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Grundlagen, Wirkungen und Grenzen des tarifdispositiven Rechts in der Arbeitnehmerüberlassung

von Christoph Corzelius (Autor:in)
©2018 Dissertation 230 Seiten

Zusammenfassung

Die Indienstnahme des tarifdispositiven Rechts in der Arbeitnehmerüberlassung steht seit Jahren in der Kritik. Diese Arbeit widmet sich zunächst der Klärung der Grundlagen von (Privat-)Autonomie im Allgemeinen und Tarifautonomie im Speziellen und stellt die Funktionsvoraussetzungen vor. Anschließend werden die tarifdispositiven Gestaltungen, die die Novellierung des AÜG im Jahre 2017 mit sich brachte, im Detail untersucht und Reformvorschläge geboten, die bestehenden Dysfunktionalitäten entgegenwirken.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung und Gang der Untersuchung
  • B. Grundlagen der Tarifautonomie
  • I. Systemfrage: Delegation oder Privatautonomie?
  • 1. Delegatorischer Ansatz
  • 2. Kollektiv ausgeübte Privatautonomie
  • a. Kritik: Außenseiterwirkungen
  • b. Kritik: Verbandsbeitritt und zukünftige Tarifverträge
  • c. Kritik: Zusammenspiel von Arbeitskampffreiheit und Privatautonomie
  • 3. Vermittelnder Ansatz: Kombination und staatliche Anerkennung
  • 4. Ergebnis
  • II. Grundvoraussetzungen der (Privat-)Autonomie
  • 1. Selbstbestimmung und Betroffenheit
  • 2. Parität der handelnden Parteien
  • III. Auswirkungen auf die Tarifautonomie in der Arbeitnehmerüberlassung
  • 1. Gewerkschaften als Betroffene?
  • 2. Absicherung funktionsgerechter Selbstbestimmung durch das Tarifrecht
  • a. Parität und Tariffähigkeit
  • b. Konnex von Tariffähigkeit und -zuständigkeit
  • c. Struktur der Tarif- und Koalitionslandschaft
  • aa) Tariffähigkeit
  • (a) Soziale Mächtigkeit
  • (b) Partielle oder absolute Tariffähigkeit?
  • (c) Streitentscheid
  • bb) Tarifzuständigkeit der Arbeitnehmervereinigungen
  • (a) Inhalt der Gewerkschaftssatzungen der DGB-Tarifgemeinschaft
  • (b) Kritik an der Satzungspraxis
  • (1) Entleihbezogene Alternative („Annexzuständigkeit“)
  • (2) Betriebsbezogene Alternative
  • (c) Begrenzung auf den aktuellen Mitgliederbestand
  • cc) Ergebnis
  • IV. Tarifdispositives Gesetzesrecht
  • 1. Chancen und Risiken tarifdispositiven Gesetzesrechts
  • 2. Gebot zu tarifdispositiver Ausgestaltung
  • a. Für eine Pflicht
  • b. Gegen ein Gebot
  • c. Anknüpfung Regelungsverantwortung des Gesetzgebers
  • V. Vorgaben aus dem internationalen und europäischen Recht
  • VI. Fazit
  • C. Zeitliche Begrenzungen der Arbeitnehmerüberlassung
  • I. Zwingende Gleichbehandlung – nach neun Monaten
  • 1. Inhalt der Gleichbehandlung
  • 2. Inhalt der AÜG-Novelle
  • a. Vermutungsregelung § 8 Abs. 1 Satz 2
  • b. Begrenzung der Abweichung auf neun Monate
  • 3. Zulässigkeit der Einführung einer zeitlichen Grenze
  • a. Stand der Diskussion
  • b. Stellungnahme
  • 4. Abweichung durch Tarifvertrag
  • a. Entwicklung der Abweichungsmöglichkeit im deutschen Recht
  • b. Gegenwärtige Tariflandschaft in der Arbeitnehmerüberlassung
  • c. Abweichung im europarechtlichen Kontext
  • d. Gesamtschutz nach der RL 2008/104/EG im deutschen Recht
  • aa) Bedeutung der „Achtung des Gesamtschutzes“
  • bb) Gesamtschutz im deutschen Recht
  • (a) Immanente Schranken
  • (1) Bestimmtheit und Methodik
  • (2) Parallele: § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG
  • (3) Leitbild des Grundsatzes – nur Einzelausformung
  • (4) Zwischenergebnis
  • (b) Tarifautonomie und Richtigkeitsgewähr
  • (1) Systematik der Richtlinie
  • (2) „Richtigkeitsgewähr“
  • (c) § 138 BGB – Sittenwidrigkeit als Gesamtschutz?
  • (d) Lohnuntergrenze, § 3a
  • (e) Zwischenergebnis
  • cc) Vorschläge zur Wahrung des Gesamtschutzes durch Gesetzesrecht
  • dd) Ergebnis
  • e. Tarifdispositivität in der Leiharbeit
  • aa) Tarifdispositives Gesetzesrecht im AÜG
  • bb) Abweichung durch individualvertragliche Bezugnahme
  • (a) Unionsrechtliche Perspektive
  • (b) Legitimation der Tarifverträge
  • (1) Legitimation als tragender Faktor
  • (2) Tarifverträge und Außenseiterinteressen
  • (c) Bezugnahmeproblematik in Mischbetrieben
  • (1) Handhabung der Praxis – Überwiegensprinzip
  • (2) Argumentationsgang gegen das Überwiegensprinzip
  • f. Bezugspunkt der neun Monate
  • g. Rückausnahme für Branchenzuschlagstarifverträge, § 8 Abs. 4 Satz 2
  • aa) Inhaltliche Vorgaben
  • bb) Als gleichwertig festgelegtes Arbeitsentgelt
  • h. Fazit
  • 5. Lösungsansätze
  • a. Abschaffung der Tarifdispositivität
  • b. Streichung der Bezugnahmemöglichkeit
  • aa) Streichung der Bezugnahmemöglichkeit
  • bb) Beschränkung der Bezugnahmemöglichkeit
  • cc) Teleologische Reduktion der Erstreckungsklausel
  • c. Leiharbeitnehmereigene Gewerkschaft
  • aa) Organisation der Gewerkschaft: Arbeitnehmerüberlassung als eigene Branche?
  • bb) Auswirkungen des § 4a TVG
  • (a) Mehrheitsentscheidung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG
  • (b) Betriebsbegriff
  • cc) (Außerrechtliche) Hürden
  • d. Eigener Vorschlag – Bezugnahme nach Vorprüfung
  • aa) Funktionale Ähnlichkeit von Bezugnahmemöglichkeit und Allgemeinverbindlicherklärung
  • bb) Bezugnahme in der Arbeitnehmerüberlassung – Besonderheit
  • cc) Bedenken – Tarifzensur?
  • dd) Ausgestaltung
  • 6. Ergebnis
  • II. Höchstüberlassungsdauer
  • 1. Einführung einer zeitlichen Höchstgrenze
  • a. Bezugspunkt der Höchstüberlassungsdauer
  • aa) Verstoß gegen Art. 5 Abs. 5 RL 2008/104/EG?
  • bb) Lösung
  • b. Rechtfertigungsbedürfnis nach Art. 4 Abs. 1 RL 2008/104/EG
  • c. Entleiherbegriff
  • 2. Kombination von Höchstüberlassungsdauer und § 8 Abs. 4
  • a. Beschränkung der unternehmerischen Freiheit der Verleiher, Art. 16 GRC
  • b. Verbot aus RL 2008/104/EG?
  • aa) Verbot aus RL 2008/104/EG?
  • bb) Streitentscheid
  • c. Rechtfertigung der Beschränkung, Art. 52 Abs. 1 GRC
  • aa) Verhältnismäßigkeit – Schutz der Leiharbeitnehmer
  • bb) Verhältnismäßigkeit – Schutz der Stammarbeitnehmer vor Substitution
  • 3. Abweichung durch Tarifverträge der Einsatzbranche
  • a. Systembruch durch Bezug auf Sozialpartner der Entleihbranche
  • aa) Tariflandschaft für die Arbeitnehmerüberlassung in der Einsatzbranche
  • bb) Tarifzuständigkeit
  • cc) Tarifverträge der Einsatzbranche – systemkonformer Anknüpfungspunkt
  • b. Rechtliche Qualifizierung der Abweichungsklausel
  • c. Abweichung durch Betriebs-/Dienstvereinbarung
  • d. Ergebnis
  • 4. Alternativer Lösungsansatz: Sachgrundbindung
  • a. Vergleichsbetrachtung: Andere europäische Rechtsordnungen
  • b. Vorschläge in der Literatur
  • c. Tauglichkeit der Sachgrundbindung
  • III. Ergebnis
  • D. Umfassende Tarifdispositivität im öffentlichen Dienst? § 4 TVöD als Arbeitnehmerüberlassung
  • I. Entwicklung der Rechtslage
  • II. Gestaltungsformen
  • III. Ausschlusskriterien
  • 1. Arbeitnehmereigenschaft
  • 2. Vertragliche Überlassung
  • 3. Bloß gelegentliche Überlassung
  • IV. Phänomenologische Einordnung
  • V. Teleologische Erwägungen
  • 1. Wirtschaftliche Tätigkeit
  • a. Übertragbarkeit der wettbewerbsrechtlichen Begrifflichkeit
  • b. Öffentliche Arbeitgeber als Marktakteure
  • 2. Schutzzweckorientierte Argumentation gegen eine Anwendbarkeit
  • a. Divergenz der Schutzzwecke von Personalgestellung und AÜG
  • b. Bestandsschutz
  • VI. Umfang der Rechtsfolgen bei Anwendbarkeit des AÜG
  • 1. Materielle Vorschriften
  • 2. Erlaubnisvorbehalt
  • a. Teleologische Reduktion der Erlaubnispflicht
  • aa) Zuverlässigkeit öffentlicher Arbeitgeber
  • bb) Erlaubnisvorbehalt als originär mitgliedstaatliches Recht
  • b. Sonderfall: Dauerhafte Überlassungen
  • aa) Problem: Antonyme zeitliche Komponenten
  • bb) Lösungsansätze
  • 3. Ergebnis
  • VII. Zulässigkeit einer Ausnahmeregelung für öffentliche Arbeitgeber
  • 1. Lösung durch Kodifizierung einer Arbeitnehmerüberlassung auf Dauer
  • 2. Änderung des TVöD
  • 3. Normierte Befreiung von Erlaubnispflicht und Höchstüberlassungsdauer
  • 4. Bereichsausnahme für den öffentlichen Dienst
  • a. Problem: Richtlinienkonformität
  • b. Lösung
  • VIII. Ergebnis
  • E. Zusammenfassende Thesen
  • Literaturverzeichnis
  • Lebenslauf

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A. Einleitung und Gang der Untersuchung

Die Arbeitnehmerüberlassung ist ein polarisierendes Flexibilisierungsinstrument: Während einige sie als „Jobmotor“ ansehen, wird sie von Kritikern in die „Schmuddelecke“ verortet oder gar als „moderne Sklaverei“ bezeichnet.1 In den vergangenen Jahren wurde die Arbeitnehmerüberlassung Gegenstand verschiedener nationalrechtlicher (De-)Regulierungen und einer EU-Richtlinie.2 Zuletzt wurde der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1.4.20173 tätig. Kernanliegen der Neuregelung waren die (Wieder-)Einführung einer Höchstüberlassungsdauer und Änderungen im Bereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes.

Besondere Brisanz erhalten diese Regelungen durch ihre tarifdispositive Ausgestaltung und die besondere Struktur der Tarif- und Koalitionslandschaft in der Arbeitnehmerüberlassung: Es ist festzustellen, dass die Beschäftigten ausgesprochen organisationsunwillig sind – nur ca. 2% der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert.4 Dessen ungeachtet richten sich die Arbeitsverhältnisse nahezu ausnahmslos nach tarifvertraglichen Regelungen, allerdings nicht im Wege der normativen Geltung aufgrund Mitgliedschaft, sondern vielmehr aufgrund des flächendeckenden Einsatzes individualvertraglicher Bezugnahmeklauseln.

Diese Arbeit wirft zunächst (B.) einen Blick auf die dogmatischen Grundlagen der Tarifautonomie im Allgemeinen und geht auf die Legitimation der Tarifvertragsparteien ein. Anschließend wird das dogmatische Fundament herausgearbeitet, auf dem die Anerkennung der Privatautonomie durch eine freiheitliche Rechtsordnung basiert. Daraufhin wird der Frage nachgegangen, ob bzw. inwiefern in der Arbeitnehmerüberlassung noch von Autonomie die Rede sein kann. Weiter wird ausgelotet, welche Chancen und Risiken tarifdispositives Recht birgt und ob sich sogar eine Pflicht zu tarifdispositiver Ausgestaltung ergibt.

Daran anschließend findet eine Untersuchung der 2017 in Kraft getretenen Änderungen im Bereich des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der Höchstüberlassungsdauer statt. Zunächst wird die Ausgestaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf den Prüfstand gestellt (C. I.). Neben der einfachrechtlichen ← 13 | 14 → Zulässigkeit der zeitlichen Grenzen liegt das Augenmerk insbesondere auf den Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht und der RL 2008/104/EG für die Tarifdispositivität ergeben. Daraufhin erfolgt eine Detailbetrachtung der Tariflandschaft, die sich insbesondere der Tariffähigkeit und -zuständigkeit der Gewerkschaften widmet. Sodann werden Lösungsvorschläge unterbreitet und beleuchtet, inwiefern sie zu einer Auflösung der identifizierten Problemlagen beitragen können.

Anschließend gilt das Augenmerk der eingeführten Höchstüberlassungsdauer (C. II.). Zunächst befasst sich die Arbeit mit der Frage der zeitlichen Begrenzung der Überlassung an sich, bevor die Kombination von zeitlich begrenzter Gleichbehandlung und Überlassungsdauer kritisch untersucht wird. Daraufhin steht die systematische Stimmigkeit der tarifdispositiven Ausgestaltung im Fokus, bevor alternative Lösungsansätze diskutiert werden.

Sodann wird die Bereichsausnahme für Tarifverträge des öffentlichen Dienstes (§ 1 Abs. 3 Nr. 2b, 2c) beleuchtet (D.). Die Bereichsausnahme gewährt ganz erhebliche Spielräume für tarifvertragliche Regelungen – eine allumfassende Tarifdispositivität. Es ist zu klären, ob Personalüberlassungen im öffentlichen Dienst überhaupt als Arbeitnehmerüberlassung zu werten sind und welche Rechtsfolgen sich hieraus ergeben, bevor die Zulässigkeit der Ausnahmeregelung im Detail untersucht wird.

Abschließend (E.) erfolgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse in Thesen.


1 Vgl. Darstellung bei Lembke/Rothmann, ZESAR, 2014, 372; krit. zur Einordnung der Arbeitnehmerüberlassung als prekär Boemke, ZAAR Schriftenreihe Bd. 41, S. 99, 106.

2 RL 2008/104/EG v. 19.11.2008, L 327/9.

3 BGBl. I, S. 258.

4 UBGH/Hurst, § 8 Rn. 66; Däubler/Heuschmid, TVG, § 1 Rn. 811; Sansone, Gleichstellung, S. 363; Rieble, BB 2012, 2177; vgl. Karthaus/Klebe, FS Kempen, S. 295, 297, Fn. 9.

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B. Grundlagen der Tarifautonomie

Ob tarifdispositives Gesetzesrecht im Allgemeinen und die Abweichungsmöglichkeit im Wege der Bezugnahme im Speziellen sachgerecht erscheinen, hängt wesentlich damit zusammen, welches funktionale Verständnis der Tarifautonomie zugrunde gelegt wird und wie deutlich die Mitgliedschaft als legitimierender Faktor in Erscheinung tritt. Je bedeutsamer die Mitgliedschaft der von den Regelungen Betroffenen für die Legitimation und die Privilegierung von Tarifverträgen ist, desto dysfunktionaler erscheint angesichts des niedrigen Organisationsgrades ihre Instrumentalisierung zur Abweichung von gesetzlichen Mindestarbeitsbedingungen in der Arbeitnehmerüberlassung. Löst man die Legitimation der Tarifverträge hingegen von der Mitgliedschaft der Betroffenen und sucht die Legitimation in einer gesetzlichen Entscheidung oder dem Wesen der Sozialpartner, bestehen keine dogmatischen Bedenken. Ganz grundlegende Bedeutung kommt der Frage zu, welche Stellung die Sozialpartner in der Tarifrechtsordnung einnehmen und was der Grund dafür ist, dass man den zwischen ihnen abgeschlossenen Verträgen so weitreichende Bedeutung beimisst.

I. Systemfrage: Delegation oder Privatautonomie?

Diese Weichenstellung führt zu der Frage, wie Normsetzungsbefugnis und Tarifwirkung dogmatisch zu begründen sind: Folgt man dem delegatorischen Ansatz, bedarf es keiner mitgliedschaftlichen Legitimation – die Koalitionen erfüllen durch die Tarifverträge die gestalterische Funktion, die ihnen vom Gesetzgeber zugedacht ist. Verlegt man sich demgegenüber auf die kollektiv ausgeübte Privatautonomie als Begründungsansatz, bedarf es des legitimierenden Elements der Koalitionsmitgliedschaft.5

Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass der Tarifvertrag auf der einen Seite zwar ein Vertrag von Privatrechtssubjekten ist, der nach privatrechtlichen Regeln geschlossen wird, auf der anderen Seite jedoch ein Rechtsetzungsakt mit Normwirkung.6 ← 15 | 16 →

1. Delegatorischer Ansatz

Nach der früher vertretenen Delegationstheorie basiert die Regelungsbefugnis auf einer hoheitlichen Ermächtigung der Tarifvertragsparteien durch den Gesetzgeber: Die Ordnung des Arbeitslebens erfolgt also im Staatsauftrag durch private Verbände.7 Die Tarifvertragsparteien leiten ihre Befugnis aus der Ermächtigung des Tarifvertragsgesetzes her. Kraft eigenen Rechts sind die Tarifvertragsparteien hingegen nicht zur Regelung der Arbeitsverhältnisse befugt – dieses Recht können sie nur ausüben, weil es ihnen vom Gesetz übertragen ist.8

Nimmt man die Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes in den Blick, kommen Zweifel an einer solchen Delegation vom Staat an die Koalitionen auf: Eine Delegation kann nur vorliegen, wenn der Staat eine Zuständigkeit, die eigentlich bei ihm liegt, auf eine andere Stelle überträgt.9 Die Befugnis zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist durch Art. 9 Abs. 3 GG jedoch bereits den Koalitionen zugewiesen. Der Staat – durch Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG – und die Tarifvertragsparteien – durch Art. 9 Abs. 3 GG – sind gleichermaßen von der Verfassung mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe betraut worden. Der Staat kann die Aufgabe damit nicht an die Koalitionen delegieren – sie ist ihnen bereits zugewiesen.10

Zudem würde die Delegation staatlicher Kompetenzen erfordern, dass der Delegat durch ein staatliches Aufsichtsintrumentarium in einem Art. 80 GG vergleichbaren Rahmen vom Deleganten kontrolliert werden kann.11 Darüber hinaus würde das Handeln des Delegaten bei einer Übetragung staatlicher Kompetenzen ein staatliches Handeln sein – der Abschluss eines Tarifvertrags ist ← 16 | 17 → demgegenüber Grundrechtsgebrauch12 und scheidet daher als staatliches Handeln aus.13

2. Kollektiv ausgeübte Privatautonomie

Diesem auf die Mitgliedschaft als Legitimation verzichtenden Verständnis steht diametral das Lager gegenüber, dem auch das BAG im Ausgangspunkt angehört: Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie.14

Fundamentale Bedeutung erhält der Verbandsbeitritt, der als privatautonome Unterwerfung unter die Regelungshoheit des Kollektivs angesehen wird:

Die Befugnis der Koalitionen, durch kollektive Vereinbarungen mit dem sozialen Gegenspieler (Tarif-)Normen zu vereinbaren, ergibt sich zumindest auch daraus, dass sich die Mitglieder der tariflichen Normsetzungsbefugnis unterworfen haben […]. Allerdings bedarf es zur Tarifgebundenheit keiner ausdrücklichen Unterwerfungserklärung der Verbandsmitglieder. Hierfür genügt regelmäßig der Verbandsbeitritt. Darin kommt der Wille zum Ausdruck, sich an die vom Verband geschlossenen Tarifverträge zu binden.15

Die Tarifautonomie fungiert nach diesem Verständnis als ein Sicherungsinstrument, um eine selbstbestimmte – privatautonome – Regelung der Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, die dem einzelnen Arbeitnehmer aufgrund der strukturellen Unterlegenheit nicht möglich ist. Bisweilen wird daher die Koalitionsfreiheit als „dienendes Freiheitsrecht“ bezeichnet.16 Die Koalitionsfreiheit dient dem Einzelnen, um ihm „in seiner Vertragsschwäche gegenüber dem Arbeitgeber beizustehen“, indem kollektiv Marktmacht gebildet wird.17 ← 17 | 18 →

Dieses Grundverständnis verdient zwar zunächst einmal Zustimmung, allerdings gibt es gewichtige Gründe, die gegen ein ausschließlich privatautonomes Begründungsmodell sprechen:

a. Kritik: Außenseiterwirkungen

Zunächst einmal lassen sich Außenseiterwirkungen nicht vollumfänglich erklären.18 Der für die Legitimation der Tarifnormwirkung fundamentale Beitrittsakt fehlt bei Außenseitern gerade. Dennoch erstreckt das TVG die Tarifgeltung an verschiedenen Stellen auf Außenseiter (§ 3 Abs. 2, 3, § 4 Abs. 1 Satz 2, § 4 Abs. 5, § 5 TVG).

Das Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung iSd. § 5 TVG kann durch eine ausschließlich auf die mitgliedschaftliche Legitimation abstellende Sichtweise nicht erklärt werden.19 Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein „Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG findet“.20 Ricken geht angesichts des Wortlauts davon aus, dass eine Sonderregelung vorliegt, die keine Unterschiede zur Anordnung der verbindlichen Wirkung von Tarifverträgen aufweist:21 § 5 Abs. 4 TVG spricht davon, dass durch die Allgemeinverbindlicherklärung die Rechtsnormen des Tarifvertrages auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Geltungsbereich erfassen. Die „Geltung“ des Tarifvertrags ordnen die §§ 3, 4 TVG an. § 5 TVG muss also in seinem systematischen Zusammenhang mit §§ 3, 4 TVG gesehen werden. Durch diese Auslegung des § 5 TVG muss es zu einer entsprechenden Anwendung des § 4 Abs. 1 TVG kommen, sodass eine einheitliche Erklärung der Rechtswirkung erforderlich wird.22 Diese ← 18 | 19 → kann für Außenseiter mangels Mitgliedschaft nicht durch gelingen, sodass eine ausschließlich privatautonome Erklärung nicht überzeugen kann.23

Die Rechtsnormwirkung des § 3 Abs. 3 TVG lässt sich demgegenüber auf eine privatautonome Grundlage stellen:24 Zwar ist tatsächlich, mit Gamillscheg,25 kein stärkerer Entzug der Legitimation als der Verbandsaustritt denkbar. Das Ende der Mitgliedschaft beeinflusst allerdings die Geltung des Tarifvertrags nicht, solange die Ansprüche einmal begründet wurden. Es handelt sich damit weniger um ein Legitimationsproblem als vielmehr um eine Frage der privatautonom begründeten Vertragstreue.26

Die Außenseiterwirkung bei der Erstreckung von Betriebsnormen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen nach § 3 Abs. 2 TVG lässt sich allein als Realisierung des staatlichen Gestaltungsauftrags interpretieren:27 Ohne die durch § 3 Abs. 2 TVG erstreckte Ausdehnung der Normwirkung wäre es unmöglich, Regelungen zu implementieren, die sachnotwendig nur sinnvoll im gesamten Betrieb Anwendung finden können. Zum Inhalt des gesetzgeberischen Gestaltungsauftrages gehört es, Schwächen des Tarifvertragssystems zu beheben und die Verwirklichung tariflich regelbarer Ziele zu ermöglichen.28 Auch hier ordnet § 3 Abs. 2 TVG die Geltung des Tarifvertrags an, sodass eine systematische Verknüpfung mit §§ 3, 4 TVG besteht, die das Bedürfnis nach einem einheitlichen Erklärungsversuch begründet.

Auch eine rein privatautonome Erklärung der Nachwirkung des Tarifvertrags nach § 4 Abs. 5 TVG lässt sich nicht vornehmen.29 Die Tarifvertragsparteien treffen eine Entscheidung darüber, für welche Laufzeit der Tarifvertrag Geltung beanspruchen soll – die privatautonome Entscheidung zum Koalitionsbeitritt kann hier zunächst als legitimierendes Element angeführt werden. Nach Ablauf der Laufzeit ordnet hingegen § 4 Abs. 5 TVG an, dass die Tarifnormen weitergelten. Mit § 4 ← 19 | 20 → Abs. 5 TVG trägt der Gesetzgeber (vorrangig) dem Interesse der beteligten Parteien Rechnung, inhaltliche Veränderung des bestehenden Arbeitsverhältnisses zu verhindern.30 Die Rechtswirkung des Tarifvertrags wird nach Beendigung des vertraglich begründeten Schuldverhältnisses gesetzlich aufrechterhalten, obwohl der Wille der Tarifvertragsparteien darauf gerichtet war, die Geltungsdauer zu begrenzen.31 Diese Fortgeltung über die Laufzeit des Tarifvertrages hinaus könnten die Tarifvertragsparteien nicht von sich aus – privatautonom – vornehmen, sodass eine Kombination von privater Rechtsetzung und hoheitlicher Weitergeltungsanordnung vorliegt.32

b. Kritik: Verbandsbeitritt und zukünftige Tarifverträge

Weiter wird gegen die Unterwerfungstheorie vorgebracht, es ergebe sich kein Mandat zur Regelsetzung aus dem Verbandsbeitritt, sodass die Erklärung der Normsetzung nicht gelinge.33 Auch stößt die Unterwerfung unter die Ergebnisse zukünftiger Tarifverträge auf Kritik:34 Es sei wenig überzeugend, den Beitritt als Blankoscheck35 für belastende Regelungen zu interpretieren, die nach Art und Umfang noch nicht bestimmt sind. Die Einwilligung könne sich daher nur auf die bereits bestehenden Tarifverträge beziehen.36 Es lässt sich dagegen einwenden, dass der Charakter des Tarivertrags als Kompromiss und die damit einhergehenden Implikationen den Mitgliedern beim Eintritt hinreichend bekannt sind.37 ← 20 | 21 →

Details

Seiten
230
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631760154
ISBN (ePUB)
9783631760161
ISBN (MOBI)
9783631760178
ISBN (Hardcover)
9783631760147
DOI
10.3726/b14304
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Privatautonomie Tarifautonomie Leiharbeit Leiharbeitsrichtlinie Personalgestellung Equal-Pay
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 230 S.

Biographische Angaben

Christoph Corzelius (Autor:in)

Christoph Corzelius studierte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Rechtswissenschaften und legte sein 1. Staatsexamen 2015 ab. Während des Studiums nahm er eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer internationalen Großkanzlei auf. Promotionsbegleitend war er Wissenschaftliche Hilfskraft bei Prof. Dr. Stefan Greiner am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit in Bonn.

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