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Schreibprozesse und Schreibentwicklung in der Fremdsprache

Eine empirische Untersuchung zum L2-Schreiben von Französischstudierenden

von Anna Katharina Schnell (Autor:in)
©2020 Dissertation 460 Seiten

Zusammenfassung

Im Themenbereich Schreiben in der Fremdsprache gibt es derzeit noch erhebliche Forschungslücken. Aus diesem Grund untersucht die Autorin dieses Buches sowohl fremdsprachliche Schreibprozesse als auch deren Entwicklung eingehend. Als Forschungsgrundlage diente ein umfangreiches Datenkorpus: Lautdenkprotokolle, Screenrecordings, Produkte von Produktionen und Befragungen. Zur Datenanalyse nutzte die Autorin die Verfahrensschritte offenes Kodieren und axiales Kodieren der Grounded Theory. Untersuchungsteilnehmende waren Franko-Romanistik-Studierende. Abschließend werden zahlreiche Erkenntnisse und Hypothesen zu L2-Schreibprozessen sowie zu deren Veränderung aufgezeigt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Dank
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung und Überblick
  • 1.1 Forschungsfragen
  • 1.2 Vorgehensweise und Methodik
  • 1.2.1 Datenerhebung
  • 1.2.2 Datenaufbereitung und Datenauswertung
  • 1.3 Aufbau der Arbeit
  • 2 Forschungsstand der L1- und L2-Schreibprozessforschung
  • 2.1 L1-Schreiben
  • 2.1.1 Das Schreibprozessmodell von Hayes/Flower 1980/1981
  • 2.1.1.1 Das Aufgabenumfeld (Task Environment)
  • 2.1.1.2 Das Langzeitgedächtnis (the writer’s long-term memory)
  • 2.1.1.3 Schreibprozesse (Writing Processes)
  • 2.1.1.3.1 Planungskomponente/Planning
  • 2.1.1.3.2 Formulieren (Translating)
  • 2.1.1.3.3 Überprüfen/Reviewing
  • 2.1.1.4 Missverständnisse bei der Rezeption, Kritik und Weiterentwicklung
  • 2.1.2 Das Arbeitsgedächtnis beim Schreiben
  • 2.1.3 Gefühle und Selbstregulationsmechanismen beim Schreiben
  • 2.1.4 Schreibstrategien
  • 2.1.5 Erkenntnisse der Expertise- und Problemlösungsforschung
  • 2.1.5.1 Verhalten von Expert(innen) und erfolgreichen Problemlöser(innen)
  • 2.1.5.2 Transfer und Trainierbarkeit von Problemlösungsstrategien
  • 2.1.5.3 Komplexes Problemlösen und emotionale Prozesse
  • 2.1.6 Schreibschwierigkeiten
  • 2.1.7 Schreibentwicklung
  • 2.2 L2-Schreiben
  • 2.2.1 L2-Schreibprozessmodelle
  • 2.2.1.1 Das Schreibprozessmodell von Krings
  • 2.2.1.2 Das L2-Schreibprozessmodell von Chenoweth & Hayes (2003)
  • 2.2.2 Weitere Forschungsergebnisse zum L2-Schreiben
  • 2.2.2.1 Unterschiede zwischen L1- und L2-Schreiben
  • 2.2.2.2 Die Rolle der L1 beim L2-Schreiben
  • 2.2.2.3 L2-Schreibstrategien
  • 2.2.2.4 Hilfsmittelverwendung beim L2-Schreiben
  • 2.2.3 L2-Schreibentwicklung
  • 2.2.4 Lernpsychologische Aspekte – Writing to learn (language)
  • 2.2.4.1 Lernfördernde Mechanismen beim L1-Schreiben
  • 2.2.4.2 (Sprach)Lernfördernde Mechanismen beim L2-Schreiben
  • 2.2.4.3 Negative Lernmomente beim L2-Schreiben?
  • 2.2.5 L2-schreibdidaktische Empfehlungen
  • 2.2.5.1 L1-Schreibdidaktische Empfehlungen
  • 2.2.5.2 L2-Schreibdidaktische Empfehlungen
  • 2.2.5.3 Empfehlungen zur Hilfsmittelverwendung beim L2-Schreiben
  • 2.3 Zusammenfassung und Fazit
  • 3 Datenerhebung
  • 3.1 Versuchsablauf
  • 3.2 Schreibaufgabe
  • 3.3 Datenaufbereitung
  • 3.4 Versuchspersonen
  • 3.4.1 Sprachlernerfahrungen der Studierenden
  • 3.4.1.1 Sprachen in der Kindheit
  • 3.4.1.2 Selbsteinschätzung zum Französischniveau
  • 3.4.1.3 Französischlernerfahrungen und Sprachkontakt
  • 3.4.1.4 Französischunterricht
  • 3.4.1.5 Französischschreiberfahrungen
  • 3.4.1.6 Verbindungen und Reisen in ein frankophones Land
  • 3.4.1.7 Weitere Fremdsprachen
  • 3.4.1.8 Das Frankoromanistik- Studium und Berufswünsche
  • 3.4.2 Sprachpraktische Veranstaltungen
  • 3.4.2.1 Grammatik im Kontext I und II
  • 3.4.2.2 Mündliche und schriftliche Kommunikation.
  • 3.4.3 Sprachlernerfahrungen in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums
  • 3.5 Gesamtübersicht der erhobenen Daten
  • 4 Schreibproduktuntersuchung
  • 4.1 Anzahl Wörter im Textprodukt
  • 4.2 Rating
  • 4.2.1 Ratingobjekte und Analyseeinheiten
  • 4.2.2 Erhebungssetting
  • 4.2.3 Interrater-Übereinstimmung
  • 4.2.4 Ergebnisse zur Produktqualität
  • 4.2.5 Ergebnisse zur Veränderung der Produktqualität
  • 4.2.5.1 Ergebnisse zur Veränderung der Produktqualität (n = 4)
  • 4.2.5.2 Ergebnisse zur Veränderung der Produktqualität (n = 10)
  • 4.3 Zusammenfassung und Fazit
  • 5 Schreibprozessuntersuchung – Grenzen und Möglichkeiten von Lautdenkdaten
  • 5.1 Allgemeine Güteeinschätzung des Lauten Denkens
  • 5.2 Lautes Denken zur Untersuchung des fremdsprachlichen Schreibens
  • 5.2.1 Theoretische Einschätzungen zum Lauten Denken beim L2-Schreiben
  • 5.2.2 Sprachvorgaben beim Lauten Denken
  • 5.2.3 Reaktivität beim L2-Schreiben durch das Laute Denken
  • 5.2.4 Eignung von Lautdenkdaten für Schreibprozessvergleiche
  • 5.3 Die Schreibaufgabe und die Schreibexpertise der Studierenden
  • 5.4 Beispiele aus den Lautdenkdaten
  • 5.4.1 Einblicksmöglichkeiten durch Lautdenkdaten
  • 5.4.2 Beispiele für weitere selten rekonstruierbare Prozesse
  • 5.5 Verbalisierungsfähigkeit der untersuchten Schreibenden
  • 5.5.1 Verbalisierungsumfang
  • 5.5.2 Verbalisierungsaufwand (relativer Verbalisierungsumfang)
  • 5.5.3 Anzahl und Länge der Pausen
  • 5.6 Analyse von Lautdenkdaten
  • 5.7 Zusammenfassung und Fazit
  • 6 Grounded Theory zur Analyse von Schreibprozessen
  • 6.1 Offenes Kodieren
  • 6.1.1 Konzeptualisieren
  • 6.1.2 Kategorisieren
  • 6.1.3 Eigenschaften und Dimensionen
  • 6.2 Axiales Kodieren
  • 6.2.1 Phänomen
  • 6.2.2 Ursächliche bzw. zeitlich vorausgehende Bedingung
  • 6.2.3 Kontext
  • 6.2.4 Intervenierende Bedingungen
  • 6.2.5 Handlungs- und interaktionale Strategien
  • 6.2.6 Konsequenzen
  • 6.2.7 Arbeiten mit dem Paradigmatischen Modell
  • 6.3 Prozessaspekt
  • 6.4 Selektives Kodieren
  • 6.5 Organisation des Forschungsprozesses
  • 6.6 Zusammenfassung und Fazit
  • 7 Analysekategorien der Schreibprozessuntersuchung
  • 7.1 Sub- und Hauptkategorien der Datenanalyse
  • 7.2 Prozessaspekte des L2-Schreibens und seiner Entwicklung
  • 7.2.1 Prozessaspekte der Aktualgenese: Textproduktionsphasen
  • 7.2.1.1 Nebentextphase
  • 7.2.1.2 Haupttextphase
  • 7.2.1.3 Revisionsphase
  • 7.2.2 Prozessaspekte der Entwicklungsdimension
  • 7.3 Beziehungsgeflecht, Eigenschaften und Dimensionen
  • 7.4 Problembezogene Passagen (Schreib- und L2-Probleme)
  • 7.4.1 Problemindikatoren
  • 7.4.2 Problemarten
  • 7.4.2.1 L2-Problemarten
  • 7.4.2.1.1 Orthografieprobleme
  • 7.4.2.1.2 Lexikosemantikprobleme
  • 7.4.2.1.3 Morphosyntaxprobleme
  • 7.4.2.1.4 Sonstige und nicht zuzuordnende L2-Probleme
  • 7.4.2.2 Schreibprobleme
  • 7.4.2.3 Sonstige und nicht zuzuordnende Schreib- oder L2-Probleme
  • 7.4.3 Schweregrad des Problems
  • 7.4.4 Problembehandlung
  • 7.4.4.1 Dauer der Problembehandlung
  • 7.4.4.2 Art der Problembehandlung
  • 7.4.4.2.1 Hilfsmittelverwendung
  • 7.4.4.2.2 Weiteres Problemlösungsverhalten
  • 7.5 Voranschreitende (problemfreie) Textproduktion
  • 7.5.1 Planungsaktivitäten
  • 7.5.1.1 Inhalte hervorbringen und planen
  • 7.5.1.2 Textgrammatik
  • 7.5.1.3 Schreibplanung
  • 7.5.2 Formulieren (in der L1, L2 und anderen L2)
  • 7.5.3 Bewertungsaktivitäten (Monitoring)
  • 7.5.4 Entscheidungsaktivitäten
  • 7.5.5 Verschriftlichung
  • 7.5.6 Leseaktivitäten
  • 7.5.7 Abschweifungen und Nebentätigkeiten
  • 7.5.8 Die Rolle von Gefühlen und Selbstregulationsprozessen
  • 7.6 Zusammenfassung
  • 8 Ergebnisse der Schreibprozessuntersuchung
  • 8.1 Bearbeitungszeit und Textproduktionsgeschwindigkeit
  • 8.1.1 Bearbeitungszeit
  • 8.1.2 Textproduktionsgeschwindigkeit
  • 8.2 Textproduktionsphasen
  • 8.2.1 Nebentextphase
  • 8.2.2 Revisionsphase
  • 8.3 Problembezogene Passagen (Schreib- und L2-Probleme)
  • 8.3.1 L2-Probleme
  • 8.3.1.1 Überblick zu den L2-Problemhäufigkeiten
  • 8.3.1.2 Kurze L2-Probleme
  • 8.3.1.3 Lange L2-Probleme
  • 8.3.2 Schreibprobleme
  • 8.3.3 Komplexe Probleme
  • 8.3.4 Problembehandlung
  • 8.3.4.1 Häufigkeit der Hilfsmittelverwendung
  • 8.3.4.2 Verhalten bei der Hilfsmittelverwendung
  • 8.3.4.2.1 Benutzung des zweisprachigen Wörterbuchs
  • 8.3.4.2.2 Benutzung des Synonymwörterbuchs
  • 8.3.4.2.3 Benutzung des portail lexical der Internetseite CNRTL
  • 8.3.4.2.4 Benutzung des Micro Robert
  • 8.3.4.2.5 Kollokationstest mit google.fr
  • 8.3.4.2.6 Benutzung der Word-Rechtschreib- und Grammatikhilfe
  • 8.3.4.2.7 Benutzung von Verbtabellen und Grammatikerklärungen
  • 8.3.4.3 L2-Problembehandlung durch Kommunikationsstrategien
  • 8.3.4.4 Beobachtungen zum Zugriff auf das mentale Lexikon
  • 8.3.4.5 Emotionale Prozesse bei der Problembehandlung
  • 8.3.4.6 Beobachtungen zur Problembehandlung von Schreibproblemen
  • 8.3.4.7 Beobachtungen zur Problembehandlung von komplexen Problemen
  • 8.4 Voranschreitende (problemfreie) Textproduktion
  • 8.4.1 Planungsprozesse
  • 8.4.1.1 Planung der Inhalte
  • 8.4.1.2 Planung der Textgrammatik
  • 8.4.1.3 Schreibplanung
  • 8.4.2 Formulieren und Verschriftlichen
  • 8.4.2.1 Verhalten beim Verschriftlichen von Formulierungen
  • 8.4.2.2 Gebrauch der L1 und der L2 beim Formulieren und Verschriftlichen
  • 8.4.2.3 Qualität der L2-Formulierungen und Problembewusstsein
  • 8.4.2.4 Länge und Art der Formulierungs- und Verschriftlichungselemente
  • 8.4.2.5 Epistemisch-heuristisches L2-Schreiben
  • 8.4.3 Bewertungs- und Entscheidungsprozesse (Monitoring)
  • 8.4.3.1 Bewertungs- und Entscheidungsprozesse zur Sprache
  • 8.4.3.2 Bewertungs- und Entscheidungsprozesse zur Textgrammatik
  • 8.4.3.3 Bewertungs- und Entscheidungsprozesse zur Textpragmatik
  • 8.4.3.4 Bewertungs- und Entscheidungsprozesse zu Inhalten
  • 8.4.3.5 Bewertungs- und Entscheidungsprozesse zur eigenen Handlung
  • 8.4.4 Leseprozesse
  • 8.5 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 9 Weiterführende Hypothesen und Diskussion
  • 9.1 Gliederungs- und Überarbeitungsphasen
  • 9.2 Lokales Schreibverhalten
  • 9.3 Repräsentationsfähigkeit
  • 9.4 Sprachliche Sorgfalt
  • 9.5 L1 Verwendung
  • 9.6 Unterschiede beim Formulieren und Lesen
  • 9.7 Kernkategorie: Kognitiv-emotionale Belastung
  • 9.8 Entwicklungsperspektive
  • 9.9 L2-Sprachlernprozesse beim L2-Schreiben
  • 10 L2-Schreibdidaktische Überlegungen
  • 10.1 Schwierigkeitsgrad der Schreibaufgabe
  • 10.2 Lernziele definieren und Hilfsmittel anpassen
  • 10.3 Gezielte sprachliche Arbeit vor dem Schreiben
  • 10.4 Ausreichend Zeit für Gliederungsphasen
  • 10.5 Sprachliche Qualität in den Mittelpunkt stellen
  • 10.6 Gefühlsregulation
  • 10.7 Ausreichend Zeit für die Überarbeitungsphase
  • 10.8 Lernumgebung mit Möglichkeiten zum direkten Feedback
  • 10.9 Bewusster Umgang mit Besonderheiten des L2-Schreibens
  • 10.10 Technische Unterstützung
  • 11 Zusammenfassung und Schlussbemerkung
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Literatur
  • Reihenübersicht

1 Einleitung und Überblick

Derzeit gibt es keine empirisch basierte L21-Schreibdidaktik – weder in Deutschland noch international (vgl. Manchón et al. 2016). In den vergangenen 30 Jahren wurden vor allem L1-Schreibprozesse und L1-Schreibstrategien untersucht. Dabei wurden zahlreiche Erkenntnisse zu Formulierungs-, Planungs-, Bewertungs- und Leseaktivitäten gewonnen. In den 1980er und 1990er Jahren sind verschiedene Schreibprozess- und Schreibentwicklungsmodelle entstanden. Darauf aufbauend sind insbesondere seit den 1990er Jahren auch Forschungen zu schreibdidaktischen Themen unternommen worden.

Die L2-Schreibprozessforschung baut auf den Vorgehensweisen und Diskursen der L1-Schreibprozessforschung auf. Dennoch wurde das L2-Schreiben bislang nicht in derselben Intensität wie das L1-Schreiben untersucht. Bereits Ende der 1980er Jahre sind Modelle zu fremdsprachlichen Schreibprozessen entwickelt worden (vgl. z. B. Krings 1989, Börner 1987). Bis heute sind aber viele Fragen zu L2-Schreibstrategien sowie vor allem zur Entwicklung von L2-Schreibkompetenzen unbeantwortet geblieben. Auch Forschungsarbeiten und wissenschaftliche Diskussionen zu methodisch-didaktischen Fragen zum L2-Schreiben lassen sich nur vereinzelt finden (vgl. Manchón et.al 2016). Hyland nennt vor allem forschungspraktische und methodische Gründe für diese Forschungslücken:

[…] we still do not have a comprehensive idea of how people learn to write. Researchers are now more aware of the complexity of planning and editing, the influence of the task on writing, and the value of examining what writers do when they write, but models are hampered by small-scale, often contradictory studies and the difficulties of accessing unconscious processing. Moreover, many cognitive processes are routine and internalized operations performed without any conscious recognition and therefore difficult to access (Hyland 2011:19 in Manchón).

Dass bislang nur wenig Forschung insgesamt und insbesondere zu methodisch-didaktischen Fragen zur L2-Textproduktion unternommen wurde, erstaunt, weil L2-Schreiben äußerst praxisrelevant ist. Die Fähigkeit, Texte in einer ←13 | 14→Fremdsprache zu schreiben, ist in den letzten Jahren nicht nur in vielen Berufsfeldern zu einer Kernkompetenz geworden. Auch im institutionellen Fremdsprachenunterricht sind L2-Textproduktionen häufig im Unterricht angeleitete Übungen, Hausaufgaben sowie beliebte Prüfungsformen.

Einer der Gründe, warum L2-Lernende im Fremdsprachenunterricht meist zahlreich schriftliche Texte produzieren, ist, dass in der Fremdsprachendidaktik, in der Sprachlehr- und Sprachlernforschung sowie in der L2-Schreibforschung mehrheitlich angenommen wird, dass L2-Schreiben sprachlernfördernd ist (vgl. z. B. Portmann-Tselikas 2010:93f.). Es handelt sich um die sogenannte Writing-to-learn-language-Perspektive (vgl. Manchón 2011). Allerdings gibt es auch in diesem Bereich kaum gezielt auf das L2-Schreiben bezogene Untersuchungen, wodurch viele der vermuteten positiven L2-lernpsychologischen Effekte empirisch nicht gesichert sind (vgl. z. B. Manchón 2011; Williams 2012).

Aufgrund der hohen Praxisrelevanz des L2-Schreibens und der erheblichen Forschungslücken in diesem Bereich werden in dieser Arbeit weitere Erkenntnisse zu L2-Schreibprozessen und zur Veränderung von L2-Schreibprozessen erarbeitet. Zudem werden, aufbauend auf den Ergebnissen dieser Arbeit, L2-schreibdidaktische Überlegungen formuliert – vor allem um die Forschung und Diskussion in diesem empirisch bisher wenig explorierten Forschungsbereich voranzutreiben.

In der L2-Schreibprozessforschung findet derzeit kaum Modell- und Theoriebildung statt. Die Ursache dafür könnte sein, dass in der (L2)-Schreibprozessforschung keine qualitativ-hermeneutischen Forschungs- und Auswertungsmethoden verwendet werden (vgl. auch Kormos 2012:400). Dieses könnte u. a. an verschiedenen disziplinimmanenten Konstellationen liegen (vgl. Abschnitte 1.2.2 und 2.3). Deshalb wurde entschieden, in dieser Untersuchung mit Verfahrensschritten des Forschungsstils Grounded Theory zu arbeiten. Ziel dabei ist vor allem neue, theoretisch wenig vorbelastete Erkenntnisse zu erarbeiten, um die Forschung, insbesondere in den oben genannten bislang wenig untersuchten Forschungsbereichen, voranzutreiben und durch qualitativ-explorative Thesen neue Impulse in das Forschungsfeld zu geben (vgl. Abschnitt 1.2.2).

1.1 Forschungsfragen

Um den Erkenntnisprozess in einer Arbeit nicht einzuschränken oder in eine bestimmte Richtung zu lenken, werden bei einer Untersuchung im Forschungsstil Grounded Theory offene Forschungsfragen formuliert:

←14 | 15→

1. Welche L2-Schreibprozesse lassen sich bei den untersuchten Studierenden (fortgeschrittene L2-Lernende) rekonstruieren?

2. Wie verändern sich die rekonstruierbaren L2-Schreibprozesse im Laufe der ersten Studienhälfte (zwei Jahre)?

3. Wie verändert sich die Produktqualität der in der Untersuchung entstandenen Texte im Laufe der ersten Studienhälfte (zwei Jahre)?

4. Welche L2-schreibdidaktischen Überlegungen lassen sich auf Grundlage der Ergebnisse formulieren?

5. Können neue Erkenntnisse für die Theoriebildung des L2-Schreibens oder der L2-Schreibdidaktik ermittelt werden?

1.2 Vorgehensweise und Methodik

Folgend wird ein Überblick zur Datenerhebung und zur Datenauswertung präsentiert. Eine detaillierte Beschreibung zum Untersuchungsdesign und der untersuchten Studierendengruppe ist in Abschnitt 3 zu finden.

1.2.1 Datenerhebung

Für die Untersuchung wurden zwei Jahre lang von insgesamt 10 Studierenden zu zwei bzw. drei Zeitpunkten Textproduktionsprozesse (mit dazugehörigen Produkten) erhoben. Dabei schrieben die Studierenden bei allen Produktionen einen französischen Text zu der Fragestellung: „La vie d’un étudiant est-elle préférable à celle d’un lycéen?“ („Ist das Studentenleben dem Schülerdasein vorzuziehen?“ übersetzt von AKS). Bei allen untersuchten Studierenden handelt es sich um Studierende, die im Jahr 2008/2009 ihr Studium im Fach Frankoromanistik (Bachelor) an der Universität Bremen begonnen hatten.

Bei jeder der durchgeführten Untersuchungen wurde während des gesamten Schreibprozesses der PC-Bildschirm abgefilmt (Screenrecording). Außerdem kam das Verfahren Lautes Denken zum Einsatz. Dadurch ist ein Datenkorpus entstanden, durch das man Einblicke in die Entstehung der fremdsprachlichen Texte gewinnen kann. Da die Studierenden zu zwei bzw. zu drei Zeitpunkten einen Text zu derselben Schreibaufgabe verfasst haben, war es möglich, darüber hinaus Veränderungen des Schreibverhaltens innerhalb von zwei Jahren zu rekonstruieren.

Zusätzlich wurden von den Studierenden Hintergrundinformationen zu ihren Lese-, Schreib- und Fremdsprachlernerfahrungen sowie ihren Fremdsprachlernbemühungen vor und während des Untersuchungszeitraums erhoben.

←15 | 16→

Die bei den Schreibsitzungen entstandenen Textprodukte wurden ebenfalls untersucht.

1.2.2 Datenaufbereitung und Datenauswertung

Die wichtigste und umfangreichste Datenquelle dieser Schreibprozessuntersuchung sind die Lautdenkdaten und die dazugehörenden Bildschirmvideos. Insgesamt wurden 24 Lautdenkprotokolle2 von 10 studentischen L2-Schreibenden transkribiert. Die Informationen aus den Bildschirmvideos wurden sowohl bei der Transkription als auch bei der Analyse der Lautdenkdaten durchgehend miteinbezogen.

Für die Untersuchung der Qualität und der Veränderung der bei den Schreibsitzungen entstandenen Textprodukte wurden einige einfache Produktkennwerte ermittelt und ein Ratingverfahren durchgeführt. Bei dem Rating haben 10 Französisch-Muttersprachler(innen) die Texte im Hinblick auf ausgewählte sprach- und textbezogene Merkmale beurteilt.

Bei der Datenanalyse der Lautdenkdaten wurde mit den Verfahrensschritten offenes Kodieren und axiales Kodieren der Grounded Theory gearbeitet (Glaser/Strauss 2010; CorbinStrauss 2015; Strauss/Corbin 2010). Der Kern der Grounded Theory ist, Hypothesen auf Grundlage verschiedener Daten zu generieren und diese solange anhand weiterer Daten zu überprüfen, bis eine sogenannte Sättigung erreicht ist und eine Theoriebildung erfolgen kann. Für die Durchführung dieser Analyseschritte wird in der Grounded Theory Methodik (GTM) ein Set qualitativer Verfahren angeboten, die sich besonders für die systematische Exploration bisher wenig erschlossener Forschungsfelder eignen. Bei der Arbeit mit der GTM können darüber hinaus wenig beachtete Zusammenhänge in Forschungsbereichen entdeckt werden, in denen bereits Modelle und Theorien existieren. Der Bezug zu handlungstheoretischen Überlegungen (vgl. Strauss/Corbin 2010) sowie die heuristischen und gleichzeitig systematisch-analytischen Analyseverfahren der GTM scheinen insbesondere für die Auswertung von Lautdenkdaten geeignet (vgl. Schnell 2013).

Bisher wurde in der L2-Schreibprozessforschung nicht mit der Grounded Theory Methodik gearbeitet. Dieses liegt vermutlich daran, dass die Grounded Theory in den und für die Sozialwissenschaften entwickelt wurde. Forschende der L2-Schreibprozessforschung stehen häufig den Methoden, Praktiken und ←16 | 17→Diskursen der Kognitiven Psychologie nahe. Möglich ist deshalb, dass die in Abschnitt 1 beschriebenen Forschungslücken u. a. durch die disziplinimmanenten Vorgehensweisen entstanden sind (vgl. Abschnitt 2.3) und dass ein stärker explorativ-heuristisches Vorgehen neue Impulse in das Forschungsfeld geben könnte.

In der Grounded Theory werden Forschungsfelder in einem ersten Schritt ohne bestehende Konzepte und Theorien exploriert. Die Beschäftigung mit empirischen und theoretischen Erkenntnissen zum L1- und L2-Schreiben war allerdings in dieser Arbeit vor der Datenanalyse zentral, weil nur aufgrund dessen beurteilt werden kann, welche Einblicke durch die verwendeten Lautdenkdaten überhaupt möglich sind. Lautdenkdaten sind im Gegensatz zu anderen qualitativen Daten stark unstrukturiert und Menschen sind grundsätzlich unterschiedlich gut dazu in der Lage, ihre Gedanken zu verbalisieren. Aus diesem Grund musste vor der Datenanalyse ermittelt werden, welche schreib- und fremdsprachenspezifischen Phänomene sich mithilfe des Lauten Denkens bei den untersuchten Schreibenden prinzipiell rekonstruieren lassen. Zudem stellte sich die Frage, welche dieser Prozesse sich so häufig rekonstruieren lassen, dass inter- und intraindividuelle Prozessvergleiche durchführbar sind.

Eine derartige Mischung von Ansätzen wird insbesondere in neueren Veröffentlichungen zur Grounded Theory positiv bewertet:

[…] ich sehe die qualitative Analyse nach dem postmodern turn als regelrechte Bastelarbeit für ‚Bricoleure‘ (Denzin/Lincoln 1994:2). Bricoleure stellen aus einem breiten Repertoire an verfügbaren Ansätzen und Konzepten projektspezifische Werkzeugsätze zusammen – indem sie das auswählen, was sie für ‚die richtigen Werkzeuge für diese Aufgabe halten‘. Natürlich müssen wir dabei im Hinterkopf behalten, dass die ‚Werkzeuge‘ die ‚Aufgabe‘ und die ‚Richtigkeit‘ immer schon emergente und veränderliche Konstruktionen sind […] (Clarke/Keller 2012:184).

Die Forschungsergebnisse und Forschungsdiskurse, die zur Bewertung der Lautdenkdaten vor der Datenanalyse exploriert werden, können zudem i. S. der GTM als zusätzliche Daten zur Reflexion und Analyse des Forschungsfeldes verwendet werden (vgl. dazu z. B. Clarke/Keller 2012:183f. und Abschnitt 2.3). Bei der Datenanalyse wurde aber darauf geachtet, keine Konzepte, Kategorien, Modelle und Verfahren der L2-Schreibprozessforschung unkritisch zu übernehmen – so, wie es auch in der Grounded Theory üblich ist.

Durch die methodenbedingten Begrenzungen konnten in dieser Untersuchung nicht alle Verfahrensschritte der Grounded Theory durchgeführt werden (siehe dazu ausführlich Abschnitt 6). Es war aber möglich, eine Kernkategorie des L2-Schreibens zu ermitteln, die bislang wenig in der L2-Schreibprozessforschung ←17 | 18→diskutiert wurde und Grundlage für die Theoriebildung und kommende Forschungsarbeiten bilden könnte. Aufbauend auf der Kernkategorie sowie den anderen Ergebnissen dieser Untersuchung konnten darüber hinaus zahlreiche praxisrelevante Hypothesen zum L2-Schreiben entwickelt werden, die sich als Ausgangspunkte für eine empirisch basierte L2-Schreibdidaktik eignen.

1.3 Aufbau der Arbeit

In Abschnitt 2 werden Ergebnisse vorangegangener Forschungsarbeiten präsentiert. Wie schon in Abschnitt 1.2.2 erwähnt ist beim Forschen im Stil der Grounded Theory eine der Methodik funktional angepasste Einbeziehung von Erkenntnissen aus vorangegangenen empirischen und theoretischen Arbeiten vorgesehen. In dieser L2-Schreibprozessuntersuchung musste auf der Grundlage vorangegangener L2-Schreibprozessuntersuchungen vor allem eine Einschätzung zu den verwendeten Lautdenkdaten vorgenommen werden. Darüber hinaus dienten die in Abschnitt 2 präsentierten Forschungsergebnisse als Ideengrundlage, um bei der Datenanalyse vielfältige Hypothesen zum L2-Schreiben zu entwickeln und diese anschließend an den erhobenen Daten zu überprüfen. Trotz der besonderen Herangehensweise in Grounded Theory-Forschungsarbeiten wurde bei der Verschriftlichung die für empirische Arbeiten übliche Darstellungsweise gewählt, bei der zunächst theoretische Grundlagen und anschließend die Methodik veranschaulicht werden.

In Abschnitt 2 werden sowohl Erkenntnisse der L1-Schreibprozessforschung als auch der L2-Schreibprozessforschung vorgestellt. Dieses schien vor allem deshalb sinnvoll, weil sich L1- und L2-Schreiben in grundsätzlichen Prozessverläufen ähnlich sind und deshalb auch in der L2-Schreibprozessforschung auf Erkenntnisse der L1-Schreibprozessforschung aufgebaut wird (vgl. Abschnitt 2.2). Für das L2-Schreiben werden zudem lernpsychologische Aspekte und L2-schreibdidaktische Empfehlungen präsentiert. Im Abschnitt 2.3 werden die Untersuchungsergebnisse zusammengefasst und es wird eine kurze Einschätzung zum Forschungsfeld und den dazugehörigen Diskursen und Praktiken gegeben. Ein reflektierter Umgang mit den Praktiken und Diskursen der eigenen Disziplin wird vor allem in neueren Ansätzen der Grounded Theory vorgeschlagen (vgl. Clarke/Keller 2012:123f.) und scheint auch in Anbetracht der forschungspraktischen und methodologisch-methodischen Entscheidungen, die in dieser Arbeit getroffen wurden, sinnvoll.

In Abschnitt 3 wird die Datenerhebung beschrieben. Dazu werden zunächst Informationen zu den untersuchten Französischstudierenden gegeben. Anschließend erfolgt eine Darstellung der Versuchsbedingungen und der ←18 | 19→Datenaufbereitung. Abschließend wird eine Gesamtübersicht zum Datenkorpus präsentiert.

In Abschnitt 4 erfolgt die Darstellung der Schreibproduktuntersuchung mit den dazugehörigen Ergebnissen. Zunächst wird der Kennwert Anzahl Wörter im Produkt vorgestellt und diskutiert. Anschließend wird das Rating zur Bestimmung der Textqualität beschrieben. In Abschnitt 4.2.4 werden die Ergebnisse der Produktqualität präsentiert und in Abschnitt 4.2.5 die Veränderungen der Produktqualität.

In Abschnitt 5 werden die Möglichkeiten und Grenzen der Forschungsmethode Lautes Denken diskutiert, mit der in dieser Arbeit die meisten Daten erhoben wurden. Wie in Abschnitt 1.2.2 erwähnt, müssen aufgrund des besonderen Charakters von Lautdenkdaten methodische und methodologische Fragen vor der Datenanalyse umfassend durchdacht werden. Deshalb werden neben Fragen zur allgemeinen Güteeinschätzung von Lautdenkdaten Überlegungen zu den folgenden Bereichen angestellt: zur Reaktivität des Lauten Denkens, zur Sprache, in der laut gedacht wird und zur besonderen Situation des Einsatzes beim L2-Schreiben. Zudem werden in diesem Abschnitt konkrete Einschätzungen zum Lauten Denken für die verwendete Schreibaufgabe und die untersuchten Studierenden präsentiert.

In Abschnitt 6 erfolgt eine kurze Vorstellung des Forschungsstils Grounded Theory. Primär werden dabei die verwendeten Kodierschritte erläutert. Zudem wird beschrieben, wie die über das Laute Denken rekonstruierbaren L2-Schreibprozesse mithilfe der Kodierschritte analysiert werden können.

In Abschnitt 7 werden die in dieser Untersuchung entwickelten Analyseeinheiten präsentiert. Dazu erfolgt zunächst die Darstellung der Sub- und Hauptkategorien. Anschließend werden die zugehörigen Phänomenbereiche, Eigenschaften und deren Ausprägungen, die in den Lautdenkdaten rekonstruierbar waren, beschrieben.

In Abschnitt 8 erfolgt die Präsentation der Ergebnisse dieser Arbeit. Zunächst werden die Bearbeitungszeiten und die Textproduktionsgeschwindigkeiten dargestellt. Anschließend werden Beobachtungen zu unterschiedlichen Textproduktionsphasen beschrieben. Die meisten Erkenntnisse konnten in dieser Untersuchung zu Passagen ermittelt werden, in denen die L2-Schreibenden (sprachliche) Probleme hatten, weil man in diesen Momenten über Lautes Denken Zugang zu sonst automatisierten Prozessen bekommt. Daran anschließend werden Beobachtungen zu (problemfreien) Schreibprozessen präsentiert. Folgende Prozessgruppen wurden analysiert: Planen, Formulieren, Verschriftlichen, Bewerten, Entscheiden und Lesen. Durch die hohe Automatisierung dieser Prozesse ist allerdings mit erheblichen Rekonstruktionslücken zu rechnen.

←19 | 20→

In Abschnitt 9 werden weiterführende Hypothesen, die auf Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeit entwickelt wurden, präsentiert. Das datenbasierte Generieren von weitreichenden und vielfältigen Hypothesen ist in der Grounded Theory üblich. Aufgrund der beschriebenen methodenbezogenen Besonderheiten sowie forschungspraktischer Begrenzungen konnten die Hypothesen an keinen weiteren Daten überprüft werden (theoretisches Sampling). Aus diesem Grund werden die Ergebnisse und die darauf aufbauenden Hypothesen in diesem Abschnitt vor dem Hintergrund der in Abschnitt 2 präsentierten theoretischen und empirischen Erkenntnisse zum L1- und L2-Schreiben diskutiert.

In Abschnitt 10 werden auf Grundlage der Ergebnisse und Hypothesen dieser Arbeit schreibdidaktische Überlegungen formuliert. Dieser Schritt erschien vor allem deshalb sinnvoll, weil es, wie erwähnt, derzeit kaum methodisch-didaktische Empfehlungen zum L2-Schreiben im Fremdsprachenunterricht gibt, die auf Grundlage empirischer Erkenntnisse entwickelt wurden. Ebenso wie die Hypothesen aus Abschnitt 9 müssen auch die schreibdidaktischen Überlegungen in weiteren Forschungsarbeiten und in der Praxis überprüft und elaboriert werden.

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1 Der Begriff Muttersprache wird in dieser Arbeit mit L1 und Fremdsprache mit L2 abgekürzt. Diese Abkürzung wird vor allem in der Sprachlehr-und Sprachlernforschung verwendet; das L steht für Language. Demgemäß wird in dieser Arbeit z. B. Schreiben in der Muttersprache L1-Schreiben genannt und Schreiben in der Fremdsprache L2-Schreiben, Fremdsprachenlehrende L2-Lehrende etc.

2 Von allen 10 Studierenden wurden zu zwei Zeitpunkten (zu Beginn der Untersuchung und nach vier Semestern) Daten erhoben. Von insgesamt vier Studierenden wurden zusätzliche Daten nach zwei Semestern erhoben (siehe ausführlich Abschnitt 3.4).

2 Forschungsstand der L1- und L2-Schreibprozessforschung

Schreiben in der Mutter- und in der Fremdsprache ist eine komplexe kognitiv-emotional-sprachliche Kulturfertigkeit, die in den vergangenen dreißig Jahren aus verschiedenen Perspektiven untersucht wurde (eine Übersicht zu den unterschiedlichen Forschungsperspektiven der Schreibforschung bieten z. B. Randsdell/Barbier 2002). Die Forschung zu L1-Schreibprozessen begann in den 1980er Jahren in den USA. In dieser Zeit sind auch die wichtigsten bis heute verwendeten Schreibprozess- und Schreibentwicklungsmodelle entwickelt worden (einen Überblick zur Geschichte der Schreibprozessforschung findet sich z. B. in Krings 1992a; Girgensohn/Sennewald 2012).

Die Forschung zum L2-Schreiben hat erst in den 1990er Jahren in einem größeren Umfang begonnen. Zu L2-Schreibstrategien und zur Entwicklung des mutter- und fremdsprachlichen Schreibens liegen weltweit bis heute nur wenige empirische Untersuchungen vor (2.2.2 und Abschnitt 2.2.3).

Das größte Problem in der L1- und L2-Schreibprozessforschung besteht darin, dass es mit den derzeit in der Schreibprozessforschung einsetzbaren Methoden schwierig ist, die schnellen, komplexen und teilweise wahrscheinlich parallelen mental-emotionalen Abläufe, die beim Schreiben stattfinden, zu rekonstruieren (vgl. Abschnitt 5.2.1). Am häufigsten kommt in der L1- und L2-Schreibprozessforschung die Methode Lautes Denken – mit der auch in dieser Untersuchung gearbeitet wurde – zum Einsatz. Zudem werden über Beobachtungs- und Interviewdaten Erkenntnisse zu Schreibstrategien erarbeitet. Vor allem seitdem PC-Bildschirmaufnahmeprogramme (Screenrecording) entwickelt wurden, wird zudem teilweise mit der Forschungsmethode Stimulated Recall gearbeitet. Dabei schauen sich Schreibende ein Video ihres eigenen Schreibprozesses nach der Produktion an und geben dabei Erklärungen zu ihrem Verhalten ab. Neuerdings wird auch mit sogenanntem Eye-Tracking-Verfahren gearbeitet, bei denen die Augenbewegungen von Schreibenden verfolgt werden können.

Folgend werden die wichtigsten theoretischen Grundlagen und empirischen Ergebnisse zunächst zum L1-Schreiben und anschließend zu L2-Schreibprozessen vorgestellt. Erkenntnisse aus beiden Forschungsdisziplinen vorzustellen, erschien, wie erwähnt, vor allem deshalb sinnvoll, weil sich L1- und L2-Schreibprozesse nicht grundlegend voneinander unterscheiden. Zudem verwenden Forschende im Bereich L2-Schreibprozessforschung Ergebnisse und Methoden ←21 | 22→aus der L1-Schreibprozessforschung, wodurch ein umfassendes Verständnis des L2-Schreibens nur mit Blick auf beide Forschungsdisziplinen ermöglicht werden kann.

2.1 L1-Schreiben

In den vergangenen 35 Jahren sind in der Schreibprozessforschung viele theoretische und empirische Erkenntnisse erarbeitet worden, welche kognitiven Aktivitäten beim Schreiben stattfinden.3 Folgend werden zunächst das bekannte Schreibprozessmodell und die zugehörigen schreibtheoretischen Überlegungen von Hayes/Flower (1980, 1981) vorgestellt. Mit dem Schreibprozessmodell lässt sich vor allem ein Eindruck von der Vielschichtigkeit und Komplexität von Schreibprozessen gewinnen. Zudem ist das Modell die Grundlage für zahlreiche empirische Arbeiten in den letzten Jahrzehnten gewesen. Es folgt ein Abschnitt zur zentralen Funktion des Arbeitsgedächtnisses beim Schreiben, die in zahlreichen psycholinguistischen Untersuchungen nachgewiesen wurde.

Daran anschließend wird über die Rolle von Gefühlen und Selbstregulationsmechanismen beim Schreiben referiert. Es handelt sich um einen bislang wenig erforschten Bereich. Es erschien vor allem deshalb sinnvoll, die wenigen Arbeiten in diesem Gebiet kurz vorzustellen, weil es bei der Datenanalyse dieser Untersuchung Hinweise gab, dass Gefühle und Selbstregulationsmechanismen wichtiger bei der (L2)-Textproduktion sind, als dieses derzeit in der Praxis und in der L2-Schreibprozessforschung diskutiert wird (vgl. Abschnitt 7.5.8 und 8.3.4.5).

Details

Seiten
460
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631801703
ISBN (ePUB)
9783631801710
ISBN (MOBI)
9783631801727
ISBN (Hardcover)
9783631801697
DOI
10.3726/b16113
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Schreibforschung Fremdsprache Schreiben Fremdsprache Schreibdidaktik Lautdenkdaten Grounded Theory
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 460 S., 32 s/w Abb., 26 Tab.

Biographische Angaben

Anna Katharina Schnell (Autor:in)

Anna Katharina Schnell studierte an der Universität Bremen Französisch und Sport auf Gymnasiallehramt. Anschließend erstellte sie einen Teil ihrer Promotion dank eines Stipendiums der Studienstiftung des deutschen Volkes. Es folgte eine vierjährige Koordinationsstelle in einem Qualitätspakt-Lehre-Projekt (ForstA) an der Universität Bremen. Derzeit arbeitet die Autorin in Hamburg als Gymnasiallehrerin.

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Titel: Schreibprozesse und Schreibentwicklung in der Fremdsprache
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