der Mirjam fordert zum Lobpreis Gottes auf. Gesang, Tanz – מחלות – und das Spiel von Musikinstrumenten sind hier in Ex 15,20–21 also Bestandteile des Gotteslobes (vgl. auch Ps 87,7; 149,3; 150,4). Gesungen, getanzt und gespielt wird in Ex 15,20–21 für Gott. Der Lobpreis in Ex 15,21 begründet die Tanz- und Gesangsperformance für Gott mit seiner großen Erhabenheit, die sprachlich durch den Infinitivus Absolutus intensiviert wird: „erhaben, ja erhaben ist er“ (גאוה גאה). Diese Erhabenheit Gottes hat sich geschichtlich konkretisiert und manifestiert: „Gott warf Pferd und Wagen ins Meer.“ Das Lied deutet die Ereignisse am Schilfmeer als Rettungstat JHWHs. Insbesondere in dieser Geschichtsdeutung liegt das prophetische Wirken der Mirjam begründet.43

Die erste Tanzperformance, quasi der „Urtanz“ der Bibel, ist also ein Gotteslob. Für JHWH, der Israel von der Herrschaft der Ägypter befreit hat, wird getanzt und gesungen. Tanz, Musik und Gesang stellen eine Antwort auf Gottes Heilshandeln dar. Die Performance wird stellvertretend von Mirjam mit den Frauen für Israel aufgeführt. Ganz Israel ist aufgefordert, in das Lied der Mirjam miteinzustimmen. Die Performance eröffnet damit einen Raum der Kommunikation und der Begegnung Israels mit seinem Gott. Fulminanter hätte die Meerwundererzählung wohl kaum enden können. Die Performance der Frauen durch Tanz und Musik sowie der Gesang der Mirjam bilden ein vor Freude überschäumendes Gotteslob. Ex 15,19–21 stellt inhaltlich den Höhepunkt der gesamten Exoduserzählung sowie der Meerwundererzählung dar. Er wird passend zum Inhalt auch dramaturgisch durch die Ausdrucksmittel Tanz, Musik und Gesang stark betont.

Details

Seiten
462
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631757048
ISBN (ePUB)
9783631757055
ISBN (MOBI)
9783631757062
ISBN (Hardcover)
9783631749395
DOI
10.3726/b14173
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Essen und Trinken Gastmahl und Fest Gott und Mensch Lebensfreude Musik und Tanz Wein und Öl
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 461 S., 2 farb. Abb., 1 s/w Abb., 17 Tab.

Biographische Angaben

Melanie Peetz (Band-Herausgeber:in) Sandra Huebenthal (Band-Herausgeber:in)

Melanie Peetz ist Professorin für Einleitung in die Heilige Schrift und Exegese des Alten Testaments an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen/Frankfurt am Main. Sandra Huebenthal ist Professorin für Exegese und Biblische Theologie an der Universität Passau.

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Titel: Ästhetik, sinnlicher Genuss und gute Manieren
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