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Alterität und ihr Anderes

Fallstudien zum Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis bei Friedrich D. E. Schleiermacher und Martin Luther

von Rinja Müller (Autor:in)
©2018 Dissertation 258 Seiten

Zusammenfassung

Das typologische Spektrum der Denkformen von Alterität ist breit. Es erstreckt sich zwischen leerer Gleichheit und unzugänglicher Fremdheit. Eine besondere Zuspitzung erfährt das Thema in der Theologie im Gottesgedanken. Das Buch behandelt diesen Problemzusammenhang anhand von Fallstudien zu Schleiermacher und Luther. Bei der Interpretation geht es zugleich um die Frage nach Genese und Quellen von Alterität in übergreifenden Zusammenhängen. Im Mittelpunkt stehen hierbei die großen theologischen Gegensatzverhältnisse zwischen Gott und Sünde im Horizont, ebenso die vielfältigen Differenzkorrelationen von Selbst und Welt. Dies findet eine Zuspitzung in der Fokussierung von Entsprechungen zwischen Gottes-, Sozial- und Selbstverhältnissen: Theologie wird mit der Logik von Soziologie und Psychologie verknüpft.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Einleitung: Alterität als Reflexionskategorie für die Theologie
  • 1. Das Anliegen der Arbeit
  • 2. Zur Auswahl der Theologen für die Fallstudien
  • 3. Zum vielversprechenden Problem des Konzepts von ‚Alterität‘
  • 4. Forschungsüberblick
  • A. Alterität und Individualität im Sozialverhältnis bei Friedrich D. E. Schleiermacher
  • Methodische Vorüberlegungen
  • 1. Rezeptionslinien – anstelle eines Forschungsüberblicks
  • 2. Ein Missverständnis und eine These – ein Vorgeschmack
  • 3. Begründung der Textauswahl: Kontextualisierung, Systematisierung, Gliederung
  • 3.1 Die Texte
  • 3.2 Frühromantik, Aufklärung und Idealismus
  • 3.3 Theologie und Philosophie
  • 3.4 Der Gang der Darstellung
  • I. Subjektivität und Relationalität
  • 1. Metaphysik der Subjektivität und Intersubjektivität in der Dialektik
  • 1.1 Das Denken in seiner Mannigfaltigkeit: Die Einleitung von 1833
  • 1.1.1 Denken und Wissen oder die Vermittlung von Mannigfaltigkeit und Einheit im Gespräch
  • 1.1.2 Denken und Sprache
  • 1.1.3 Denken und Sein oder der Seins-Bezug im (Streit-)Gespräch
  • 1.1.4 Das reine Denken ist immer schon vorhanden
  • 1.1.5 Gehalt und Genese des Denkens
  • 1.2 ‚Gott‘ und ‚Welt‘
  • 1.3 Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein
  • 1.4 Intersubjektivität und ‚Individualität‘
  • 2. Zusammenfassung
  • II. Individualität und Sozialität
  • 1. Perspektivische Beschreibung von Wirklichkeit in der Philosophischen Ethik
  • 1.1 Verortung und Programm anhand der Einleitung zur Ethik
  • 1.1.1 Der systematische Ort im Wissenschaftssystem
  • 1.1.2 Der Impetus
  • 1.1.3 Die innere Systematik und der daraus resultierende Aufbau
  • 1.2 Die Beschreibungstechnik von Wirklichkeit in sozialen Sphären
  • 1.3 Die Organisation von Gemeinschaftsformen in der Güterlehre
  • 1.3.1 Die Einleitung: Symbolisieren und Organisieren
  • 1.3.2 Fromme Gemeinschaft oder Kirche
  • 1.4 Personelle Individualität und allgemeine Individualität
  • 1.5 Rückschau und Ausblick
  • 2. Reflexivität der Darstellung in der Christlichen Sittenlehre
  • 2.1 Systematischer Ort der Christlichen Sittenlehre
  • 2.1.1 Philosophische Güterlehre und Christliche Sittenlehre
  • 2.1.2 Zum Verhältnis Christlicher Sittenlehre und Glaubenslehre
  • 2.2 Christlich-impulsive Handlungsweisen
  • 2.3 Individuelles und Allgemeines – Pneumatologie
  • 2.4 Kirchliche Kommunikation
  • 2.4.1 Das wirksame Handeln oder: Natur- und Talentbildung
  • 2.4.2 Das darstellende Handeln als Kernstück der Kirche
  • 2.4.3 Der Gottesdienst als Ort darstellenden Handelns
  • 2.5 Zusammenfassung
  • Exkurs: Individualität als Teil der Ganzheit in den Monologen
  • 3. Zusammenfassung
  • III. Individualität in der kirchlichen Kommunikation
  • Exkurs: Die Bedeutung von Mitteilung in den ‚Reden‘
  • 1. Zum Gang der Darstellung durch die Glaubenslehre
  • 2. Zum Begriff der Kirche in den Prolegomena
  • 2.1 Subjektivitäts- und sozialtheoretische Bestimmung von Frömmigkeit
  • 2.1.1 Sich-selbst-gleiches und veränderliches Selbstbewusstsein
  • 2.1.2 Weltbewusstsein und schlechthinniges Abhängigkeitsbewusstsein
  • 2.1.3 Gottes- und Endlichkeitsbewusstsein
  • 2.2 Zusammenfassung
  • 3. Der Weltbezug der Erlösung: Christologie und Ekklesiologie
  • 3.1 Christliches Bewusstsein
  • 3.1.1 Christologie als Bedingung von Identität
  • 3.1.2 Sünde generiert Alterität auch nach der Wiedergeburt
  • 3.2 Von der Beschaffenheit der Welt bezogen auf die Erlösung: Kirche
  • 3.2.1 Pneumatologie im Zusammenhang mit der Entstehung der Kirche
  • 3.2.2 Kommunikationsformen der Kirche im Zusammensein mit der Welt
  • 3.3 Persönliche versus soziale Eschatologie im Rahmen der Vollendung der Kirche
  • 3.4 Zusammenfassung
  • Ertrag: Schleiermachers Umgang mit Alterität
  • B. Alterität und Identität in den Brechungen von Selbst- und Gottesverhältnis bei Martin Luther
  • Methodische Vorüberlegungen
  • 1. Einige Grundentscheidungen
  • 2. Luther und die Anfechtung – eine biographische Anbindung
  • 3. Forschungsüberblick
  • 4. Zum Umgang mit den Texten und der Gang der Darstellung
  • I. Die Gebrochenheit der Gotteserkenntnis: Exteriorität Gottes
  • 1. Gotteserkenntnis als ‚theologia crucis‘ in der Disputatio Heidelbergae habita (1518)
  • 1.1 Vom Schein der Werke und dem Handeln ‚als ob‘
  • 1.2 Die finale Verborgenheit Gottes, offenbart am Kreuz
  • 2. ‚Deus absconditus‘ als Grenze der Gotteserkenntnis in De servo arbitrio (1525)
  • 2.1 Heilsgewissheit: von der Obskurität der Schrift zur Abskondität Gottes
  • 2.2 Die Unterscheidung zwischen Deus revelatus und Deus absconditus
  • 2.3 Das Interesse der Vernunft wird in die Schranken gewiesen
  • 2.4 Der doppelte Deus absconditus
  • 3. Zwischenbetrachtung zur Exteriorität Gottes: Alterität als Alienität
  • II. Vermittelte Alterität: Christologie und Soteriologie
  • 1. Die ‚Zwei-Naturen-Lehre‘ in De divinitate et humanitate Christi (1540)
  • 1.1 Die ‚communicatio idiomatum‘
  • 1.2 Die unendliche Trennung des Geschöpfs von seinem Schöpfer
  • 2. Soteriologie und Nächstenliebe im Tractatus de libertate christiana (1520)
  • 2.1 Der Christusgesättigte Glaube führt zum christlichen Leben in Liebe
  • 2.1.1 Der christologische Zusammenhang von Glaube und Ethik
  • 2.1.2 Alterität in der Identität: Christus als wesenhaft göttlich und menschlich
  • 2.2 ‚Interior homo‘ und ‚exterior homo‘ im Widerstreit
  • 2.3 Der ‚innere Mensch‘ im Selbst- und Weltverhältnis
  • 2.3.1 Werke zur Disziplinierung des ‚äußeren Menschen‘
  • 2.3.2 Werke nicht als Dienst für sich selbst, sondern für den ‚Nächsten‘
  • 2.4 Identität, Alterität und die Relationalität des Tausches
  • 2.5 Fazit und Vergleich: Freiheit im Weltverhältnis durch das personale Gottesverhältnis
  • 3. Zwischenbetrachtung und Seitenblick zu Schleiermacher: Relation und Alterität
  • 4. Zusammenfassung und Ausblick
  • III. Anthropologische Differenz: simul iustus et peccator
  • 1. Sündenerkenntnis und Gesetz in der 1. Psalmenvorlesung (1513–15)
  • 1.1 Die Berührung mit dem Gesetz und die Eröffnung des Gerichtsverfahrens in Psalm 1
  • 1.2 ‚Der Kampf um die Wahrheit‘: Sündenbekenntnis zur Rehabilitierung Gottes in Psalm 51
  • 1.3 Problemanzeige und Zusammenfassung
  • 2. Alterität als Voraussetzung für Reflexivität im Galaterkommentar (1531)
  • 2.1 Passive Gerechtigkeit als das sich nicht selbst verdankte Selbstbewusstsein
  • 2.2 Die Doppelgestalt des offenbarten Wortes in Gesetz und Evangelium
  • 2.2.1 Die Erkenntnis des Selbst als Ego und Alter Ego durch das Gesetz
  • 2.2.2 Die Befreiung des Selbst vom gesetzesbestimmten Alter Ego durch Christus
  • 2.2.3 Das durch Christus gewonnene Selbstverhältnis
  • 3. Zusammenfassung
  • Ertrag: Luthers Umgang mit Alterität
  • Schluss
  • Literatur und Abkürzungen

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Einleitung: Alterität als Reflexionskategorie für die Theologie

1.  Das Anliegen der Arbeit

Die christliche Religion lebt aus produktiven Grundspannungen, die bereits in der biblischen Überlieferung zu Tage treten. Beispielsweise kann Gott in seinem zugewandt gütigen (Ps 36,6) und gnädigen Handeln (Ps 103,11) mit dem erbarmenden Vater verglichen (Ps 103,13) und zugleich als derjenige beschrieben werden, der im Dunkel bleiben will (Ex 20,21; 1.Kön 8,12) und dessen Wege ob seiner Verborgenheit (Jes 45,15) unerforschlich sind (Röm 11,33). Jesus Christus kann ebenso als ein Beispiel für Ambivalenz dienen, werden ihm doch sowohl die Gottessohnschaft zugeschrieben (Mk 1,11 par) als auch das Menschsein ‚in allem wie wir‘ (Hebr 4,15), gesteigert bis zur Paradoxie, wenn Gottes Herrlichkeit und Niedrigkeit in Auferstehung und Tod zusammen anklingen.

Die Fruchtbarkeit dieser spannungsreichen Gegensätze kann auch an nahezu allen wichtigen theologischen Loci verdeutlicht werden. In der Gotteslehre wird die erste Person Gottes als ‚deus revelatus‘ und ‚deus absconditus‘ entfaltet. In der Christologie ist die Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus spätestens seit Chalcädon 456 n. Chr. unter dem Stichwort ‚Zwei-Naturen-Lehre‘ grundlegend. Diese ‚unvermischte‘ und ‚ungetrennte‘ Unterscheidung spiegelt sich anthropologisch in der Verfasstheit des Menschen als ‚simul iustus et peccator‘. Die Topoi ‚Gesetz‘ und ‚Evangelium‘ markieren eine für die christliche Ethik wichtige Unterscheidung, die auch soteriologisch gewendet für die protestantische Rechtfertigungslehre grundlegende Bedeutung gewonnen hat. Diese noch längst nicht erschöpfte exemplarische Aufzählung gibt bereits einen Eindruck von der produktiven Kraft im Umgang mit relationalen Gegensatzpaaren, wobei auch an Tripel wie bei der genuin christlichen Trinitätslehre zu denken ist.

Theologie deutet nicht nur die Spannungen aus überlieferten Religionszeugnissen, sondern auch diejenigen, die es ‚in den Gegensätzen des Lebens‘ zu entdecken gilt.1 Nicht nur der Protestantismus und die Ambivalenz der Moderne2 ← 17 | 18 → treten sich selbst noch einmal als Gegensätze gegenüber, sondern Ambivalenz kann gar als das Strukturmerkmal der Spät-3 und Postmoderne4 gelten, deren Relevanz sich auch in Religion spiegelt. Zu denken ist dabei z.B. an Phänomene wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Abhängigkeit und Freiheit, Ordnung und Außerordentliches. In den Blick zu nehmen sind darüber hinaus auch die nicht modernespezifischen Ambivalenzphänomene wie Lust und Unlust, Erfolg und Scheitern, Aktivität und Passivität. Von hier aus sei aber auch an den ökumenischen und interreligiösen Dialog der Theologie erinnert und die damit verbundenen Fragen, welche Aspekte von Religion den unterschiedlichen Religionszugehörigen besonders wichtig sind und welche Plausibilität Christsein im multireligiösen Kontext hat. Solche exemplarischen Fragen führen bereits die simple Tatsache vor, dass die eigene, nicht nur religiöse Identität sich innerhalb von Gegensätzen heraus bildet.

Mit dem Stichwort ‚Alterität‘ soll eine Dringlichkeit für die Theologie markiert werden, sich ihrer notwendigen Ambivalenzen bewusst zu bleiben und zugleich im Sinne einer seismographischen Bezogenheit auf gesellschaftliche Probleme das Andere jenseits des Eigenen in den Blick zu nehmen. Denn theologisches Denken gewinnt aus relationalen Gegensätzen und spannungsreichen Widersprüchen nur so lange seine Dynamik, wie es dessen eingedenk bleibt, dass sie sich nicht auflösen, sondern gestalten lassen.5 Man könnte sogar ← 18 | 19 → noch weitergehend gerade den klugen Umgang mit Unterscheidungen6 als das Kennzeichen von guter Theologie ausmachen. Dazu gehört m. E. ebenso das Präsenthalten dessen, was nicht zur eigenen Religion gehört, wie das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Religion das, was sie ausschließen muss, doch nie los wird. Auch die Grenzziehung verlangt einem System permanent Arbeit ab. Die Grenze im Blick zu haben impliziert ein vorhandenes Transzendenzbewusstsein. In diesem Sinne scheint es lohnenswert, die Theologie als eine geübte Grenzwächterin auf Alterität zu befragen.

Zugleich soll die Reichweite von ‚Alterität‘ als Reflexionskategorie für die Theologie ausgelotet werden, indem unterschiedliche theologische Umgangsweisen mit Alterität typologisiert werden. In den theologischen Konzepten von Schleiermacher und Luther werden die Alterität des Divinen und die menschliche Individualität am Ort des Gottesverhältnisses in den Blick genommen. Das Gottesverhältnis erscheint als exemplarischer Ort der Reflexion für Alterität und Individualität im Sozial- und Selbstverhältnis. Schleiermacher überführt die Alterität des Divinen über den Erlösungsgedanken in Verbindung mit der Christologie (Christus als Gesamtleben) pneumatologisch vermittelt in die vornehmlich sozialtheoretische Ekklesiologie. Luther erfährt Alterität im Individuum als Anfechtung und in der Divinität als ‚Deus absconditus‘ in hochgradiger Massivität bis hin zur drohenden internen Gegensätzlichkeit, in der sich das Individuum wie Gott in ihrer absoluten Alterität selbst fremd werden. Gleichwohl leuchten in der Logik von göttlicher Rechtfertigung und individuellem Glauben Relationsmöglichkeiten für die interne Alterität auf.

Dieserart sichtbare Grundkonturen von Sozialtheorie auf der einen und Subjektivitätstheorie auf der anderen Seite lassen vermuten, dass ihr Vergleich eine über die Theologie hinausgehende kategoriale Präzisierung von Alterität erzielen und eine treffgenauere, tiefenschärfere Begriffsverwendung ermöglichen kann. Die Arbeit will deshalb nicht nur ihren Teil zur Schleiermacher- und Lutherforschung beitragen, sondern auch aus theologischer Perspektive einen Beitrag zur interdisziplinären Debatte leisten und zugleich den Begriff ‚Alterität‘ für die ← 19 | 20 → Theologie fruchtbar machen, um mehrere Verweisungszusammenhänge unter seinem Dach zu vereinen.

2.  Zur Auswahl der Theologen für die Fallstudien

Warum die theologischen Überlegungen Schleiermachers und Luthers in dieser Arbeit als Prüfsteine für das Konzept von Alterität herangezogen werden, ist aus den eingangs dargelegten Überlegungen zur grundlegenden Bedeutung von „zweipoligen Korrelationen“7 für die Evangelische Theologie zu erklären. Diese Zweipoligkeit innerhalb dogmatischer Lehrsätze von Gott und Mensch, Sünde und Gnade etc. hat in der reformatorischen Theologie eine neue Dimension erhalten, und zwar zuvörderst durch Martin Luther mit seinem hochentwickelten Ambivalenzbewusstsein. An der Objektivität der gültigen Lehrsätze der Alten Kirche rüttelten die Reformatoren zwar nicht, wohl aber fügten sie für deren soteriologische Relevanz als entscheidende Größe die sich dazu verhaltende menschliche Subjektivität hinzu.8 Mit der Entscheidung, in dieser Arbeit Schleiermacher und Luther exemplarisch zu diskutieren, soll einerseits das genuin reformatorische Erbe der Zweipoligkeit von Alterität im Subjekt gewürdigt werden. Andererseits soll mit Schleiermacher die für ein tragfähiges Konzept von Alterität ebenfalls wichtige Betonung der Relationalität durch die Verschiebung vom Gottes- zum Religionsbegriff und somit auch von Gott zur Gottesbeziehung des Menschen zur Geltung gebracht werden.9

Diese Auswahl bildet auch die Einschätzung Gerhard Ebelings ab: „Wenn überhaupt für die Geschichte des Protestantismus ein Name als epochaler Gegenpol zu Luther in Betracht kommt, dann allein Schleiermacher.“10 Ebeling hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es „vollends unsinnig wäre, Luther und Schleiermacher theologisch harmonisieren zu wollen oder etwa schlechtweg ← 20 | 21 → den einen zu kanonisieren und den andern zu indizieren“.11 Das Nebeneinander ihrer Namen fordere aber zur Rechenschaft darüber auf, „wie im Anschluß an die Reformation Theologie nach der Aufklärung zu verantworten sei“.12 Oder programmatisch zugespitzt: „Luther und Schleiermacher – das ist, verschlüsselt in zwei Namen, seither immer noch, immer wieder die Konstellation protestantischer Theologie“.13 Schleiermacher und Luther sollten also weder harmonisiert werden, noch sollten sie als Garant für den klassischen bzw. modernen Protestantismus gebrandmarkt, sondern in ihrem entscheidenden Beitrag für eine konstruktive Theologie der Aufklärung14 gewürdigt werden.

Beide Theologien, die Schleiermachers wie auch Luthers, lassen sich sowohl eher sozialtheoretisch als auch subjektivitätstheoretisch lesen. Die Entscheidung, in den folgenden theologischen Fallstudien jeweils eine der Lesarten mehr in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, ist – nicht nur, aber auch – durch die gemeinsame Fragestellung nach dem theologischen Umgang mit Alterität motiviert. Methodisch soll in der vorliegenden Arbeit eine Balance austariert werden zwischen eigener Sachintention und der hermeneutischen Verpflichtung auf die ‚intentio auctoris‘.15 Methodisch sei ebenfalls vermerkt, dass die Frage nach dem Umgang mit Alterität von außen an die Texte Schleiermachers und Luthers herangetragen ist. Das Theoriekonzept von Alterität stand beiden noch nicht vor Augen, aber die Frage nach dem Umgang mit Andersheit, bei Luther vor allem im Gottesverhältnis und bei Schleiermacher im Sozialverhältnis, ist m. E. eine produktive Kraft für beide Theoriekonzepte gewesen. ← 21 | 22 →

3.  Zum vielversprechenden Problem des Konzepts von ‚Alterität‘

Die Relevanz von ‚Alterität‘ zeigt sich in den aktuellen populären gesellschaftstheoretischen Debatten in den Großkontexten Andersheit und Fremdheit, die in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft angesichts der Phänomene Fanatismus und Indifferenz gegenüber allem Fremden zum Ausdruck kommen kann. Darin wird eine beunruhigende Tendenz zur Distanzierung von Anderen sichtbar, die im Widerspruch dazu steht, dass alle Individuen, schon um sie selbst sein zu können, auf den Anderen angewiesen sind.16 Beide Phänomene wurzeln in derselben Strategie zur Distanzierung von dem Anderen, deren Extreme auf einer abstrakten Ebene als Vereinseitigung und Vergleichgültigung benannt werden können. Im ersten Fall werden die Unterschiede zwischen dem Eigenen und dem Anderen so drastisch zugespitzt, dass die Verleugnung oder gar Eliminierung als einzige Abwehr in Betracht kommt – ein aktuelles Problem, vor allem im Bereich der Religion, in dem es besonders häufig zu fanatischen Einteilungen der Welt in Gegensätze kommt.17 Der zweite Fall taucht als nicht weniger gewichtiges Problem vor allem im zwischenmenschlichen Miteinander unserer pluralistischen Gesellschaft auf. In der vereinnahmenden Suche nach Anknüpfungspunkten beim Anderen ist die Tendenz zur spiegelbildlichen Wahrnehmung gleichsam mit enthalten, sofern der Andere nur als der wahrgenommen wird, der dem eigenen Vorstellungsbereich entspricht. Diese Vereinnahmung des Anderen ist gleichbedeutend mit einer Indifferenz gegenüber der Dimension von Fremdheit, die mit Anderssein einhergeht.

Der uralte, in der französischen Tradition wieder neu hervorgehobene und gegen einen ‚übersteigerten Subjektivismus‘ im Deutschen Idealismus ins Feld geführte Begriff Alterität18 ist in vielfältigen Bedeutungen in die Diskussion ← 22 | 23 → eingegangen. Dies ist nicht nur durch die Last seiner Tradition zu erklären, sondern auch durch seine beunruhigende Mehrdeutigkeit (das virtuell Ähnliche und das Unverfügbare). Die Grundbedeutung des philosophischen Kunstbegriffs ‚Alterität‘ ist abgeleitet von dem lateinischen Wort ‚alter‘, der eine oder andere von beiden, im Unterschied zu ‚alienus‘, dem Fremden. Diese bereits in der etymologischen Herleitung enthaltene Relationalität von Ego und Alter Ego spielt in einigen Kontexten scheinbar keine Rolle mehr.19 Alterität wird häufig auch als Synonym für Fremdheit in der Dichotomie mit Identität verwendet.20 Schreitet man den Horizont ab, der diese Zweigipfligkeit der Bedeutung von ← 23 | 24 → ‚Alterität‘ als Andersheit bei virtueller Ähnlichkeit einerseits und als absolute Fremdheit andererseits verbindet, so streift man dabei Gegensatzpaare wie ‚Identität‘ und ‚Differenz‘, ‚Aktivität‘ und ‚Passivität‘ oder auch ‚Symmetrie‘ und ‚Asymmetrie‘. Diese Begriffspaare hängen aufs engste mit ‚Subjektivität‘, ‚Perspektivität‘ und ‚Intersubjektivität‘ zusammen, die zur ‚Individualität‘ führen. Aber auch (religions-)philosophische Gegensatzpaare wie ‚Monismus‘ und ‚Dualismus‘ oder ‚Divinität‘ und ‚Humanität‘ können dabei ins Blickfeld treten.

Im Gang durch die Begriffspaare sollen mögliche Bearbeitungsperspektiven von ‚Alterität‘ erkundet werden. Beginnend bei dem Gegensatzpaar von ‚Identität‘ und ‚Differenz‘ kann die Frage weiterführen, was passiert, wenn man die formale Definition von Identität zu schematisch auf die Dichotomie mit Alterität reduziert. Kann diese logische Definition von Identität als sich-selbst-Gleichheit überhaupt erfassen, was unter sozialtheoretischem Aspekt eine stabile Persönlichkeit kennzeichnet, nämlich Einheitsbewusstsein der Person angesichts unterschiedlicher Rollen, die sie einnimmt? Zeigt aber nicht andersherum diese zu enge Auffassung von Identität auch die Gefahr einer zu einseitigen Definition von ‚Alterität‘ im Sinne von ‚Andersheit‘ bzw. ‚Differenz‘? Sollte nicht vielmehr die Mehrdimensionalität beider Relata offen gehalten werden?

Im Wechselspiel von Aktivität und Passivität21 kann man fragen, ob bei einer Aufteilung von aktivem erkennenden Subjekt und passivem Objekt eine Identifizierung von Alterität mit dem zu erkennenden passiven Anderen eine Engführung darstellt, da der Andere zum Objekt degradiert wird. Die Gegenfrage hat aber auch ihre Berechtigung: Ist der Versuch, mit dem Begriff ‚Alterität‘ gerade die aktive Seite des Anderen zu markieren, nicht ebenso einseitig, da es sich lediglich um eine Aufführung der Passiv-Aktiv-Variante mit vertauschten Rollen handelt? Sollte also nicht generell eine dynamischere Verteilung von Aktivität und Passivität angenommen werden?

Betrachtet man ‚Alterität‘ unter dem Aspekt der Symmetrie bzw. Asymmetrie, dann kann man nach den Folgen für die unhintergehbare Andersheit des Anderen fragen, wenn im Bemühen um ein symmetrisches Verhältnis von Alterität und Egoität die Gleichheit als Moment der Vergleichbarkeit zu stark ← 24 | 25 → betont wird. Was passiert, wenn die Asymmetrie ein Übergewicht im symmetrischen Verhältnis von Alterität und Egoität erlangt, mit dem jeweils nicht betonten Gegenpol? Kann dann überhaupt noch von einer Würdigung beider Seiten gesprochen werden?

Im Schnittfeld von ‚Subjektivität‘ ‚Perspektivität‘ und ‚Intersubjektivität‘ tauchen folgende Fragen auf: In welchem Verhältnis stehen Relation und Perspektive? Was passiert mit Alterität und Egoität, wenn man die Relation ohne einen Standpunkt (Positionalität) fokussiert? Gibt es überhaupt eine Relation ohne perspektivische Wahrnehmung? Was passiert in erkenntnistheoretischer Hinsicht mit der Verstehbarkeit des Anderen, wenn man Alterität und Egoität absolut setzt?

Religionsphilosophisch ließen sich folgende Fragen bedenken: Wenn die Alterität des Divinen in Sozialität hinein aufgelöst wird, vergrößert sich damit nicht die Wahrscheinlichkeit, dass Alterität an anderen Stellen stärker hervortritt, wie z. B. in der aktuellen Welteinteilung in zwei Hälften („Achse des Bösen“)? Ist für ein Balancierungsmodell von Alterität eine letzte Alterität als regulative Idee notwendig? Kann Dualität im Selbst nur durch einen Fremdbezug gedeckt werden? Ist Dualität im Selbst vielleicht sogar konstitutiv für das Sozial- und das Selbstverhältnis?

Setzt man diese Fragestellungen in ein Verhältnis zueinander, so lassen sich m. E. drei Dimensionen der Verwendung von Alterität ausmachen, in denen sich die Bedeutungsvielfalt des Begriffs besonders gut veranschaulichen lässt, und zwar begrifflich-kategorial, sozialtheoretisch und theologisch.

Alterität kann in ihrer begrifflichen Verwendung auf die Dichotomie mit Identität verweisen, sofern Identität Alterität zu ihrer formalen Definition benötigt. Die Erkenntnis, dieser zu sein, ist untrennbar mit der Einsicht verbunden, nicht auch jener zu sein. Die hermeneutische Verwendung von Alterität betont ihre Verfremdungsdimension, die mit dem Anliegen verbunden ist, der Unhintergehbarkeit der Andersheit des Anderen gerecht zu werden. Wird diese unhintergehbare Andersheit auf die Spitze getrieben, so erscheint Alterität als ein losgelöstes Abstraktes, das nicht mehr nachzuvollziehen ist. Im Kontext dieser logisch-kategorialen Argumentation lautet meine erste These, dass das Kunstwort Alterität nur solange ein sinnvoller Reflexionsbegriff bleibt, wie das Ego in seiner Bezüglichkeit zum Alter Ego in irgendeiner Weise mitverhandelt wird.22 ← 25 | 26 → Aus dem inneren Verweisungszusammenhang zur sozialtheoretischen Betrachtungsebene von Alterität drängt es sich auf, das logisch strukturelle Problem auf die Korrelation mit Individualität zuzuspitzen, die ihrerseits sozial bzw. kommunikativ vermittelt ist.

Betrachtet man ‚Alterität‘ nämlich in ihrem sozialtheoretischen Kontext, so lässt sich zeigen, dass die logisch richtige Relation von Alterität und Identität wichtige Aspekte unberücksichtigt lässt. Der Begriff der Identität ist seit der poststrukturalistischen Konzeption von Differenz als différence23 in eine Krise geraten, da die geläufigen Identitätsmerkmale wie Stabilität, Kohärenz und Geschlossenheit hinterfragt und prozessualisiert werden. Die Erkenntnis, dieser zu sein und nicht jener, kann angesichts der vielfältigen Rollen, in denen jede Person agiert, nicht in einer einmaligen Handlung bestehen. Sie kann auch nicht in einer Wiederholung immer derselben Abgrenzung erfolgen, sondern nur in immer neuen Konstellationen mit unterschiedlichen Anderen verstanden werden. Von daher lautet meine zweite These, Alterität in Relation zu personaler Individualität zu fokussieren. Individualität (von lat. individuus, dt. untrennbar) vermag nicht nur die unterschiedlichen Rollen einer Person in ihrer Einheit einzubeziehen, sondern berücksichtigt auch im Sinne einer Prozesslogik, dass sich Individualität, verstanden als Besonderheit und Eigenheit, immer wieder aufs Neue in eben diesen Rollen durch Abgrenzung bildet. Sie ermöglicht folglich eine untrennbare Einheit der Person als Voraussetzung für die Erfahrung externer Alterität im Fremdverhältnis und zugleich interner Alterität im Selbstverhältnis.24 ← 26 | 27 →

In der Theologie wird die transzendente Dimension von ‚Alterität‘ explizit in einschlägigen dogmatischen Loci verhandelt, wie bereits in 1. skizziert. Die Erprobung der vorgestellten Arbeitshypothesen (relationale Verwendung von Alterität in ihrer Fokussierung auf Individualität) in klassischen theologischen Themen verspricht einerseits, zur Begriffsschärfung von ‚Alterität‘ beizutragen. Andererseits lassen sich aus ihnen m. E. zwei wichtige Fragen für ein angemessen theologisch reflektiertes Gottesverhältnis ableiten, die in Fallstudien zu Luthers ‚deus absconditus‘ und Schleiermachers relationalem Gegensatzpaar von Gott und Welt weiter beleuchtet werden können: Wie kann Gott erstens, wenn er der absolut Andere ist, Beziehung zu uns ermöglichen, und wie kann er zweitens, wenn er nur als Abgrenzung verwendet wird, die Identität der Gattung Mensch und zugleich die Individualität der einzelnen Menschen gewährleisten?

4.  Forschungsüberblick

Seit Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts erfreut sich das philosophische Kunstwort ‚Alterität‘ weit über seinen phänomenologischen Entstehungskontext verstärkter Prominenz. Diese sticht im wissenschaftlichen Kontext anhand der häufigen und von unterschiedlichen soziologischen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen sowie der interdiszipli-nären Bearbeitung25 des Begriffs ins Auge, und zwar europaweit.26 Über philosophische Reflexionen ← 27 | 28 → des Begriffs27 hinaus wird ‚Alterität‘ besonders häufig in den Literatur- und Geschichtswissenschaften28 gebraucht. Aber auch postkoloniale29 und genderorientierte30 Ansätze sind von dieser Denkfigur geprägt, die in der Psychologie31 ebenfalls eine tragende Bezugskategorie darstellt. Auch in theologischen Publikationen wird der Begriff gern verwendet, wobei seine Bedeutung meist vorausgesetzt wird.32 Die Popularität von ‚Alterität‘, so lässt sich also vermuten, ist nicht nur der sozialen und philosophischen Relevanz als Pendant zur Identität bzw. Subjektivität geschuldet, sondern mag zudem der Mehrdimensionalität33 des Begriffs verdankt sein.

Details

Seiten
258
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631766828
ISBN (ePUB)
9783631766835
ISBN (MOBI)
9783631766842
ISBN (Hardcover)
9783631766484
DOI
10.3726/b14627
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Andersheit Ambivalenz Relationalität Gesetz und Evangelium Gottesgedanke/Mehrdeutigkeit Simul iustus et peccator
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 258 S.

Biographische Angaben

Rinja Müller (Autor:in)

Rinja Hildegard Müller studierte Kunstgeschichte und Geschichte in Karlsruhe sowie Evangelische Theologie in Hamburg, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete. Nach der Ordination war sie als Referentin des Hauptpastors und Propstes an der Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg tätig. Sie ist Pastorin in der Stephanskirchengemeinde in Schenefeld.

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Titel: Alterität und ihr Anderes
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