Lade Inhalt...

Die außerordentliche Kündigung von Arbeitsverhältnissen bei geringwertigen Vermögensdelikten

von Anna Diehl (Autor:in)
©2018 Dissertation 356 Seiten

Zusammenfassung

Arbeitsgerichtliche Verfahren über die Wirksamkeit von außerordentlichen Kündigungen wegen sogenannter Bagatelldelikte haben auch außerhalb juristischer Fachkreise viel Aufmerksamkeit erfahren. Der als Vermögensschaden kaum spürbaren Beeinträchtigung des Arbeitgebers stehen der Arbeitsplatzverlust und damit häufig der Verlust der Existenzgrundlage des Arbeitnehmers gegenüber. Die offene Ausgestaltung des wichtigen Grundes in § 626 Abs. 1 BGB einerseits und die Komplexität der Kündigungssachverhalte andererseits setzen Systematisierungsversuchen von vorneherein Grenzen. Diese Arbeit untersucht, wie gleichwohl durch eine konsequente Anwendung der kündigungsrechtlichen Prinzipien eine strukturiertere Rechtsfindung für solche Fälle erreicht und die Rechtssicherheit erhöht werden kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Problemstellung und praktische Relevanz
  • B. Ziel und Gang der Untersuchung
  • Kapitel 1 Grundlagen und Vorüberlegungen zur außerordentlichen Kündigung bei Vermögensdelikten
  • A. Typische Vermögensdelikte im Arbeitsverhältnis
  • I. Diebstahl und Stromdiebstahl
  • II. Unterschlagung
  • III. Betrug
  • 1. Arbeitszeitbetrug
  • 2. Spesenbetrug
  • 3. Prozessbetrug
  • 4. Hehlerei
  • IV. § 248 a StGB Diebstahl und Unterschlagung geringwertiger Sachen
  • 1. Geringwertigkeit
  • 2. Strafantrag und besonderes öffentliches Interesse
  • a) Strafantrag
  • b) Besonderes öffentliches Interesse
  • 3. Transfer des Gedankens von § 248 a StGB in das Kündigungsrecht
  • V. Zwischenfazit
  • B. Vermögensdelikte im dienstlichen und außerdienstlichen Bereich
  • I. Vermögensdelikte im dienstlichen Bereich
  • 1. Vermögensdelikte gegen den Arbeitgeber
  • 2. Vermögensdelikte gegen Mitarbeiter
  • 3. Vermögensdelikte gegen Kunden
  • 4. Vermögensdelikte gegen unbeteiligte Dritte oder Allgemeininteressen
  • 5. Sonderfälle
  • a) Beobachten von Vermögensdelikten und Nichtmeldung
  • b) Das versuchte Vermögensdelikt
  • c) Kündigung bei zukünftigen Vermögensdelikten
  • d) Vermögensdelikte des Arbeitnehmers aus Beweisnot
  • II. Vermögensdelikte im außerdienstlichen Bereich
  • 1. Verstoß gegen außerdienstliche Verhaltenspflichten
  • 2. Zweifel an der Eignung des Arbeitnehmers als Folge außerdienstlicher Delinquenz
  • III. Zwischenergebnis
  • C. Reaktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers auf Vermögensdelikte
  • I. Die Abmahnung
  • 1. Allgemeine Anforderungen, Funktionen und Herleitung der Abmahnung
  • 2. Die Abmahnung im Kontext von Vermögensdelikten
  • II. Die ordentliche verhaltensbedingte Kündigung
  • III. Die außerordentliche verhaltensbedingte Kündigung
  • 1. Der wichtige Grund als unbestimmter Rechtsbegriff
  • a) „An sich“ wichtiger Grund (erste Stufe)
  • aa) Eignung von Vermögensdelikten mit geringem wirtschaftlichen Schaden als wichtiger Grund „an sich“?
  • bb) Verschulden des Arbeitnehmers für das Vorliegen eines wichtigen Grundes „an sich“?
  • b) Interessenabwägung (zweite Stufe)
  • 2. Revisionsrechtlicher Prüfungsmaßstab
  • 3. Die Kritik an der Zweistufentheorie des BAG
  • 4. Abgrenzung der außerordentlichen zur ordentlichen Kündigung
  • IV. Die Verdachtskündigung als Sonderfall der außerordentlichen Kündigung
  • 1. Voraussetzungen der Verdachtskündigung
  • a) Verdacht erheblicher Pflichtverletzung
  • b) Dringender Tatverdacht
  • c) Zumutbare Sachverhaltsaufklärung
  • d) Anhörung des Betriebsrats
  • 2. Kündigungserklärungsfrist, Beurteilungszeitraum und Wiedereinstellungsanspruch
  • 3. Unberechtigte Kritik an dem Institut der Verdachtskündigung
  • V. Die Verdachtsabmahnung
  • VI. Fazit
  • Kapitel 2 Die historische Entwicklung und gesellschaftliche sowie politische Diskussion der außerordentlichen Kündigung bei Vermögensdelikten
  • A. Die Rechtsprechung zu geringwertigen Vermögensdelikten innerhalb des Arbeitsrechts
  • I. Die Entwicklung der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung zu geringwertigen Vermögensdelikten
  • 1. Die Rechtsprechung vor der „Emmely“-Entscheidung
  • 2. Neuorientierung der Rechtsprechung: Das BAG-Urteil vom 23.6.2009
  • 3. Die „Emmely“-Entscheidung
  • a) Die Entscheidung des ArbG Berlin und des LAG Berlin-Brandenburg
  • b) Die Entscheidung des BAG über die Nichtzulassungsbeschwerde
  • c) Die Entscheidung des BAG
  • d) Wesentliche Neuerungen durch die „Emmely“-Entscheidung
  • 4. Die Rechtsprechung nach der „Emmely“-Entscheidung
  • 5. Zusammenfassung und offengebliebene Fragen
  • II. Diskussion über die Einführung einer die Arbeitsgerichtsbarkeit bindenden Bagatellgrenze
  • III. Gesetzesinitiativen zur Einschränkung von Bagatell- und Verdachtskündigungen in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung
  • 1. Regelungsgehalt der Gesetzesentwürfe
  • a) Der Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion vom 9.2.2010
  • b) Der Gesetzesentwurf der Fraktion DIE LINKE vom 9.2.2010
  • c) Der Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 9.6.2010
  • 2. Kritik der Gesetzesentwürfe
  • 3. Fazit
  • B. Die Rechtsprechung zu geringfügigen Vermögensdelikten außerhalb des Arbeitsrechts
  • I. Die Beurteilung von Bagatelldelikten in der Strafgerichtsbarkeit
  • 1. Zielsetzungen von Kündigungsrecht und Strafrecht
  • 2. Die Beweislast im Strafprozess und im Kündigungsschutzprozess
  • 3. Bedeutung von Beweiserhebungen und Entscheidungen im Strafverfahren für den Kündigungsschutzprozess
  • 4. Keine Strafrechtsakzessorietät des Kündigungsrechts
  • 5. Zwischenergebnis
  • II. Die Beurteilung von Bagatelldelikten in der ordentlichen Gerichtsbarkeit
  • 1. Die arbeitsrechtliche Kündigung und die „Managerkündigung“
  • 2. Zwischenergebnis
  • III. Die Beurteilung von Bagatelldelikten in der Verwaltungsgerichtsbarkeit
  • 1. Beurteilung von Bagatelldelikten bei Beamten
  • 2. Beurteilung von Bagatelldelikten bei Soldaten
  • 3. Zwischenergebnis
  • IV. Gesamtbewertung
  • C. Systematischer Widerspruch bei der Beurteilung von geringwertigen Vermögensdelikten im Vergleich zur Behandlung anderer Kündigungssachverhalte?
  • I. Die Verletzung von Hauptpflichten
  • 1. Arbeitsverweigerung
  • 2. Schlecht- oder Minderleistung
  • 3. Unpünktlichkeit
  • 4. Unentschuldigtes Fehlen
  • II. Die Verletzung von Nebenpflichten
  • 1. Sexuelle Belästigung
  • 2. Beleidigung
  • III. Zusammenfassung und eigener Standpunkt
  • Kapitel 3 Die Entwicklung dogmatischer Strukturen für einen sachgerechten Umgang mit der außerordentlichen Kündigung bei Vermögensdelikten
  • A. Folgenrichtige Anwendung der kündigungsrechtlichen Prinzipien bei der außerordentlichen Kündigung
  • I. Das Prinzip der Unzumutbarkeit bei geringwertigen Vermögensdelikten
  • II. Das Prinzip der Güter- und Interessenabwägung bei geringwertigen Vermögensdelikten
  • 1. Grundlagen der Interessenabwägung
  • a) Berücksichtigungsfähigkeit und Konkretisierung der schutzwürdigen Interessen
  • aa) Dauer der beanstandungsfreien Betriebszugehörigkeit
  • (1) Beanstandungsfreiheit
  • (2) Langjährige Beschäftigung
  • (3) Berücksichtigung der Beschäftigungsdauer zulasten des Arbeitnehmers?
  • bb) Lebensalter und Chancen auf dem Arbeitsmarkt
  • cc) Qualität der Pflichtverletzung
  • (1) Grad des Verschuldens
  • (2) Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb
  • (3) Intensität des vertragswidrigen Verhaltens
  • (4) Bestehen von Regularien des Arbeitgebers
  • dd) Selbstbindung und Mitverursachung des Arbeitgebers
  • ee) Abschreckungsgesichtspunkte, Generalprävention und Betriebsdisziplin
  • ff) Verhalten des Arbeitnehmers nach der Tatbegehung/Pflicht zur Selbstbezichtigung
  • gg) Höhe des Schadens und wirtschaftliche Folgen für das Unternehmen
  • hh) Unterhaltspflichten/Familienstand des Arbeitnehmers
  • b) Gewichtung und Abwägung der Interessen
  • c) Ergebnis der Interessenabwägung
  • 2. Zusammenfassung und Fazit der Interessenabwägung
  • III. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei geringwertigen Vermögensdelikten
  • IV. Das Prognoseprinzip bei geringwertigen Vermögensdelikten
  • V. Das Prinzip des Vertrauensschutzes bei geringwertigen Vermögensdelikten
  • 1. Der Vertrauensbegriff
  • 2. Dogmatische Strukturen des Vertrauensschutzprinzips
  • a) Objektiver Vertrauenstatbestand
  • b) Grad der Verantwortlichkeit des Arbeitnehmers
  • c) Schutzwürdigkeit des Arbeitgebers
  • d) Fazit
  • 3. Die Wiederherstellung von Vertrauen
  • 4. Der Verbleib von Abmahnungen in der Personalakte zur Vermeidung der Entstehung von Vertrauenskapital
  • VI. Das Prinzip der Gleichbehandlung bei geringwertigen Vermögensdelikten
  • B. Konkurrenzfragen und Zusammenfassung
  • Schlusswort
  • Schlussthesen
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

| 13 →

Abkürzungsverzeichnis

aA anderer Ansicht

AA Arbeitsrecht aktiv

Abs. Absatz

AE Arbeitsrechtliche Entscheidungen

aF alte Fassung

AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

AHGZ Allgemeine Hotel- und Gastronomie-Zeitung, Zeitschrift

AiB Arbeitsrecht im Betrieb, Zeitschrift

AktG Aktiengesetz

Anm. Anmerkung

AP Arbeitsrechtliche Praxis – Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts

ArbG Arbeitsgericht/-e

ArbGG Arbeitsgerichtsgesetz

ArbR Arbeitsrecht, Zeitschrift

ArbRAktuell Arbeitsrecht Aktuell, Zeitschrift

ArbRB Der Arbeits-Rechtsberater, Zeitschrift

ArbZG Arbeitszeitgesetz

ARS Arbeitsrechtssammlung, Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts

Art. Artikel

AuA Arbeit und Arbeitsrecht, Zeitschrift

AuR Arbeit und Recht, Zeitschrift

AZR Aktenzeichen für Revisionsverfahren

AZN Aktenzeichen für Nichtzulassungsbeschwerden

BAG Bundesarbeitsgericht

BAGE Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

BB Betriebs-Berater, Zeitschrift

BBG Bundesbeamtengesetz

BBiG Berufsbildungsgesetz

BC Zeitschrift für Bilanzierung, Rechnungswesen und Controlling

Bd. Band

BDG Bundesdisziplinargesetz

BDO Bundesdisziplinarordnung ← 13 | 14 →

BeckOK Beck´scher Online Kommentar

BeamtStG Beamtenstatusgesetz

BeschSchG Beschäftigtenschutzgesetz

BetrVG Betriebsverfassungsgesetz

BGB Bürgerliches Gesetzbuch

BGH Bundesgerichtshof

BGHSt Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshof in Strafsachen

BRZG Bundeszentralregistergesetz

bspw. beispielsweise

BT-Drucks. Drucksache des Deutschen Bundestages

BVerfG Bundesverfassungsgericht

BVerwG Bundesverwaltungsgericht

bzw. beziehungsweise

dh das heißt

DB Der Betrieb, Zeitschrift

dbr Der Betriebsrat, Zeitschrift

EMRK Europäische Menschenrechtskonvention

ders. derselbe

dies. dieselbe(n)

DÖD Der öffentliche Dienst, Zeitschrift

DokBer Dokumentarische Berichte aus dem Bundesverwaltungsgericht

DÖV Die öffentliche Verwaltung, Zeitschrift

DPA Deutsche Presse-Agentur

Drucks. Drucksache

DVZ Deutsche Versicherungszeitschrift

EFZG Entgeltfortzahlungsgesetz

EGStGB Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch

Einl. Einleitung

EMRK Europäische Menschenrechtskonvention

ErfK Erfurter Kommentar

etc. et cetera

EzA Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht

f., ff. (fort)folgende

FA Fachanwalt Arbeitsrecht, Zeitschrift

FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Fn. Fußnote ← 14 | 15 →

FS Festschrift

GE Gesetzesentwurf

GewO Gewerbeordnung

GG Grundgesetz

ggf. gegebenenfalls

ggü. gegenüber

GK Gemeinschaftskommentar

GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung

GKÖD Gesamtkommentar öffentliches Dienstrecht

GWR Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht

HGB Handelsgesetzbuch

HaKo Handkommentar

hM herrschende Meinung

HRRS Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht

HFR Humboldt Forum Recht, Internetzeitschrift

iSd. im Sinne des/der

iVm. in Verbindung mit

JGG Jugendgerichtsgesetz

JR Juristische Rundschau, Zeitschrift

JbArbR Jahrbuch des Arbeitsrechts

Jura Jura, Ausbildungszeitschrift

jurisPR-ArbR Juris Praxisreport-Arbeitsrecht

jurisPK-BGB Juris Praxiskommentar-BGB

JuS Juristische Schulung, Zeitschrift

KSchG Kündigungsschutzgesetz

LAG Landesarbeitsgericht

LAGE Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte

LTO Legal Tribune Online

MDR Monatsschrift für Deutsches Recht, Zeitschrift

MüKo Münchener Kommentar

mwN mit weiteren Nachweisen

nF neue Fassung

NJ Neue Justiz, Zeitschrift

NJOZ Neue juristische Online-Zeitschrift

NJW Neue Juristische Wochenschrift, Zeitschrift

NJW-RR NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht

Nr. Nummer ← 15 | 16 →

nv nicht amtlich veröffentlicht

NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NWZ Nordwest Zeitung

NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

NZA-RR NZA-Rechtsprechungs-Report Arbeitsrecht

NZG Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht

NZWiSt Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht

öAT Zeitschrift für das öffentliches Arbeits- und Tarifrecht

OLG Oberlandesgericht

OLGR Oberlandesgericht-Report

PersF Personalführung, Zeitschrift

PersR Der Personalrat, Zeitschrift

RAG Reichsarbeitsgericht

RdA Recht der Arbeit, Zeitschrift

RDV Recht der Datenverarbeitung, Zeitschrift

Rn. Randnummer

RVO Reichsversicherungsordnung

RzK Rechtsprechung zum Kündigungsrecht

S. Seite; Satz

SAE Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen, Zeitschrift

SeemG Seemannsgesetz

SGB Sozialgesetzbuch

SG Soldatengesetz

sog. sogenannt

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

st. Rspr. ständige Rechtsprechung

StGB Strafgesetzbuch

StPO Strafprozessordnung

StrRG Gesetz zur Reform des Strafrechts

SuP Sozialrecht und Praxis, Zeitschrift

Taz Die Tageszeitung

TzBfG Teilzeit- und Befristungsgesetz

usw. und so weiter

v. vom, von

vgl. vergleiche

WDO Wehrdienstordnung

zB zum Beispiel ← 16 | 17 →

ZfA Zeitschrift für Arbeitsrecht

zit. zitiert

ZPO Zivilprozessordnung

ZPR Zeitschrift für Rechtspolitik

| 19 →

Einleitung

A. Problemstellung und praktische Relevanz

Die Frage des Umgangs mit geringwertigen Vermögensdelikten im Arbeitsverhältnis begleitete die Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit von Beginn an.1 Jahrzehntelang galt der Grundsatz, dass der Vorwurf oder ein bestehender Verdacht, der Arbeitnehmer habe ein vollendetes oder auch nur versuchtes Vermögensdelikt unabhängig von der Schadenshöhe ggü. seinem Arbeitgeber begangen, eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen kann. Eine außerordentliche Kündigung wird dann als Bagatellkündigung2 bezeichnet, wenn es sich bei dem Tatobjekt um einen Gegenstand von nur geringem oder sogar ohne einen wirtschaftlichen Wert handelt und die Tathandlung zu keinem oder nur einem belanglosen Schaden geführt hat.3 Solche Bagatellkündigungen werden hauptsächlich mit Eigentums- und Vermögensdelikten begründet,4 also der Verwirklichung von Tatbeständen etwa der §§ 242, 246, 263, 266 StGB durch einen Arbeitnehmer zulasten seines Arbeitgebers.5 Die Schwierigkeit, mit der sich die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung bei den Bagatellkündigungen konfrontiert sieht, besteht in dem Spannungsverhältnis zwischen den meist geringen Beträgen, um die der Arbeitgeber geschädigt ist, auf der einen und dem oftmals langjährigen Arbeitsverhältnis auf der anderen Seite. Der als Vermögensschaden oft kaum spürbaren Beeinträchtigung des Arbeitgebers stehen der Arbeitsplatzverlust und damit häufig der Verlust der Existenzgrundlage eines Arbeitnehmers gegenüber.

Insbesondere in den Jahren 2008 und 2009 entbrannte eine öffentliche Debatte um Gerechtigkeit und Gleichbehandlung durch die Arbeitsgerichte bei Bagatellkündigungen, nachdem vermehrt über Fälle berichtet wurde, in denen ← 19 | 20 → Arbeitnehmer wegen scheinbarer Kleinigkeiten entlassen wurden. Prominent in dieser Diskussion war beispielsweise die fristlose Kündigung einer Sekretärin, die unbefugt eine Frikadelle vom Firmenbuffet an sich genommen und verzehrt hatte,6 sowie die Mitnahme nicht verkaufsfähiger Restbestände aus einem Zentrallager.7 Weitere Fälle betrafen einen Arbeitnehmer, der entlassen wurde, weil er sein Mobiltelefon an seinem Arbeitsplatz aufgeladen hatte,8 oder die arbeitgeberseitige Kündigung einer Pflegeheim-Angestellten, die übrig gebliebene und zur Entsorgung bestimmte Maultaschen nach der Essensausgabe mitnahm.9 Diesen und weiteren Fällen schloss sich eine breite Diskussion sowohl in der Fachwelt10 als auch der Öffentlichkeit11 an. Zudem ergingen mehrere Gesetzesentwürfe, die einen besseren Kündigungsschutz bei geringwertigen Vermögensdelikten gesetzlich verankern sollten.12 ← 20 | 21 →

Die rechtspolitische Debatte dieser Konstellationen intensivierte sich insbesondere nach einem Interview mit der Präsidentin des BAG13 zum Thema Bagatellkündigungen, in dem Kündigungen wegen geringfügiger Delikte des Arbeitnehmers als jahrzehntelange Rechtspraxis und Selbstverständlichkeit bezeichnet wurden.14 Kurz darauf erreichte die Debatte ihren Höhepunkt mit einer Entscheidung des BAG15 aus dem Jahr 2010 im Fall der als „Emmely“16 bekannt gewordenen Supermarkt-Kassiererin.17 Ihr Arbeitsverhältnis war wegen des Verdachts, unberechtigt zwei Pfandbons im Gesamtwert von 1,30 Euro eingelöst zu haben, außerordentlich gekündigt worden.18 Die unterschiedlichen Standpunkte zu den in diesem Fall ergangenen Urteilen wurden dabei nicht immer sachlich19 und bisweilen mit übertrieben drastischer Wortwahl zum Ausdruck gebracht.20 ← 21 | 22 →

Aber auch nach der sog. „Emmely“-Entscheidung ist die Diskussion nicht verstummt. Bis heute gibt es in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung eine Vielzahl von umstrittenen Urteilen zu Vermögensdelikten mit geringer Schadenshöhe, wegen derer Arbeitsverhältnisse gekündigt werden.21 Die Kritik hieran war und ist vielfältig und mit einem großen öffentlichen Interesse verbunden. Die Debatte wurde zum einen mit dem Hinweis auf emotionale und ethische Argumente geführt. So wurde der Vorwurf erhoben, dass Bagatelldelikte nur das Vertrauen in unliebsame, ältere oder gering qualifizierte Arbeitnehmer zu belasten scheinen; offenkundig sei es durch Ausnutzung der bestehenden Rechtslage für Unternehmer attraktiv, mit einer Bagatellkündigung langjährige Arbeitnehmer aus Festverträgen zu kündigen, um sie durch Angestellte mit niedrigerem Gehalt oder befristeten Arbeitsverträgen zu ersetzen.22

Die häufig fehlende Akzeptanz und das Unverständnis vieler23 für die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen sind aber wohl auch dem ‒ jedenfalls scheinbar ‒ unterschiedlichen Umgang der verschiedenen Fachgerichtsbarkeiten mit geringwertigen Vermögensdelikten geschuldet. In der Straf-, der Verwaltungs-, aber auch in der ordentlichen Gerichtsbarkeit scheint insoweit eine weniger strikte Sanktionierung solcher Vorgänge vorzuherrschen. Als besonderer Kontrast wird zum Beispiel wahrgenommen, dass im Arbeitsrecht ‒ ganz anders als im strafrechtlichen Bereich ‒ bereits der bloße Verdacht eines Vermögensdelikts ausreicht, um rechtswirksame Konsequenzen zu ziehen und den vermeintlichen Delinquenten zu sanktionieren. Als auffällig wird es weiterhin erachtet, dass es im Kündigungsrecht keine Betragsgrenze gibt, ab der ein Vermögensdelikt ← 22 | 23 → erheblich wäre, sondern Delikte jeglicher Tragweite dieselben Konsequenzen haben können.24

Den Arbeitnehmer treffen die arbeits- und sozialrechtlichen Folgen einer solchen Kündigung ungeachtet der Schwere des Delikts sogleich in voller Härte: Die außerordentliche fristlose Kündigung führt zur sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei sofortiger Einstellung der Gehaltszahlungen. Dem Arbeitnehmer und oft auch seiner Familie wird ad hoc die wirtschaftliche Grundlage entzogen, zumal im Falle einer anschließenden Arbeitslosmeldung die Bundesagentur für Arbeit gegebenenfalls eine Sperrzeit25 von mehreren Monaten verhängt, da regelmäßig angenommen wird, der Arbeitnehmer habe durch eigenes Verschulden seinen Arbeitsplatz verloren. Dann ruht gem. § 144 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 1, Abs. 3 SGB III der Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Dauer von zwölf Wochen, und der Bezugszeitraum verkürzt sich entsprechend. Schließlich werden auch das meist ungerade Kündigungsdatum sowie eine etwaige Erwähnung des Vermögensdelikts im Arbeitszeugnis26 die anstehende Arbeitssuche des gekündigten Arbeitnehmers erheblich erschweren.27

Die Auswirkungen der arbeitsrechtlichen Sanktion übersteigen die staatlichen Sanktionen ‒ sofern es zu solchen überhaupt kommt ‒ somit ganz erheblich. Zudem wird auch grundsätzlich die fehlende Passfähigkeit des Kündigungsschutzsystems für die Behandlung von Bagatelldelikten infrage gestellt. Außerhalb von Vermögensdelikten müssen Sachverhalte erst eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten, um die außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Dies soll bei Vermögensdelikten gerade nicht so sein, was bereits für sich genommen viele der entwickelten Kriterien zur Prüfung der Rechtmäßigkeit einer außerordentlichen Kündigung leerlaufen lässt. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang ← 23 | 24 → das vom BAG entwickelte Zweistufenprinzip zur Beurteilung der Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung kritisiert.28 Dieses Prüfungsschema sei unzureichend und nicht mit dem übrigen Kündigungsrecht verzahnt.29 Die Auslegungsweise der kündigungsrechtlichen Prinzipien durch die Arbeitsgerichte münde in eine unstrukturierte Interessenabwägung ohne Eingrenzung der berücksichtigungsfähigen Kriterien.30 Häufig fehle der Bezug zum Kündigungsgrund, während die Gerichte im Rahmen der Interessenabwägung nichtssagende Floskeln aneinanderreihen würden. Schwierigkeiten werden insbesondere bei der Bewertung des arbeitgeberseitig durchweg vorgebrachten Vortrages gesehen, das Arbeitsverhältnis habe durch die fragliche Tat des Arbeitnehmers einen irreparablen Vertrauensverlust erlitten. Diese Unsicherheiten haben sich auch durch den in der Pressemitteilung der „Emmely“-Entscheidung in die Diskussion eingebrachten und im Zuge der Abwägung zu berücksichtigenden Begriffs des „Vertrauenskapitals“ des Arbeitnehmers nicht gemindert. Ungeklärt ist beispielsweise, wie ein solches Vertrauenskapital, das zugunsten des Arbeitnehmers bei der Bewertung einer Kündigung wegen Vermögensdelikten zu berücksichtigen ist, im Verhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer entsteht und wie dies zu quantifizieren ist. Offen ist weiterhin, wie der Arbeitgeber im Kündigungsstreit den Nachweis erbringen kann, nur ein geringes oder kein verbliebenes Vertrauen zum betroffenen Arbeitnehmer mehr zu haben. Diese noch immer vorherrschenden Unklarheiten bei der Bewertung von arbeitgeberseitigen Kündigungen wegen Vermögensdelikten nähren den Vorwurf, viele Arbeitgeber würden in der rechtlichen Bewertung von geringfügigen Vermögensdelikten im Kündigungsrecht eine Lücke erblicken, die nutzbar gemacht werde, um sich von unliebsamen Arbeitnehmern trennen zu können.31

Die zentralen Normen des Kündigungsrechts gewähren durch ihre weitgehende Offenheit und Unbestimmtheit die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit, wodurch freilich zwangsläufig die Verallgemeinerungsfähigkeit leidet. Dies macht es Arbeitgebern und Arbeitnehmern allerdings gleichermaßen schwer, rechtssichere Lösungen zu finden und insbesondere ein etwaiges Prozessrisiko abzuschätzen.32 Eine Prognose über den Erfolg einer Klage gegen eine außerordentliche Kündigung kann, sofern es sich um ein geringwertiges Vermögensdelikt ← 24 | 25 → handelt, kaum mehr abgegeben werden.33 Dies triebe in diesen Konstellationen die ‒ in arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen ohnehin schon erhebliche ‒ Vergleichsquote noch weiter in die Höhe, was aber nicht den Gerechtigkeitsgehalt der gefundenen Lösungen erhöhen dürfte. Das Recht droht in diesem Bereich seine Funktion als Ordnungselement sowie als Sicherheit und Vorhersehbarkeit schaffende Institution zu verlieren. Zudem stellt sich die Frage, ob in der Rechtsprechung im Bereich des Arbeitsrechts und außerhalb eines Arbeitsverhältnisses tatsächlich mit zweierlei Maß gemessen wird.34

B. Ziel und Gang der Untersuchung

Es besteht somit ein Bedarf an Prinzipienanwendung und Transparenz in der Frage, unter welchen Umständen ein geringwertiges Vermögensdelikt eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen kann. Entscheidend ist insbesondere, welche Aspekte im Fall eines solchen geringwertigen Vermögensdelikts im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen und wie diese zu gewichten sind. Diese Untersuchung wird die kündigungsrechtlichen Fragen, die sich im Zusammenhang mit geringwertigen Vermögensdelikten im Arbeitsverhältnis stellen, analysieren und systematisieren. Dabei sollen die bislang entwickelten Lösungsansätze untersucht und die weitgehend kursorisch geführte Diskussion in ein systematisches Gesamtkonzept eingebettet werden. Aspekte aus anderen Rechtsgebieten – insbesondere dem Straf-, Verwaltungs- und dem allgemeinen Zivilrecht – werden in die Untersuchung einzubeziehen sein, soweit es die untersuchte Fragestellung erforderlich macht.

Zu Beginn des ersten Kapitels erfolgt eine kurze Übersicht über die im Arbeitsverhältnis am häufigsten begangenen Vermögensdelikte. Bezüglich deren Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis wird sodann danach unterschieden, ob das Vermögensdelikt während des Dienstes oder im außerdienstlichen Bereich begangen wurde. Schließlich werden die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers auf geringwertige Vermögensdelikte seiner Arbeitnehmer dargestellt, wobei auch auf die Problematik der sogenannten „gesuchten Kündigungsgründe“35 einzugehen sein wird.

Im zweiten Kapitel erfolgt zunächst ein historischer Überblick über die Entwicklung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zu arbeitgeberseitigen Kündigungen wegen geringwertiger Vermögensdelikte. Zudem wird auf die Diskussion ← 25 | 26 → zur möglichen Einführung einer Bagatellgrenze ebenso eingegangen wie auch auf Gesetzesinitiativen mehrerer Bundestagsfraktionen zur Einschränkung oder sogar zum Verbot von Bagatell- und Verdachtskündigungen. Sodann soll die Judikatur der Arbeitsgerichtsbarkeit mit der Bewertung entsprechender Konstellationen in der Strafgerichts-, Verwaltungsgerichts- und ordentlichen Gerichtsbarkeit verglichen und der Frage nachgegangen werden, ob hier Wertungswidersprüche zu verzeichnen sind. Abschließend soll das derzeitige System des Kündigungsrechts auf seine Passfähigkeit für Fälle von geringwertigen Vermögensdelikten untersucht werden.

Kapitel 3 betrifft den Hauptgegenstand der Untersuchung, nämlich die folgenrichtige Anwendung der kündigungsrechtlichen Prinzipien für die Bewertung einer außerordentlichen Kündigung wegen eines geringwertigen Vermögensdelikts. Ein Schwerpunkt liegt bei der nach § 626 Abs. 1 BGB erforderlichen Interessenabwägung, deren Ergebnis maßgeblich über die Wirksamkeit der fristlosen Kündigung entscheidet. Zudem geht es neben der Darstellung des Verhältnismäßigkeits- und des Prognoseprinzips insbesondere auch um das in diesem Zusammenhang besonders bedeutsame Vertrauensschutzprinzip. Dort wird ‒ unter besonderer Berücksichtigung der „Emmely“-Entscheidung des BAG und der nachfolgenden Rechtsprechung ‒ die Entstehung von Vertrauen im Arbeitsverhältnis zu untersuchen sein sowie die Frage, ob und wann ein Vermögensdelikt des Arbeitnehmers das sog. Vertrauenskapital aufgebraucht hat.

Abschließend werden die hier gefundenen Ergebnisse in Thesenform zusammengefasst.


1 Bereits vier Jahre nach Gründung des BAG im Jahr 1954 wurde das erste Urteil über eine Bagatellkündigung gesprochen; Vgl. auch BAG v. 24.3.1958, AP Nr. 5 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlungen.

2 Anders jedoch Grimberg, AiB 2011, 64, der den Begriff Bagatellkündigung unter Hinweis auf die sozialen Folgen ablehnt.

3 HaKo/Gieseler, § 626 BGB Rn. 99.

4 Angesprochen sind zudem nicht strafbare, allerdings rechtswidrige und vorsätzliche, unmittelbar gegen das Vermögen des Arbeitgebers gerichtete Handlungen des Arbeitnehmers mit geringem wirtschaftlichem Schaden.

5 GE Fraktion DIE LINKE, Bt-Drucks. 17/649, S. 4.

6 Die außerordentliche Kündigung wurde später vom Arbeitgeber zurückgenommen.

Details

Seiten
356
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631762288
ISBN (ePUB)
9783631762295
ISBN (MOBI)
9783631762301
ISBN (Hardcover)
9783631759295
DOI
10.3726/b14424
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Bagatelldelikte Emmely Kündigungsrechtliche Prinzipien Vertrauenskapital Vorgeschobene Kündigungsgründe Bagatellkündigung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 356 S.

Biographische Angaben

Anna Diehl (Autor:in)

Anna Diehl studierte Rechtswissenschaften an der Universität Mainz und an der Universität zu Köln. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht und im arbeitsrechtlichen Dezernat einer international tätigen Wirtschaftskanzlei in Köln. Das Rechtsreferendariat absolvierte sie im OLG-Bezirk Köln.

Zurück

Titel: Die außerordentliche Kündigung von Arbeitsverhältnissen bei geringwertigen Vermögensdelikten
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
358 Seiten