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Deutschland und die Deutschen in Forschung und Lehre

Studien zur kulturwissenschaftlichen Landeskunde

von Tomasz G. Pszczółkowski (Autor:in)
©2019 Monographie 324 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch enthält ausgewählte Beiträge des Autors aus den vergangenen 20 Jahren, die seine wissenschaftlichen Interessen und deren Umsetzung in die Didaktik widerspiegeln. Dazu gehören deutsche Geschichte, Betrachtungen über Selbst- und Fremdbilder der Deutschen, Überlegungen zur Methodologie der kulturwissenschaftlichen Länderforschung, Deutschlandkunde als politische Landeskunde sowie Kulturkomparatistik mit dem Schwerpunkt deutsch-polnischer Kulturvergleich. Die auslandsgermanistische Sicht von Deutschland und seinen Menschen wird sich von der der Deutschen unterscheiden. Diese Unterschiede herauszuarbeiten, war ein vordergründiges Anliegen des Autors.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I. Deutsche Geschichte aus auslandsgermanistischer Sicht
  • Berlin 1961–1989–2010. Rückblick eines polnischen Wissenschaftlers auf eine einst geteilte Stadt
  • Ausgewählte Fragen der Geschichtsschreibung der Vertriebenen. Randbemerkungen zu Peter Masts Buch Ostpreußen und Westpreußen und die Deutschen aus Litauen
  • Die Rezeption der Weimarer Beiträge in Polen
  • Lob des Eigensinns oder Randbemerkungen zu Simon Winders deutschem Geschichtsbuch Germany, oh Germany
  • Das Ende der deutschen Frage oder Randbemerkungen zu Helmut Wagners politikwissenschaftlichem Essay Vom Störenfried zum Bürgen. Die „deutsche Frage“ im europäischen Kontext
  • II. Selbst- und Fremdbilder der Deutschen
  • Wandlungen des Deutschlandbildes in der polnischen Publizistik der Nachkriegszeit
  • Die Wahrnehmung der DDR und der BRD in der polnischen Öffentlichkeit vor 1989
  • Drei deutsche Nachkriegsgesellschaften: Mentale Kontinuitäten und Brüche aus polnischer Sicht
  • Zwischen Selbstwertgefühl und Selbstkritik. Deutsche im deutschen Sachbuch nach 2000
  • III. Zur Methodologie der kulturwissenschaftlichen Länderforschung
  • Die Rolle der Gesellschaftswissenschaften im europäischen Einigungsprozess
  • Über die Relativität der Bewertungen der Folgen der Potsdamer Konferenz
  • Hat die politische Länderforschung im sich vereinigenden Europa eine Zukunft? Über den Sinn der politischen Landeskunde im Zeitalter der Globalisierung
  • Was ist Kulturwissenschaft? Betrachtungen über einen dehnbaren Modebegriff aus den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften
  • Zur Inter- und Multidisziplinarität der Kulturwissenschaft, dargestellt am Beispiel der Deutschlandkunde bzw. der German Studies
  • Nutzen und Nützlichkeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften, speziell in den vergleichenden Länderstudien
  • IV. Deutschlandkunde als politische Landeskunde
  • Wandlungen der Deutschlandkunde in Polen nach 1990
  • Von einem noch zu schreibenden deutschen Geschichtsbuch für Germanisten
  • Gemeinsame Lehrbücher als Mittel der Überwindung ethnozentrischer Geschichtsperspektiven? Randbemerkungen zur Diskussion über das deutsch-französische Geschichtsbuch
  • Filmmaterial als Wissensquelle über Deutschland und seine Nutzung in der auslandsgermanistischen Deutschlandkunde
  • Das Internet als Wissens- und Informationsquelle für Germanisten
  • V. Kulturkomparatistik als Weg zur Erkenntnis seiner selbst und des Anderen
  • Die deutsch-polnische Kulturkomparatistik. Kulturunterschiede zwischen Deutschen und Polen als Forschungsgegenstand und Lehrfach der Germanistik
  • Zur Bedeutung eines deutsch-polnischen Kulturvergleichs für das gegenseitige Verständnis der Deutschen und Polen unter besonderer Berücksichtigung ausgewählter Probleme der politischen Kultur während der Transformation in den 90er Jahren
  • Wesen und Ziele der Kulturkomparatistik als Forschungs- und Lehrgegenstand und seine Umsetzung ins Curriculum der Warschauer Germanistik
  • Über die Bedeutung der Biographiegespräche zwischen Polen und Deutschen
  • Literaturverzeichnis

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Vorwort

Die vorliegende Sammlung von Beiträgen spiegelt die wissenschaftlichen und didaktischen Interessen des Verfassers aus den vergangenen 20 Jahren seiner Arbeit am Institut für Germanistik der Universität Warschau wider. Seine thematischen Schwerpunkte sind aus der Gliederung des Inhalts ersichtlich und umfassen Betrachtungen über deutsche Geschichte, Selbst- und Fremdbilder der Deutschen, methodologische Aspekte der kulturwissenschaftlichen Länderforschung, die Didaktisierung der Deutschlandkunde als politische Landeskunde und zuletzt über Wesen, Ziele und Bedeutung der Kulturkomparatistik. Die besagten Beiträge in einem Band zusammenzutragen, hielt der Autor deshalb für sinnvoll, weil jeder für sich, obwohl vorher in einer Zeitschrift, einem Konferenzband oder einer Aufsatzsammlung veröffentlicht, eben nur als Beitrag zur jeweiligen Sammlung erschienen war, als Teil eines größeren Ganzen, meistens einer thematisch zusammengehörigen Veröffentlichung und – wie dies bei Sammelbänden verschiedener Autoren so üblich ist – meist nach einer flüchtigen Lektüre von den Lesern vergessen wird, vorausgesetzt, dass er überhaupt gelesen wurde. Der Verfasser ist sich natürlich dessen bewusst, dass auch eine eigens von ihm zusammengetragene, thematisch kohärente Sammlung von Texten in einer zusammenhängenden Buchveröffentlichung dasselbe Schicksal erleiden kann wie das der Beiträge von ihm und vielen anderen Autoren in Zeitschriften oder Reihen. Nichtsdestotrotz entschloss er sich, dieses Risiko auf sich zu nehmen, um zum einen seine langjährigen Forschungen aus zeitlicher Distanz zu betrachten und gedanklich zu subsumieren, und zum anderen seine Betrachtungen, Ideen und Meinungen mit den interessierten Lesern zu teilen und zu diskutieren.

Die abermalige Lektüre von Artikeln und Beiträgen älteren Datums, aus den 1990er und 2000er Jahren, die in die vorliegende Sammlung aufgenommen worden sind, hat dem Verfasser vor Augen geführt, dass seine einstigen Überlegungen sich nicht desaktualisiert haben, insbesondere was seine Einschätzungen der historisch-politischen Vorgänge in den deutsch-polnischen Wechselbeziehungen und seine Darstellung der Sicht Polens und Deutschlands in beiden Völkern in der Gegenwart betrifft. Dass seine seinerzeitigen Beobachtungen und Stellungnahmen nichts oder kaum etwas an Gültigkeit verloren haben, ist ein Resultat seiner Bemühungen um eine objektive bzw. objektivierte Betrachtung der jeweiligen Gegebenheiten.

Die weiter oben umrissenen wissenschaftlich-didaktischen Interessen des Verfassers, die sich nicht eindeutig als zur Germanistik gehörend einordnen lassen, resultieren aus seinen staatsbürgerlichen und rein menschlichen Interessen. Jeder Mensch beschäftigt sich mit etwas, woran er interessiert ist, aus welchen Gründen auch immer, wobei sein Lebenslauf eine Schlüsselrolle spielt. Im Falle des Verfassers war es sein erster, einige Jahre dauernder Aufenthalt in Deutschland in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, zuerst in der DDR, gefolgt vom Besuch eines ←9 | 10→Lyzeums mit erweitertem Deutschunterricht und anschließend vom Studium der Germanistik in Warschau. Als Student mit guten Deutschkenntnissen wurde er bald an verschiedenen polnischen staatlichen und anderen öffentlichen Institutionen als Dolmetscher und Übersetzer eingesetzt, und diese seine Nebenbeschäftigung, der Kontakt mit deutschen und polnischen Politikern, Gewerkschaftern, Journalisten, Filmemachern entschied über seine weiteren Geschicke.

Die Jahre des Studiums und die berufliche Arbeit danach boten dem Autor mehrmals die Gelegenheit, das Nachbarland jenseits der Oder und Neiße zu besuchen. Aber erst seine längeren Auslandsaufenthalte, vor allem als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung 1987–1988 in Göttingen und Berlin (West) sowie einige Male in den 90er Jahren, machten es möglich, die in seiner Jugendzeit gesammelten Beobachtungen des Lebens in Deutschland um reifere Überlegungen zu ergänzen.

Die deutsche Philologie erwies sich als das Fundament, auf dem seine nichtphilologischen Interessen gedeihen konnten, allen voran die politikwissenschaftlichen, unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Geschichte, speziell der politischen Ideengeschichte. Einen Wendepunkt in seinen wissenschaftlichen Interessen bildete seine Beschäftigung mit dem Ordoliberalismus in der Bundesrepublik, über den er in den 80er Jahren eine Doktorarbeit schrieb. Nach wie vor blieb er Mitarbeiter des Instituts für Germanistik der Universität Warschau. In den 90er Jahren erweiterte der Verfasser sein Interessenspektrum um Forschungs- und Lehrfelder, die über die deutsche Philologie hinausgingen, und zwar um Fragen der Imagologie und Stereotypenforschung, die Wissenschaftstheorie, speziell die Methodologie der Geistes- und Sozialwissenschaften, ferner die Deutschlandkunde in Polen und in der Welt sowie um den Kulturvergleich zwischen Deutschen und Polen als ein Forschungs- und Lehrfeld von hohem praktischem Wert.

In dem vorliegenden Band spiegelt sich neben den Forschungs- und Lehrinteressen des Autors auch seine wissenschaftliche Entwicklung wider. Ein Rückblick auf seine letzten 20 Jahre Forschungs- und Lehrtätigkeit verdeutlicht die Kontinuität seiner Arbeit. Er lässt sich dabei ständig von Nützlichkeitsaspekten, von der Notwendigkeit der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis des Neben- und Miteinanders von Deutschen und Polen leiten. Seine Erkenntnisse richtet er in erster Linie an deutsche und deutschsprachige Leser, handelt es sich doch im Falle der vorliegenden Sammlung um eine Publikation in Deutsch. Besonders angesprochen seien Germanisten, Historiker, Soziologen, Politikwissenschaftler. Seine Idee, Wissenschaft nicht um der Wissenschaft willen, sondern mit Bezug auf konkrete Bedürfnisse von an ihr Interessierten zu betreiben, war vom Anbeginn seiner wissenschaftlichen und didaktischen Tätigkeit sein vordergründiges Anliegen. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis der Deutschlandforschung und -lehre sicherzustellen, war seit jeher sein Anspruch. Seine Mitarbeiter und Studierenden werden dies sicherlich bestätigen. Es bleibt zu hoffen, dass die genannten Anliegen und Bemühungen des Verfassers auch bei anderen Lesern des Buches auf Zustimmung stoßen und dass seine Erkenntnisse zum Nachdenken über Wege, Umwege und mitunter auch Irrwege der Deutschlandkunde anregen werden.

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Berlin 1961–1989–2010. Rückblick eines polnischen Wissenschaftlers auf eine einst geteilte Stadt1

Sehr verehrte Damen und Herren, es ist mir eine große Ehre, hier im Harnack-Haus-Kreis der Wissenschaftlichen Gesellschaft Berlin vor Ihnen sprechen zu dürfen. Der Ort meines Vortrags, die Silberlaube, ist mir seit Oktober 1987 bekannt, da ich damals zum ersten Mal als Erwachsener nach West-Berlin kam, um ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung für mein damaliges wissenschaftliches Vorhaben zu nutzen und eine Habilitationsarbeit über die Methodologie der Interpretation des Politischen bei Friedrich Nietzsche zu schreiben. Ich wohnte hier 15 Monate lang ganz in der Nähe, im Gästehaus der FU in der Thielallee 19, und war auch häufiger Gast in der Mensa. Heute möchte ich mit Ihnen meine Überlegungen teilen, die ich aus einer Perspektive von sage und schreibe knapp 50 Jahren gesammelt habe.

Ich spreche als polnischer Wissenschaftler, der sich seit 35 Jahren mit deutscher Thematik beschäftigt. Wissenschaftler neigen dazu und verfolgen mit ihrer Arbeit den Zweck, ihren Forschungsgegenstand klar zu definieren, ihn von anderen Gegenständen abzugrenzen, die Sachverhalte objektiv darzustellen (zu beschreiben, zu analysieren, zu synthetisieren usw.), ihre Forschungsergebnisse zu systematisieren und in geordneter Form vorzustellen. Im Falle eines Gegenstandes, der eine rein sachliche Darstellung nicht ohne Weiteres zulässt, weil persönliche Erfahrungen mit einbezogen werden müssen, muss von diesen Eigenschaften des wissenschaftlichen Arbeitens Abstand genommen werden. Es erhebt sich die Frage, ob man auf dem Boden der wissenschaftlichen Exaktheit bleiben darf, wenn man sein eigener Forschungsgegenstand ist. Gestatten Sie also bitte, dass ich mich nicht sklavisch an den Titel meines Vortrags halten werde und Ihnen auch meine subjektiven Betrachtungen zuteil kommen lasse.

1 Eine glückliche Kindheit in den 60er Jahren

Ehe ich Wissenschaftler geworden bin, war die Stadt Berlin für mich schon meine zweite Heimat, denn meine persönliche Geschichte in dieser Stadt beginnt genau am 1. Juni 1961. Damals kam ich als 9-jähriger Junge mit meinen Eltern nach Ost-Berlin oder nach offiziellem ostdeutschen Sprachgebrauch – in die Hauptstadt der ←13 | 14→DDR, wo mein Vater bis Ende Oktober 1965 an der Handelsabteilung der polnischen Botschaft gearbeitet hatte. Unsere Familie war nie zuvor im Ausland, ich sprach kein Deutsch und wurde von meinen Eltern gleich im Juli in ein Kinderferienlager nach Berlin-Buch geschickt, wo die Kinder tagsüber von den Lehrern und Erziehern meiner künftigen Schule betreut wurden. Ich kam dann in die vierte Klasse der 10. Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule in Berlin-Pankow, wo unsere Familie in der Talstraße, unweit der Wisbyer Straße gewohnt hat. Der Sommer war schön, jeden Tag wurde ich um 8.30 Uhr von zu Hause von einer Betreuerin abgeholt, und wir gingen dann zu Fuß zum Bahnhof und fuhren mit der S-Bahn nach Buch. Ich habe meine Deutschkenntnisse auf natürliche Weise erworben – durch Gespräche, zuerst in der Zeichensprache, allmählich aber auch schon in gesprochenem Deutsch. Ich kann mich sehr gut an meine deutschen Spielgefährten erinnern, alle waren neugierig auf „den polnischen Freund“, der bald zu ihrem Klassenkameraden werden sollte. Die drei Wochen Tagesferienlager, in dem wir nicht nur verschiedene Spiele im Freien und bei schlechtem Wetter auch in Räumlichkeiten spielten, sondern auch zu Essen bekamen, waren meine erste und intensivste Begegnung mit der deutschen Sprache. Zwar war mein damaliges Deutsch alles andere als korrekt, aber es sollte kommunikativ sein, denn schließlich geht es bei sprachlichen Kontakten um Verständigung, und die wurde zusehends besser. Das Kinderferienlager ging nach drei Wochen zu Ende, und ich schloss in dieser Zeit neue Freundschaften, die dann weiter gepflegt wurden. Schließlich gingen die kennengelernten Kinder in dieselbe Schule, in die auch ich kommen sollte. Man sah einander nicht mehr so fremd und kam dem anderen nicht mehr so exotisch vor wie bei anfänglichen Begegnungen. Das Spielen mit deutschen Kindern auf dem Hof war eine Fortsetzung dieser „natürlichen Sprachschule“.

Übers Wochenende waren wir mit den Eltern häufig in Berlin und Umgebung unterwegs. Eines Tages, es muss Mitte Juli 1961 gewesen sein, fuhren wir mit der S-Bahn nach Potsdam. Es wunderte mich, dass in die S-Bahnzüge plötzlich uniformierte Polizisten einstiegen und eine Ausweiskontrolle durchführten. Der Zug fuhr aber damals noch durch West-Berlin durch, und so brauchten wir für die Fahrt von der Prenzlauer Allee nach Potsdam eine Dreiviertelstunde.

Mein erster Besuch in West-Berlin in etwa der gleichen Zeit war eine Überraschung. Plötzlich bemerkten wir Kinder – ich habe noch einen Bruder –, dass auf den Straßen überall westliche Autos mit uns damals unbekannten Kennzeichen fuhren. Der Verkehr war reger, die Geschäfte kamen uns irgendwie seltsam vor – die Schaufenster voller Waren, die wir nie zuvor gesehen haben. Es muss irgendwo in der Nähe der Bornholmer Straße gewesen sein, die ja eine Verlängerung der Wisbyer Straße ist, wohin uns meine Eltern führten. Jedenfalls muss mein Vater auch ein ungutes Gefühl gehabt haben, die Neugier war aber wohl größer, im Westteil der Stadt spazieren zu gehen, hatte er doch keinen Diplomatenpass und musste jede Fahrt dorthin melden.

Eines Nachts wurde ich im Schlaf von einem nie zuvor gehörten Straßenlärm geweckt. Kinder schlafen bekanntermaßen sehr tief, dennoch war der besagte Lärm so groß, dass wir kurz aufwachten. Am anderen Morgen war nichts mehr ←14 | 15→von den merkwürdigen Geräuschen zu hören. Wir gingen wie üblich spazieren, und als wir in der Wisbyer Straße angekommen waren, sahen wir seltsame, früher nicht da gewesene Spuren im Pflaster. Das Geheimnis des nächtlichen Straßenlärms und des beschädigten Pflasters sollte bald geklärt sein. Es waren Panzer und andere Militärfahrzeuge, die in jener Nacht vom 12. zum 13. August auch über die Wisbyer Straße in unserer Nähe vorbeiratterten, um die Staatsgrenze zu West-Berlin abzuriegeln. Das war uns polnischen Kindern nicht besonders aufgefallen, und ich kann mich auch nicht daran erinnern, mit den deutschen Kindern auf dem Hof darüber gesprochen zu haben. Erst in der Schule, die am 1. September begann, wurden mir die Folgen und das Ausmaß der Teilung der Stadt bewusst.

Die 10. Oberschule im Eschengraben 40 war nur wenige Minuten von unserem Wohnhaus in der Talstraße entfernt. Zuerst wurde ich von einer Betreuerin abgeholt, später übernahm diese Aufgabe ein Klassenkamerad. Ich wurde bald zu einer Attraktion, denn niemand in dieser Schule, außer mir und meinem Bruder, kam aus einem anderen Land. In der ersten Woche schrieben wir ein Diktat. Das Ergebnis war katastrophal – einige Dutzend Fehler. Doch Übung macht den Meister – durch ständigen Kontakt mit meinen Schulfreunden, die heute als meine ersten Deutschlehrer angesehen werden können, machte ich rasche Fortschritte und bekam im November für ein weiteres Diktat schon eine 2 – es waren nur 3 Fehler, die ich darin gemacht hatte. Überall, nur nicht zu Hause, hörte ich die deutsche Sprache, und so lernte ich sie schnell und konnte schon am Ende der 4. Klasse sehr gut sprechen und schreiben – ohne polnischen Akzent. Sprachwissenschaftler begründen diese kindlichen Fähigkeiten damit, dass Kinder zwischen 10 und 14 Jahren einen noch elastischen Sprechapparat haben und folglich in der Lage sind, die Aussprache auf Native-Speaker-Niveau zu erlernen. Davon habe ich auch profitiert. Im nächsten Jahr, 1962, ging es in den Ferien wieder in ein Ferienlager – diesmal in ein Schwimmlager, da der Schwimmunterricht, anders als in Polen damals, im Unterrichtsprogramm der DDR-Schulen stand. Ich lernte also schwimmen, und nebenbei vervollkommnete ich meine Deutschkenntnisse. Auch in den folgenden Jahren schickten mich meine Eltern in Kinderferienlager, oder genauer – in Pionierlager. Obwohl ich als Pole nicht Mitglied der Jungpioniere und später der Thälmannpioniere werden musste – die meisten meiner Schulkameraden trugen damals ein blaues Halstuch –, haben mich die Lehrer mit den deutschen Schülern auch auf der Ebene der staatlichen Kinderorganisation zu integrieren versucht – mit partiellem Erfolg, denn auch ich trug bald ein blaues Pionierhalstuch und ließ mich sogar damit fotografieren. Man bekam aber als Kind von der ideologischen Indoktrination wenig zu spüren – mit einer Ausnahme: als in der Klasse Unterschriften gesammelt wurden, in denen sich die Schüler verpflichteten, kein westliches Fernsehen zu sehen. Mir kam das ziemlich komisch vor – wieso haben sich die Kinder dazu verpflichten sollen, wenn diese Verpflichtung doch nicht überprüfbar war? Zumal viele Kameraden Verwandte im Westen hatten, und immer wieder hörte ich in der Klasse, der X oder die Y hat ein Paket „von drüben“ erhalten oder er oder sie ging in westlichen Jeans, die ihm oder ihr eine Tante „von drüben“ geschenkt hat usw. Zwei Kameradinnen schienen mir irgendwie verdächtigt zu sein: Sie waren ←15 | 16→verschwiegen, machten bei den täglichen Späßen, die aus heutiger Sicht als Ungezogenheiten eingestuft werden können, nicht mit, waren den anderen gegenüber zurückhaltend. Die eine kam aus Erfurt, und ihr Vater war irgendein Parteifunktionär, und die andere war eine Sorbin, mit der ich aber keine „slawische Basis“ für gegenseitige Annäherung finden konnte – vielleicht war ich aber bei meinen Versuchen ungeschickt oder sie war zu schüchtern. Ein Klassenkamerad hatte einen Vater, der Major bei der Nationalen Volksarmee war. Der Junge ging später, wenn ich mich recht erinnere, in eine Offiziersschule. Der Vater eines anderen Schulfreundes arbeitete als S-Bahnführer und fuhr jeden Tag nach West-Berlin zum Dienst – die S-Bahn war damals Eigentum der DDR. Der Schüler galt als besonders privilegiert, obwohl er recht bescheiden war und über den Arbeitsort seines Vaters niemals sprach. Es gab in der Klasse auch einen Zahnarztsohn, der später auch den Beruf seines Vaters ergreifen wollte. Der Junge war katholisch und machte aus seinem Glauben keinen Hehl. Er hat denn auch als einer der wenigen in der Schule an der Jugendweihe nicht teilgenommen – aus religiösen Gründen. Die meisten wechselten automatisch von den Jungpionieren zu den Thälmannpionieren, ich kann mich, außer an den Katholiken, an niemand erinnern, der nicht bei den Pionieren gewesen wäre. Ich selbst, obwohl ich nicht Mitglied der Organisation war, hatte das vertrauensvolle Amt des Kassierers der Pionierorganisation in meiner Klasse inne und durfte die Beiträge erheben und die Pionierausweise mit dem entsprechenden Stempel, dem Beleg für den entrichteten Beitrag, versehen. Sicherlich wollte man mich mit der Pioniergruppe integrieren. Überhaupt war die Integration eines ausländischen Kindes damals, bei der damaligen geringen Zahl von Ausländern in der DDR – im Gegensatz zur heutigen Lage der Immigranten im vereinigten Deutschland – in meinem Falle ein recht einfacher und erfolgreicher Prozess. Schließlich wollte ich einer von meinen Kameraden sein und bin auch als solcher akzeptiert worden. Ich war bald auch einer der beliebtesten Schüler in meiner Klasse.

Meine Klassenleiterin begann ihre Gesamteinschätzung im Zeugnis für das 1. Halbjahr 1961/62, nach meinem 9-monatigen Aufenthalt in der DDR, mit den Worten: „Tomek (Verkleinerungsform des Vornamens Tomasz – Anm. d. Verf.) hat sich gut in die Klassengemeinschaft eingefügt. Er besitzt ein leichtes Auffassungsvermögen, was ihm das Lernen erleichtert. … Tomek ist ein guter Pionier.“ Diese zuletzt genannte Beurteilung sollte sich nach einem weiteren Jahr allerdings ändern: „Die Beteiligung an den Pioniernachmittagen könnte aber reger sein.“

Was mir damals an den Deutschen in der DDR auffiel, war ihr Zusammengehörigkeitsgefühl, ihre Sozialisierung, auch ihre Organisiertheit. Das sah ich in der Schule und im Hort, in der Pionierorganisation und in Kinderferienlagern. Natürlich kann man im Nachhinein, nach Aufdeckung der dunklen Seiten der DDR-Geschichte und mit heutiger Lebenserfahrung diese Eigenschaften der Ostdeutschen kritisieren. Aber damals wurde die Mauer gerade erst gebaut, und die Ost-Berliner, auch meine Klassenkameraden, kannten noch West-Berlin als eine offene Stadt. Ich kann mich noch erinnern, wie die Situation in der Schule immer angespannter wurde: Die Schüler sollten kein Westfernsehen sehen, die Abschottung vom ←16 | 17→Westen sollte immer weiter gehen. Der Kontakt zum Westen, obwohl von offizieller Seite behindert, bestand in der Ost-Berliner Bevölkerung dennoch weiter. Fast jeder hatte Verwandte im Westen, und so lebten damals die Ost-Berliner mit den West-Berlinern, trotz der Mauer, zumindest mental zusammen, auf jeden Fall aber nebeneinander. Als einem Teenager, der in zwei Kulturen heranwuchs, fielen mir die Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen der Stadt immer mehr auf – zwar kannte ich den Westen nur von einem oder zwei kurzen Besuchen vor dem Mauerbau, aber ich sah jeden Tag Westfernsehen, die Krimis, Abenteuerfilme, auch die Werbung, die in uns Menschen aus dem Osten immer wieder Neidgefühle und eine Sehnsucht nach einem schöneren Leben auslöste. Das Bewusstsein der Zweiteilung der Stadt bekamen wir Ossis täglich zu spüren – ich benutze den heutigen Ausdruck, fühlte mich aber damals schon als Ost-Berliner. Besonders nervend war z.B. die Fahrt mit der S-Bahn von der Schönhauser Allee bis Berlin-Pankow, mitten durch den Grenzstreifen. Und nach Potsdam fuhr man nicht mehr von Ostkreuz über Westkreuz, sondern man musste auf einem Umweg reisen, eineinhalb Stunden, wenn ich mich recht erinnere. Auch die tägliche Propaganda, die Sendung „Der Schwarze Kanal“ von und mit Chefkommentator des DDR-Fernsehens Karl-Eduard von Schnitzler, musste in der Bevölkerung böses Blut machen – selbst wenn man das Ostfernsehen mied.

2 Als junger Erwachsener in den 70er und 80er Jahren

Meine Zeit in der DDR ging im November 1965 zu Ende. Ich verließ meine vertraute Umgebung – meine Schule, die ich in guter Erinnerung behalten habe – nicht zuletzt wegen der freundschaftlichen Atmosphäre, die dort herrschte. Es sei nur gesagt, dass die Distanz zwischen den Lehrern und Schülern, aber auch unter den Schülern selbst, in Polen viel größer ist als in Deutschland. Die Lehrer in polnischen Schulen sprechen die Schüler mit Nachnahmen an, an meiner Schule, die erweiterten Deutschunterricht anbot und in die auch viele Kinder von ehemaligen Botschaftsangehörigen gingen, waren die Beziehungen alles andere als freundschaftlich und schülerfreundlich. Die aus meiner DDR-Zeit bekannte freundschaftliche Atmosphäre vermisste ich nach meiner Rückkehr nach Polen sehr. Ich unterhielt noch einige Jahre Kontakte zu meinen deutschen Freunden und Freundinnen, ich kam jedes Jahr für wenigstens einige Tage nach Berlin und bekam auch Besuch aus der DDR. Wir haben dabei nie über die Teilung Deutschlands gesprochen, meine Kameraden schienen sich in der DDR wohlzufühlen. Ich habe nie gehört, dass jemand über den ostdeutschen Staat ein schlechtes Wort sagte. Als Kinder interessierten wir uns nicht für Politik, und so lebten wir in den sozialistischen Alltag hinein. Erst nach Jahren erfuhr ich, dass ein Kamerad ins Gefängnis kam, allerdings nicht wegen eines politischen, sondern wegen eines kriminellen Deliktes. Die meisten haben ein unauffälliges Leben geführt, haben gearbeitet, Familien gegründet, und nach der Wende leben sie wie die meisten Durchschnittsmenschen im Osten Deutschlands. Ein Andenken an meine Berliner Zeit ist ein Paar kleine Bronzebären, die sich an den Händen halten. Ich habe sie ←17 | 18→von meiner einstigen Klavierlehrerin, Frau Gerda Zühlsdorf, bekommen. Sie wurden von einem Bekannten der Klavierlehrerin gegossen und sollten die Einheit der Stadt vor ihrer Teilung symbolisieren. Das kleine Bärenpaar steht bis heute in meiner Vitrine im Wohnzimmer.

Details

Seiten
324
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631765340
ISBN (ePUB)
9783631765357
ISBN (MOBI)
9783631765364
ISBN (Hardcover)
9783631763551
DOI
10.3726/b14556
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Deutsche Geschichte Selbstbild Fremdbild Kulturwissenschaften Kulturvergleich Polen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 324 S.

Biographische Angaben

Tomasz G. Pszczółkowski (Autor:in)

Tomasz G. Pszczółkowski ist Germanist und Politikwissenschaftler. Seit 1997 ist er Professor am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre sind politische Ideengeschichte, Deutschlandkunde und deutsch-polnischer Kulturvergleich.

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Titel: Deutschland und die Deutschen in Forschung und Lehre
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