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Grenzen, Wenden und Zäsuren

von Ladislaus Ludescher (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 384 Seiten

Zusammenfassung

Mit «Grenzen, Wenden und Zäsuren» liegt nach «Grenzüberschreitungen und Wendepunkte» der zweite Sammelband der Interdisziplinären Vortragsreihe (IVR) Heidelberg vor.
Aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigen sich die Autoren, deren wissenschaftliche Diversität die Mannigfaltigkeit der Beiträge widerspiegelt, mit Themen aus der Germanistik, Geschichte, Kultur- und Literaturgeschichte, Linguistik, Literaturwissenschaft, Philosophie, Politik, Psychologie und Theologie.
Das Themenspektrum reicht von der Identität der Krypto-Muslime im Spanien der Frühen Neuzeit, über Wolfgang Herrndorf als Stimmungskünstler, Papst Franziskus und die Flüchtlinge, Stereotype und Rassismus sowie über Trauer- und Gedenkrituale im öffentlichen Raum bis zum Freiheitsbegriff der Fernsehserie Breaking Bad.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Raphaël Fendrich: Verkleideter Glaube. Zur Identität der Krypto-Muslime im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts
  • Matthias Dall’Asta: Paparazzi des 16. Jahrhunderts. Melanchthons Briefwechsel und die Grenzen des Privaten
  • Dietrich Harth: Rilke in Bengalen. Eine imaginäre Reise von Duino bis ins grenzenlose „Gezeitenland“ des Amitav Ghosh
  • Friederike Reents: Wolfgang Herrndorf als Stimmungskünstler. Zur Geschichte einer ästhetischen Kategorie, ihrer Wiederkehr in der Gegenwartsliteratur und ihren Grenzen
  • Nora Gomringer: Persönliche literarische Grenzüberschreitungen und Wendepunkte
  • Wolfgang Grenz: Trotz aller Widerstände – Flüchtlinge brauchen Schutz
  • Ingrid Gilcher-Holtey und Dietrich Harth: Papst Franziskus und die Flüchtlinge. Barmherzigkeit über Grenzen hinaus
  • Ladislaus Ludescher: Rassismus. Die alte Hydra und die neuen Wahlverwandtschaften
  • Dennis Hebbelmann: Stereotype – die Grenzen im Denken
  • Anna Mattfeldt: Konflikte und Unsicherheit im Mensch-Natur-Verhältnis. Vom Sprechen über Wendepunkte: Naturkatastrophen und Energiegewinnung in Deutschland, Großbritannien und den USA
  • Burckhard Dücker: Vom Anschlag zur Gedenkstätte. Zur geschichtsbildenden Funktion von Trauer- und Gedenkritualen im öffentlichen Raum
  • Falk Horst: Panajotis Kondylis – Erkenntnis durch Grenzgänge zwischen antiker und moderner Philosophie
  • Magnus Schlette: An der Grenze des Könnens. Annotationen zum Freiheitsbegriff von Breaking Bad
  • Personenregister

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Vorwort

Im Wintersemester 2018/19 fand die Interdisziplinäre Vortragsreihe (IVR) Heidelberg bereits zum achten Mal statt. Seit ihrer Gründung im Sommer 2015 durfte sie zahlreiche Wissenschaftler und Künstler aus unterschiedlichen Disziplinen zu ihren Referenten zählen.

Besonders erfreulich ist es, dass sich die Reihe einer festen Besucherzahl erfreut und dass die Audiomitschnitte verschiedener Vorträge1 auch im Radio (in der Sendung Hörsaal von Deutschlandfunk Nova) ausgestrahlt wurden.

Mit der aktuellen Publikation erscheint nun außerdem, nach 2017, ein neuer Band, in dem Beiträge ausgewählter Vorträge in schriftlicher Form vorliegen und dem Fachpublikum wie auch der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Als Herausgeber möchte ich mich bei allen Referenten und Beiträgern bedanken, von deren Vielschichtigkeit die Vortragsreihe lebt und die mit ihrer wissenschaftlichen Diversität die Forschungslandschaft und die Wahrnehmung ihrer Disziplinen in der Öffentlichkeit bereichern.

Einen besonderen Dank möchte ich Prof. Dr. Dirk Werle vom Germanistischen Seminar Heidelberg für die allgemeine Unterstützung sowie Dr. Hermann Ühlein und Ellen Kirst vom Peter Lang Verlag für die angenehme und sehr unkomplizierte Zusammenarbeit bei der Fertigstellung dieses Sammelbandes aussprechen. Sehr verbunden bin ich Manuel Wacker für die ausgesprochen wertvolle Hilfe bei der Durchsicht des Manuskriptes.

Heidelberg, im Frühjahr 2019

Der Herausgeber

Ladislaus Ludescher

www.ivr-heidelberg.de


1 Diese können im Digital-Archiv der Homepage der Vortragsreihe unter www.ivr-heidelberg.de nachgehört werden.←7 | 8→

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Raphaël Fendrich

Verkleideter Glaube
Zur Identität der Krypto-Muslime im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts

Abstract: In January 1492, the so called Reconquista of Spain ended with Granada’s surrender. The Treaty of Granada (November 1491) guaranteed religious tolerance to the Moors; but in the early 16th century, Spain outlawed the open practice of Islam and the remaining Muslims were forced to convert to Catholicism or be expelled. While publicly professing to be Christian, many didn’t assimilate and secretly practiced Islam. In order to preserve their beliefs they used the Arabic script for transcribing their Romance language and created an own literature called Aljamiado. The following article analyzes the polemics and typical arguments against Christian doctrines such as the Trinity. It argues that the Crypto-Islam in Spain has to be considered as traditional and conservative rather than reformist. Innovations and deviances from orthodox Islamic schools are due to the specific social situations of the minority.

Die Geschichte und das Schicksal der spanischen Morisken, also derjenigen Muslime, die ab 1500 den christlichen Glauben annehmen mussten, wurde oft auf der Basis von Prozessakten der Inquisition geschrieben. Dabei kamen sie selbst zu Wort: in der sog. Aljamiadoliteratur.1

Diese erst im 19. Jahrhundert zufällig beim Abbruch alter Häuser aufgefundenen Handschriften geben Auskunft über das Selbstverständnis von Muslimen, die sich im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts nicht assimilierten und gezwungen waren, ihren Glauben und ihre Kultur im Verborgenen zu leben, d.h., sich nach außen als Christen zu geben und den Islam im Geheimen zu praktizieren. Diese Wendung nach innen führte mitunter zu einer besonderen Auseinandersetzung mit dem Christentum, die zwar islamischen Traditionen folgte, zugleich aber – vor allem in sprachlicher Hinsicht – zu eigenen Ausprägungen führte, was die Frage aufwerfen kann, ob sich unter den vorherrschenden Bedingungen ←9 | 10→eine eigene, klandestine islamische Strömung herausbildete. Bevor ich jedoch an einigen Textausschnitten typische Argumentationsmuster antichristlicher Polemik illustriere, sollen die historischen und kulturellen Hintergründe skizziert werden, vor denen die Literatur der spanischen Krypto-Muslime entstand.

1. Zur Geschichte der Muslime in Spanien

Im Januar 1492 fiel das Königreich Granada an die Katholischen Könige. Damit wurden auch die letzten Mauren (moros) zu mudéjares,2 zu unter christlicher Herrschaft stehenden Muslimen.

In den Kapitulationsvereinbarungen vom 28. November 1491 wurde festgeschrieben, dass die Katholischen Könige die Stadt und die Alhambra erhielten. Den Mauren sicherte man freie Glaubensausübung zu, die Moscheen3 und ihren Besitz durften sie behalten. Wer es vorzog zu emigrieren, konnte sein Eigentum verkaufen und das Land verlassen. Islamisches Recht konnte weiter praktiziert werden; bei Konflikten zwischen Christen und Mauren waren ein christlicher alcalde und ein maurischer cadí zu Rate zu ziehen. Das islamische Erbrecht und die bisherigen Wasserrechte wurden beibehalten. Die Tributzahlungen an die Christen fielen nicht höher aus als an die maurischen Könige.4 Die muslimische Identität der neuen Untertanen sollte somit respektiert werden. Den Sepharden, den spanischen Juden, war die Ausübung ihres Glaubens hingegen nicht erlaubt. Sie hatten die Wahl, sich entweder taufen zu lassen – als Christen galten die Kapitulationsverträge dann auch für sie – oder sie wanderten aus.5 Im Zusammenhang mit den Zwangskonversionen der Sepharden entstand der Begriff cristiano nuevo (Neuchrist). Er wurde auch für die konvertierten mudéjares verwendet mit dem Zusatz convertido de moro. Für sie entstand allerdings um 1500 ein neuer Begriff: morisco, ‚kleiner Maure‘. Auch sie waren Neuchristen. Er setzte sich jedoch erst in der Mitte des Jahrhunderts durch. Problematisch an dem Begriff morisco ist seine häufig unreflektierte Verwendung, handelt es sich doch aus der Perspektive der zum Katholizismus zwangskonvertierten spanischen Muslime um eine Fremdzuschreibung. Er ist aber in der Forschung üblich geworden, ihn ganz zu vermeiden ist daher kaum möglich.6

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Die Katholischen Könige setzten 1492 Hernando de Talavera (ca. 1428–1507) als Erzbischof von Granada ein, der eine vergleichsweise milde Missionspolitik betrieb, welche auch zu ersten Konversionen zum Christentum führte.7 Bereits in den Jahren nach der Kapitulation Granadas wurden jedoch erste Vertragspunkte dementiert.8 Im Jahre 1499 löste darüber hinaus der Kardinal Francisco Jiménez de Cisneros (1436–1517) de Talavera ab.9 Jener betrachtete de Talaveras Missionierung als ungenügend, veranlasste unter erheblichem Zwang Massenkonversionen und ließ arabischsprachige Bücher verbrennen. Die mudéjares sahen die Kapitulationsverträge von 1491 verletzt, was im Albaicín, einem Stadtteil Granadas, zu einem Aufstand führte, der bereits nach drei Tagen niedergeschlagen wurde. Dieser Aufstand löste jedoch weitere in der Umgebung aus.10 Im Jahre 1502 waren bis auf einige Ausnahmen alle kastilischen mudéjares durch Zwangstaufen zu cristianos nuevos convertidos de moros geworden. Dadurch waren diese kastilischen Neuchristen den cristianos viejos (Altchristen) keineswegs gleichgestellt: Sie lebten oft in eigenen Stadtvierteln und waren gezwungen, sich durch besondere Unterscheidungsmerkmale kenntlich zu machen11 – so erscheint die Assimilierungspolitik widersprüchlich, förderte sie doch zugleich die Segregation. Ab 1526 gab es auch im Königreich Aragón und somit in ganz Spanien offiziell keine Muslime mehr. Sie wurden von den neuen Glaubensgenossen dennoch oft ausgegrenzt als schlechte Christen, verkappte Muslime oder eben „kleine Mauren“. Vergessen darf man jedoch nicht, dass in vielen Fällen das Zusammenleben von Alt- und Neuchristen ein sehr gedeihliches war.

Zunächst verbot man den Morisken alle Gegenstände und Handlungen, die von den Behörden dem religiösen Bereich zugeordnet wurden, also alles, was als primär islamisch galt: Bücher zum Islam12 und das rituelle Schlachten. Von diesem Verbot waren die Kleidung, das Baden, also alle kulturellen Eigenheiten ←11 | 12→ausgenommen, die als typisch, aber nicht als islamisch im engeren Sinn, angesehen wurden. Bald wurde jedoch alles geächtet, was Morisken von den Altchristen trennte: Tänze, Lieder und Musik, das Tragen von Amuletten und traditioneller Kleidung; Frauen durften sich nicht verschleiern und kein Henna verwenden. Es war verboten, Bäder zu benutzen. Bestimmte Speisen waren untersagt, beim Essen sollte man nicht auf dem Boden sitzen; andererseits erwartete man, dass bestimmte Speisen – etwa Schweinefleisch – als Nachweis christlicher Identität gegessen wurden. Die Verwendung der islamischen Vor- und Nachnamen wurde verboten.13 Als Kontrollorgan fungierte die Inquisition. Sie war den Katholischen Königen zunächst vom Papst wegen der konvertierten Sepharden unterstellt worden. Da es sich bei den Morisken offiziell um katholische Christen handelte, war die Inquisition auch für diese zuständig. Ziel war nun neben der religiösen Einheit des Staates die vollständige Assimilierung und das bedeutete die Auflösung und Zerstörung der islamischen und auch der jüdischen Kultur.14 Zu dieser Assimilierungspolitik gehörte es, an Sonntagen die Messe zu besuchen, die christlichen Fastentage einzuhalten und zur Beichte zu gehen. Oft handelte es sich bei diesen Bekenntnis-Handlungen jedoch nur um eine fingierte Identifikation mit dem Christentum und die Anpassung blieb äußerlich.

Bis etwa Mitte der 1550er Jahre wurden Repressionen nicht weiter verschärft. Als Philipp II. (1527–1598; reg. 1555/56–1598) jedoch die Nachfolge Karls V. (1500–1558; reg. 1516–1555/56) antrat, bestimmte die Außenpolitik die Wende im Verhältnis zwischen Morisken und Altchristen: Spanien und das Osmanische Reich gerieten in Konflikt. Darüber hinaus wurden umherziehende Räuberbanden im Landesinneren zunehmend zum Problem sowie aus Nordafrika kommende Piraten,15 welche Häfen und Städte in Küstennähe überfielen. ←12 | 13→Manche Morisken schlossen sich tatsächlich den Räuberbanden an und kooperierten mit Piraten, einige, um mit deren Hilfe zu fliehen. Doch diese Kontakte und die in die islamische Welt wurden auch propagandistisch genutzt, um bei Altchristen die Furcht vor einer panislamischen Allianz zu schüren und die Morisken als muslimische Gefahr im eigenen Land zu ächten.

Die Folge waren verstärkte Repressionen: In den Jahren 1566 und 1567 wurde eine Reihe weiterer Verbote erlassen, die zum Teil nicht neu waren, bisher jedoch nicht durchzusetzen waren. Die christlichen Behörden erhielten die Befugnis, Privaträume zu kontrollieren, Haustüren durften nicht verschlossen werden. Um Unruheherde zu zerstreuen, dachte man darüber nach, die granadinischen Morisken umzusiedeln. Pläne dafür existierten bereits, Aufstände in den Alpujarras (1568–1570)16 kamen den Behörden aber zuvor.17 Auf beiden Seiten wurde dieser Krieg grausam geführt, er ließ verwüstete Landstriche zurück. Die Unterstützung von außen durch die Herren von Konstantinopel und Algier war eher halbherzig; sie verfolgten mehr ihre eigenen Ziele. Dieser Konflikt, zusammen mit gegen die Morisken gerichteter Propaganda, schuf im Verhältnis zwischen Alt- und Neuchristen gegenseitiges Misstrauen, Feindschaft und Furcht.

Während des Alpujarra-Krieges war es zu Deportationen von Morisken aus Granada gekommen, die in andere spanische Besitzungen verpflanzt wurden. Die größte Deportation dieser Art setzte jedoch unmittelbar nach dem Alpujarra-Krieg ein: Im November 1570 begann man damit, die Morisken von Granada zu versammeln; innerhalb von einer Woche starteten mehrere Züge – insgesamt mindestens 50.000 Personen –, die von Reitern eskortiert und nach Westandalusien, Alt- und Neukastilien sowie in die Extremadura gebracht wurden. Der Weg war beschwerlich, dauerte mehrere Wochen. Kalte Wintertage und Krankheiten wie Typhus forderten Opfer. Ziel dieser Unternehmung war es, die Morisken zu isolieren und verwandtschaftliche Netze zu zerreißen, um weitere Aufstände zu verhindern.18

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Nach dem Alpujarra-Krieg fürchteten Altchristen erneute Aufstände, die Morisken Denunziationen bei der Inquisition. Man untersagte ihnen, ohne dringenden Grund die Städte und Dörfer zu verlassen, wo man sie angesiedelt hatte. Trotzdem wanderten viele in die Provinz Granada zurück. Man brachte sie wiederum in andere Gegenden, weil man ja weitere Aufstände befürchtete. Dieses Hin- und Rücksiedeln dauerte bis in die 1580er Jahre, als die Behörden es aufgaben, dagegen anzugehen. Gleichzeitig dachte man über eine „Lösung des Moriskenproblems“ nach. Die Ängste auf altchristlicher Seite nahmen psychotische Formen an: Man fürchtete den Ansturm aller Feinde der Christenheit auf das katholische Spanien. Prophezeiungen, es käme ein Retter, gab es auf beiden Seiten. Gewiss gab es durch die Kontakte nach außen konkrete Gründe für eine Furcht vor den Morisken, allerdings wurde diese Furcht derart durch Übersteigerungen genährt, dass die Atmosphäre aufgeladen wurde von einer irrationalen Panik.19

Man diskutierte mögliche Schritte: den Versuch einer weiteren Zwangsassimilierung mit stärksten Repressionen; die Auslöschung der Morisken entweder durch Vernichtung oder längerfristig durch Kastration und exogame Heiratsverbote; oder aber – und für diese Maßnahme würde man sich entscheiden – die Ausweisung, das Exil der gesamten Minderheit.20 An den Erfolg letzter unternommener Missionierungsversuche glaubte man nicht mehr. In den Jahren von 1609 bis 1614 wurden deshalb alle Morisken, bis auf wenige Ausnahmen, des Landes verwiesen.21 Die meisten begaben sich nach Nordafrika und ins Osmanische Reich, einige gingen nach Südfrankreich, Italien, siedelten sich auf dem Weg nach Konstantinopel irgendwo an. – Sie bildeten von nun an in Spanien keine eigene Minderheit mehr. Diejenigen, die zurückblieben, hatten sich in den meisten Fällen bereits assimiliert.22

Auf die Exilierung selbst soll an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden, sie beendet schließlich den Krypto-Islam in Spanien.

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2. Der Krypto-Islam in Spanien

2.1 Die taqīya

Die taqīya – wörtlich: Vorsicht, Geheimhaltung – erlaubt es dem Muslim, sofern er dazu gezwungen wird, seinen Glauben zu verleugnen. Eine Begründung findet diese Institution in Sure 16,106:

Diejenigen, die an Gott nicht glauben, nachdem sie gläubig waren – außer wenn einer (äußerlich zum Unglauben) gezwungen wird, während sein Herz (endgültig) im Glauben Ruhe gefunden hat, – nein, diejenigen, die (frei und ungezwungen) dem Unglauben in sich Raum geben, über die kommt Gottes Zorn (w. Zorn von Gott), und sie haben (dereinst) eine gewaltige Strafe zu erwarten.23

Auf dieser Basis verfasste der Muftī von Oran im Jahre 1504 ein Rechtsgutachten (fatwā), auf das sich die in Spanien lebenden Morisken stützen konnten, ohne vom Glauben abzufallen. Von diesem Gutachten zirkulierten verschiedene Versionen auf Arabisch und Spanisch24 sowie in Aljamiado.25 Es war ihnen unter dem Druck der christlichen Herrschaft erlaubt, eine Art inneren Islam zu leben und sich nach außen als Christen zu geben. Da es sich bei der taqīya quasi um das Fundament des Krypto-Islam in Spanien handelt, sei ein Teil der fatwā an dieser Stelle zitiert:

Wenn sie euch zur Stunde der aṣṣala [des Gebetes] zwingen ihre Götzenbilder anzubeten […], so seien eure Gedanken bei Allah, auch wenn es außerhalb der alkibla [Gebetsrichtung] sei […].

Und wenn sie euch bedrängen, Wein zu trinken, so trinkt ihn, aber nicht mit anniya [die Absicht],26 eine Verfehlung zu begehen.

Und wenn sie euch Schweinefleisch aufnötigen, so esst, indem ihr es in euren Herzen ablehnt […] und [handelt] ebenso bei jeder verbotenen [ḥaram] Sache, zu der sie euch zwingen.

Und ebenso, wenn sie euch zwingen Wucher zu nehmen oder das Verbotene [la ḥaram] zu tun, dann tut es, indem ihr es mit euren Herzen ablehnt und bittet bei Allah dafür um Vergebung.

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Und wenn sie euch zu den Worten des Unglaubens zwingen, und es ist euch möglich, euch zu verstellen, so tut es, und eure Herzen seien beständig im Glauben und das, was ihr unter Zwang sagt, sollen sie [die Herzen] ablehnen.27

Damit waren die Morisken autorisiert, scheinbar gegen ihren Glauben zu handeln, wenn sie in ihrer wahren Überzeugung am Islam festhielten. Trotz dieser (legalen) Vorsichtsmaßnahmen bemerkten Altchristen diese Praxis.

Es gab jedoch auch andere Stimmen: Der Rechtsgelehrte Ah.  mad al-Wanšarīsī (834–914/1431–1508)28 hatte beispielsweise eine umfangreiche fatwā-Sammlung zusammengestellt, in welcher der Standpunkt vertreten wird, dass Muslime nicht unter christlicher Herrschaft leben dürften und christlich dominierte Gebiete verlassen müssten, um der Apostasie zu entgehen:29 „Lieber muslimische Tyrannei als christliche Gerechtigkeit.“30

2.2 Formen des Widerstands

Viele Morisken übten Widerstand nicht als offene Rebellion, sondern indem sie weiter an ihrer Religion und an ihrer Kultur festhielten, soweit dies unter dem Druck von Verboten und Gefahren, denen man sich aussetzte, möglich war. Das eigene Heim entwickelte sich zu dem Raum, wo der Islam gelebt wurde. Den Kern der Glaubensgemeinschaft (umma) bildete die jeweilige Familie. Männer wie Frauen initiierten Zirkel, in denen der Koran rezitiert wurde. Vielen Familien wurden die Kinder genommen, um sie christlich zu erziehen.31 Diese stellten häufig eine Gefahr dar, da es ihnen nicht immer gelang, zu verheimlichen, dass die Eltern an islamischer Glaubens- und Lebenspraxis festhielten, was einige Eltern vor die Inquisition führte. Es blieb nur, die Kinder bis zu einem gewissen Alter christlich zu erziehen und erst in späteren Jahren, wenn sie reif genug wären, sich nicht zu verplappern, im Islam zu unterweisen. Oder man versteckte sie in den eigenen vier Wänden vor den Behörden, was auf Grund genauerer Kontrollen mit der Zeit sehr schwierig wurde.32 Teilweise wurde der Kontakt zu anderen Morisken verboten.33 Damit lebten die Mitglieder der umma in Spanien ←16 | 17→ohne die Möglichkeit einer ausgeprägten Interaktion, und sie konnten nicht offen als Gemeinschaft auftreten.34 Es ging somit oft darum, den Islam überhaupt zu erhalten.

Hat dieser Zwang, den Islam im Geheimen auszuüben, nun zu Besonderheiten über die Geheimhaltung hinaus geführt, so dass von einer eigenen Strömung im Islam gesprochen werden kann? Für eine Tradition, die den Morisken eigen ist, könnte sprechen, dass nach der Ausweisung 1609–1614 zahlreiche Exilanten, die etwa nach Nordafrika auswanderten, dort in vielen Fällen nicht als vollwertige Muslime anerkannt wurden. Doch dies scheint mehr die Position mancher Gelehrter widerzuspiegeln, aus deren Sicht, die Morisken sich der Apostasie schuldig machten, wenn sie nicht in die islamische Welt auswanderten.35 Darüber hinaus verfassten sie eine Literatur in einer ihnen eigenen Sprachform, auf die in den folgenden Abschnitten näher eingegangen wird. Viele der wahrgenommenen Unterschiede beruhen jedoch auf einer Außenperspektive, welche die gesellschaftlichen Bedingungen unter denen die spanischen Muslime der frühen Neuzeit lebten, zu wenig berücksichtigt.

2.2.1 Sprache und Schrift als Widerstand: Die Aljamiadotexte der spanischen Muslime

Die Aljamiadoliteratur ist nicht auf romanische Dialekte begrenzt. Es sind Aljamiadotexte in sehr verschiedenen Sprachen bekannt. Dabei handelt es sich um Sprachen, die üblicherweise in einer anderen Schrift als der arabischen geschrieben werden. Gerade die Verwendung der arabischen Schrift für diese Sprachen kennzeichnet die Aljamiadotexte. Neben romanischen Sprachen und Dialekten finden sich beispielsweise Texte auf Serbokroatisch, Albanisch, auf Chinesisch, Griechisch, Latein, Ungarisch und auch auf Deutsch.36

Dabei weisen sie gewisse Gemeinsamkeiten auf: zum einen die Verwendung der arabischen Schrift; zum anderen ist die Funktion der Texte meist auf einen (im weiteren Sinne) religiösen Bereich beschränkt und zwar innerhalb der ←17 | 18→Religionsgemeinschaft, so dass diese Art von Literatur den nichtmuslimischen Zeitgenossen selten bekannt wurde. Schließlich zeigt die Sprache einen hybriden Charakter: Konzepte aus der islamischen, v.a. aber der koranischen Ideenwelt, werden meist auch mit dem entsprechenden arabischen Wort wiedergegeben, ebenso erscheinen viele Koranzitate auf Arabisch.37 Der hybride Charakter findet sich meist nicht nur im Bereich des Wortschatzes und der Semantik, sondern auch in der Morphologie, Wortbildung und Syntax.38 Die Sprache ist meist dialektal geprägt und weist umgangssprachliche Kennzeichen auf. Die arabische Schrift wird an die Besonderheiten der Sprache mit Hilfe von diakritischen Zeichen angepasst, indem entweder neue Zeichen eingeführt oder arabische Zeichen umfunktioniert werden. Abweichende Schreibungen arabischer Wörter weisen darauf hin, dass das Arabische nicht (mehr) korrekt beherrscht wurde.39

Auf Grund der Tatsache, dass viele Aljamiadotexte in den verschiedenen Sprachen neben individuellen Eigenschaften auch große Gemeinsamkeiten aufweisen, ist der Begriff Aljamiadoliteratur für die Handschriften der spanischen Krypto-Muslime zu präzisieren.

Es erweist sich dabei als sinnvoll, die Schriftform von der Sprache zu trennen. Für in arabischen Buchstaben geschriebene Sprachen, die man für gewöhnlich nicht dem arabisch-islamischen Kulturkreis zuordnet, ist der Begriff Aljamiadoliteratur durchaus geeignet, da in vielen dieser Schriftformen auch ein ähnliches Wort existiert, das auf Arabisch ‛aǧamī zurückgeht (Fremdsprache, das Nicht-Arabische).40 Aljamiado stellt folglich einen allgemeinen Begriff dar. Im Spanischen findet sich daher oft der Ausdruck literatura aljamiado-morisca, um die Bezeichnung zu präzisieren. Georg Bossong will das Wort Aljamiado ebenfalls für die Schriftform reservieren und sie terminologisch von der Sprachform trennen, die er im Fall der Morisken einfach als Morisco (Moriskisch) bezeichnet.41 Problematisch ist sein Vorschlag jedoch, weil die Bezeichnung Morisco nahe legen könnte, dass es eine gemeinsame Sprache der Morisken gäbe, unabhängig vom Grad der Assimilierung. Außerdem handelt es sich wieder um die oben angesprochene Fremdzuschreibung und als Sprache der spanischen Muslime eignet sich ein Begriff, welcher die Neuchristen bezeichnet, nur bedingt. Morisco ist darüber hinaus nicht eindeutig, da es sich hierbei seit dem Mittelalter ←18 | 19→um das Adjektiv zu moro handelt und somit in vielen Kontexten der Bedeutung muslimisch entspricht. Auch lässt sich für das 17. Jahrhundert noch nachweisen, dass mit lengua morisca die maurische Sprache gemeint sein konnte, worunter man das (Dialekt-)Arabische verstand.42 Die Trennung zwischen Sprache und Schriftform bleibt dennoch wichtig, in einigen Fällen griff man nämlich auf lateinische Buchstaben zurück.43 Die Morisken konnten sich im Laufe der Zeit kaum noch sprachlich von ihren altchristlichen Landsleuten abgrenzen. Die Kenntnis des Arabischen hatte in Aragón und Altkastilien in ihren Reihen bereits vor der Reconquista stark abgenommen. Die Verwendung der arabischen Schrift hatte somit nicht in erster Linie praktische, sondern vor allem sakrale Gründe:44 „Schrift wird zum ‚Kulturem’, zum sinnfälligen Ausdruck der Zugehörigkeit zum islamischen Kulturkreis“45. Die Verwendung dieser Schrift war nicht nur ein Bekenntnis, sondern diente auch der Abgrenzung gegen den Katholizismus und dem Widerstand gegen sprachliche Assimilierungsbestrebungen,46 v.a. nachdem die arabische Schrift und Sprache verboten worden waren. Auf Grund der Zugehörigkeit zum islamischen Kulturkreis, hat diese Form des Spanischen besonders viele arabische Elemente in sich aufgenommen. Georg Bossong spricht in diesem Zusammenhang von heterodoxem Spanisch, dazu gehöre ebenfalls das hebraisierte Spanisch der Sepharden, das Judenspanische. Beiden steht das orthodoxe Spanisch, das latinisierte Spanisch der Christen gegenüber, das starke humanistische Einflüsse erfahren hat:47

So erscheint das Spanische nach 1492 in drei religiös determinierte Varietäten aufgespalten: eine islamische, die nach 1609 untergegangen ist; eine jüdische, die sich bis heute behauptet hat; und eine markiert christliche, welche die Norm der Standardsprache bestimmt.48

Deshalb spricht Hegyi auch von einer islamischen Variante des Spanischen (variante islámica del español).49 Wie das Arabische die Sprache ist, welche man typischerweise mit dem Islam verbindet, so wird die Sprache der spanischen ←19 | 20→Muslime in der verschrifteten Gestalt der Aljamiadoliteratur zu einer Varietät, die man dem Krypto-Islam zuordnen kann.

Die Aljamiadotexte kreisen in einem weiteren Sinne meist um den Islam.50 Sie dienten der Unterweisung, der Bewahrung der eigenen Tradition und Identität. Mit einem islamisch geprägten Spanisch, das Wortentlehnungen aus dem Arabischen, semantische und syntaktische Arabismen enthielt, konnten nicht nur Inhalte übersetzt werden, auch der ursprünglichen Form kam man näher und Stile ließen sich leichter übertragen. Die Abweichung von der christlich geprägten Norm diente nicht nur der Abgrenzung, sondern konservierte Eigenheiten, die sonst geglättet worden wären.51 Es handelt sich nach Galmés de Fuentes um traditionelle Literatur, welche auf der individuellen Textebene der micro-contextos wenig innovativ war und sich an der arabisch-islamischen Literatur orientierte. Auf der übergeordneten globalen Ebene der macro-contextos wurden die Texte jedoch neu angeordnet und entsprachen den aktuellen Lebensverhältnissen und Bedürfnissen der Minderheit.52 Ein wichtiges Thema war die Auseinandersetzung mit dem Christentum, wobei die spanischen Krypto-Muslime sich nicht nur vom Christentum distanzierten, sondern sich in einigen Fällen sogar von der koranischen Offenbarung entfernten. Insgesamt standen sie jedoch in islamischer Tradition.

2.2.2 Antichristliche Polemik zur Gottessohnschaft Jesu

An dieser Stelle soll die Auseinandersetzung der Morisken mit dem Christentum genauer untersucht werden an Hand des von Reinhold Kontzi herausgegebenen mittleren Teils der Handschrift der Biblioteca Nacional BN 4944.53 Hauptthema ←20 | 21→in diesem Teil der Handschrift ist die Gottessohnschaft Jesu und der Versuch, diese zu widerlegen. Mit seinem didaktischen Anspruch liefert der Text den Rezipienten auch Argumente, um die Gottessohnschaft Jesu in Frage zu stellen und ruft Lehren des Koran ins Gedächtnis, die in dem christlich geprägten Umfeld, in dem die Morisken lebten, leicht in Vergessenheit geraten konnten. Eingeleitet wird der Text folgendermaßen:

Hier und im Folgenden möchte ich die Blindheit der ġoyim [Ungläubige, Christen] aufzeigen, damit all jene, die in diesem Buch lesen, wissen und verstehen können wie man mit ihnen disputieren soll und welcher ihr Glaube ist.54

Es stellt sich die Frage, ob diese einleitenden Sätze ihre ursprüngliche Funktion nicht verloren hatten; mit Christen zu disputieren und ihren Glauben in Frage zu stellen, barg die Gefahr, die Aufmerksamkeit der Inquisition auf sich zu ziehen. Mit der Darstellung der christlichen Lehre konnte vielmehr die eigene Position in Abgrenzung zu jener der Christen vermittelt werden, wodurch den Beispielen und Kommentaren eine bewahrende Funktion für den internen Gebrauch zukommt.

Die Erzählung von Paulus und El Mūmin

Es folgt ein Text, der laut dem Morisko-Schreiber aus dem fünften Buch einer Geschichte stammt, die Sayfū Ibnu ‛Umar annabī55 verfasst habe. Laut diesem erzählte der Cousin des Propheten, Ibnu ‛Abbās (geb. drei Jahre vor der Hidschra),56 ‛Īsā Ibnu Maryam (Jesus) habe im Heiligen Land gepredigt, viele seien ihm gefolgt. Ein König namens Pabloš, in der Transliteration auch mit der Graphie „Pawloš“ wiedergegeben, habe sie verfolgen lassen. An diesem Pabloš, der stark an Paulus/Saulus der biblischen Apostelgeschichte erinnert,57 nimmt der ←21 | 22→Morisko-Schreiber Anstoß, er habe nämlich die Lehre Jesu verfälscht, nachdem er Verfolger gewesen war und zum Glauben bekehrt worden sei. Er führt die Gebetsrichtung (l-alqibla) in Richtung des Sonnenaufgangs ein. Er meint, alles Essbare sei ein Geschenk Gottes und Geschenke weise man nicht zurück, deshalb sei es erlaubt (ḥalāl) von allem zu essen. Der Morisko kommentiert das mit „Und sie aßen all die Speisen [košaš], die verboten waren.“58 Des weiteren habe Paulus, unter Ausschluss aller anderen, vier Männern, nämlich Ya‛qūb, Naštur, Malqun und El Mūmin gesagt, dass ‛Īsā (Jesus) Allāh sei und er sich den Menschen ähnlich gemacht habe. Ya‛qūb und Naštur hätten sich seiner Meinung angeschlossen, Malqun sagte, es seien drei (Trinität). El Mūmin (schlicht als „der Gläubige“ bezeichnet) aber bezichtigt sie alle der Lüge und verlässt sie und warnt seine Freunde und Verwandten vor ihnen:59

„Brüder, ihr wisst nicht, dass almasīḥ [der Messias] ein Mensch aus Fleisch [und Blut] war, und er war Diener und Bote des Schöpfers. Und so sagte er es euch.“ Und sie sagten: „Du hast wahr gesprochen.“ Er sagte: „So wisst, dass dieser falsche Paulus diese Menschen betrogen hat, und seht euch vor, dass er euch nicht betrüge, wie er sie betrogen hat.“60

Verfolgungen und Gefangensetzung sind die Folge. El Mūmin und seine Anhänger wollen in der Einsiedelei, in Höhlen im Gebirge, leben und kein Land beanspruchen.61

An dieser Stelle bringt der Morisko-Schreiber ein Koranzitat auf Arabisch, das er übersetzt und im Kontext der Erzählung um Paulus und El Mūmin auslegt. Bei der Koranstelle handelt es sich um einen Teil von Sure 57,27:

[…] [U];nd wir ließen im Herzen derer, die sich ihm anschlossen [‛Īsā], Milde Platz greifen (w. wir setzten in das Herz derer, die sich ihm anschlossen, Milde), Barmherzigkeit und Mönchtum [umillansa]. – Sie brachten es (d.h. das Mönchtum) (von sich aus) auf. Wir haben es ihnen nicht vorgeschrieben. (Sie haben es) vielmehr (von sich aus) im Streben nach Gottes Wohlgefallen (auf sich genommen) [das heißt El Mūmin und diejenigen, die mit ihm waren]. Doch hielten sie es (nachdem sie es erst einmal auf sich genommen hatten) nicht richtig ein. – Und wir gaben denjenigen von ihnen, die (an die ←22 | 23→Wahrheit der ihnen übermittelten Offenbarung) glaubten, ihren Lohn. Aber viele von ihnen waren Frevler [die Gegner El Mūmins].62

Pabloš kommt die Rolle des Frevlers zu, während El Mūmin nach Gottes Wohlgefallen strebt. Dies scheint auch der Rollenverteilung zu entsprechen, die er Christen und Muslimen zuschreibt. Die Christen, die an die Gottessohnschaft Jesu glauben, erscheinen als Frevler, während die Muslime den Geboten Gottes folgen. Er betont mehrfach die Blindheit und die fehlende Einsicht der Christen. Die Ursachen des Frevels sieht er somit womöglich gerade in diesen Unzulänglichkeiten, weniger in einem bösen Vorsatz. In dieser Erzählung ist bereits thematisiert, was sich durch den übrigen Text zieht: die Verfälschung der göttlichen Lehre in Form der Gottessohnschaft Jesu. Zugleich spricht diese einleitende Geschichte die Gefahren für die Rechtgläubigen an und stellt somit eine Identifikationsmöglichkeit und Handlungsorientierung für die spanischen Muslime dar.

Die Auseinandersetzung mit den Evangelien

Im Folgenden setzt sich der Verfasser der Handschrift BN 4944 mit den Evangelien auseinander, um zu zeigen, dass die Christen sie falsch interpretieren. Die Evangelien selbst böten keine argumentative Grundlage für die Gottessohnschaft Jesu:

Wisse Bruder, dass ich dir die mangelnde Übereinstimmung der Christen, und natürlich das Wissen davon, sehr leicht verkünden und zeigen will [ki(y)ero], durch ihr Evangelium. […] Und diejenigen, welche das Evangelium schrieben, waren vier: Yūḥanā [Johannes] und Matthäus und Markus und Lukas. Und der erste war Matthäus.63

Der Verfasser zitiert nun ausführlich Matthäus 5,3–6,18 (von den Seligpreisungen bis zur rechten Einstellung beim Fasten). Mehrere Passagen fehlen, der Zusammenhang bleibt aber gewahrt. Dem Evangelientext folgt ein Kommentar:

Wisse gehorsamer Bruder, dass Matthäus dies aus den Worten, die ‛Īsā [Jesus] sprach, zusammengetragen hat. Und er sagte: „Euer Schöpfer sieht euch und hört euch.“ Und er sagte nicht: „Ich sehe und höre euch.“ Und er sagte: „Vater unser, der in den Himmeln ist, dein Name sei geheiligt.“ Und er sagte nicht: „Ich bin im Himmel, geheiligt sei mein Name.“ Und es scheint hier, dass er nicht sagte: „Betet mich an.“ Zuvor sagte er ihnen, dass sie einen einzigen Gott, Herr des Himmels und der Erde, anbeten sollten. Nun, was für eine große Blindheit ist diese, dass sie lesen und nicht verstehen, wie ein Esel, der Bücher trägt.64

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Jesus (‛Īsā) hätte, wenn er Gott wäre, in der Ich-Form sprechen müssen, doch er äußert sich über Gott stets in der dritten Person. Dieses Argument wird einen Anhänger der Trinitätslehre kaum überzeugt haben. Der Verfasser zeichnet die Christen als ausnehmend einfältig – deshalb der Vergleich mit dem Esel65 – und setzt mit dieser rhetorischen Strategie den Gegner zugleich herab.

In den Ausführungen zu Markus werden Textstellen (bewusst?) verfälscht. Während es bei Markus 1,11 beispielsweise heißt: „Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“, gibt der Morisko diese Textstelle wieder mit „Mein Freund bist du“66, was seine Behauptung stützt, die Gottessohnschaft Jesu widerspreche den Evangelien:

Details

Seiten
384
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631803363
ISBN (ePUB)
9783631803370
ISBN (MOBI)
9783631803387
ISBN (Hardcover)
9783631801338
DOI
10.3726/b16199
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Kulturgeschichte Nachhaltigkeit Vorurteile Literatur
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 384 S., 11 s/w Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Ladislaus Ludescher (Band-Herausgeber:in)

Ladislaus Ludescher studierte Germanistik, Geschichte und Europäische Kunstgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und wurde mit einer Arbeit zur Rezeption der Amerikanischen Revolution in der deutschsprachigen Literatur der Spätaufklärung promoviert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Medien- und Öffentlichkeitsforschung, die Amerikanische Geschichte sowie die deutsch-amerikanischen Literatur- und Kulturbeziehungen.

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Titel: Grenzen, Wenden und Zäsuren
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