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Recht und Gerechtigkeit bei Fjodor Dostojewskij

Recht und Gerechtigkeit in der Romanwelt und Publizistik des russischen Schriftstellers

von Gudrun Goes (Band-Herausgeber:in)
©2018 Dissertation 236 Seiten

Zusammenfassung

Der Band betrachtet die wechselseitige literarische Beziehung zwischen Deutschland und Russland am Beispiel des Autoren Fjodor Dostojewski. Die Beiträge spiegeln den aktiven Dialog, den Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Franz Kafka und Robert Musil in ihren Werken und ihrem Leben mit Dostojewskij führten, wider. Die Autoren geben einen Überblick zu den verschiedenen medialen Rezeptionsprozessen in Deutschland und gehen unter anderem auch dem Phänomen des „guten Herzens" bei russischen Dichtern nach.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Laudatio für Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
  • Hesses Demian und Dostojewskijs Jüngling
  • Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld
  • Debatten um Recht und Gerechtigkeit im späten Zarenreich. Dostojewskijs literarische Intervention
  • Rechtsvorstellungen in der orthodoxen Theologie und im religiösen Denken F. M. Dostojewskijs
  • Schuld und Gerechtigkeit. Dostojewskijs Fazit in Die Brüder Karamasow
  • Tote und lebende Mütter in Die Brüder Karamasow
  • Dostojewskijs Die Brüder Karamasow – Zwischen Justizreform und Jüngstem Gericht
  • Zur Ontologie der Bildmedien bei Dostojewskij. Menschen und (Ab-)Bilder in der Reflexion um Glaubensprinzipien und rechtes Handeln
  • Dostojewskijs Brüder Karamasow auf der Bühne des Hamburger Thalia Theaters 2016
  • Deutsche Dostojewskij-Bibliographie 2016
  • Autorenverzeichnis
  • Das Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft

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Karla Hielscher

Laudatio für Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk

(Hofgeismar am 10. September 2016)

Lieber Herr Professor Gerigk,

liebe Freunde der Dostojewskij-Gesellschaft,

liebe Gäste,

lieber Horst-Jürgen,

Ich habe nicht vor, nun eine formgerechte, hochakademische Laudatio zu halten, sondern möchte einfach für uns als interessierte und neugierige Dostojewskij-Leser sprechen und ausdrücken, warum wir uns freuen, dass Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk heute Ehrenmitglied unserer Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft wird.

Wenn man im Internet die schier unendliche Liste von Horst-Jürgen Gerigks Publikationen – über die russische, amerikanische und deutsche Literatur, über Literaturtheorie und Poetologie, über Probleme der Ästhetik von Kant bis Heidegger u.v.a. – überfliegt, wird sogleich deutlich, dass er sich sein ganzes Gelehrtenleben lang mit Dostojewskij auseinandergesetzt hat: angefangen vor über fünfzig Jahren mit seiner Doktorarbeit von 1965 bis hin zum in diesem Jahr erschienenen Heft 19 der Dostoevsky Studies, das – neben der grundlegenden Darstellung der Dostojewskij-Forschung im deutschen Sprachraum – noch acht weitere Beiträge von ihm enthält.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich als Slawistikstudentin in München Mitte der 60er Jahre – als es noch sehr wenige deutsche slawistische Publikationen gab – fast ehrfürchtig Gerigks druckfrische Dissertation „Versuch über Dostojewskijs ‚Jüngling‘ “ in der Hand hielt und bestaunt habe.

In seiner beeindruckenden Publikationsliste habe ich mal grob die Arbeiten gezählt, die sich schon durch ihre Titel als Arbeiten über Dostojewskij ausweisen: Das sind 7 Bücher, 20 Aufsätze in Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Jahrbüchern, 7 Beiträge zu Fest- und Gedenkschriften, 27 Beiträge in Sammelbänden, 6 Nachworte und Einführungen, 6 Lexikonartikel, 5 Forschungsberichte und Bibliographien, eine ungezählte Menge von Rezensionen. Dazu kommt dann noch seine gewaltige Arbeit als Herausgeber der „Dostoevsky-Studies“, der wissenschaftlichen Zeitschrift der Internationalen Dostoevsky-Gesellschaft, die ←15 | 16→er in Bad Ems 1971 mitbegründete, deren Präsident er von 1998 bis 2004 war und deren Ehrenpräsident er heute ist.

Trotz seiner lebenslangen Faszination durch die Gestalt und das Werk Dostojewskijs nähert Horst-Jürgen Gerigk sich seinem Forschungsgegenstand von Anfang an mit erfrischender Unvoreingenommenheit, ohne Pathos und Ehrfurcht. Er sieht in Dostojewskijs Werk keine erhabene Erbauungsliteratur und in seinem Schöpfer keinen anbetungswürdigen Propheten. Für ihn ist Dostojewskij der geniale Klassiker der Weltliteratur, dessen „literarische Werke es zu einer weltweiten Präsenz im kulturellen Bewusstsein unserer Zeit gebracht haben“. Bei aller Unterschiedlichkeit seiner Zugänge steht für ihn letztlich immer das Werk, der Text und wie er gemacht ist, im Mittelpunkt.

Als bedeutender Vertreter der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft spricht Hans-Jürgen Gerigk nicht nur Kenner und Freunde der russischen Literatur an, sondern – indem er Dostojewskijs Platz in der Weltliteratur erforscht – Literaturinteressierte in aller Welt. Er hat die wesentlichsten Arbeiten über Beziehungsfelder, Einflüsse und Wirkungen Dostojewskijs in der Weltliteratur veröffentlicht: Er hat gearbeitet über Dostojewskij und Schiller, Dostojewskij und E. Th. Hoffmann, Dostojewskij und Hermann Hesse, Dostojewskij und James Joyce. In seinem wichtigen Buch „Die Russen in Amerika“ nimmt Dostojewskij und dessen Bedeutung für die Literatur der Vereinigten Staaten, für Theodore Dreiser, für Salinger, für Faulkner u.v.a. breiten Raum ein.

In zahlreichen seiner Arbeiten aber überschreitet Gerigk auch immer wieder die Grenzen der Literaturwissenschaft. Da ist z.B. das Forschungsfeld Dostojewskij und die Medizin.

Ausgehend von Dostojewskijs Epilepsie hat Gerigk spannende Untersuchungen zu dem Thema vorgelegt, hat sogar – zusammen mit dem Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt und dem Psychiater Wolfram Schmitt – den Arbeitskreis „Psychopathologie, Kunst und Literatur“ gegründet und mehrfach auch in medizinischen Zeitschriften veröffentlicht.

Ein weiteres Thema ist „Dostojewskij und die Kriminologie“. Hierzu gibt es von ihm interessante Analysen: etwa zur Typologie der kriminellen Persönlichkeit am Beispiel Smerdjakows oder seine Deutung der „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus“ als „Täterliteratur“.

Ein für einen Literaturwissenschaftler seiner Generation eher ungewöhnliches Arbeitsgebiet ist der Hollywoodfilm. Aber natürlich bietet sich Dostojewskij mit seiner großen Nähe zur Trivial-Literatur geradezu an, seine Verfahren der Spannungserzeugung und die des Films aneinander zu messen. Gerigk zeigt, dass das Werk Dostojewskijs – z.B. mit seinem Verfahren des „delegierten Phantasierens“, durch das sich der Leser völlig mit Raskolnikow ←16 | 17→identifiziert, der „Traumfabrik Hollywood ein maßgebendes poetologisches Muster geliefert“ hat.

Die zeitgenössische Dostojewskij-Forschung ist also ohne Horst-Jürgen Gerigk überhaupt nicht zu denken.

Worauf es mir aber besonders ankommt, ist, dass er nicht nur ein bedeutender Dostojewskij-Forscher, sondern auch ein wunderbarer Vermittler und Verbreiter seiner Forschungsergebnisse ist – und das eben nicht nur für seine akademischen Fachkollegen, sondern auch für ein nicht literaturwissenschaftlich gebildetes Lesepublikum!

Und gerade das ist ja ein wesentliches Ziel unserer Gesellschaft: „die Kenntnis Dostojewskijs in Deutschland zu verbreiten, das Studium seiner literarischen und publizistischen Werke zu vertiefen und zur eigenständigen Auseinandersetzung mit seiner Roman- und Ideenwelt anzuleiten“. Wir haben also in Horst-Jürgen Gerigk in der Tat den idealen Repräsentanten der Ziele und Aufgaben, denen sich unsere Gesellschaft verpflichtet fühlt.

Wie schafft er es, mit seinen Forschungsinteressen auch ein nichtakademisches Publikum zur Beschäftigung mit Dostojewskij anzuregen? Wie gelingt es ihm, den einfachen Dostojewskij-Leser, der erstmal nur an der superspannenden Story interessiert ist, auch für die komplexeren Probleme des Textaufbaus zu begeistern und ihm Schritt für Schritt die immer tieferen Sinnschichten des Wortkunstwerks zu eröffnen?

Das fängt damit an, dass seine Bücher eben nicht z.B. „Polyfunktion und Metaparodie“ heißen, sondern „Dostojewskij, der vertrackte Russe“ wie Siegmund Freud ihn genannt hat, oder „Ein Meister aus Russland“ oder „Dostojewskij im Kreuzverhör“.

Und natürlich hat Gerigk nicht nur in hochwissenschaftlichen Zeitschriften seine Forschungsergebnisse veröffentlicht, sondern mit zahlreichen Vor- und Nachworten den normalen Leser in die Romanwelt Dostojewskijs eingeführt, hat Zeitungsartikel geschrieben und Rundfunksendungen gemacht. Und über seine zahlreichen Vorträge auf wissenschaftlichen Kongressen in aller Welt, aber eben auch vor literaturwissenschaftlichen Laien kursieren Legenden.

Bestimmt hat ihn fast jeder von uns einmal bei so einem Vortrag erlebt: vor einem großen Auditorium in einem Festsaal oder gedrängt zwischen den Regalen einer Buchhandlung oder im ganz kleinen Kreis rund um einen Tisch sitzend wie z.B. bei einem unserer Dostojewskij-Symposien in Volterra. Häufig beginnt seine Rede mit einer irgendwie verblüffenden und provozierende Frage, die – auch wenn sie oft Widerspruch erregt – eine bis zum Schluss nicht nachlassende Spannung aufbaut.

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Im Mittelpunkt von Gerigks Lebenswerk steht – wie schon gesagt – das geniale literarische Werk Dostojewskijs selbst, der Text und seine Interpretation. Für ihn ist nicht der psychologische, sondern der poetologische Zugriff wesentlich. „Sobald wir interpretieren, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die ins Werk gesetzte künstlerische Intention des Autors.“

Und da stellt Gerigks 2013 erschienenes Buch über „Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller“ – ein für jeden erschwingliches Fischer-Taschenbuch – das bewunderungswürdige Ergebnis und Resümee seiner jahrzehntelangen Arbeit an Dostojewskij dar. Dieses Buch demonstriert auf einzigartige Weise die Verwandlung lebenslanger akribischer Forschungsarbeit in ein spannendes Lektüreabenteuer für jeden Dostojewskij-Leser. Er hat es Swetlana Geier gewidmet, durch deren grandiose Übersetzungen der „fünf Elefanten“, seiner fünf großen Romane, es in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer neuen Welle der Dostojewskijlektüre in Deutschland gekommen ist.

Das knappe Vorwort dazu kann man als eine Art Manifest einer leserfreundlichen Literaturwissenschaft lesen. Gerigk geht es bei seinen Interpretationen um eine – wie er es ausdrückt – „Verständnislenkung, die vom Text selber ausgeht“. Es kommt ihm darauf an, „das natürliche Verstehen des Lesers, das nicht auf literaturwissenschaftliche Ausbildung angewiesen ist, zu bestärken.“

Im Zentrum des Buches stehen die Deutungen seiner fünf großen Romane. Diese Interpretationen nun sind Kabinettstücke einer meisterhaften, am Leser, nicht an den Fachkollegen orientierten literaturwissenschaftlichen Analyse.

Am Anfang steht jeweils eine mit „Einstieg“ überschriebene Einführung in Zeit und Ort sowie Erzählergestalt und Erzählperspektive, also Grundinformationen, die die Voraussetzung für das Verständnis der Handlung des Romans sind. Im folgenden „Zugriff“ weckt Gerigk das Interesse des Lesers zunächst immer durch provozierende Fragen zu besonders packenden Romanszenen, etwa danach, wer der bedeutendste Mörder des 19. Jahrhunderts sei, Raskolnikow oder Jack the Ripper. Oder er macht den Vorschlag, uns eine typische Hollywood-Besetzung mit Leonardo di Caprio als Arkadij und Robert de Niro als Wersilow vorzustellen, um die extreme Melodramatik der Schlussszene des „Grünen Jungen“ sichtbar zu machen.

Die einzelnen Werkdeutungen dann – leserfreundlich mit erklärenden Zwischentiteln versehen – sind Musterbeispiele von anspruchsvollen Interpretationen im „vierfachen Schriftsinn“. Gerigk führt den Leser an Textbeispielen zu Erzählhaltung, Personenkonstellation, Zeitgestaltung, Komposition usw. und mit oft hintersinnigen Denkoperationen dazu, dass er nachvollziehen kann, wie sich aus dem buchstäblichen Sinn der Handlung mit ihrem psychologischen Realismus der übertragene, allegorische Sinn (die Personen als Repräsentanten ←18 | 19→der russischen Geschichte) entfaltet, der als Belehrung für den zeitgenössischen Leser gedacht ist, und der schließlich überwölbt wird von der überzeitlichen Bedeutung von Figuren und Handlung im Sinne eines christlichen Heilsgeschehens.

Gerigk hat die einzigartige, raffinierte Erzähltechnik Dostojewskijs, mit der er jeden Leser zu fesseln vermag und auf der sein Weltruhm beruht, auch als „machiavellistische Poetik“ bezeichnet: „Wenn Machiavelli zeigt, wie die Macht im Staate zu praktizieren ist, so praktiziert Dostojewskij die Macht des Romans über den Leser, eine Macht um jeden Preis. Seine thematischen Machtmittel heißen Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Religion, Politik und Komik, formal zusammengehalten durch eine skrupellose Erzähltechnik, mit der dem Leser immer gleichzeitig etwas gezeigt und etwas vorenthalten ist“.

Wenn man Horst-Jürgen Gerigks Deutungen von Dostojewskijs Werk in diesem Buch liest, ist es, glaube ich, gerechtfertigt, zu sagen, dass er so eine Art „machiavellistische Kunst der Interpretation“ entwickelt hat, mit der er auch nicht literaturwissenschaftlich gebildete Leser auf äußerst unterhaltsame Weise dazu bringt, „auf Umwegen… die Wahrheit selbst ans Licht zu bringen“.

Dafür danken wir ihm!

Details

Seiten
236
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631763797
ISBN (ePUB)
9783631763803
ISBN (MOBI)
9783631763810
ISBN (Paperback)
9783631763780
DOI
10.3726/b14496
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Motivforschung Printmedien Slavistik Theater Vergleichende Literatuwissenschaft
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 235 S., 5 s/w Abb.

Biographische Angaben

Gudrun Goes (Band-Herausgeber:in)

Gudrun Goes ist Hochschullehrerin für russische Literatur und Kulturwissenschaft an der Universität Magdeburg. Ihre Forschungsgebiete umfassen unter anderem die Rezeption russischer Literatur in Deutschland.

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