Lade Inhalt...

Friedensdiskurse in der neueren deutschsprachigen Literatur

Am Beispiel von Erich Maria Remarque und Martin Auer

von Messan Tossa (Autor:in)
©2018 Dissertation 302 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch legt den Fokus auf die Herauskristallisierung der deutschen Friedenssehnsucht in der Literatur angesichts der Erfahrungen der zwei Weltkriege. Mittels der semiotischen Analyse und der Narratologie geht die Studie auf Strukturelemente der Kriegsliteratur ein, deren Komponenten für eine Rhetorik des Friedens umfonktionalisiert werden. Die Studie hinterfragt Schemen und Topoi der pazifistischen Literatur angesichts der militärpolitischen Herausforderungen der Globalisierung.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitendes
  • 1 Kriegsdiskurse im Geist der Moderne
  • 1.1 Die deutsche Moderne
  • 1.1.1 Von der Aufklärung zur deutschen Moderne
  • 1.1.2 Sozialpolitische Auswirkungen der deutschen Moderne
  • 1.1.3 Der Kampf im Diskurs der Moderne
  • 1.1.4 Die deutsche literarische Moderne
  • 1.2 Der Erste Weltkrieg in der deutschen Literaturfiktion
  • 1.2.1 Fronteinzüge mit romantischer Verblendung
  • 1.2.2 Die Verbindung vom Krieg und nationaler Wiedergeburt
  • 1.2.3 Die Faszination der Materialschlacht
  • 1.2.4 Die Sublimierung des Kriegstodes
  • 1.2.5 Die Schreckensbilder des Krieges
  • 2 Die Konstruktion des Friedens bei Erich Maria Remarque
  • 2.1 Friedensdiskurse in Im Westen nichts Neues
  • 2.1.1 Die Montage des Erzählens in Im Westen nichts Neues
  • 2.1.2 Im Westen nichts Neues als Hypertext
  • 2.1.3 Im Westen nichts Neues als Hypotext
  • 2.1.4 Friedenskonstrukte im Roman Im Westen nichts Neues
  • 2.1.1.4 Die Destruktion des Feindbildes
  • 2.1.4.2 Die Dekonstruktion des Vaterlandsmythos
  • 2.1.4.3 Das Wirken des Krieges auf das Schicksal des Individuums
  • 2.1.4.4 Rezeptionsästhetisches Wirken des Romans Im Westen nichts Neues
  • 2.2 Remarques Friedensplädoyer in Zeit zu leben und Zeit zu sterben
  • 2.2.1 Zeit zu leben und Zeit zu sterben: eine zeitkritische Skizze?
  • 2.2.2 Die Konstruktion des Erzählens in Zeit zu leben und Zeit zu sterben
  • 2.2.3 Krieg und Nazizeit in Zeit zu leben und Zeit zu sterben
  • 2.2.2.3 Nazi-Figuren in Zeit zu leben und Zeit zu sterben
  • 2.2.3.2 Das systemkritische Visier
  • 2.2.3.3 Pazifistische Kriegsvisionen des Romans Zeit zu leben und Zeit zu sterben
  • 2.2.4 Diskurstheoretisches Fazit der Friedensrhetorik
  • 2.2.2.4 Das antimilitaristische Fanal
  • 2.2.4.2 Die Korrelation Schule und Krieg in der Friedensrhetorik
  • 2.2.4.3 Die Rehabilitierung des Humanen
  • 2.2.4.4 Die Desakralisierung des Staates
  • 3 Die Konstruktion des Friedens bei Martin Auer: Friedensdiskurse postmodernen Ansatzes
  • 3.1 Von der Nachkriegsmoderne zur Postmoderne
  • 3.2 Merkmale der postmodernen Kunstrichtung
  • 3.3 Die Dialektik von Krieg und Frieden bei Martin Auer: Der seltsame Krieg
  • 3.3.1 Die Kurzgeschichten des Werkes Der Seltsamer Krieg
  • 3.3.3.1 Die Kurzgeschichte Der Träumer
  • 3.3.1.2 Die Kurzgeschichte Der blaue Junge
  • 3.3.3.1.2 Von der Kurzgeschichte Der blaue Junge zum ganzen Werk
  • 3.3.1.2.2 Die Lehre aus dem Krieg
  • 3.3.1.2.3 Zur Symbolik einiger Figuren
  • 3.3.1.3 Die Kurzgeschichte Auf dem Karottenplaneten
  • 3.3.1.4 Die Geschichte Die seltsamen Leute vom Planeten Hortus
  • 3.3.1.5 Die Kurzgeschichte Der Krieg auf dem Mars
  • 3.3.3.1.5 Kritik am Militarismus
  • 3.3.1.5.2 „Krieg“ und „Frieden“ in der Kurzgeschichte Der Krieg auf dem Mars
  • 3.3.1.6 Die Kurzgeschichte Der seltsame Krieg
  • 3.3.3.1.6 Vom Wandel des Feindesbildes in der Geschichte Der seltsame Krieg
  • 3.3.1.6.2 Vom Pazifismus zum Anarchismus
  • 3.3.1.7 Die Kurzgeschichte Arobanai
  • 3.3.1.8 Die Kurzgeschichte Sternenschlange
  • 3.3.1.9 Die Kurzgeschichte Bericht an den Rat der Sonnensysteme
  • 3.3.2 Krieg und Frieden in Auers Lyrik
  • 3.3.3.2 Das Gedicht „Angst“
  • 3.3.2.2 Das Gedicht „Noch einmal Angst“
  • 3.3.2.3 Das Gedicht „Die zwei Kämpfer“
  • 3.3.2.4 Das Gedicht „Der Wortgewandte Elefant“
  • 3.3.3 Die Metaphorik vom Krieg und Frieden in Der seltsame Krieg
  • 3.3.3.3 Die Fabel „Der Sklave“
  • 3.3.3.2 Die Fabel „Stau“
  • 3.3.4 Martin Auers Poetik des Pazifismus
  • 4 Frieden als Text in der deutschen Kulturgeschichte
  • 4.1 Die deutsche Friedensbewegung der Postmoderne
  • 4.2 Die Neue Weltordnung und die Friedensbewegung der 90er Jahre
  • 4.3 Friedensdiskurse im Ausblick neuer Kriege
  • 4.3.1 Friedensdiskurse im Zeitalter neuer Kriegsformen
  • 4.3.2 Deutsche friedenspolitische Perspektiven
  • Abschliessende Bemerkungen
  • Bibliographie
  • Reihenübersicht

←8 | 9→

Einleitendes

2018 wird die hundertjährige Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkrieges gefeiert. Die Auseinandersetzung mit diesem Krieg als „Geburt der Moderne“ lässt ihn als wesentliches Gepräge des aktuellen Internationalen Staatensystems interpretieren. Dies betont Münkler in seinem Werk Der große Krieg. Die Welt (1914–1918) in dem der Autor die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Orientierung der Weltgeschichte erforscht.

Rückblickende Erkundungen des Großen Krieges aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven verwandeln die Kriegserinnerungen in eine Rhetorik des Friedens im Zeitalter der Globalisierung. Unter den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges zählte die Gründung des Völkerbundes, der die Menschheit vor künftigen Kriegsverheerungen schützen sollte. Der Völkerbund ist Indiz der weltweiten Friedenssehnsucht der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Die frühen politischen Bemühungen zu einem Weltfrieden schlagen sich in der Literatur nieder, wobei ästhetische Komponenten der Kriegsbeschreibung zu einem Narrativ des Friedens konvergieren. Trotz der divergierenden Interpretationen der Weltkriegsfolgen je nach der nationalen Zeitgeschichte der involvierten Länder findet die Sehnsucht nach Frieden einen weltweiten Konsens. Zwar wurden in der Vergangenheit1 Appelle an einem Weltfrieden hellhörig, aber die Tragweite der weltweiten Friedenssehnsucht aus den Erfahrungen des Weltkrieges rief eine Reihe von künstlerischen und politischen Manifestationen hervor, die sich in der westlichen Kulturgeschichte kristallisierte und in allen kolonialen Empirien tradierte. Das von Immanuel Kant in der Epoche der Aufklärung projizierte Ideal erringt einen Weltkonsens auch in traditionellen Krisenherden Europas, von denen die beiden Weltkriege ausgegangen waren. In dieser Hinsicht wird die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg unter dem Zeichen des Friedens zelebriert, wobei der Wunsch auf eine endgültige Bewältigung von aktuellen Kriegshandlungen deutlich geäußert wird. Kriegshandlungen im globalen Zeitalter fungieren als abweichende Situationen von einem globalen Konsens, der von Eskalationen in östlichen Gebieten der Ukraine, von Terroraktionen und von militärischem Wettkampf zwischen den USA ←9 | 10→und Nordkorea unterminiert wird. Dass Erinnerungen an Kriegsereignisse Anlass zu Friedensmahnung geben, deuten auf ein rhetorisches Schema hin, die die Topoi des Krieges für das Narrativ des Friedens funktionalisiert. Dies kristallisiert sich in der westlichen Zeitgeschichte in Formen von Denkmälern und Orten der Erinnerungen wie etwa Verdun, dessen Inbegriff Kurt Tucholsky mit dem „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ gleichsetzt.Einführung in die Thematik und in die Problematik

Die Entstehung dieser Studie verdanke ich der Beobachtung eines Plakats, dessen Aufschrift wohl lapidar wirkt, aus dem aber eine starke Expressivität hervorgeht. Es handelt sich um das 1924 von der Malerin und Graphikerin Käthe Kollwitz2 gezeichnete Plakat mit dem Aufruf „Nie wieder Krieg“, der inzwischen zum Schlagwort der pazifistischen Bewegung in Deutschland geworden ist. Fast drohend schwingt ein alt aussehender Junge seine Faust; sein Gesicht weist den Anschein strengster Entschlossenheit auf, während der breit geöffnete Mund das Schlagwort herausbrüllt: „NIE WIEDER KRIEG“! Ein Kriegsbild mahnt also zum Frieden: Den für gegensätzlich gehaltenen Wörtern „Krieg“ und „Frieden“ ist somit weiteres Sinnpotential entzogen worden. Selten wurde in dieser Weise das Plädoyer für den Frieden so deutlich aus dem Blickwinkel eines Kriegsbildes konstruiert: „Krieg“ und „Frieden“ erscheinen hier nicht als Gegensätze, sondern werden in sichtbarer Korrelation plastisch assoziiert. Es sieht so aus, als könnten die beiden Vokabeln beliebig zur Gewaltdokumentation gebraucht werden.

←10 | 11→

K. Kollwitz‘ Plakat „NIE WIEDER KRIEG!“ (1924)

In der kulturgeschichtlichen Wahrnehmung von Krieg und Frieden ragte bisher eine dialektische Vorstellung hervor, die auf folgender Ansicht beruht: Wer nach Frieden trachtet, müsse sich auf Krieg vorbereiten. Kriegsvorbereitung sei demnach die beste Form von Friedenssicherung. Das war die Strategie des sogenannten „Kalten Krieges“, in dem das schreckliche Zerstörungspotential der Supermächte zu einem auf Furcht und impliziter Bedrohung basierten Frieden führt. Raymond Aron beschreibt dieses unerhörte Friedensprinzip folgendermaßen (Aron 1963: 192):

Der Fortschritt der Produktions- und Zerstörungstechniken führt ein Friedensprinzip ein, das von der Macht verschieden ist und das der Gebrauch schon mit einem Namen bedacht hat. Der Terrorfrieden ist ein Frieden, der zwischen politischen Einheiten herrscht (oder herrschen würde), deren jede die Fähigkeit besitzt (oder besitzen würde), die andere tödlich zu treffen. In diesem Sinne könnte der Terrorfrieden auch Ohnmachtfrieden genannt werden. Als der traditionelle Frieden zwischen rivalisierenden politischen Einheiten herrschte, bestand die Macht jeder einzelnen in der Fähigkeit, der ←11 | 12→anderen ihren Willen durch den Gebrauch oder der Drohung der Kraft aufzuzwingen. In dem idealen Terrorfrieden gäbe es zwischen den Rivalen keine Ungleichheit mehr, da jeder thermonukleare Bomben besitzen würde, die Millionen Opfer verursachen würden, wenn sie auf die Städte des anderen fielen.

Die Strategie des „Terrorfriedens“ führte zur bedrohlichen Überrüstung der Supermächte, die dann ihre Waffen in arme Länder exportierten, um dort Bürgerkriege zu schüren. Auf diese Weise werden auch in regionalen Kriegen neue Waffen getestet. Krieg zu führen, ist schließlich der einzige Zweck der Aufrüstung bzw. der Waffenherstellung. So erweist sich, dass die intensive Bewaffnung zur Abschreckung vom Krieg nicht zum Frieden führt, sondern das Gegenteil bewirkt.

Diese paradoxe Vorstellung von Friedenssicherung zeigt sich auch in Kunst und Literatur durch eine Semantik der Abschreckung: Gewaltszenen und Horrormaterialien sollen die Öffentlichkeit vom Krieg abschrecken. So soll die Darstellung von schrecklichen Kriegsszenen in der Literatur eine kathartische Funktion erfüllen3: Kriegsbilder sollen die natürliche Neigung der Menschen zum Kampf infrage stellen, das Traumatische im Krieg kontinuierlich in Erinnerung der Menschen rufen, und schließlich die Fundamente des Friedens in der Psyche installieren. Zweifelhaft bleiben aber die konkreten Ergebnisse dieses Abschreckungsverfahrens, und es gibt immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen überall in der Welt. Begrenzt bleiben nämlich die Effekte der Kampfschilderung im Programm des Friedens, da die erzielten psychologischen Anstöße an geopolitischen, ideologischen und militärischen Rechtfertigungen des Kampfes scheitern.In seinen Reflexionen über Krieg und Frieden setzt sich Martin Auer4 mit dieser überholten Friedensvorstellung auseinander und baut eine eigene Rhetorik auf, die nicht mehr vom Standpunkt des Krieges, sondern von der Forderung nach Frieden ausgeht. Weder präventive Bewaffnung noch Abschreckungslogik finden Raum in der Dialektik Auers. Sein Plädoyer für den Frieden bezieht sich nicht auf den Krieg; es prangert vielmehr die Mechanismen der Kampfapologetik an. ←12 | 13→Sein Programm entspricht dem Leitmotiv der modernen Kriegsdichtung: die Auseinandersetzung mit dem Krieg vollzieht sich in der neueren Dichtung durch Abschaffung von Kampfszenen und -bildern, was das Plakat Kollwitz’ veranschaulicht. Die heutige Konstruktion des Kriegsdiskurses in der Literatur bezieht sich vorwiegend auf poetische, stilistische Skizzen der Kriegsgewalt im Rahmen einer impliziten Konstruktion des Friedens. Die Poetik der Gewalt in der Bearbeitung des Kriegstraumas wird immer mehr zur Sehnsucht nach Frieden. So bin ich darauf gekommen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage der Ästhetik wesentlich in einer Apologie des Friedens zu situieren ist. Folgerichtig erkundet die vorliegende Studie die Tradition des Friedenskults in der deutschsprachigen Literatur. Diese Tradition entspricht der politischen Richtlinie der BRD. Beispielsweise erklärte Bundeskanzler Konrad Adenauer bei seinem Besuch in Moskau am 9.9.1955 (Auswärtiges Amt 1983: 17): „Das oberste Gut, das es für alle Deutschen zu wahren gilt, ist Friede“. Der Schriftsteller Martin Auer ist zweifelsohne eine Galionsfigur dieses Friedenskults. Sein literarisches Werk zeugt von der neuen Sehnsucht nach ewigem Frieden. Die beiden Kriegsromane von Erich Maria Remarque liefern eine literarische Bearbeitung des Krieges, die besonders um eine Poetik des Humanen strukturiert ist. Anbei geht Martin Auer von dieser Sakralisierung des Humanen aus und konstruiert eine expressive Semantik des Friedens.

In der vorliegenden Studie wird versucht, Friedensdiskurse zunächst durch eine kritische Auseinandersetzung mit Kompositionselementen von Kriegsliteratur zu erfassen. Die Aktualität von Friedensdiskursen wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass diese im Kontext der Globalisierung in der Literatur und in weiteren Bereichen kanonisiert sind. Wie relevant und aktuell die Wahl dieses Themas ist, zeigt eine eben erschienene Publikation über die frankophone Literatur. Der von Richard Laurent Omigba und Désiré Atangana Kouna (2012) auf Französisch verfasste Sammelband trägt den Titel Utopies littéraires et création d’un monde nouveau und thematisiert die universelle Entwicklung der Mentalitäten seit dem Zweiten Weltkrieg und dessen Rezeption in der frankophonen Literatur. Der Fokus des Buches wird folgenderweise zusammengefasst:

il est indéniable qu’après les deux grandes guerres qui ont traumatisé l’humanité dans la première moitié du 20ème siècle, les hommes ont eu besoin de rêver d’un monde nouveau, différent de celui qu’ils avaient jusque-là connu et qui s’écroulait comme un château de cartes en l’espace de quelques décennies. Y avait-il mieux que la littérature pour traduire ce réveil douloureux et le désir subséquent de construire un autre monde? Assurément pas. C’est pour cela qu’on a vu émerger, sur les ruines du réalisme, du naturalisme, qui continuaient à se focaliser sur le réel, une littérature fondée sur la quête de l’ailleurs, la recherche d’un idéal au-delà du réel. Cette littérature voulait proposer aux hommes une ←13 | 14→échappatoire, une raison de penser que le monde n’est pas régi par l’absurde comme le professaient déjà les théoriciens de l’existentialisme […]. C’est ainsi qu’on pourrait expliquer, historiquement, l’essor de la littérature utopique dans la seconde moitié du 20ème siècle et surtout dans la première moitié du 21ème siècle.

Die verschiedenen Beiträge zu diesem Sammelband zeigen „l’utopie comme enjeu idéologique et esthétique dans le champ littéraire africain“, beschränken sich aber keineswegs auf die afrikanische Literatur. Diese Feststellung lässt sich durchaus auch auf die neuere deutschsprachige Literatur übertragen.

Das griechische Kriegsepos, wie es sich in der homerischen Überlieferung finden lässt, tradierte sich in der deutschen Literaturgeschichte im Allgemeinen als Paradigma für „Schlachtbeschreibungen“, die nichts anderes sind als eine Heroisierung von „Schlächtern“, deren „Massenvernichtungstaten“ als Heldentaten dargestellt werden5. Schon im Mittelalter bot die deutsche Literatur eine Reihe von Heldenepen (Krell/Fiedler 1967: 7) an, welche die Beziehung von Literatur und Krieg bzw. die kulturgeschichtliche Bewertung von Kriegsheldentum veranschaulichen. Diese Tendenz tradierte sich – fast ausnahmslos – bis in das 20. Jahrhundert hinein, etwa in der Form von Verherrlichung von Ehrenkämpfen, Verklärung des Kampfgeistes. Die Verheerungen durch den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) brachten in dieser Hinsicht keine entscheidende Änderung der Mentalitäten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) wurde die allgemeine Lust am Krieg verpönt und deshalb auch in der Literatur kritisiert. Die Poetik der Kriegsapologetik entwickelte sich dann zu einer „Poetik des Humanismus“: In der Kriegsdichtung traten nun auch die seelischen und körperlichen Verwüstungen auf6. Jedoch gelang es allein der Belletristik zum letzten Weltkrieg (1939–1945), die literarische Darstellung des Krieges neu zu orientieren. Der Zweite Weltkrieg und die damit zusammenhängende nazistische Ideologie der Ausrottung von Volksgruppen erweckten grundsätzliche Reflexionen über die Menschenwürde, was zu einer Umdeutung des Kriegsdiskurses führte. Im deutschsprachigen Kulturraum entstand dem Krieg gegenüber eine starke Abneigung7, die in einer folgerichtigen Friedenssehnsucht ←14 | 15→kulminiert8. Im deutschsprachigen Kulturraum, wo die kollektive Psyche durch das NS-Regime stark belastet wurde – und belastet bleibt –, ist das Kriegsheldentum in der Literatur allgemein verpönt und die Nachkriegsliteratur formuliert einen eindeutigen Diskurs zugunsten des Friedens. So steht die deutsche Literatur an der Spitze der europäischen Friedensdiskurse. Sie stellt bis heute die literarische Darstellung des Krieges in den Dienst des Humanismus. Noch bis zum Ende des letzten Jahrhunderts äußerte sich in der Weltpolitik das deutsche Grauen vor dem Krieg durch eine ablehnende Stellungnahme der öffentlichen Meinung zum Kriegsheldentum. Ein weiteres Phänomen, das sich markant auf den Friedensdiskurs auswirkte, war der Nuklearterror in der Zeit des Kalten Krieges. Die Erinnerung an den Nuklearterror im Kalten Krieg ruft bis heute noch im deutschen Gedächtnis Gespenster des Terrors hervor, die die deutsche Friedensbewegung beleben. Die Sehnsucht nach Frieden wohnt der deutschsprachigen Nachkriegskunst inne, die das Motiv der „Erziehung zum Frieden“ hervorhebt. Die didaktische Herausforderung der deutschen Nachkriegsliteratur war eine „Verherrlichung der Humanitas“, die heute als „Entheroisierung“9 der Kriegshandlung konzeptualisiert wurde: Die Kriegsliteratur wurde nach 1945 als „Trümmerliteratur“10 bezeichnet, um die schweren Folgen des Zweiten Weltkrieges bildlich zu charakterisieren und zugleich „ästhetisch“ zu dokumentieren. Die Zelebrierung des Humanen kann man vor dem Hintergrund einer rationalistischen Konzeption des Menschen als selbstständiges Subjekt gegenüber politischen und ideologischen Zwängen verstehen. Man kann es auch als einen Rückgriff auf christlich-humanistische Werte des Abendlandes verstehen.

Die neueste Richtung in der Verarbeitung des Krieges in der deutschsprachigen Kunst gilt für eine ganze Generation von Deutschen schon als normativ. Sie ist deutlich ablesbar in den Werken Martin Auers, der sich mit der ←15 | 16→neueren Kriegsdialektik auseinandersetzt. Seine Kurzgeschichte Der seltsame Krieg (Auer: 2000) wirft Kriegsbilder auf, in denen der belletristische Anspruch zugunsten der Entlarvung der psychologischen Mechanismen des Krieges ausgeblendet wird. Mit einer Reihe von Kurzgeschichten entwirft der Autor eine Rhetorik, die eine komplexere Beziehung zur Kriegsthematik präsentiert. Auf der Umschlagseite des Bandes Der seltsame Krieg zeugt ein Leser: „Ich habe mich gefragt, wie die Menschen Kriege führen […]. Ich dachte bisher, dass der Krieg aus Wut und Hass und Neid entsteht. Hier bin ich auf neue Gesichtspunkte gestoßen.“ Ähnliche Aussagen finden sich mehrfach in seinen vorherigen Sammelbänden Der Sommer des Zauberers (1998), Der bunte Himmel (1995), In der wirklichen Welt (1990).

Aus der Gesamtschau dieser Werke entsteht ein Friedensdiskurs. Zur Konstituierung seiner Friedensrhetorik geht Martin Auer von den Wurzeln der ökonomischen, politischen und kulturellen Spaltungen aus, denen ein großes Konfliktpotential innewohnt. Die Globalisierung, die zu friedlichem Zusammenleben unterschiedlichster Kulturnormen herausfordert, erscheint als Grundlage der Friedenssehnsucht bei Martin Auer.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht die Auseinandersetzung mit dem im deutschsprachigen Raum seit dem Zweiten Weltkrieg verbreiteten Friedenskult, dessen Merkmale zuerst in der Antikriegsliteratur, dann in der Auer’schen Rhetorik auftreten. Meine Analyse geht davon aus, dass sich aus der Ästhetik des Humanen nach dem Nationalsozialismus im Dritten Reich eine Friedensrhetorik entwickelt hat. Bereits in der Nachkriegszeit wird das Pathos der Sühne mit einer Sakralisierung des Friedens bekämpft. Auers Ästhetik äußert sich zunächst in der Form einer Poetik des Humanismus, die den Frieden verherrlicht. Im Zusammenhang mit der Erziehung zum Frieden zeigt die Kriegspoetik von M. Auer diverse Kategorien der „Kriegsentheroisierung“. Ferner lässt sich sein Werk als Produkt eines dauerhaften Prozesses lesen, der seinen Anfang aus der Nachkriegsmoderne dank der literarischen Dekonstruktion der Kriegsapologetik nahm. Meine Reflexionen gehen einerseits von einer Darstellung des Krieges aus, die sich in einer Ästhetik des Humanen artikuliert. Dies wird an den beiden Werken von Erich Maria Remarque aufgezeigt. Bei Martin Auer andererseits avanciert die Ästhetik des Humanen zu einem Friedensdiskurs. Gegenstand der Analyse sind sowohl dieser Entwicklungsprozess als auch die ästhetischen Ausdrucksformen des Verhältnisses von Krieg und Frieden.

Deshalb bedarf es einer klarsinnigen Sicht auf klassische Matrizen der deutschen Antikriegsromane, um Auers pazifistisches Fazit in einen generellen Rahmen des neuen Friedensdiskurses einzubetten. Konsequent werden in der literarischen Analyse Romane wie Im Westen nichts Neues (Remarque: 2009), ←16 | 17→Zeit zu leben und Zeit zu sterben (Remarque: 1987) mit Auers Der seltsame Krieg assoziiert. An diesen Werken werden die wirklichen Konturen des deutschen Friedensdiskurses aufgezeigt, und zwar im Rückblick auf die deutsche Erinnerung an die Weltkriege. Hauptsächlich bieten Erich Maria Remarques Werke ausdrückliche ästhetische Fresken antimilitaristischer Momente an, die in pazifistische Elemente münden.

Diese Kategorien aktualisiert der Gegenwartsschriftsteller Martin Auer immer wieder, indem er sie mit dem Zeitgeist der Globalisierung verknüpft. Außerdem konstruiert Auer einen auf Toleranz basierten Kriegsdiskurs und bricht radikal mit der germanischen Kriegstradition ab. Doch wie kann der aus einem besonderen Erlebnis eines Volkes stammende Friedenskult einen universalen Anspruch erheben? In welchen utopischen Konstrukten wird die Rhetorik Auers etabliert? Inwiefern kann die Friedenssehnsucht der europäischen Konsumgesellschaft für die vielen Völker der ganzen Welt gültig sein, die aus komplexen identitären Ensembles bestehen?

Hauptgegenstand dieser Studie ist es, einerseits in der Kriegsliteratur im Allgemeinen die Formen der Gewaltdokumentation zu hinterfragen; andererseits soll aufgrund dieser kritischen Analyse die Kriegsrhetorik in Martin Auers Werken paradigmatisch untersucht werden, um die Entstehung einer neuen Poetik des Friedens zu erforschen, deren diskursive, stilistische und thematische Indizien sich auf den Begriff „Humanitas“ beziehen. Es geht im Wesentlichen darum, den neuen Trend der „Ästhetisierung des Humanen“, der den Kern des neueren Kriegsdiskurses bildet, zu analysieren. Die neue Kriegsdichtung kennzeichnet sich dadurch, dass sie nicht mehr den Krieg, sondern den Frieden in den Mittelpunkt der Dichtung stellt. Das humanistische Programm dieser neueren Kriegsdichtung lässt sich in drei Punkten fixieren:

Die Abschaffung der Kampfsapologetik.

Eine Konstellation des Antikriegsdiskurses, aus der das Fazit des Humanen zum Konstrukt sakralen Friedens avanciert wird.

Die Etablierung eines Humanitätsanspruches als kulturgeschichtliches Wertsystem.

Dieser letzte Punkt steht im Mittelpunkt meiner Reflexionen. Ich möchte anhand von Martin Auers Geschichten die realen Konturen einer „Friedensliteratur“ erfassen und die Grenzen zwischen „Kriegsliteratur“ und „Friedensliteratur“ problematisieren. Die „Friedensliteratur“ beinhaltet psychopathologische Stränge des Erinnerns, die bei fiktionaler Fixierung neuerer Kriegsgeschehnisse ausgegraben werden. In der realen Welt ist die Argumentationsstrategie der sogenannten „Friedensliteratur“ mit Konflikten wie dem ←17 | 18→Kosovokrieg, dem ruandischen Genozid oder den neuen Kriegen konfrontiert, wodurch die Verklärung des Humanen dem Wahn der Utopie ausgesetzt scheint. Diese Realität formuliert Ingeborg Bachmann dichterisch, indem sie in ihrem Gedicht „Alle Tage“ die Banalisierung des Krieges feststellt (Bachmann 1978: 46):

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,

sondern fortgesetzt. Das Unerhörte

ist alltäglich geworden. Der Held

bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache

ist in die Feuerzonen gerückt.

Die Uniform des Tages ist die Geduld,

die Auszeichnung der armselige Stern

der Hoffnung über dem Herzen.

Historisch gesehen, sieht es so aus: Wissenschaftliche und philosophische Diskurse haben immer versucht, den Krieg als Konstante der Weltgeschichte zu etablieren. Manche Kriegstheoretiker meinen sogar, es gäbe einen sogenannten alternativen Zyklus von Krieg und Frieden. Die Komplexität dieses Zyklus betont beispielsweise Ilseluise Metz in ihrem Gedicht „Kastor und Pollux (Genesis von Krieg und Frieden)“ (Domin/Greve 1995: 211 f).

I

Ich machte ein Psychogramm

vom Krieg

und machte ein Psychogramm

Details

Seiten
302
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631771617
ISBN (ePUB)
9783631771624
ISBN (MOBI)
9783631771631
ISBN (Hardcover)
9783631757468
DOI
10.3726/b14820
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 296 S.

Biographische Angaben

Messan Tossa (Autor:in)

Messan Tossa studierte deutsche Literaturwissenschaft an der Université de Lomé. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Germanistikabteilung der Université de Lomé und im Staatsarchiv Togo.

Zurück

Titel: Friedensdiskurse in der neueren deutschsprachigen Literatur
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
304 Seiten