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Geschlechtsbezogenes Mindestanteilsgebot im paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft

von Charlotte Evers (Autor:in)
©2019 Dissertation 334 Seiten
Reihe: Zivilrechtliche Schriften, Band 72

Zusammenfassung

Die Untersuchung setzt sich mit dem zwingenden Mindestanteilsgebot des § 96 Abs. 2 AktG n. F. („Frauenquote") auseinander. Ausgehend von der Entwicklung zur Gleichstellungsförderung in der Privatwirtschaft analysiert die Autorin zunächst die verfassungs- und unionsrechtliche Vereinbarkeit. Schwerpunkt der Untersuchung ist sodann die umfassende Auslegung der aktien- und mitbestimmungsrechtlichen Normen im Hinblick auf die mit deren konkreter Ausgestaltung verbundenen Problemfelder. Insbesondere untersucht die Autorin die Berechnung der Quote in den beiden Erfüllungsmodi sowie den Widerspruch gegen die Gesamterfüllung und die Rechtsfolge bei Verfehlung des Mindestanteilsgebots. Weiterhin befasst sich die Untersuchung überblicksartig mit der Quote für die Europäische Aktiengesellschaft. Sie schließt ab mit Änderungsvorschlägen sowie einem Ausblick zu einer Quote für Vorstände.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Vorwort
  • Herausgeberangaben
  • Ãœber das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • § 1 Einleitung
  • 1. Kapitel: Gleichstellungsförderung im nationalen und europäischen Kontext vor Einführung des zwingenden Mindestanteilsgebots
  • § 2 Entwicklung der Gleichstellungsförderung auf nationaler Ebene
  • A. Förderungsansätze im Koalitionsvertrag zur 14. Legislaturperiode
  • B. Freiwillige Selbstverpflichtungen
  • C. Verschärfung der Diversity-Empfehlungen durch Ziff. 5.4.1. Abs. 2 Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK)36
  • D. Gesetzesentwürfe und Beschlussanträge bis zur 18. Legislaturperiode
  • E. Gesetzgebungsverfahren zum Gesetz für gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen […] in der Privatwirtschaft75
  • F. Zusammenfassung
  • § 3 Legislatorische Vorstöße europäischer Staaten und Richtlinienentwurf der Union
  • A. Nationale Quotenregelungen für privatwirtschaftliche Aufsichts- und Verwaltungsgremien in ausgewählten europäischen Staaten89
  • B. Richtlinienentwurf für eine europäische Gleichstellungsquote (COM (2012) 614 final)
  • C. Zusammenfassung
  • § 4 Gesellschafts- und mitbestimmungsrechtliche Förderungsmöglichkeiten für Frauen in Aufsichtsräten vor Einführung des zwingenden Mindestanteilsgebots143
  • A. Quotengestützte Gleichstellungsförderung auf Anteilseignerseite
  • B. Gleichstellungsförderung auf Arbeitnehmerseite
  • C. Geschlechterquoten zur Umsetzung von Ziff. 5.4.1. Abs. 2 DGCK
  • D. Zusammenfassung
  • 2. Kapitel: Vereinbarkeit des zwingenden Mindestanteilsgebots für die Aktiengesellschaft mit dem Verfassungs- und Unionsrecht
  • § 5 Verfassungsmäßigkeit des zwingenden Mindestanteilsgebots
  • A. Formelle Verfassungsmäßigkeit des Mindestanteilsgebots
  • B. Vereinbarkeit des zwingenden Mindestanteilsgebots mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG
  • C. Vereinbarkeit des zwingenden Mindestanteilsgebots mit dem Recht der Unternehmen (Art. 12 Abs. 1 GG)
  • D. Vereinbarkeit des zwingenden Mindestanteilsgebots mit dem Eigentumsrecht der Aktionäre (Art. 14 Abs. 1 GG)
  • E. Vereinbarkeit des sachlichen Anwendungsbereichs des zwingenden Mindestanteilsgebots mit dem Gleichheitsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG)
  • F. Vereinbarkeit der binären Geschlechterzuordnung mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 und 3 GG)
  • G. Ergebnis
  • § 6 Unionsrechtskonformität des Mindestanteilsgebots
  • A. Primärrechtliche Vorgaben
  • B. Sekundärrecht – Art. 14 Abs. 1 lit. a RL 2006/54/EG515
  • C. Rechtfertigung im Wege einer positiven Maßnahme im Sinne von Art. 157 Abs. 4 AEUV
  • D. Ergebnis
  • 3. Kapitel: Normexegese zum zwingenden Mindestanteilsgebot in der Aktiengesellschaft
  • § 7 Anwendungsbereich und Voraussetzungen
  • A. Geschlecht als Anknüpfungspunkt
  • B. Sachlicher Anwendungsbereich
  • C. Räumlicher Anwendungsbereich
  • D. Zusammenfassung
  • § 8 Gesetzliche Vorgaben zur Erfüllung des Mindestanteilsgebots
  • A. Gesamt- und Getrennterfüllung
  • B. Berechnung des jeweils zur Erfüllung notwendigen Mindestanteils (§ 96 Abs. 2 Satz 4 AktG)
  • C. Möglichkeit des Widerspruchs gegen die Gesamterfüllung (§ 96 Abs. 2 Satz 3 AktG)
  • § 9 Die Wahlnichtigkeit als Rechtsfolge bei Nichterreichen der Quote
  • A. Rechtsnatur und Systemkonformität
  • B. Einzelne Ausprägungen und Folgen der Nichtigkeitssanktion
  • C. Zusammenfassung
  • 4. Kapitel: Die Geltung des Mindestanteilsgebots für die Societas Europaea (SE)
  • § 10 Offene Fragen zum Mindestanteilsgebot in der SE (§ 17 Abs. 2 SEAG, § 24 Abs. 3 SEAG)
  • A. Regelungskompetenz des deutschen Gesetzgebers
  • B. Problemstellungen zum Anwendungsbereich
  • C. Inhaltliche Ausgestaltung
  • D. Zusammenfassung
  • 5. Kapitel: Ausblick und Ergebnisse
  • § 11 Änderungsvorschläge
  • A. Anwendungsbereich
  • B. Rundungsregelung
  • C. Erfüllungsmodus
  • § 12 Ausblick: Zwingendes Mindestanteilsgebot für den Vorstand börsennotierter oder paritätisch mitbestimmter Unternehmen
  • § 13 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang

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§ 1 Einleitung

Gut gedacht, ist nicht gleich gut gemacht. Diese Wendung beschreibt das Gesetzgebungsverfahren und die am 7.4.2015 in Kraft getretene Fassung des Gesetzes zur gleichberechtigten Teilhabe von Männern und Frauen […] in der Privatwirtschaft sehr treffend. Mit der Einführung des zwingenden Mindestanteilsgebots für Aufsichtsräte paritätisch mitbestimmter und börsennotierter Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien sowie inländischer europäischer Aktiengesellschaften hat der Gesetzgeber sich in bisher nur ansatzweise erforschtes rechtliches Terrain gewagt. Die quotengestützte Gleichstellungsförderung ist zum Ende des letzten Jahrtausends, spätestens durch die Einfügung von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 in das Grundgesetz, zwar kein rein gesellschaftspolitisches Schwerpunktthema mehr. Seine juristische Aufarbeitung ist jedoch – stets beeinflusst von den gesellschaftlichen Entwicklungen – eine bis heute nicht abgeschlossene Aufgabe.

Nach 15-jähriger Diskussion gilt seit dem 1.1.2016 für rund 100 Unternehmen in Deutschland das zwingende geschlechtsbezogene Mindestanteilsgebot des § 96 Abs. 2 Satz 1 AktG, das auch als Gleichstellungs- oder Frauenquote bezeichnet wird. „Ein historischer Schritt für die Gleichberechtigung der Frauen“1, „der größte Beitrag zur Gleichberechtigung seit Einführung des Frauenwahlrechts“2, wurde deshalb am 6.3.2015 in der 932. Plenarsitzung des Deutschen Bundestags jubiliert. Grund für die Einführung war unter anderem das Ausbleiben nennenswerter Erfolge zweier Selbstverpflichtungen der Privatwirtschaft, die zu einer Intensivierung der Frauenförderung in Führungspositionen dienen sollten.3 Daneben hatte der politische Druck erheblich zugenommen durch die Vorstöße einiger europäischer Länder sowie einen europäischen Richtlinienentwurf4 im Jahr 2012. Gesellschaftlich und politisch ist die Einführung von Geschlechterquoten ein seit jeher höchst umstrittenes und polarisierendes Thema. Eine Grauzone gibt es selten. Die Meinungen und Argumente von Befürwortern und ←21 | 22→Gegnern treffen unvereinbar aufeinander und beide Seiten beharren auf ihren Standpunkten.5

Gleichstellungsförderung durch Geschlechterquoten ist bisher jedoch vorwiegend aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes bekannt. Dort vorhandene Regelungen zur bevorzugten Einstellung von Mitgliedern eines Geschlechts sind in ihren verschiedenen Ausprägungen bereits Gegenstand zahlreicher Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gewesen.6 Das Mindestanteilsgebot für Aufsichtsräte unterscheidet sich davon jedoch in zweierlei Hinsicht: Zum einen handelt es sich bei der Aufsichtsratsbesetzung nicht um eine klassische Einstellungssituation zwischen Bewerbern, sondern um eine Wahl von Vorgeschlagenen, zum anderen agiert der Gesetzgeber mit dem gesetzlichen Mindestanteilsgebot im Bereich der regulierungskritischen Privatwirtschaft.

Eine Form der zwingenden7 Quotenregelung hatte der Gesetzgeber allerdings bereits 2001 im Bereich der Privatwirtschaft eingeführt. Für die Betriebsratswahlen gilt seitdem, dass das Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist, mindestens entsprechend seinem zahlenmäßigen Verhältnis im Betriebsrat vertreten sein muss, wenn dieser aus mindestens drei Mitgliedern besteht (§ 15 Abs. 2 BetrVG). Ziel der Norm ist der Schutz des Minderheitsgeschlechts bzw. dessen angemessene Repräsentation im Betriebsrat.8 Die zuvor als Sollvorschrift ausgestaltete Regelung verfehlte ihr Ziel, weshalb sie 2001 geändert wurde.9 Diese Vorschrift betrifft zwar sowohl Ämter, die durch eine Wahl erreicht werden, als auch private Unternehmen, sie ist mit dem 2015 verabschiedeten zwingenden Mindestanteilsgebot dennoch nicht vergleichbar. Anders als § 96 Abs. 2 Satz 1 AktG sieht die Vorschrift des § 15 Abs. 2 BetrVG keine sogenannte starre Ergebnisquote vor, sondern eine flexible Mindestquote.10

Darüber hinaus steht keine der vom Gesetzgeber in das Aktiengesetz und die Mitbestimmungsgesetzte eingefügten Normen unter dem Vorbehalt gleicher Qualifikation. In Verbindung mit dem Fehlen einer Ausnahmeregelung ist dies der Anknüpfungspunkt für die scharfe Kritik. Der Gesetzgeber stützte sein Vorhaben auf den in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG verankerten Förderungsauftrag. ←22 | 23→Seit dessen Einführung ist jedoch umstritten, ob und in welcher Form Gleichstellungsquoten zur Verwirklichung dieses Auftrags zulässig sind.11 Eindeutig wird konstatiert, dass jedenfalls starre Ergebnisquoten nicht mehr von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG erfasst seien.12 Verfassungsrechtlich ist deshalb zweifelhaft, ob das zwingende Mindestanteilsgebot in seiner endgültigen Fassung mit den Grundrechten der betreffenden Unternehmen und der Aktionäre vereinbar ist und ob der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot verfassungswidrig ist. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, ob das Mindestanteilsgebot tatsächlich vollständig auf einen Qualifikationsvorbehalt verzichtet. Die Qualifikationsanforderungen für Aufsichtsratsmitglieder müssen an dieser Stelle außerdem vor dem Hintergrund eingehender untersucht werden, dass die kritischen Stimmen das Fehlen von geeigneten Frauen als wesentliches Argument gegen das Mindestanteilsgebot in § 96 Abs, 2 AktG anführen, da die Rechte der betroffenen Grundrechtsträger dadurch erheblich beeinträchtigt würden.13 In unionsrechtlicher Hinsicht bedarf es einer Analyse der vorhandenen Rechtsprechung des EuGH zu den verschiedenen Quotenregelungen. Die Frage der Zulässigkeit des zwingenden Mindestanteilsgebots als positive Maßnahme im Sinne von Art. 157 Abs. 4 AEUV (ex Art. 141 Abs. 4 EGV) steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Übertragbarkeit der Grundsätze auf die Aufsichtsratswahl.

Die verfassungs- und unionsrechtliche Zulässigkeit des Mindestanteilsgebots als zwingende Quote ist nur eine der Problematiken, die sich aus der endgültigen Fassung des Gesetzes ergeben. Der Anwendungsbereich des Gesetzes ist auf börsennotierte und paritätisch mitbestimmte Unternehmen sowie Männer und Frauen beschränkt (§ 96 Abs. 2 Satz 1 AktG). Demzufolge lässt das Gesetz außer Acht, dass über die gut 100 erfassten Unternehmen hinaus, weitere große und bekannte Unternehmen existieren, die die Regelung allein deswegen nicht erfasst, weil sie zum Beispiel bedingt durch ihre Rechtsform nicht börsennotiert sind. Das in dem Zusammenhang vorgebrachte Argument der erhöhten Sozialbindung ist erkennbar dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer entlehnt. Dass andere große, paritätisch mitbestimmte Unternehmen dieser nicht unterliegen, ist jedoch zweifelhaft. Die Anknüpfung ←23 | 24→an die binäre Geschlechterzuordnung ist angesichts der neueren biologischen und medizinischen Erkenntnisse und Entwicklungen ebenfalls bedenklich.

Darüber hinaus ist die Umsetzung des ersichtlich gesellschafts- und sozialpolitischen Anliegens im Gesellschaftsrecht auch jenseits der Grundsatzfrage, ob das Aktienrecht dafür herangezogen werden darf, mit erheblichen Rechtsunsicherheiten und offenen Fragestellungen verbunden. Bereits die Anordnung, dass das Mindestanteilsgebot vom Aufsichtsrat insgesamt zu erfüllen ist (§ 96 Abs. 2 Satz 2 AktG), kann für die Praxis erhebliche Schwierigkeiten bedeuten, deren methodische Lösung anspruchsvoll ist. Bedingt durch die Tatsache, dass der Aufsichtsrat der betroffenen Unternehmen zu gleichen Teilen aus Mitgliedern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Anteilseigner bzw. Anteilseignerinnen zusammensetzt ist, die in zeitlich und technisch völlig unterschiedlichen Wahlverfahren bestellt werden, ist eine konsequente Gesamtbetrachtung des Aufsichtsrats schon im Hinblick auf die Erfüllung der Quote kaum möglich. Sofern eine Seite ihre Aufsichtsratsmitglieder vor der anderen gewählt hat, wie es regelmäßig der Fall ist, kann die Erfüllung gegebenenfalls vollständig der später wählenden Seite obliegen. Es lässt sich zwar ermitteln, ob der Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit korrekt besetzt ist: welche Folge jedoch eintritt, wenn dies nicht der Fall ist, ist unklar. Aus den gesetzlichen Wertungen der § 96 Abs. 2 Satz 6, § 250 Abs. 1 Nr. 5 AktG, § 18a MitbestG und § 10f MitbestErgG sowie der Gesetzesbegründung wird deutlich, dass gegen die Quote verstoßende Wahlen nichtig sein sollen. Eine Rechtsfolge, die dem Konzept einer konsequenten Gesamtbetrachtung entspricht, ist jedoch keiner dieser Regelungen zu entnehmen, da sie sich jeweils nur auf eine Seite beziehen. Sofern sich herausstellt, dass die Nichtigkeit bei der Gesamterfüllung stets nur die später wählende Seite trifft, ist auch dies nicht mit einer Gesamtbetrachtung bei Erfüllung und Verfehlung vereinbar, da schlussendlich wieder nach Seiten differenziert wird.

Nach der Konzeption des ursprünglichen Referentenentwurfs traten diese Probleme nicht auf, da der Aufsichtsrat von vornherein getrennt betrachtet werden sollte. Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreterinnen bzw. -vertreter sollten den erforderlichen Mindestanteil in Höhe von 30 Prozent jeweils für sich erfüllen.14 Daraus ergibt sich auch, warum die Rechtsfolgen für diesen Fall umfassend geregelt sind. Kurz vor dem Regierungsentwurf erfolgte jedoch eine bedeutende konzeptionelle Veränderung, die aus einer Sitzung des Koalitionsausschusses hervorging.15 Der Gesetzgeber fügte die Gesamterfüllung und ein ←24 | 25→entsprechendes Widerspruchsrecht in § 96 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AktG n.F. ein. Sowohl die Anteilseignerseite als auch die Arbeitnehmerseite kann demnach vor der Wahl darüber beschließen, ob das Mindestanteilsgebot durch den gesamten Aufsichtsrat erfüllt werden muss oder ob jede Seite für sich zu 30 Prozent aus Männern und Frauen zu bestehen hat. Die Eröffnung dieser Möglichkeit erscheint auf den ersten Blick ein geeigneter Kompromiss, um den unter der Gesamterfüllung drohenden Schwierigkeiten zu begegnen. Allerdings hat die Widerspruchsmöglichkeit die Problematik der ohnehin nicht möglichen Abstimmung der Wahlverfahren weiter verschärft. Es ist völlig unklar, was vor der Wahl im Sinne von § 96 Abs. 2 Satz 3 AktG bedeutet und bis wann der Widerspruch erklärt werden kann bzw. muss. Da der Widerspruchszeitpunkt und seine Rechtswirkungen jedoch erheblichen Einfluss auf die Wahlmöglichkeiten der jeweiligen Wahlberechtigten und auf die Wirksamkeit der Wahlen haben, ist die Klärung dieser Frage von enormer Bedeutung. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber mit der Maßgabe, dass die Seiten über den Widerspruch mehrheitlich beschließen müssen, Unsicherheiten hinsichtlich einer daraus resultierenden autonomen Rechtsstellung der Aufsichtsratsseiten hervorgerufen. Diese müssen ebenfalls aufgearbeitet werden.

Zur Berechnung der Anzahl an Sitzen, die zu je 30 Prozent mit Mitgliedern beider Geschlechter besetzt werden müssen, sieht das Gesetz eine Rundungsregel vor (§ 96 Abs. 2 Satz 4 AktG). Der Gesetzgeber ist in diesem Punkt von seinem ursprünglichen Vorhaben abgewichen, wonach stets aufgerundet werden sollte.16 Die Formulierung, dass die Berechnung nach mathematischen Rundungsregeln zu erfolgen habe, steht im Widerspruch zur Gesetzesbegründung. Somit ist selbst dieser eigentlich klare Aspekt irreführend und klärungsbedürftig, da beide Methoden zu abweichenden Ergebnissen führen. Darüber hinaus ist die Einbeziehung einiger gesonderter Personengruppen in die Berechnung der Quote auslegungsbedürftig: Für die entsandten Mitglieder der Anteilseignerseite existieren nur rudimentäre Regelungen. Darüber hinaus lässt das Mitbestimmungsgesetz offen, ob die leitenden Angestellten im Fall des Nichterreichens der Quote unter Geltung der Gesamterfüllung zu den gewählten Mitgliedern hinzugezählt werden dürfen. Ein vergleichbares Problem stellt sich im Hinblick auf das sogenannte neutrale Mitglied im Sinne von § 4 Abs. 1 lit. c MontanMitbestG. Die vom Gesetz unberücksichtigten Intersexuellen müssen ebenfalls Beachtung finden.

←25 | 26→

Wie oben bereits kurz angerissen, ist die Ausgestaltung der Rechtsfolgen bei Nichterreichen des Mindestanteilsgebots ebenso problemintensiv und auslegungsbedürftig wie die anderen Vorgaben. Dass eine Verfehlung der Quote weder bei Getrennt-, noch bei Gesamterfüllung folgenlos bleiben kann, erschließt sich aus den Wertungen des Gesetzes und der Gesetzesbegründung. Im Hinblick auf die Gesamtbetrachtung ist jedoch zweifelhaft, ob de lege lata überhaupt eine Rechtsfolge existiert. Wenn die Quote von beiden Seiten getrennt erfüllt wird, existieren Vorschriften, die eine Verfehlung des Mindestanteilsgebots sanktionieren (§ 96 Abs. 2 Satz 6 AktG, § 18a MitbestG und § 10f MitbestErgG). Diese sehen zudem Mechanismen zur Auswahl der von der Rechtsfolge Betroffenen vor. Im Geltungsbereich des MitbestG und des MitbestErgG werden die nicht gewählten Personen anhand der Wahlergebnisse ermittelt. Dies führt jedoch ebenfalls zu Schwierigkeiten bei der Berücksichtigung bestimmter Personengruppen. Einen Sonderfall stellt die Mitbestimmung nach dem MontanMitbestG dar, weil die Wahl der Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter aufgrund eines bindenden Vorschlags durch die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft erfolgt (§ 6 MontanMitbestG). Dieser ordnet in Absatz 6 an, dass ein Vorschlag an das Wahlorgan nur erfolgen kann, wenn er dem Mindestanteilsgebot entspricht. Offen ist, welche Folgen eintreten, wenn der Hauptversammlung ein den Vorgaben nicht genügender Vorschlag vorgelegt wird. Für die Anteilseignerseite bestimmt § 96 Abs. 2 Satz 6 AktG, dass Wahlen der Hauptversammlung und Entsendungen in den Aufsichtsrat nichtig sind, wenn sie unter Verstoß gegen das Mindestanteilsgebot erfolgen. Wie die von der Hauptversammlung gewählten Betroffenen zu ermitteln sind, ist indes nicht festgelegt. Dies muss sich für Wahlen nach dem jeweiligen Abstimmungsverfahren in der Hauptversammlung richten. Im Fall der von der Praxis zunehmend favorisierten Einzelwahl trägt der Versammlungsleiter dabei eine erhebliche Verantwortung, die ebenfalls untersucht wird. Darüber hinaus ist zu klären, welche Folgen die Beschlüsse eines angesichts der Nichtigkeitssanktion fehlerhaft besetzten Aufsichtsrats auslösen.

Die alternativlose Rechtsfolge der Wahlnichtigkeit ist außerdem ein wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Kritik am zwingenden Mindestanteilsgebot. Es muss untersucht werden, ob und inwieweit die Nichtigkeitsfolge eingreift, wenn für die zu besetzende Position oder, absolut gesehen, ausschließlich ungeeignete Personen des passenden Geschlechts zur Verfügung stehen. An dieser Stelle muss deshalb die im zweiten Kapitel erörterte Frage der Verfassungsmäßigkeit wieder aufgegriffen werden, deren Schwierigkeit in dem Fehlen einer Härtefallregelung für solche Situationen liegt. Bevor das Gesetz als verfassungswidrig anzusehen ist, muss es vorrangig verfassungskonform ausgelegt werden. ←26 | 27→Verfassungsrechtlich könnte eine Reduktion der Rechtsfolge dahin gehend geboten sein, dass ein Abweichen von der Quote unter engen Voraussetzungen möglich ist. Für die Auslegung existieren zwei Anknüpfungspunkte. Eine verfassungskonforme Auslegung könnte bereits für die Wahl notwendig oder erst bei einer gerichtlichen Ersatzbestellung verfassungsrechtlich geboten sein. Letzteres würde das Umgehungsrisiko minimieren und die Effektivität des Mindestanteilsgebots weniger gefährden.

Der Gesetzgeber hat den Anwendungsbereich des Mindestanteilsgebots nicht auf die klassischen Rechtsformen der AG und KGaA beschränkt, sondern für die Societas Europaea mittels eigener Regelungen im SEAG gleichfalls eine zwingende Quote eingeführt (§ 17 Abs. 2, § 24 Abs. 3 SEAG). Zur Vermeidung einer Flucht vor der Quote in die europäische Aktiengesellschaft ist dies nachvollziehbar. Allerdings ergeben sich aus den Besonderheiten der Rechtsform und der lückenhaften Gesetzgebung einige Schwierigkeiten: Bedingt durch die Möglichkeit, die SE auch mit einer monistischen Leitungsstruktur zu gründen, bei der kein Aufsichtsrat existiert, der dem einer AG vergleichbar wäre, wird die Anwendung des für den Aufsichtsrat gedachten Mindestanteilsgebots dem Gleichlauf von nationaler AG und SE kaum gerecht. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber wesentliche Regelungen wie die Getrennterfüllung und die Rechtsfolge nicht in das SEAG aufgenommen. Es ist deshalb klärungsbedürftig, ob und wie diese Regelungen dennoch gelten müssen. Probleme bereitet in diesem Zusammenhang, dass die Mitbestimmung über eine Beteiligungsvereinbarung verhandelt werden kann und dass die Arbeitnehmerseite international zu besetzen ist. Je mehr Länder also vertreten sind, desto schwieriger wird die Berücksichtigung des Mindestanteilsgebots.

Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit den aufgezeigten rechtlichen Schwierigkeiten und Gesetzeslücken sowie den damit zusammenhängenden Fragestellungen eingehend auseinander und zeigt methodisch vertretbare Lösungswege auf. Daneben legt die Untersuchung dar, dass der vom Gesetzgeber gewählte Weg zur Umsetzung des Ziels einer Gleichstellungsförderung zwar ein effektives und grundsätzlich auch ein tragfähiges Konzept ist, in seinen einzelnen Ausprägungen jedoch mit dem eingangs formulierten Leitgedanken „Gut gedacht, schlecht gemacht“ zusammengefasst werden muss. Einige der Mängel des Gesetzes lassen sich jedoch durch punktuelle Veränderungen beheben. Im letzten Kapitel befinden sich dazu entsprechende Änderungsvorschläge.

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1 Heiko Maas Plenarprotokoll v. 6.3.2015, S. 8754 (B).

2 Christina Schröder Plenarprotokoll v. 6.3.2015, S. 100 (C).

3 S. dazu unten Kap. 1 § 2 B.

4 Entwurf für eine Richtlinie zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen, COM (2012) 614 final.

5 S. hierzu die verfassungsrechtliche Diskussion um die Zulässigkeit der Quoten Kap. 2 § 5 B. II. 1.

6 Dazu ausführlich unten. Kap. 2 § 6 C. II.

7 Fitting § 15 BetrVG Rn. 4; GK BetrVG/Kreutz § 15 BetrVG Rn. 4 ff.; Richardi/Thüsing § 15 BetrVG Rn. 2, 17.

8 ErfK/Koch § 15 BetrVG Rn. 2

9 BGBl. I S. 1852; BT-Drucks. 14/5741; Richardi/Thüsing § 15 BetrVG Rn. 2.

10 ErfK/Koch § 15 BetrVG Rn. 2.

11 S. dazu ausf. Kap. 2 § 5 B. II. 1.

12 Isensee NJW 1993, 2583, 2585; Hoffmann FamRZ 1995, 257, 261; Laubinger VerwArch 87 (1996) 473, 528; Maunz/Dürig/Langenfeld Art. 3 Abs. 2 GG, Rn. 56, 108.

13 DAI Stellungnahme vom 15.10.2014; Habersack/Kersten BB 2014, 2819, 2822 ff.; Kempter/Koch BB 2012, 3009, 3312 ff.; Ossenbühl NJW 2012, 417 ff.; Papier/Heidebach ZGR 2011, 305 ff.; Spindler/Brandt NZG 2011, 401 ff.; Wieland NJW 2010, 2408, 2409.

14 RefE vom 20.6.2014, S. 28.

15 Seibert NZG 2016, 16, 19.

16 RefE vom 20.6.2014, S. 28.

Details

Seiten
334
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631779217
ISBN (ePUB)
9783631779224
ISBN (MOBI)
9783631779231
ISBN (Hardcover)
9783631773246
DOI
10.3726/b15133
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Frauenquote Geschlechterquote Gleichberechtigung Verfassung Anti-discrimination law Geschlechterdiskriminierung Gleichstellungspolitik Corporate Governance Gender Mainstreaming Aufsichtsrat Aktiengesellschaft SE
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2019. 334 S.

Biographische Angaben

Charlotte Evers (Autor:in)

Charlotte Evers studierte Rechtswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Anschließend erfolgte das Promotionstudium, welches mit einem dreimonatigen Forschungsaufenthalt (Visting Research Fellow) mit rechtsvergleichendem Bezug zum Promotionsthema an der Fordham University School of Law, New York, USA abschloss.

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