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Die politische Dimension als didaktischer Lerngegenstand in Lehrwerken für den Englischunterricht

von Janina Kuhn (Autor:in)
©2019 Dissertation 684 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende länder- und schulartübergreifende Studie geht der Frage nach, welchen Beitrag der Englischunterricht zur politischen Bildung von Schülerinnen und Schülern leistet. Ausgehend von den Anforderungen an einen politisch mündigen Bürger, werden potentiell politisch relevante Themen einer inhaltlichen und didaktisch-methodischen Würdigung unterzogen. Das qualitativ angelegte Forschungsprojekt leistet einen Beitrag zur Lehrwerkkritik. Auf der Basis der Untersuchungsergebnisse zeigt die Arbeit Perspektiven auf, wie Potentiale für die Entwicklung politischer Bildung im Englischunterricht in einer neuen Lehrwerkgeneration genutzt werden können.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Zielsetzung und Forschungsgegenstand
  • 1.1 Ziele und grundsätzliche Überlegungen
  • 1.2 Aspekte der Lehrwerkanalyse
  • 1.2.1 Das Lehrwerk in der Fremdsprachendidaktik
  • 1.2.1.1 Begriff
  • 1.2.1.2 Die Entwicklung von Lehrwerken
  • 1.2.1.3 Die Stellung des Lehrwerks in der Unterrichtspraxis
  • 1.2.2 Die Entwicklung der Lehrwerkanalyse und ihre Methoden
  • 1.2.2.1 Problemaufriss
  • 1.2.2.2 Lehrwerke als Untersuchungsgegenstand in der Forschung
  • 1.2.2.3 Verfahren der Lehrwerkanalyse
  • 1.2.2.4 Kriterien der Lehrwerkanalyse und Lehrwerkkritik
  • 2. Bedingungsgefüge des Englischunterrichts im 21. Jahrhundert
  • 2.1 Externe Einflussfaktoren
  • 2.1.1 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen
  • 2.1.2 Bildungsstandards
  • 2.2 Tragende Konzepte des Englischunterrichts der Gegenwart
  • 2.2.1 Interkulturelle kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel
  • 2.2.1.1 Exkurs: Von der Landeskunde zum interkulturellen Lernen
  • 2.2.1.2 Interkulturelles Lernen
  • 2.2.1.3 Transkulturelles Lernen
  • 2.2.1.4 Zusammenfassung
  • 2.2.2 Didaktische Leitprinzipien und methodische Handlungsfelder
  • 2.2.2.1 Handlungsorientierung
  • 2.2.2.2 Interkulturelles Handeln
  • 2.2.2.3 Aufgabenorientierung
  • 2.2.2.4 Lernerorientierung
  • 2.2.2.5 Inhaltsorientierung
  • 2.2.2.6 Selbsttätiges Lernen
  • 3. Politische Bildung als Sozialisationsauftrag der Erziehung in der Schule
  • 3.1 Grundlagen
  • 3.1.1 Aufgaben und Ziele
  • 3.1.2 Inhaltliche Felder
  • 3.1.3 Didaktische Prinzipien und methodische Umsetzung
  • 3.2 Bedeutsamkeit im 21. Jahrhundert
  • 3.2.1 Globalisierung
  • 3.2.2 Politische Partizipation
  • 3.2.3 Jugendliche und Politik
  • 4. Methodisches Vorgehen und Aufbau des Textkorpus
  • 4.1 Elemente politischer Bildung
  • 4.1.1 Verfassungsrechtliche Grundlagen des Bildungsauftrags der Schulen
  • 4.1.2. Analyse bildungspolitischer Dokumente und schulartspezifischer Curricula
  • 4.2. Methodische Grundlegung der Lehrwerkanalyse
  • 4.2.1 Auswahl des Textkorpus
  • 4.2.2 Aufbau und Vorgehen der Analyse
  • 5. Felder des Politischen Lebens im staatlichen Gefüge
  • 5.1 Überblick: Facetten der Ausübung der Bürgerrolle
  • 5.2 Regierungssysteme
  • 5.2.1 Die Funktionsweise der Systeme im UK und in den USA
  • 5.2.2 Einblicke in Entwicklungen im 21. Jahrhundert
  • 5.3 Wahlen und Parteien
  • 5.3.1 Die Präsentation von politischen Parteien
  • 5.3.2 Die Auseinandersetzung mit Wahlsystemen und Wahlkampfszenarien
  • 5.3.3 Grundlagen und Möglichkeiten aktiver politischer Partizipation
  • 5.4 Repräsentanten und Zeichen
  • 5.4.1 Mitglieder der königlichen Familie im UK
  • 5.4.2 Politiker
  • 5.4.3 Gebäude
  • 5.4.4 Symbole
  • 5.5 Reden als Instrument der Darlegung von politischen Überzeugungen und staatlicher Richtungsorientierung
  • 5.5.1 Einführung in die Analyse von Reden
  • 5.5.2 Beispiele und Analyseschwerpunkte
  • 5.6 Politische Entwicklungen in der Landesgeschichte
  • 5.6.1 Meilensteine der Demokratieentwicklung
  • 5.6.2 Demokratie in der Diskussion
  • 5.7 Zusammenfassung
  • 6. Transnationale Politische Partizipation
  • 6.1 Überblick: Internationale Kontakte in einer globalisierten Welt
  • 6.2 Die Vereinten Nationen als Zusammenschluss mit weltweiter Verantwortung
  • 6.2.1 Beschreibung, Aufgaben und Herausforderungen der UN als Völkerrechtssubjekt
  • 6.2.2 Die Rolle der Unterorganisationen der UN am Beispiel von UNICEF und UNHCR
  • 6.2.3 Die Auseinandersetzung mit den Rechten und der Würde des Menschen
  • 6.3 Die Supermacht USA
  • 6.3.1 Die globale Rolle der USA
  • 6.3.2 9/11 als Zäsur in der politischen und historischen Entwicklung
  • 6.4 Die Europäische Union
  • 6.4.1 Aufbau, Aufgaben und globale Herausforderungen im 21. Jahrhundert
  • 6.4.2 Das Spannungsverhältnis zwischen dem UK und der EU
  • 6.5 Die Bedeutung transatlantischer Beziehungen
  • 6.5.1 Die deutsch–amerikanischen Beziehungen
  • 6.5.2 Die amerikanisch–europäische Partnerschaft
  • 6.5.3 Das britisch–amerikanische Verhältnis
  • 6.6 Der Beitrag nichtstaatlicher Organisationen im globalen Gefüge
  • 6.6.1 Arbeitsweise und Aufgaben
  • 6.6.2 Herausforderungen und Probleme
  • 6.7 Aspekte von Friedenserziehung
  • 6.7.1 Die Beschäftigung mit Krisen- und Konfliktregionen
  • 6.7.2 Der Konflikt in Nordirland
  • 6.7.3 Die Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden
  • 6.8 Zusammenfassung
  • 7. Globale und westliche Wirtschaftssysteme
  • 7.1 Überblick: Wandel durch Globalisierung
  • 7.2 Einblick in Wirtschaftsräume
  • 7.2.1 USA und UK
  • 7.2.2 China
  • 7.2.3 Indien
  • 7.3 Globalisierung unter arbeitsmarktpolitischer Perspektive
  • 7.3.1 Arbeitsbedingungen in einer globalisierten Wirtschaft
  • 7.3.2 Outsourcing, Reshoring und Offshoring
  • 7.3.3 Mindestlohn und bedingungsloses Grundeinkommen
  • 7.4 Herausforderungen und Krisen einer globalisierten Wirtschaft
  • 7.4.1 Die Finanzkrise 2008 und deren Folgen
  • 7.4.2 Die europäische Schuldenkrise
  • 7.4.3 Kritische Betrachtung des Kapitalismus
  • 7.4.4 Entwicklungsländer als Erfüllungsgehilfen
  • 7.5 Zusammenfassung
  • 8. Soziologische und soziale Aspekte einer Gesellschaft
  • 8.1 Überblick: Manifestationen von Bevölkerungsstrukturen und sozialem Staatsverständnis
  • 8.2 Die Rolle des Staates im 21. Jahrhundert
  • 8.2.1 Das Individuum in der Gesellschaft
  • 8.2.2 Das Ehrenamt als Pfeiler eines funktionierenden Staates
  • 8.2.3 Die Zukunft des Sozialstaats
  • 8.3 Gesellschaftsstrukturen im Wandel
  • 8.3.1 Das Zusammenleben der Generationen
  • 8.3.5 Soziale Mobilität und Chancengerechtigkeit
  • 8.4 Der Einfluss von Migration auf den Nationalstaat
  • 8.4.1 Überblick über Migrationsbewegungen in der globalen Welt
  • 8.4.2 Kontroverse Diskussion von Einwanderung
  • 8.4.3 Die Bestimmung von nationaler und kultureller Identität
  • 8.4.4 Die Auseinandersetzung mit Stereotypen
  • 8.4.5 Berichte von Migrationserfahrungen
  • 8.5 Zusammenfassung
  • 9. Die Rolle der Medien
  • 9.1 Überblick: Medien als Transporteur von Information und Meinungsbildung
  • 9.2 Medienbildung
  • 9.2.1 Das Konzept der media literacy
  • 9.2.2 Chancen und Gefahren des Internets
  • 9.2.3 Die Funktionsweise von Werbung
  • 9.3 Die Printmedien
  • 9.3.1 Die Berichterstattung in verschiedenen Zeitungsarten
  • 9.3.2 Der Einfluss der Digitalisierung
  • 9.4 Die Macht der Medien
  • 9.4.1 Die Gestaltung der Berichterstattung
  • 9.4.2 Die Vorspiegelung von Realität
  • 9.5 Zusammenfassung
  • 10. Resümee der Untersuchungsergebnisse
  • 11. Literaturverzeichnis
  • 11.1 Lehrbücher
  • 11.1.1 Lehrbücher aus dem Verlagshaus Klett
  • 11.1.2 Lehrbücher aus dem Verlagshaus Cornelsen
  • 11.1.3 Lehrbücher aus der Westermann Gruppe
  • 11.2 Bildungspolitische Curricula, Bildungsstandards und Lehrpläne
  • 11.3 Länderverfassungen
  • 11.4 Sekundärliteratur
  • 11.5 Online-Dokumente
  • 12. Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

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1.  Zielsetzung und Forschungsgegenstand

1.1  Ziele und grundsätzliche Überlegungen

Politik in einer Demokratie soll für die Bewältigung von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemlagen sorgen. In vielen Fällen geht es dabei um Herausforderungen, denen nur mit komplexen Lösungsansätzen begegnet werden kann.1 Der einzelne Bürger ist als Teil des staatlichen Gefüges direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst mit Politik in Berührung. Durch die Globalisierung ist die Begrenzung politischer Herausforderungen und Themen auf den Nationalstaat auch in der Politik obsolet geworden. Prozesse und Entscheidungen jenseits nationalstaatlicher Ebenen betreffen den Einzelnen im Alltag.

Politische Bildung hat die Aufgabe, die Menschen mit den für ein funktionierendes Zusammenleben erforderlichen Angelegenheiten vertraut zu machen2, und muss daher im 21. Jahrhundert den Blick sowohl auf den Nationalstaat als auch die Weltgesellschaft richten. Politische Bildung in Deutschland ist kein Phänomen der Nachkriegszeit. Die ersten Zeugnisse für außerschulische politische Erwachsenenbildung finden sich bereits in der Aufklärung. Auch die schulische Bildung hat mit Beginn des modernen Schulwesens die Vermittlung politischer Bildung als Aufgabe angesehen.3 Dabei hat sich über mehrere Jahrhunderte ein tiefgreifender Wandel manifestiert. Drei idealtypische Grundmuster politischer Bildung lassen sich rückblickend unterscheiden. So wurde politische Bildung unter Wilhelm II. oder im Nationalsozialismus im Sinne einer staatsbürgerlichen Erziehung als Mittel zur Herrschaftslegitimation verstanden. Während der Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts oder der 1968er-Bewegung begriff man politische Bildung als Mission. Sie diente zur Herstellung eines erstrebenswerten Zustands und sollte zu einer Besserung gesellschaftlich-politischer Verhältnisse führen. Das dritte und heute verfolgte Grundmuster ist die Vorstellung von politischer Mündigkeit als Ziel der politischen Bildung. Der Einzelne soll sich ← 15 | 16 → selbstständig mit Politik auseinandersetzen können und zu eigenen politischen Meinungen und Urteilen gelangen. Während die ersten beiden Grundformen das Individuum als das zu belehrende Objekt betrachteten, wird der Einzelne bei der dritten Form als eigenständiges und selbstständig denkendes Individuum gesehen. Unterschiedliche Ergebnisse bei der Bewertung politischer Sachverhalte sind nicht verpönt, sondern erwünscht.4 Der Mensch ist also Subjekt und nicht Objekt der politischen Bildung.

Die vorliegende Forschungsarbeit legt ebenfalls das dritte Grundmuster zugrunde. Grundsätzlich kann politische Bildung außerschulisch oder schulisch erfolgen. Findet politische Bildung außerschulisch statt, wird sie von externen Trägern durchgeführt. Schulische Bildung unterscheidet zwischen Fachunterricht und Unterrichtsprinzip. Während der Fachunterricht sich konkret und ausschließlich mit dem Gegenstand Politik auseinandersetzt, besagt das Unterrichtsprinzip politische Bildung, dass „[…] die in den Sach- und Problemzusammenhängen der anderen Fächer enthaltenen politischen Aspekte mitreflektiert werden“.5 Im Einklang mit dem Unterrichtsprinzip politische Bildung liegt dem Forschungsvorhaben ein umfassender Politikbegriff zugrunde.6 So wird mit Peter Massing die These vertreten, dass das Politische ohne die Verbindung mit den Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft und Recht nicht verstanden werden kann.7 Für den Komplex Gesellschaft ist unter politischer Perspektive das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft zu berücksichtigen. Es geht um Identitätsbildung und Sozialisation auf der einen und um spezifische Probleme bzw. Handlungsnotwendigkeiten, die sich aus der gesellschaftlichen Struktur ergeben, auf der anderen Seite. Dazu gehören auch Handlungsoptionen und potentielle Grenzen für Staats- und Verfassungsorgane. Legt man den Themenbereich Wirtschaft zugrunde, ist ein Bewusstsein für die Interdependenz zwischen Ökonomie und Politik erforderlich. So werden politische Gestaltungsspielräume von ökonomischen Prozessen, Strukturen und Ergebnissen bestimmt. Gleichzeitig ist das Individuum Teil des wirtschaftlichen Systems und muss wirtschaftlichen Herausforderungen und Entwicklungen begegnen. Schließlich vollzieht sich Politik in einem rechtlichen Rahmen. Gleichzeitig setzt ← 16 | 17 → sie diesen jedoch auch. Der Bürger steht in einem Spannungsverhältnis zwischen der Schutz- und der Ordnungsfunktion des Rechts, das die Freiheit aller sichern soll und gleichzeitig für die Erfüllung dieser Aufgabe die Rechte des Einzelnen einschränkt.8 Legt man das Unterrichtsprinzip politische Bildung zugrunde, kommt auch dem institutionalisierten Fremdsprachenunterricht eine besondere Verantwortung im Bereich der politischen Bildung zu.

Moderner Fremdsprachenunterricht bedient sich auch im Zeitalter der Digitalisierung des Lehrbuchs. Es wurde in der Vergangenheit bereits kritisiert und zuweilen auch als Auslaufmodell bezeichnet. Bis jetzt liegen allerdings keine kostengünstigeren und genauso effektiven Mittel vor, so dass das Lehrbuch immer noch als zentraler Bestandteil des Lehrwerks und des Fremdsprachenunterrichts bezeichnet werden kann.9 Damit kommt ihm eine zentrale Bedeutung für die vorliegende Arbeit zu.

Das vorliegende Forschungsvorhaben will einen Beitrag zur Lehrbuchanalyse und -kritik leisten. Es zeichnet sich durch einen interdisziplinären Ansatz aus, da es Erkenntnisse aus der interkulturellen Fremdsprachendidaktik, der Didaktik des Fremdverstehens, der Politikdidaktik und der Politikwissenschaft sowie Pädagogik und Lernpsychologie einbezieht. Auch die Konzepte der Transkulturalität und der kulturellen Hybridität sind von Bedeutung.10 Ein solches interdisziplinäres ← 17 | 18 → Vorhaben bedarf einer ausführlichen Beschreibung der Grundlagen, um die Schnittmengen für die Untersuchung identifizieren zu können. Bereits der Titel der Arbeit reflektiert, dass es sich in der vorliegenden Untersuchung um eine didaktische Analyse handelt. Im Vordergrund steht also die didaktisch-methodische Bewertung der potentiell politisch relevanten Inhalte.

Dem Forschungsvorhaben liegt ein Textkorpus aus 27 Lehrbüchern zugrunde. Diese sind derzeit für den schulischen Gebrauch zugelassen und werden von den großen Schulbuchverlagen Klett, Cornelsen und der Westermann Gruppe herausgegeben. Um ein möglichst repräsentatives Ergebnis zu erzielen, wird die Analyse sowohl länder- als auch schulartübergreifend durchgeführt. Die Evaluation erfolgt auf der Basis der Texte, der Bilder und Illustrationen und der dazugehörigen Arbeitsaufträge. Die Analyse wird anhand von Kriterien durchgeführt, die auf der Basis der in Kapitel 1 bis 3 geleisteten theoretischen Vor­überlegungen in Kapitel 4 aufgestellt wurden. Die Analyse erschöpft sich jedoch nicht in der Beschreibung und Auswertung des vorhandenen Materials, sondern wird begleitet von ergänzenden Vorschlägen, die Anregungen für weitergehende Anschlussmöglichkeiten sein sollen.

Kapitel 1 bis 3 leisten die theoretische Grundlegung für das vorliegende Forschungsvorhaben. In jedem Kapitel wird der aktuelle Forschungsstand nachgezeichnet, so dass an dieser Stelle auf eine Zusammenfassung desselben verzichtet werden kann. Kapitel 1 gibt einen Überblick über den wissenschaftlichen Zweig der Lehrwerkanalyse und –kritik. Besonderes Augenmerk gilt dabei den verschiedenen Verfahren und der Darstellung der bereits vorhandenen Forschung. In Kapitel 2 werden die für den Englischunterricht konstitutiven Bedingungen beschrieben. Damit werden bereits theoretische Vorüberlegungen im inhaltlichen und didaktisch-methodischen Bereich für die Erstellung des Kriterienkatalogs geleistet, die der Analyse zugrunde liegen. Kapitel 3 beschreibt die Grundlagen politischer Bildung und begründet ihre Notwendigkeit. Hier geht es vor allem um die Darstellung bedeutsamer inhaltlicher Felder und die Beschreibung der didaktischen und methodischen Zugangsweise der Politikdidaktik. Des Weiteren werden der Einfluss der Globalisierung und die ← 18 | 19 → Bedeutung der Medien untersucht. Daran schließt sich ein Überblick über die aktuelle Situation der politischen Partizipation und der Einstellung der Jugendlichen zu Politik an.

Ausgehend von den in den ersten drei Kapiteln erarbeiteten theoretischen Grundlagen wird in Kapitel 4 das methodische Vorgehen beschrieben und ein Kriterienkatalog für die Analyse des Textkorpus aufgestellt.

Die Kapitel 5 bis 9 erarbeiten die Ergebnisse der Untersuchung. Anhand des Kriterienkatalogs werden die thematischen Blöcke in ihrer didaktisch- methodischen Umsetzung analysiert und bewertet. Dabei wird der Blick zunächst auf staatliche Organisationsformen und die Ausübung der Bürgerrolle gerichtet. Daran schließen sich Überlegungen zur politischen Partizipation in einer globalisierten Welt an. Kapitel 7 berücksichtigt westliche und globale Wirtschaftssysteme und setzt sich mit der Rolle des Individuums in diesem Geflecht auseinander. Der Schwerpunkt des achten Kapitels liegt auf dem Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Analyse schließt mit einem Kapitel ab, das die Rolle der Medien untersucht und die Frage aufwirft, inwieweit die Lehrbücher die für die politische Bildung erforderlichen Kenntnisse für eine kritische Mediennutzung vermitteln.

Im Hinblick auf das vorzulegende Ergebnis sind für das Forschungsvorhaben insbesondere die folgenden Fragen von besonderem Interesse: Durch welche thematischen Inhalte werden Lernprozesse angestoßen, die einen Beitrag zur politischen Bildung der Schüler leisten, und wie werden diese Themen methodisch-didaktisch aufbereitet? Lassen sich bei der Umsetzung des Unterrichtsprinzips politische Bildung signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Schularten feststellen?

Die formulierten Fragen verdeutlichen, dass die Untersuchung kognitive, affektive und prozedurale Lernziele berücksichtigt. Des Weiteren liegt der Arbeit ein induktives Vorgehen zugrunde, da es nur auf diese Art und Weise gelingen kann, das Potential der untersuchten Lehrbücher für die Förderung politischer Bildung und politischer Mündigkeit herauszuarbeiten. Dies geschieht anhand der Analyse repräsentativer Beispiele, die das Aufzeigen von Tendenzen ermöglichen. Das vorliegende Forschungsvorhaben versteht sich nicht als Plädoyer für ein emanzipatorisches Landeskundekonzept, wie es von Hartmut Lutz und Sigrid Markmann vertreten wurde.11 Stattdessen soll herausgearbeitet werden, in ← 19 | 20 → welchem Maß ein moderner Englischunterricht mit den komplementären Konzepten der Inter- und Transkulturalität die Entwicklung von Mündigkeit fördern kann, ohne dabei zu einem englischsprachig durchgeführten Sozialkundeunterricht zu werden.12

1.2  Aspekte der Lehrwerkanalyse

Im vorliegenden Kapitel wird zunächst die Unterscheidung der Begriffe Lehrwerk und Lehrbuch in den Blick genommen und auf die Entwicklung von Lehrwerken eingegangen. Im Anschluss wird die Stellung des Lehrwerks für die Unterrichtspraxis erörtert. Dies erscheint für die Einbettung des vorliegenden Forschungsvorhabens deshalb interessant, da sich die Frage stellt, ob das Lehrwerk vor allem in der Form des Lehrbuchs als grundlegendem Bestandteil mit Blick auf die Digitalisierung seine zentrale Stellung verloren hat. Darüber hinaus zeichnet dieses Kapitel die Entwicklung der Lehrwerkanalyse als wissenschaftliche Disziplin seit ihren Anfängen nach und geht auf die verschiedenen Verfahren der Lehrwerkanalyse ein. Abschließend werden die bisher entstandenen Lehrwerkanalysen kategorisiert, um die unterschiedlichen Schwerpunkte herauszuarbeiten, die die Entwicklung der Lehrwerkanalyse kennzeichnen. Dabei werden auch die jeweiligen Untersuchungskriterien beschrieben, die als Ausgangsbasis für den in dieser Forschungsarbeit zu erstellenden Kriterienkatalog dienen.

1.2.1  Das Lehrwerk in der Fremdsprachendidaktik

Medien sind als Träger von Informationen ein wichtiger Baustein für einen erfolgreichen Lernprozess. Reinhold Freudenstein bezeichnet sie in dieser Rolle auch als „[…] Elemente zur Optimierung des Unterrichtsprozesses.“13 Sie decken eine ← 20 | 21 → große Bandbreite an Aufgaben ab, die „[…] vom Einsatz als rein formales Mittel zur methodischen Auflockerung des unterrichtlichen Geschehens bis zur selbstständigen Übernahme didaktischer Anliegen […] reichen“.14 Lehrwerke gehören nach Freudenstein zu der Kategorie der herkömmlichen Medien. Darunter versteht er „[…] (nicht technische) Medien […], die schon immer herangezogen worden sind, seit fremdsprachlicher Unterricht erteilt wird.“15 Comenius schuf mit dem Lehrbuch Orbis sensualium pictus Mitte des 17. Jahrhunderts ein Lehrbuch, dessen Einfluss in Deutschland noch weit in das 19. Jahrhundert hineinreichte und als Folie für die Entwicklung weiterer Lehrbücher diente.16 Obwohl der Umfang der für den Unterricht zur Verfügung stehenden Medien in den letzten zehn bis 20 Jahren stetig zugenommen hat, hat das Lehrwerk mit seinem zentralen Bestandteil des Lehrbuchs seinen Stellenwert im Fremdsprachenunterricht nicht eingebüßt. Auch wenn in der theoretische Diskussion gerade im Rahmen von konzeptionellen Neuerungen des Fremdsprachenunterrichts die Rolle und die Zukunft des Lehrwerks erörtert werden und an seine Ausgestaltung unterschiedliche Anforderungen gestellt werden, ist eine Abkehr vom Leitmedium17 Lehrbuch wohl auch in naher Zukunft nicht zu erwarten.

1.2.1.1  Begriff

Zu Beginn sind Begrifflichkeiten zu klären, die für die theoretische Grundlegung dieser Arbeit erforderlich sind. Zu differenzieren ist zunächst zwischen dem Lehrwerk und dem Lehrbuch. Letzteres bezeichnet ein „[…] in sich abgeschlossenes Druckwerk mit fest umrissener didaktischer und methodischer Konzeption (Zielsetzungen, Lehrstoffprogression, Unterrichtsverfahren), in dem alle zum Lehren und Lernen benötigten Hilfsmittel (Texte, Übungen, ← 21 | 22 → Grammatikdarstellung, Vokabular, etc.) zwischen zwei Buchdeckeln enthalten sind“.18 Es ist Teil des Gesamtkomplexes Lehrwerk. Dieses besteht laut Neuner „[…] aus mehreren Lehrwerkteilen mit unterschiedlicher didaktischer Funktion, wie Schülerbuch, Arbeitshefte, Glossar, Grammatisches Beiheft, Zusatzlesetexte, auditive Medien […], visuelle Medien […], deren Einsatz in Lehrerhandreichungen dargestellt wird“.19 Während der Begriff des Lehrwerks unstreitig ist, wird das Lehrbuch in der wissenschaftlichen Diskussion auch synonym als Schüler- oder Schulbuch bezeichnet, um die Betonung auf den Lerner und seinen Lernprozess zu legen. In diesem Sinn plädiert Eynar Leupold für eine Entwicklung des Lehrbuchs hin zum Lernbuch.20 Inwieweit Leupolds Forderungen, die sich aus neuen Erkenntnissen der Lernpsychologie und Pädagogik ableiten lassen, in den Lehrwerken des zu untersuchenden Textkorpus verwirklicht sind, wird zu untersuchen sein. ← 22 | 23 →

1.2.1.2  Die Entwicklung von Lehrwerken

Schule in Deutschland steht unter staatlicher Aufsicht. Die föderale Struktur der Bundesrepublik bedingt eine Unterscheidung der Gesetzgebungskompetenzen. Nach Art. 30,70 GG sind grundsätzlich die Länder zuständig, wenn dem Bund nicht die Gesetzgebungskompetenz auf einem Gebiet ausdrücklich durch das Grundgesetz zugewiesen ist. Dies ist bei der Bildung nicht der Fall, die Länder besitzen in diesem Bereich die Kulturhoheit. Diese Tatsache wirkt sich indirekt auch auf die Erstellung von Lehrwerken aus. So betrifft die Entscheidungsmacht der Länder die Gestaltung des Schulsystems, z.B. die Einrichtung von Gesamtschulen im Gegensatz zu einem differenzierten System. Die Strukturen wiederum beeinflussen die Gestaltung der Lehrpläne, die die Grundlage bei der Erstellung von Lernmitteln bilden. Lehrpläne und Rahmenrichtlinien formulieren, welche Ziele im Unterricht erreicht werden sollen. Die Entscheidung für geschlossene Jahrgangsstufenlehrpläne oder Rahmenlehrpläne bestimmt gleichzeitig das Ausmaß, in dem die Themen, Kontexte und Textsorten sowie die zur Verfügung stehenden Sprach- und Lernmittel und kommunikativen Fähigkeiten festgelegt werden.21

Lehrpläne und Richtlinien stellen institutionelle Bedingungen dar, denen die Gestaltung eines Lehrbuchs unterworfen ist. Hinzu kommen nach Neuner legitimative Bedingungen (gesellschaftliche Leitvorstellungen, Beziehungen zum Zielsprachenland), reflexive Bedingungen (erziehungswissenschaftliche Konzepte), analytische Bedingungen (sprach-, text- und landeswissenschaftliche Faktoren), konstruktive Bedingungen (lernpsychologische Erwägungen) sowie materielle Bedingungen (Markt, Preis, Umfang und Ausstattung).22 Neuner bezeichnet diese als fachübergreifende und fachspezifische Faktoren23 und spricht von einem „[…] komplexen Bedingungsgefüge […]“24, das auf die Gestaltung eines Lehrbuchs einwirkt. Im Zusammenhang mit der synchronen Lehrwerkanalyse spricht Neuner auch von einem Netz dieser Faktoren, in die das Lehrwerk gegenwärtig eingebunden ist, wohingegen es bei der diachronen Betrachtung ← 23 | 24 → auf den Wandel des Bedingungsgefüges ankommt.25 Für die Verlage und Schulbuchautoren ist die Berücksichtigung all dieser Faktoren für die Erstellung eines Lehrwerks die wichtigste Arbeitsgrundlage, aus der sich die alle Entscheidungen für die konkrete Gestaltung ableiten.26 Nur wenn das Endprodukt mit den Vorgaben übereinstimmt, hat das Lehrbuch eine Chance auf Genehmigung. Heinze spricht bei dieser Vorgehensweise auch von einem linearen Steuerungsmodell27 und bezeichnet die Schulbücher als „[…] zum Leben erweckte Lehrpläne[…]“.28 In einem Modell, in dem der Staat die „[…] curriculare Souveränität […]“29 ausübt, kommt den Lehrbüchern eine zentrale Steuerungsfunktion zu, da sie die staatlichen Vorgaben abbilden.30 Einschränkend gilt jedoch, dass der Erfolg dieses Modells kein Selbstläufer ist, sondern erst durch einen erfolgreich durchgeführten Instruktionsprozess umgesetzt werden kann.31

Für die Verlage selbst bedeutet diese Praxis, dass sie erst die Zulassung abwarten müssen, bevor sie versuchen können, die Fachschaften an den Schulen ← 24 | 25 → von der Qualität ihres Produkts zu überzeugen. Dass die Verlage Schulbücher nicht einfach auf den freien Markt bringen können, geht auf einen Beschluss der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1972 zurück. Darin heißt es: „An den Schulen dürfen nur Schulbücher verwendet werden, die vom zuständigen Kultusministerium für den Gebrauch genehmigt sind“.32 Rechtliche Grundlage für einen solchen Beschluss ist Art. 7 I GG, in dem die Aufsicht des Staates über das Schulwesen festgelegt ist. Der dem Staat übertragene Gestaltungsbereich umfasst dabei sowohl die organisatorische Gliederung der Schule als auch die Vorgabe der inhaltlichen Ausgestaltung der Ausbildungswege und ihrer Ziele.33 Wie die Verfahren der Schulbuchzulassung ausgestaltet werden, obliegt der Entscheidung der einzelnen Bundesländer. Auch wenn gemeinsame Grundsätze vorliegen, sind diese aufgrund des Bildungsföderalismus jedoch sehr unterschiedlich ausgestaltet.34 Die Kultusministerien der Länder nehmen die Aufsicht wahr und legen das Genehmigungsverfahren fest.35 Je nach Bundesland wurden verschiedene Verfahrensweisen entwickelt, so dass sich die Träger der Schulbuchzulassung innerhalb Deutschlands unterscheiden können. In Frage kommen dabei das zuständige Ministerium, das Landesinstitut oder die Lehrkräfte selbst.36 Außerdem unterscheidet sich die Menge der Lernmaterialien, die einer Prüfung unterzogen werden. In einigen Ländern wird nur das Lehrbuch einer Prüfung unterzogen, die Begleitmaterialien bleiben unberücksichtigt. ← 25 | 26 → In anderen dagegen schreiben die entsprechenden Regelungen eine Prüfung des gesamten Lehrwerks vor.37

Uneinigkeit herrscht in der Diskussion über die Schulbuchzulassung über die Rolle des Staates. Kritiker bemängeln, dass Zulassungsverfahren eine Zensurmaßnahme darstellten, da der Staat die in der Schule vermittelten Inhalte kontrolliert. Gerichte haben jedoch in der Zwischenzeit bestätigt, dass die Durchführung von staatlichen Zulassungsverfahren aufgrund der Gestaltungsfreiheit im Schulbuchbereich rechtmäßig sei. Neben der grundsätzlichen Infragestellung des Verfahrens der Schulbuchzulassung zweifeln Gegner die Verfahrensweise an. Ausgewählte Gutachter würden über das Ziel hinausschießen und sähen sich als Hüter der vorgeschriebenen Kriterien, die nur allzu eng und penibel befolgt würden. Kritiker fordern Minimalismus statt Maximalismus und die Beschränkung der Kriterien auf eine „[…] negativ-verhütende Funktion […]“.38 Eine Gefahr bestünde auch in der tendenziell subjektiven Auslegung von Kriterien, die letztendlich zum reinen Abhaken ermutigten und bei entsprechender ← 26 | 27 → Würdigung jedes Lehrbuch als ungenügend erscheinen lassen könnten.39 Aus der Sicht der Verlage stellen auch die dem Bildungsföderalismus geschuldeten landesspezifischen Anforderungen ein Problem dar. Unterschiedliche Vorgaben bedingen unterschiedliche inhaltliche Umsetzung, die für die Verlage einen wirtschaftlichen Kostenfaktor darstellt. So wägen Verlage sehr genau ab, ob es sich für sie lohnt, in bestimmten Bereichen Lehrbücher zu konzipieren.40 Aus diesem Grund haben Verlage Schwerpunkte bei Schularten, Fächern und Bundesländern festgelegt, um wirtschaftlich rentabel arbeiten zu können. Die Befürworter sehen in Zulassungsverfahren vor allem ein Instrument zur Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung. Bei der Durchsicht würden nicht nur ungeeignete Bücher durch das Raster fallen, sondern möglicherweise vorhandene Mängel aufgezeigt und durch Verbesserungsvorschläge behoben. Die Prüfungsmaßstäbe setzten den ökonomischen Interessen von Verlagen Grenzen. Außerdem sei der schulpolitische Gestaltungswille ohne eine anschließende Kontrolle bedeutungslos. Franz Pöggeler fasst die Rolle des Staates bei der Schulbuchzulassung wie folgt zusammen:

Mit der Zulassung von Schulbüchern übernimmt der Staat eine Verantwortung für den Geist und Inhalt dieser Bücher, auch den politischen. Es ist ebenso verständlich wie berechtigt, daß sich der Staat für politische Aspekte in Schulbüchern besonders interessiert und daß er seither nur Schulbücher zugelassen hat, deren politische Überzeugungen auf Identität mit Verfassung und Gesetz des Staates beruhen – kritische Überzeugungen dabei nicht ausgeschlossen.41

Die Notwendigkeit der Erfüllung der Anforderungen, die eine gestiegene innerdeutsche Mobilität stellt, hat inzwischen einige Bundesländer veranlasst, sich auf gemeinsame Vereinbarungen zu einigen, die für die Verlage als Vorlage zur Neukonzeption von Schulbüchern dienen können und somit den Fleckenteppich an Anforderungen verkleinern. ← 27 | 28 →42

Die Anforderungen, die an die Erstellung von Lehrbüchern geknüpft sind, sind vielfältig. Was die Vorgaben des Lehrplans betrifft, macht das Lehrbuch einen Vorschlag für deren Umsetzung in ein Unterrichtskonzept. So wird es auch als „[…] vergegenständlichtes Modell des Lehr- und Lernsystems und des pädagogischen Prozesses […]“43 bezeichnet. Im Zusammenhang mit Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache spricht Lutz Götze von mehreren Phasen, die die Konzeption von Lehrwerken geprägt haben.44 Diese Phasen können jedoch nicht klar voneinander abgegrenzt werden, sondern sind durch fließende Übergänge gekennzeichnet, die für ein Nebeneinander von Unterrichtskonzeptionen und Unterrichtsmethoden verantwortlich sind. Trotzdem war bis dahin jede dieser Phasen oder Epochen von einem dominierenden Methodenkonzept geprägt. Ein neuer Ansatz in der Fremdsprachenunterrichtsmethodik entsteht durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren. Diese sind eine übergreifende gesellschaftliche und/oder pädagogische Theorie, neue fachwissenschaftliche (Linguistik/Literatur/Landeskunde) sowie lerntheoretische Grundlagen.45

Neue Lehrwerke entstehen insbesondere dann, wenn sich markante Bezugspunkte in diesem Bedingungsgefüge verändern – wenn etwa übergreifende gesellschaftlich-politische Veränderungen zu einer veränderten Sicht der deutschsprachigen Länder führt, wodurch es z.B. zu einer anderen Auswahl und Bewertung der (landeskundlichen) Themen und Inhalte kommt – oder wenn neue Erkenntnisse der fachlichen Bezugswissenschaften (insbesondere der Linguistik) oder der Lerntheorie verarbeitet werden. […] Jedes didaktisch-methodische Konzept – seien es die Grammatik-Übersetzungs-Methode, die audiovisuelle Methode, der kommunikative Ansatz oder andere Konzepte – kristallisiert und konkretisiert sich aber in ganz bestimmten Aspekten der Lehrwerkplanung und –gestaltung.46

Für den Neusprachlichen Unterricht und seine Methodengeschichte beginnt diese Entwicklung im 19. Jahrhundert, als Englisch und Französisch in den Fächerkanon der Höheren Schulen aufgenommen wurden.47 In Anlehnung an ← 28 | 29 → die dominierenden alten Sprachen Griechisch und Latein wurde die Unterrichtsmethodik der humanistischen Fächer auf die beiden Modernen Fremdsprachen übertragen. Die Grammatik-Übersetzungs-Methode mit ihren Schwerpunkten im Sprachwissen, dem Lesen literarischer Texte, die zur Aneignung der kulturellen Werte dienen, und einem kognitiven Lernkonzept wurde zwar mit der direkten Methode, auch Reformmethode genannt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt, prägte aber trotz verschiedener weiterer Reformansätze den Modernen Fremdsprachenunterricht noch weit in das 20. Jahrhundert hinein.48 Bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts blieben die Modernen Fremdsprachen einer kleinen Elite an Schülern vorbehalten, die eine Höhere Schule besuchte. Ziele des Neusprachlichen Unterrichts waren unter anderem die Erfassung der vielfältigen und sprachlichen Formen und ihrer Einreihung in grammatische und stilistische Kategorien, die Einführung in das Geistes- und Kulturleben des englischen und amerikanischen Volkes und die Orientierung am hohen Menschentum des englisch-amerikanischen Kulturkreises.49 Die wissenschaftliche Methodendiskussion war zur gleichen Zeit von den Ideen der audiolingualen und der vermittelnden Methode geprägt. Letztere versuchte, traditionelle inhaltliche Zielsetzungen mit den modernen Unterrichtsverfahren der direkten und der audiolingualen Methode zu kombinieren. Ein Blick in die dominierenden Lehrwerke dieser Zeit zeigt jedoch, dass Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander lagen und der Unterricht weitgehend nach der Grammatik-Übersetzungs-Methode erfolgte.50 In den 60er-Jahren begann mit dem Hamburger Abkommen ein neuer Abschnitt für den Englischunterricht, der an den Hauptschulen eingeführt wurde und somit seine elitäre Stellung verlor. In der Bemühung, sich in Europa nach dem zweiten Weltkrieg zu etablieren, wurden politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen ← 29 | 30 → zu den angelsächsischen Ländern aufgebaut. Von nun an waren andere Kompetenzen in der Fremdsprache gefragt. Diese betrafen sowohl die Inhalte als auch die sprachliche Ebene. Auf sprachlicher Ebene herrschte von nun an ein pragmatischerer Ansatz vor. In landeskundlicher Hinsicht lautete das Prinzip von nun an Information statt Ehrfurcht.51 Die Bezugsgrößen für die Auswahl von Texten sind […] nüchtern, unideologisch, situationsbezogen und sozialkundlich […]“.52 Die methodische Diskussion wird um den audiolingualen Ansatz und den audiovisuellen Ansatz als seine Weiterentwicklung geführt. Beide Ansätze haben die Entwicklung des Modernen Fremdsprachenunterrichts in Deutschland geprägt, sahen sich aber auch starker Kritik ausgesetzt. Diese betraf vor allem die linguistische Grundlage des Strukturalismus und das Konzept des Fremdsprachenlernens als Verhaltenskonditionierung. Das aus diesen Ansätzen resultierende Übungsrepertoire wies unter anderem Mängel bei der Förderung des kreativen Potentials der Schüler auf. Lehrbuchtexte waren an einer grammatischen Progression ausgerichtet, was sinnentleerte Dialoge zur Folge hatte. Diese Defizite bildeten die Grundlage für Neuüberlegungen, die schließlich in den 70er-Jahren im Ansatz der kommunikativen Kompetenz resultierten.53 In der fachdidaktischen Diskussion geht dieser auf Hans-Eberhard Piepho zurück, der in der kommunikativen Kompetenz das übergeordnete Lernziel des Fremdsprachenunterrichts sah. Im Vordergrund stand die Entwicklung von Prinzipien für eine erfolgreiche, situationsadäquate Kommunikation.54 Im Rückgriff auf Jürgen Habermas beschreibt Piepho Kommunikative Kompetenz als das Zusammenspiel von kommunikativem Handeln und Diskurstüchtigkeit. Auch die von Hymes verfassten Kriterien zu einer Theorie der Kommunikativen Kompetenz, die neben der sprachlichen die soziale Komponente von Sprache in den ← 30 | 31 → Vordergrund stellen, fließen in Piephos Überlegungen ein.55 Im Vordergrund eines Fremdsprachenunterrichts, der als Leitziel Kommunikative Kompetenz ausgibt, stehen die Lernenden und der eigentliche Lernprozess sowie ihre Bedürfnisse für den Gebrauch der Fremdsprache. Sprachunterricht im Sinne Piephos ist ein emanzipativer Prozess, „der die gesamte Persönlichkeit eines Schülers ansprechen und erziehend verändern muss“.56 Diese neuen Entwicklungslinien leisten Vorschub für die Weiterentwicklung des Konzepts zu einer interkulturellen Didaktik in den 90er-Jahren.57 Auf ein immer mehr zusammenwachsendes Europa und den Globalisierungsprozess, der verschiedene Kulturen und Kulturkreise miteinander verbindet, musste auch der Fremdsprachenunterricht reagieren:

Gefragt sind bei unseren Lernenden in Zukunft Fähigkeiten, die über die rein objektsprachlichen Wissensbestände hinaus zielorientiertes und situationsangemessenes sprachliches Handeln freisetzen, so dass die sicherlich zahlreicher werdenden konkreten Begegnungssituationen zwischen Vertretern unterschiedlicher Kulturräume sprachlich-kommunikativ bewältigt werden können. […] Notwendig sind […] eine differenzierte Sprachkompetenz und interkulturelle Sensibilität, um in Kontaktsituationen sprachlich erfolgreich handeln und hieraus Gewinn für gegenseitiges Vertrauen ziehen zu können.58

Beim Konzept der interkulturellen Pädagogik geht es um umfassende ethische Bildungsziele. Dazu zählen unter anderem Empathiefähigkeit, Ambiguitätstoleranz, sensibles Einbringen der eigenen Identität, Rollendistanz und Dezentrierungsvermögen. Die interkulturelle Didaktik erweitert den kommunikativen Ansatz um dieses Element und kann als weitergehend verstanden werden. ← 31 | 32 →59

[…] jedoch lässt sich erkennen, dass sie [die interkulturelle Didaktik] kein in sich konsistentes Methodenkonzept zu entwickeln sucht, sondern zum einen die in der Kommunikativen Didaktik angelegte pädagogische Dimension um neue übergreifende Ziele und neuartige Themen erweitert, andererseits in ihrem grundlegenden sprach- und kulturkontrastiven Verfahren neue Aufgabenstellungen – etwa zur Sprachsensibilisierung und zu bewussten Reflexion der Eigenarten der eignen Soziokultur – entwickelt und den Aufgaben- und Übungsapparat erweitert.60

Vor allem im Hinblick auf die rasant fortschreitende Globalisierung wurde die Fokussierung auf eine interkulturelle Perspektive dahingehend kritisiert, dass ein homogenisierendes Verständnis von Kultur in einer vernetzen Welt nicht mehr zeitgemäß sei. Daraus ergaben sich nach der Jahrtausendwende neue Forschungsansätze im Bereich Hybridität, Third space und Transkulturalität.61

1.2.1.3  Die Stellung des Lehrwerks in der Unterrichtspraxis

Unter Lehrwerkarbeit versteht man laut Michael Koenig „[…] das dynamische Zusammenwirken von Lehrmaterial (meist in Form eines Lehrbuchs als Teil des Lehrwerks), Lehrkräften und Lernenden mit dem Ziel, Spracherwerbsprozesse zu fördern“.62 Lehrwerkarbeit umfasst dabei einen materiellen und einen personalen Bereich. Die materielle Komponente betrifft die Planungsebene, während die personalen Komponenten Lehrkraft und Lerner die Unterrichtsebene bilden. In der Realität stehen die Komponenten im Unterrichtsprozess natürlich in Wechselwirkung zueinander.63 Was die Arbeit mit dem Lehrwerk betrifft, hat Engelbert Thaler auf Lehrerseite drei Typen unterschieden: Lehrer, die nur mit dem Lehrwerk und seiner vorgegebenen Systematik arbeiten, Lehrer, die sich an der Systematik des Unterrichtswerks orientieren und dieser meistens folgen, aber bei Bedarf eigene Vorschläge und Materialien einbeziehen, und Lehrer, die im Sinne der individuellen Förderung bewusst frei arbeiten, indem sie nur ausgewählte Elemente aus dem Lehrwerk verwenden und vor allem mit ← 32 | 33 → eigens zusammengestellten Materialien ihren Unterricht gestalten.64 Dass die beiden erstgenannten Typen momentan überwiegen, zeigt den hohen Stellenwert des Lehrwerks im Unterrichtsalltag, wie ihn Eynar Leupold beschreibt. Auch wenn es diesbezüglich natürlich andere Ansichten geben mag, so trifft die Charakterisierung für die Einschätzung der Situation wohl auf einen großen Teil von Schülern, Eltern und Lehrern zu. Schüler verbinden mit der Abgabe der Schulbücher am Ende des Schuljahres das Ende des ernsthaften und konzentrierten Unterrichts. Gleiches gilt entsprechend für die Ausgabe der Schulbücher zu Beginn des Schuljahres. Außerdem neigen Schüler dazu, das Lehrbuch als Grundlage für ihren Lernfortschritt anzulegen und diesen an den bereits bearbeiteten Lektionen festzumachen. Gleiches gilt oft für die Eltern, die die Unterrichtsqualität und die Fähigkeiten des Lehrers danach bemessen, ob ihrer Ansicht nach der bereits behandelte Stoff des Lehrbuchs dem vorangeschrittenen Schuljahr entspricht. Für den Lehrer bietet das Handbuch Handlungssicherheit und stellt eine Rechtfertigungsgrundlage im Verhältnis zu den Eltern dar.65 Dass diese Wahrnehmungen in besonderem Maße für den Fremdsprachenunterricht zutreffen, mag wohl an seinem besonderen Stellenwert in Bezug auf den zeitlichen Aufwand liegen, geeignete Unterrichtsmaterialien in Eigenregie herzustellen. An dieser Vormachtstellung scheint nicht einmal das Internet ernsthaft rütteln zu können:

Until now neither their marginal range of products nor their traditional pedagogic-methodological orientation has damaged the popularity of textbooks. Even the Internet, which has given rise to major problems in the printing industry (including learning materials), does not yet seem to have become a serious rival. […] The status that textbooks have as the most used media in English lessons has not taken any damage.66

Auch wenn das Lehrwerk zumeist als „[…] stabilisierender Faktor, Planungsgrundlage und Leitmedium […]“67 angesehen wird, wird seine zentrale Stellung auch kritisiert. Diese reicht von Forderungen nach einer Neu- bzw. Umgestaltung der aktuellen Lehrwerke bis zu ihrer vollständigen Abschaffung.

Kritisiert wird zum Beispiel, dass Lehrwerke nicht in der Lage seien, die Forderung nach Authentizität oder zumindest eingeschränkt das Ideal einer ← 33 | 34 → realitätsnahen Lernsituation im Fremdsprachenunterricht zu erfüllen.68 Vor allem in der Phase des Spracherwerbs in der Sekundarstufe I bleibt das Lehrwerk dominantes Medium der Instruktion. Spracherwerb basiert also zum Großteil auf didaktisierten Materialien. Damit einher geht im Gegenzug die Forderung nach authentischen Texten und der Öffnung des Klassenzimmers mit Bezug auf reale oder virtuelle Dimensionen.69 Vertreter aus anderen Disziplinen teilen die Bedenken. Die Existenz von zu wenig authentischen Sprachmustern und pragmatischen Aspekten kritisieren Linguisten. Spracherwerbsforscher beziehen sich auf die nicht ausreichend vorhandenen empirischen Erkenntnisse zum gesteuerten Zweitsprachrachenerwerb. Pädagogen monieren, dass Lehrbücher keine (bzw. nicht ausreichend) Kreativität ermöglichten und somit der angestrebten Lernerorientierung im Weg stünden. Bei Medienwissenschaftlern überwiegt die Überzeugung, dass die visuelle Ausgestaltung unzureichend sei und zu wenig Wert auf mediale Komponenten gelegt werde. Radikale Konstruktivisten sehen das Lehrwerk gar als lernbehindernd an.70 So sprechen sich Konstruktivisten wie Michael Wendt gegen die Arbeit mit Lehrwerken aus, da diese im Widerspruch zur epistemologischen und ontologischen Grundlage ihres Konzepts stehen. Darauf reagiert Lothar Bredella, der die Frage aufwirft, ob Fremdsprachenunterricht ohne Lehrwerk automatisch ein besserer wäre. Er kritisiert, dass die radikal konstruktivistische Auslegung des Begriffs im Hinblick auf einen kommunikativen und interkulturellen Ansatz nicht standhalten könne, da sie die in einem fremdsprachlichen und fremdkulturellen Unterricht erforderliche Gegenseitigkeit und Kontakt mit der Umwelt verkennt.71

Die Entmachtung des Lehrens macht nur Sinn, wenn wir glauben, dass wir die Welt selbst schaffen und daß wir um unserer Autonomie willen nicht von außen bestimmt werden dürfen. Aber Lernen bedeutet, dass man Rücksicht nimmt auf das jeweils Gegebene; das gilt im besonderen für das fremdsprachliche und fremdkulturelle Lernen. Es vollzieht sich in der Interaktion mit dem Fremden und dabei werden wir oft erfahren, dass die ← 34 | 35 → Dinge anders sind, als sie wir uns vorgestellt haben. Lernen ist Umlernen, weil wir von den Dingen belehrt werden. Lehr- und Lernmaterialien können uns auf diesem Weg helfen.72

Folglich sind Lehr- und Lernmaterialien also kein überflüssiges Übel. Auch Hermann Funk hält den Kritikern von Lehrwerken entgegen, dass das erfolgreiche Ergebnis als Beweis für die Leistungsfähigkeit von Lehrwerken gelten kann.

Dumm nur, dass tatsächlich nachweisbar ist, dass mit diesen mehr oder minder defizitären bis miserablen Produkten irgendwie weltweit Menschen Sprachen gelernt haben. Viele sogar erfolgreich. Ein Beleg, der im Übrigen für Lerner, die sich zu diesem Zweck ausschließlich der neuen Medien bedient haben, noch aussteht.73

Zurückhaltend in Bezug auf die Überlegenheit neuer Medien äußert sich auch Wolfgang Tönshoff: „Auch wenn in der öffentlichen Diskussion bisweilen ein gegenteiliger Eindruck entsteht, ist der Grad des Einsatzes neuer Medien als solcher sicher kein Maßstab für die Qualität von (Fremdsprachen)Unterricht“.74 Hinzu kommen unterrichtspraktische Überlegungen. So ist mitnichten klar, ob die technischen und räumlichen Erfordernisse für ein multimediales Klassenzimmer überhaupt zur Verfügung gestellt werden können.75

Die Vorteile, die die Arbeit mit einem Lehrwerk mit sich bringt, hat Andreas Nieweler in Thesen zusammengefasst. So schreibt er Lehrwerken eine katalysierende Rolle bei der Umsetzung neuer didaktischer Erkenntnisse zu. Ihr Einbezug in die Lehrbücher verbreitet diese deutlich schneller als wenn dies in der Hand des einzelnen Lehrers durch die Erstellung eigener Unterrichtsmaterialien geschehen müsste. Außerdem sorgt das Lehrbuch für eine annähernd gleiche Ausgangsbasis, was das Lernpensum anbetrifft, vor allem, wenn es zu Klassen- oder Schulwechsel kommt. Natürlich macht der Lehrplan die Vorgaben für den zu behandelnden Stoff, doch sind die Vorgaben thematisch eher weit gefasst, so dass die Konkretisierungen durch das Lehrbuch hier eine bessere Vergleichbarkeit schaffen. Außerdem bietet die Lehrwerken zugrunde liegende didaktische Progression in den verschiedenen Lernbereichen für Schüler eine Strukturierungshilfe beim Erlernen der Sprache. Auf Lehrerseite ermöglicht das Lehrwerk ← 35 | 36 → gleichzeitig ökonomisches Arbeiten.76 Dem Vorwurf, dass das Lehrbuch den Lehrer einenge und ihn so seiner Mündigkeit im Steuerungsprozess beraube, tritt Jürgen Quetz entgegen. In einer durchgeführten Untersuchung zeigt sich, dass der Lehrer eben nicht „[…] Sklave seines Lehrwerks […]“ ist, sondern dass „[…] sich die Persönlichkeit der Lehrenden immer gegen das Lehrbuch durchsetzt, wenn sie sich durchsetzen will[…]“.77 Dies gilt sowohl für kreative und selbstbewusste Lehrer als auch für zurückhaltendere, die ebenfalls den Unterricht mit eigenen zusätzlichen Übungen bereichern. Das Lehrbuch macht sie also nicht zu seinen „[…] Opfern […]“.78 Dies bestätigt auch Gehring: „Indeed, the popularity of textbooks is not surprising nor does it inhibit the use of textbook-independent media“.79

Ein Überblick über den aktuellen Diskussionstand zeigt, dass die Einschätzungen zur Zukunft der Lehrwerke relativ optimistisch sind. Zwar ist in den letzten zehn Jahren die Rolle der das Lehrbuch flankierenden Arbeitsmaterialien (sowohl Lehrwerkteile als auch Zusatzmaterialien, vor allem im Medienbereich) gestiegen, doch die Rolle des Leitmediums scheint nicht wirklich in Gefahr zu sein. Auch wenn die Prognosen für den Bestand des Lehrwerks, mit besonderer Stellung des Lehrbuchs, optimistisch sind, müssen die Autorenteams für Lehrbücher wie in den vergangenen Jahrzehnten auch neue Entwicklungen aufgreifen. Im Hinblick auf die Fortentwicklung des Lehrwerks werden verschiedene Anforderungen gestellt. Bereits in den 90er-Jahren wurden Forderungen formuliert, die erst in neuen Lehrwerkgenerationen verwirklicht oder zumindest zum Teil realisiert sind. Michael Koenig sieht die Herausforderung darin, dass ein Rollenwechsel seitens des Schülers angestrebt werden müsse, der von den Lehrwerken aufzunehmen sei. Der Schüler müsse von einer Konsumentenrolle in eine Produzentenrolle treten.80 Der Schwerpunkt in der Unterrichtspraxis liegt ← 36 | 37 → noch zu oft auf der Instruktion und nicht auf der Konstruktion. Der Mensch bzw. Schüler soll nicht als reaktives, sondern als aktives Wesen gesehen werden. Diese Aktivität bildet die Grundlage der Ausgestaltung des Lehrwerks bzw. der Umsetzung der Vorgaben im Lehrwerk.81 Ein konsensfähiger Punkt in der Weiterentwicklung der Lehrbücher ist eine größere Offenheit des angebotenen Materials. Unter Berufung auf Klafki fordert Claudio Nodari, dass „[…] die primäre Funktion des Lehrwerks die Unterstützung des Lehrers in der Unterrichtsplanung im Sinne eines offenen Entwurfs sein muss“.82 Werner Kieweg erachtet einen größeren Fokus auf Lernprozessorientierung für sinnvoll. Dies soll seiner Ansicht nach zum Beispiel erreicht werden durch die Schaffung nötiger Freiräume, der Öffnung des Unterrichts durch das Internet, der Verwirklichung von Methodenpluralismus sowie multisensorischem und strategischem Lernen, Anregungen zum autodidaktischen Lernen, um den Anforderungen des lebenslangen Lernens gerecht zu werden, und das Angebot projektorientierter Verfahren.83 Herrmann Funk hebt in seiner Argumentation zum Fortbestehen des Lehrwerks bzw. Lehrbuchs auch auf seine Funktion als Dienstleister für die Unterrichtsvorbereitung und Weiterbildung ab. Durch die enorme Stundenbelastung eines Lehrers leistet das Lehrwerk einen wichtigen Beitrag zur strukturierten Unterrichtsvorbereitung. Durch den Einbezug fachdidaktischer Erkenntnisse in neue Lehrwerke können diese hier auch gebündelt an die praktisch Tätigen weitergegeben werden. Wie Kieweg hebt auch er die in Zukunft stärker zu betonende Rolle ← 37 | 38 → des Lehrwerks als Lernprozessbegleiter hervor. Entsprechend der erforderlichen Individualisierung der Lernprozesse müssen die Aufgabensequenzen gestaltet sein.84 Bereits in den 80er-Jahren haben sich Vertreter eines moderaten Konstruktivismus wie Cornelia Gick im Hinblick auf eine stärkere Förderung der Autonomie für Modifizierungen der Lehrmaterialien stark gemacht.85 Sie sollen dem Lerner Verantwortung im Lernprozess übertragen und die Beobachtung seines Spracherwerbsprozesses ermöglichen. Forderungen an Autonomie fördernde Materialien bzw. Lehrwerke lauten: „[…] aktivierend, unterstützend, transparent, offen, natürlich, objektivierend und motivierend[…]“.86 Zu der Einschätzung, dass schulischer Fremdsprachenunterricht nicht vollständig auf Lehrwerke verzichten kann, kommt auch Hans-Jürgen Krumm. Er führt dabei das Argument der Vergleichbarkeit an, so dass Schüler Klassen wechseln und beim Lehrstoff Anschluss finden können. Außerdem sei aus organisatorischer Sicht ein Buch leichter zur Hand haben, da es immer verfügbar ist und in gebundener Form die Gefahr des Verlusts nicht so groß ist wie bei einzeln zusammengestellten Blättern.87

Ohne eine Veränderung des institutionellen Rahmens, in dem Fremdsprachenunterricht stattfindet, ist eine Abwendung vom Lehrbuch als bestimmendes Medium im Unterricht nicht zu erwarten. Da Schüler der Fremdsprache im Allgemeinen über das Schulbuch zum ersten Mal intensiv begegnen und ihre Einstellung davon maßgeblich beeinflusst wird, liegt bei den Schulbuchverlagen und ihren Autoren eine besondere Verantwortung. Zum einen müssen sie die Vorgaben in „[…] sinnvolle, zeitgemäße, motivierende und authentische Kontexte ← 38 | 39 → […]“ umsetzen.88 Zum anderen ist es aufgrund der neuen didaktischen und methodischen Anforderungen erforderlich, „darüber hinausreichende Optionen anzubieten, die eine größere Individualisierung sowohl für die Lehrenden als auch für die Lernenden zulassen“.89 Die von Finkbeiner angesprochene Stützfunktion des Lehrwerks bleibt wohl vor allem in der Sekundarstufe I erhalten90. Noch einen Schritt weiter geht Funk:

Die konzeptionelle Weiterentwicklung der Lehrwerke als offene, multimediale Serviceangebote an Lehrende und Lernende […] macht die Forderung nach ihrer Abschaffung gegenstandslos.91

In Anbetracht der zunehmenden Vereinheitlichung der Abituraufgaben mit dem Ziel einer größeren Vergleichbarkeit der Leistungen und mehr Chancengerechtigkeit ist zu vermuten, dass das Lehrbuch weiterhin als verlässliche Grundlage fungieren wird. Führt man sich die Anforderungen vor Augen, die von verschiedenen Seiten an das Lehrbuch gestellt werden, kann Kiewegs These vom Schulbuch als Kunstwerk nur unterstrichen werden.92

1.2.2  Die Entwicklung der Lehrwerkanalyse und ihre Methoden

Wie bei der Einführung der Begriffe rund um das Lehrwerk ist auch bei der Lehrwerkanalyse zunächst eine Klärung der im wissenschaftlichen Diskurs unterschiedlich verwandten Termini erforderlich.

1.2.2.1  Problemaufriss

Eine Unterscheidung in Lehrwerkforschung und Lehrwerkkritik nimmt der Arbeitskreis um Heuer, Müller und Schrey im Jahr 1973 vor. Seine Beiträge leisteten einen wichtigen Anstoß zur Etablierung der Lehrwerkkritik. Für die Mitglieder ist die Lehrwerkforschung die Grundlage für Lehrwerkkritik. Letztere soll dem Schulpraktiker Hilfen zur Begutachtung von Lehrwerken zur Verfügung stellen.93 Den Autoren ist bewusst, dass Lehrwerkkritik folglich nur so gut ← 39 | 40 → sein kann, wie der Stand der Lehrwerkforschung dies ermöglicht, sie sehen aber in der Lehrwerkkritik auch ein Mittel, um Lehrwerkforschung voranzutreiben.94

In die gleiche Richtung geht die Differenzierung zwischen Lehrwerkforschung und Lehrwerkkritik bei Gerhard Neuner. Die Lehrwerkforschung hat ihren Schwerpunkt in der Analyse der Grundlagen, der Faktoren und des Bedingungsgefüges. Dabei handelt es sich um die in dieser Arbeit bereits angesprochenen fachübergreifenden und fachspezifischen Faktoren, die sich aus legitimativen, reflexiven, institutionellen, materiellen, konstruktiven und analytischen Bedingungen zusammensetzen.95 Die Lehrwerkkritik dagegen „[…] fragt nach der Eignung eines Lehrwerks für eine bestimmte Lerngruppe, die bestimmte Zielsetzungen verfolgt und unter bestimmten Lernbedingungen unterrichtet wird“.96 Lehrwerkkritik soll also entsprechend der Zielsetzungen von Heuer, Müller und Schrey bei der Bewertung eines Lehrwerks helfen, indem sie Beurteilungskriterien erstellt, diese an ein Lehrwerk anlegt und im Anschluss Empfehlungen zum Einsatz des Lehrwerks erarbeitet. Dies erfolgt in einem vergleichenden Verfahren.97

Eine Unterteilung in drei Bereiche nimmt dagegen Hermann Funk vor. In Anlehnung an Bernd Kast und Gerhard Neuner unterscheidet er die Lehrwerkanalyse, die als „[…] die hermeneutische Erforschung von Inhalten und Konzepten von Lehrmaterialien, in der Regel durch quantitative Erhebungen und Evaluation auf der Basis definierter Einzelkriterien oder umfassender Kriterienkataloge […]“ definiert wird, sowie die Lehrwerkkritik, deren Ziel „[…] die praxisbezogene, vergleichende Lehrwerkanalyse und –beurteilung […]“ ist, die in Zusammenhang mit einer möglichen Empfehlung für die Nutzung von Lehrmaterialien für eine bestimmte Zielgruppe stehen kann.98 Den Prozess, der „[…] die Einführungs- bzw. Freigabeempfehlung bzw. deren Verweigerung in Bezug auf eine konkrete Zielgruppe […]“ beschreibt, bezeichnet Funk als Lehrwerkbegutachtung. ← 40 | 41 →99

Heindrichs, Gester und Kelz sehen die Aufgaben der Lehrwerkforschung darin, eine objektive Grundlage für die Lehrwerkbeurteilung zu finden und die Effizienz der Lehrwerke im Unterrichtsverlauf zu testen.100 Zur Bestimmung dieser Faktoren gibt es verschiedene Ansätze. Zu unterscheiden sind die drei Bereiche der spekulativen Lehrwerkkritik, der quantitativen Lehrwerkanalyse und der empirischen Lehrwerkforschung. Während die spekulative Lehrwerkkritik in der Messung von Lehrwerken an linguistischen und lerntheoretischen Modellen besteht, werden bei der quantitativen Lehrwerkanalyse Daten aus Lehrwerken zusammengetragen, verarbeitet und schließlich verglichen. Dagegen beinhaltet die empirische Lehrwerkforschung die Überprüfung der Effektivität von Lehrwerken an ausgewählten Zielgruppen und unter kontrollierten Bedingungen.101 Für die Autoren haben nur die Ergebnisse der empirischen Lehrwerkforschung ausreichend Aussagekraft, da nur der Einbezug praktischer Erfahrungen verwertbare Ergebnisse über den Wert eines Lehrwerks liefern könne. Wie auch bereits der Arbeitskreis um Heuer, Müller und Schrey sehen sie in der Praxis nicht nur die Anwendung der Theorie, sondern schreiben ihr eine wichtige Rolle in der Fortentwicklung der wissenschaftlichen Grundlagenforschung zu.102

Richard Olechowski dagegen spricht von Schulbuchforschung und –kritik und plädiert in diesem Bereich im Gegensatz zu Heindrichs, Gester und Kelz für einen mehrdimensionalen Ansatz. Olechowski ist der Ansicht, dass allein die Untersuchung des kognitiven Bereichs, also der Verständlichkeit von Schulbüchern, nicht ausreichend sei. Hinzukommen müssen die Betrachtung der affektiven Komponente mit den vermittelten Werthaltungen und Einstellungen sowie der sozialen Lernziele. Der Begriff der Analyse taucht bei Olechowski nicht gesondert auf. ← 41 | 42 →103

Die Frage, ob Analyse und Kritik überhaupt im strikten Sinn trennbar sind, wirft Bernd Latour auf. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass dies nur eingeschränkt möglich sei, da die Kritik eines Lehrbuchs nicht auf eine Analyse verzichten kann. Gleichzeitig wird eine auf eine Analyse gerichtete Arbeit wohl nicht auf Kritik verzichten können, wenn eine Bewertung der Ergebnisse erforderlich scheint.104 Dieses Ineinandergreifen von Analyse, die entsprechend der vorangegangenen Ausführung als Bestandsaufnahme verstanden werden kann, und Kritik als Bewertung und Würdigung wird auch für die vorliegende Arbeit als Grundlage anzunehmen sein.

Neben der inhaltlichen Analyse und Kritik kann sich eine Untersuchung auch an zeitlichen Gesichtspunkten orientieren und Lehrwerkanalyse sowohl synchron als auch diachron betrieben werden. Die synchrone Betrachtung beschäftigt sich mit „der Analyse der Faktoren, die bei einer bestimmten didaktisch-methodischen Konzeption auf die Lehrwerkgestaltung einwirken und mit ihrem wechselseitigen Zusammenwirken“.105 Die diachrone Analyse dagegen widmet sich der Entwicklung bzw. dem Wandel der Einflussfaktoren auf ein Lehrwerk. Dabei können sich natürlich in verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten spezifische Entwicklungen ergeben.106 Der vorliegenden Arbeit liegt ein synchroner Ansatz zugrunde.

1.2.2.2  Lehrwerke als Untersuchungsgegenstand in der Forschung

Auch wenn das Lehrbuch bereits für Generationen von Schülern das wichtigste Medium für das Erlernen einer Fremdsprache darstellt, haben Lehrwerkanalyse und –kritik die Entwicklung dieses Mediums nicht von Beginn an begleitet. ← 42 | 43 →107 Von einer systematischen Forschung kann man erst seit Beginn der 70er-Jahre sprechen.108 Zurückzuführen ist dieser Umbruch auf Veränderungen in der Bildungs- und Schulpolitik, bei den Lehrmethoden und den Zielen des Fremdsprachenunterrichts sowie die Entstehung einer Konkurrenzsituation auf dem Schulbuchmarkt.109 In den 50er-Jahren war die Landschaft des Modernen Fremdsprachenunterrichts im Fach Englisch von einem gesellschaftlich-institutionellem Konsens geprägt. Fremdsprachenunterricht war zu diesem Zeitpunkt den Schülern der höheren Schulen vorbehalten, die eine relativ leistungshomogene Gruppe darstellten. Auch was die fachdidaktischen Ziele anbelangt, herrschte in diesem Zeitraum Einigkeit unter den Fachwissenschaftlern, die diese Ziele als sprachlich-nützliche, geistig-formale, erziehliche und kulturkundliche Lehrziele definieren. Konsens in den entscheidenden Bereichen machte Lehrwerkkritik quasi überflüssig. Daher nahm auch in den führenden modernen Fremdsprachen Englisch und Französisch je ein Lehrwerk eine Art Monopolstellung ein.110 In den 60er-Jahren wurde die Entstehung einer Lehrwerkanalyse durch die Ausweitung des Fremdsprachenunterrichts und der Verbreiterung der Lehrmethoden vorangetrieben. Der Markt für Schulbücher wurde größer und verschiedene Verlage brachten für ein und dieselbe Zielgruppe Lehrbücher heraus, denen ein unterschiedliches pädagogisches und methodisches Konzept zugrunde lag. Den entscheidenden Impuls zur Etablierung der Lehrwerkanalyse und –kritik gab schließlich der Arbeitskreis um Heuer, Müller und Schrey.111 Im Rahmen der Erstellung von Kriterien für eine systematische Lehrwerkkritik wies Heuer auch daraufhin, dass Lehrwerkkritik auch psychologische Aspekte einbeziehen müsse. Dazu zählte er motivationspsychologische, lernpsychologische und sprachpsychologische Aspekte.112 Für den Fremdsprachenunterricht gilt: ← 43 | 44 →

It is not teaching in the sense of presenting the knowledge which the student must absorb like a sponge, but it is learning, which is the most important thing, and only the student who wants to master the new language will gain anything of a lasting value.113

Unter der Prämisse, dass das Lehrbuch als ein entscheidender Faktor über den Lernerfolg des einzelnen Schülers mitentscheidet, sind Lehrwerkanalyse und –kritik also zu einem unverzichtbaren Teil der Forschung geworden, wenn man Qualitätssicherung und –optimierung in diesem Bereich betreiben will. Gleichwohl liegen keine Ergebnisse zu konkreten Wirkungen des Lehrbuchs im Unterricht vor, so dass die Frage, wie ein gutes Lehrwerk aussehen soll, keineswegs geklärt ist.114 Auch durch den Wechsel von einer eher produktorientierten zu einer eher prozessorientierten Lehrwerkforschung im Rahmen einer Entwicklung zu mehr Lernerorientierung hat sich daran noch nichts geändert.115 Gleiches stellt Peter Weinbrenner fest, der drei Typen der Schulbuchforschung unterscheidet: prozessorientiert, produktorientiert und wirkungsorientiert. Die prozessorientierte Schulbuchforschung befasst sich mit dem Lebenszyklus des Lehrbuchs, der seine Entwicklung, seine Zulassungs- und Genehmigungsverfahren, seine Vermarktung und Einführung sowie seine Verwendung und schließlich Aussonderung betrifft. Dagegen bedient sich die produktorientierte Schulbuchforschung inhaltsanalytischer Verfahren, die in Längsschnitt- (historisch) und Querschnittanalysen (vergleichend) münden können. Die wirkungsorientierte Schulbuchforschung dagegen befasst sich mit den Wirkungen des vorliegenden Materials auf seine Nutzer.116 Weinbrenner kommt zu dem Schluss, dass „[…] – zumindest bezogen auf den deutschsprachigen Raum – die Schulbuchforschung sich fast ausschließlich auf […] die ‘produktorientierte Schulbuchforschung’ konzentriert“.117 Dass Schulbuchforschung entgegen der weitläufigen Erwartung ein schwieriges Unterfangen ist, macht Weinbrenner an drei bestehenden Problemen deutlich. Zum einen mangle es aus theoretischer Sicht an einer anerkannten Theorie des Schulbuchs und an Erkenntnissen über den Umgang der Schüler und Lehrer mit diesem Medium. Außerdem habe die ← 44 | 45 → Schulbuchforschung mit methodologischen Defiziten zu kämpfen, da für die Untersuchungen keine hinreichend erprobten Verfahren und Instrumente vorliegen.118

Grundlegend werden weiterhin quantitative und qualitative Verfahren unterschieden, die auch als hermeneutisch bezeichnet werden. Bei der Untersuchung unter hermeneutischen Gesichtspunkten wurden im Laufe der Jahre diverse Kriterienkataloge erstellt, die sich entweder verschiedenen Aspekten des Lehrwerks widmen oder sich auf einzelne Bereiche, zum Beispiel die Landeskunde, konzentrieren. In den letzten Jahren haben speziell in diesem Bereich die Untersuchungen zugenommen. Sowohl die qualitative als auch die quantitative Lehrwerkanalyse werfen Probleme bezüglich der Verwertung ihrer Ergebnisse auf. Schließt man sich der Prämisse an, dass Lehrwerkkritik auf Lehrwerkforschung beruht, so gilt für die Lehrwerkkritik, was auch für die Lehrwerkforschung gilt. Der Vorteil einer hermeneutischen Lehrwerkanalyse bzw. –kritik liegt in „[…] der ganzheitlichen Erfassung und abgerundeten Darstellung der Lehrwerke und in der Möglichkeit, Aussagen über die Brauchbarkeit nicht apodiktisch behaupten, wohl aber zur Diskussion stellen und zur gezielten Erprobung aufrufen zu können“.119 Dem steht jedoch entgegen, dass Lehrwerkkritik auf der Basis von Kriterienkatalogen immer eine subjektive Komponente inhärent ist. Des Weiteren ist eine Trennung von beschreibenden und bewertenden Elementen nicht immer vollständig durchzuhalten.120 Diese Mängel in der Lehrwerkbetrachtung weisen auf die Probleme hin, mit denen die Lehrwerkkritik zu kämpfen hat. So sind ihre Ergebnisse zwar Anhaltspunkte, zeigen aber gleichzeitig ihre Grenzen auf, da die Qualität von einzelnen Teilen des Lehrwerks nicht darüber Aufschluss gibt, welche Unterrichtsqualität erreicht werden kann.121 Der Wunsch nach der Entwicklung einer empirischen Lehrwerkwirkungsforschung bleibt erhalten. ← 45 | 46 → Dies liegt in der Tatsache begründet, dass Unterricht ein Zusammenwirken von Lehrern, Schülern und Lehrwerk darstellt, die in ihrer Interaktion sowohl Prozess- als auch Ergebnisqualität von Unterricht bestimmen.122 Claus Gnutzmann fasst dies zusammen, wenn er sagt, dass „[…] ein einheitlicher, speziell auf das Lehren und Lernen fremder Sprachen bezogener Wirkungsbegriff, der die verschiedenen Wirkfaktoren im Rahmen einer einheitlichen Theorie integrieren kann[…], bisher nicht vorliegt.123 In die gleiche Zielrichtung geht Frank Königs. Er erkennt zwar den Wert der durch die Kriterienkataloge erbrachten Ergebnisse an, kritisiert aber die fehlende Rückkopplung der Lehrwerkforschung an die Entwicklung von Lehrmaterialien bzw. Lehrwerken.124 „Überspitzt ausgedrückt könnte man sagen, dass die Lehrwerkforschung […] auf halbem Wege stehen geblieben ist […]“.125 Auf die grundsätzliche Problematik der Weite des Forschungsfeldes von Lehr- und Lernmaterialien macht Barkowsk mit Hinweisen auf die unterschiedlichen Bereiche aufmerksam. Dazu zählen die Vielfalt der Erkenntnisinteressen, die forschungsmethodischen Überschneidungen, die in der Bewältigung der Analyse, Kritik und Evaluation stecken, Lerner und Lehrer als Individuen und in Interaktion sowie die Menge des vorhandenen Materials. Gleichgültig, an welcher Stelle man beginnt, es kommt immer einem Dammbruch gleich. ← 46 | 47 →126

Quantitative Verfahren bei der Lehrwerkanalyse sind bis heute mit dem Namen Peter Bung verbunden. Seine 1977 veröffentlichte Arbeit zur systematischen Lehrwerkanalyse sollte für eine größere Objektivität, Reliabilität und Validität bei der Lehrwerkanalyse sorgen.127 Neu ist die Anwendung der sozialwissenschaftlichen Analyse der Content Analysis, die Bung als „[…] Gesamtheit der quantitativ vorgehenden textanalytischen Verfahren […]“128 definiert. Die Content Analysis wird verbunden mit der hermeneutischen Inhaltsanalyse. Insgesamt lassen sich je nach Zielsetzung vier verschiedene Verfahren unterscheiden: Frequenzanalyse, Valenzanalyse, Kontingenzanalyse und Cloze – Procedure Analyse.129 Quantitative Analysen sind nicht nur mit einem großen Arbeitsaufwand verbunden, sondern laut Bung trotz ihrer Objektivität für eine aussagekräftige systematische Analyse eines Lehrwerks nicht ausreichend, da die quantitative Untersuchung von Teilaspekten lediglich zur Erstellung eines Gesamtbildes beitragen könne. Bung schlägt daher eine Kombination aus quantitativer und qualitativer Analyse vor.130

1.2.2.3  Verfahren der Lehrwerkanalyse

Seit den Anfängen der Lehrwerkanalyse und –kritik wurden verschiedene Analyseverfahren und Kriterienkataloge mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen vorgelegt. Zu unterscheiden sind Untersuchungen in Form von Totalanalysen, die sich mit einem kompletten Lehrwerk befassen, und Partialanalysen, die einen begrenzten Gegenstand behandeln. Bei Dagmar Abendroth Timmer finden in Anlehnung an Hans-Eberhard Piepho die Termini der synthetischen Analyse (Totalanalyse) und der systematischen Analyse (Partialanalyse) Gebrauch.131 Konzentriert sich die Untersuchung auf ein bestimmtes Merkmal oder einen speziellen Inhalt, handelt es sich um eine Aspektanalyse. Wird ein Thema in mehreren Unterrichtswerken verfolgt, so spricht man von einer Horizontalanalyse, während die Vertikalanalyse sich mit der Konzeption und dem Aufbau eines Unterrichtswerkes befasst. Ebenfalls zu unterscheiden ist die hermeneutische von der erfahrungswissenschaftlichen Analyse. Bei vergleichenden ← 47 | 48 → Analysen werden im Gegensatz zu nicht vergleichenden zum Beispiel alte und neue Fassungen von Schulbüchern gegenübergestellt. Das bereits erläuterte Problem einer noch nicht vorhandenen Wirkungsforschung im Schulbuchbereich liegt der Unterscheidung von Wirkungsevaluation und der so genannten Schreibtischinspektion zugrunde, da die bisher vorliegenden Ergebnisse vor allem auf Theorien basieren, bei denen Wirkungen auf Schüler oder auch Lehrer nicht einbezogen wurden.132

Auf die Problematik der Komplexität von Schulbuchforschung mit dem Ziel einer Totalanalyse weist Weinbrenner hin und spricht sich deshalb explizit für die Durchführung von Partialanalysen aus.133 Er nimmt auch die Gegenüberstellung von Bestands- und Defizitanalysen als weitere Analyseverfahren in den Blick. Bestandsanalysen versuchen, die in Schulbücher aufgenommenen Inhalte möglichst lückenlos zu dokumentieren. Eine bloße empirische Aufnahme der Inhalte steht jedoch dem Innovationsinteresse entgegen. Daher gehen derartige Bestandsanalysen meist mit dem Aufsuchen nach möglichen Defiziten einher, die in Empfehlungen für die weitere Erstellung von Schulbüchern resultieren können. In diesem Sinn ist Bestandsanalyse zugleich Defizitanalyse. In Frage steht dabei die Legitimation der dadurch entstandenen normativen Suchkategorien für die Wissenschaft. Dieser Problematik kann nur durch die Offenlegung der normativen Prämissen des Untersuchenden und einem polyvalent ausgelegten Analyseinstrumentarium begegnet werden.134

Ein Überblick über die vorliegende Forschung zeigt die kontinuierlich fortentwickelte Arbeit mit und von Kriterienkatalogen. Sie entstehen nicht aus der Zusammenstellung von willkürlich aufgestellten Kriterien, sondern orientieren sich an den Anforderungen, die an ein Lehrwerk bzw. Lehrbuch gestellt werden. Laut Claus Gnutzmann lässt sich hier ein für die Fremdsprachendidaktik konstitutives Merkmal am Beispiel der Lehrwerkanalyse aufzeigen:

Die dem ständigen Wandel unterworfene Wechselbeziehung von fachwissenschaftlichen Ansätzen (vor allem linguistischen und in jüngerer Zeit landeskundlich-kulturwissenschaftlichen) und didaktischen Konzepten (insbesondere definiert durch allgemein-erzieherische Lernziele, sprachenpolitische Rahmenbedingungen und Theorien des Fremdsprachenlernens) spiegeln sich exemplarisch in den verschiedenen Lehrwerkgenerationen wider.135 ← 48 | 49 →

Das Schulbuch wird dabei auch als „[…] eigentlicher ‚Umschlagplatz‘ für fachliche Neuerungen in der Schulpraxis[…]‘“ gesehen.136 Schulbuchautoren finden sich bei ihrer Arbeit daher in einem Geflecht von Interessen wieder, zwischen denen sie bei der Erstellung eines Schulbuchs vermitteln müssen. Das Produkt stellt also einen Kompromiss „[…] zwischen fortschreitender Theorie und beharrender Praxis[…]“ dar.137 Aus dieser multifaktoriellen Abhängigkeit der Fachdidaktik und ihrer Bezugswissenschaften folgt eine stetige Erneuerung der Lehrwerke und damit eine stetige Erneuerung der Kriterien: „Kriterienkataloge haben also nicht das ewige Leben!“.138 Zu Beginn der Entwicklung der Lehrwerkkritik wurden die den Katalogen bzw. Untersuchungsrastern zugrunde liegenden Evaluierungskriterien allein aus der Fremdsprachendidaktik gewonnen. Dabei wurden vor allem unterrichtsrelevante Erfahrungswerte genutzt und mit Ergebnissen aus den relevanten Bezugswissenschaften spekulativ erweitert. In der Zwischenzeit hat die Bedeutung der Forschungsergebnisse aus den Bezugswissenschaften der Fachdidaktik zugenommen und leistet damit einen Beitrag zu mehr Wissenschaftlichkeit und weniger fachdidaktischen Spekulationen. Dazu gehören zum Beispiel Spracherwerbsforschung, Psycholinguistik, Lernbiologie, Gehirnforschung, Kommunikationswissenschaften und Lernpsychologie.139

In der Forschung sind einige Kriterienkataloge zu finden, die eine synthetische Untersuchung ermöglichen. Diesen steht allerdings „[…] ein verstärktes Interesse der Lehrwerkkritik an thematisch orientierten Zugangsweisen […]“140 gegenüber, in dessen Rahmen sich Untersuchungsschwerpunkte herausgebildet haben, zum Beispiel Wortschatz- oder Grammatikvermittlung. Einen sehr großen Stellenwert nehmen landeskundliche Arbeiten ein. Entsprechend der Weiterentwicklung vom landeskundlichen hin zum interkulturellen und transkulturellen Lernen liegen auch Untersuchungen zu diesen Feldern und Kriterienkataloge vor. ← 49 | 50 →141

Die Leistungsfähigkeit von Kriterienkatalogen wird kontrovers diskutiert. Eynar Leupold sieht in ihnen eine Checkliste, die je nach Umfang und Wissenschaftlichkeits- oder Praxisorientierung geeignet ist, „[…] sich ein zugleich detailliertes und umfassendes Bild von der inhaltlichen und formalen Qualität eines Lehrwerks zu verschaffen“.142 Laut Abendroth-Timmer sichern sie zwar die Vollständigkeit einer Analyse ab, allerdings sieht sie darin auch einen Nachteil im Hinblick auf ihren Umfang.143 Gerade synthetische Analysen befinden sich daher immer in einem „[…] Spannungsverhältnis von Vollständigkeitsanspruch und Handhabbarkeit […]“.144 Dagegen stellt sich bei Partial- bzw. Aspektanalysen die Frage nach der Integration der einzelnen Ergebnisse in ein Gesamtbild. Dass Raster einen falschen Eindruck von den Möglichkeiten und der Aussagekraft der Ergebnisse vermitteln können, kritisiert Angelika Kubanek, die sich in ihrer Arbeit der Darstellung und Vermittlung von Aspekten der Dritten Welt in Schulbüchern widmet. Sie kommt vor allem im Hinblick auf den in ihrer Arbeit leitenden Aspekt der fremden kulturellen Wirklichkeit und dem Bild des Anderen auf Kriterien wie Verallgemeinerungsverfahren, Perspektive und Verzerrungen und gibt zu bedenken, dass Raster den Eindruck erwecken könnten, durch das bloße Abhaken verschiedener Kriterien könne deskriptive Lehrbuchanalyse betrieben werden.145

Mit den Untersuchungskriterien eines Katalogs zur Lehrwerkanalyse werden bestimmte Anforderungen an ein Lehrwerk gestellt, da im Idealfall bei jedem dieser Punkte eine positive Ergebnisbilanz zu ziehen sein sollte. Hans-Jürgen Krumm warnt allerdings vor einem zu hohen Anspruchsdenken:

Daß die in den Lehrwerkgutachten erhobenen Forderungen an Lehrwerke nicht leicht und kaum gleichzeitig in einem Lehrwerk realisiert werden können, ist deutlich, bestehen doch grundsätzliche Diskrepanzen, einmal zwischen den Interessen, Lehrwerke einem möglichst großen Benutzerkreis zu verkaufen, was eine zielgruppenspezifische Orientierung weitgehend ausschließt, zum anderen auch zwischen der Forderung nach „offenen“ Unterrichtsmodellen und der Notwendigkeit, in Lehrwerken Inhalte und Arbeitsformen ← 50 | 51 → festzulegen, ohne daß in der Regel die Möglichkeit besteht, Lehrkräfte durch gezielte Fortbildung zu einem flexiblen Arbeiten mit diesem Material zu befähigen.146

Richard Bamberger beschreibt Bestands- und Defizitanalyse als sich gegenüberstehende und ergänzende Untersuchungsmethoden, da die Feststellung des inhaltlichen Bestands automatisch das Auffinden von Defiziten mit sich bringt.147 Hermann Funk spricht diesbezüglich von der Zwangsläufigkeit des Defizitbefunds und führt dies auf die Entwicklungszeit eines Lehrbuchs von drei bis fünf Jahren zurück, die eine Berücksichtigung der neuesten didaktischen Innovationen bis zum Erscheinen geradezu unmöglich macht148:

Ein defizitäres Ergebnis der Lehrwerkanalyse ist weder überraschend noch entmutigend, sondern ein Hinweis auf die persönliche fachliche Weiterentwicklung der „Analytiker“ bzw. für den fachdidaktischen Fortschritt insgesamt. [Es] ist also ein positives und wünschenswertes Ergebnis. […] Alarmierend wäre eher ein gegenteiliger Befund. In der Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Zustand bei den Lehrwerken wird ein Fortschritt erkennbar.149

So resümiert Bernd Kast zur Frage nach dem besten Lehrwerk: „Gäbe es d a s Lehrwerk, würden wir es Ihnen empfehlen. Es gibt es nicht“.150

1.2.2.4  Kriterien der Lehrwerkanalyse und Lehrwerkkritik

Die Erstellung von Kriterienkatalogen ist abhängig vom angestrebten Ziel. Zwar liegen Kataloge für Totalanalysen vor, allerdings konzentriert sich inzwischen eine Vielzahl von Katalogen auf einen Aspekt. Dabei leisteten die Arbeiten im Bereich Deutsch als Fremdsprache einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Lehrwerkanalyse und –kritik. Der folgende Überblick soll eine Auswahl dieser Kriterienkataloge vorstellen.

Details

Seiten
684
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631769423
ISBN (ePUB)
9783631769430
ISBN (MOBI)
9783631769447
ISBN (Hardcover)
9783631768112
DOI
10.3726/b14733
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
politische Bildung Lehrwerkkritik politische Mündigkeit Demokratiekompetenz interkulturelles Lernen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 679 S.

Biographische Angaben

Janina Kuhn (Autor:in)

Janina Kuhn studierte Anglistik, Romanistik und öffentliches Recht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sie hat mehrjährige Unterrichtserfahrung in der Sekundarstufe I und II. Ihre Forschungsschwerpunkte sind inter- und transkulturelles Lernen, Differenzierung und politische Bildung im Englischunterricht.

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Titel: Die politische Dimension als didaktischer Lerngegenstand in Lehrwerken für den Englischunterricht
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