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Von göttlicher Vorsehung bis Zufall

«Tyche» im Werk des Plutarch von Chaironeia

von Jens-Frederik Eckholdt (Autor:in)
©2019 Dissertation 528 Seiten
Reihe: PRISMATA, Band 22

Zusammenfassung

Der facettenreiche griechische Ausdruck ‚Tyche‘ (Schicksal, Glück, Zufall; auch Name einer Göttin) hat im Werk des Plutarch von Chaironeia (ca. 45 bis 125 n. Chr.) einen großen Stellenwert. Diese Studie arbeitet durch vertiefte Quellenanalysen heraus, welche Bedeutungsfacetten bei Plutarch in verschiedenen Kontexten relevant sind, und verdichtet diese zu Typen. Sie schlägt für diese Typologie in ihrer Bedeutungsweite von göttlicher Vorsehung bis Zufall einen organischen Zusammenhang vor, der an Plutarchs Vorstellungen von den ‚Daimones‘ angelehnt ist. Ein besonderer Fokus ist auf die Erklärung der Geschichte durch Plutarch gelegt: Inwiefern geht er von menschlicher Tüchtigkeit aus und inwiefern sieht er ‚Tyche‘ im Spiel, wenn es um historische Prozesse geht?

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Verzeichnis der herangezogenen plutarchischen Werke und der genutzten Kurztitel
  • I. Einleitung
  • 1. Einführung in Thema, Vorgehensweise und Forschungsstand
  • 1.1 Plutarch und Tyche – eine thematische Annäherung
  • 1.2 Fragestellung, Zielsetzung und Methode der Untersuchung
  • 1.3 Forschungsstand (mit Folgerungen für die geplante Untersuchung)
  • 2. Die Vorstellung von der Tyche im Altertum – eine Entwicklungsskizze
  • 2.1 Von den ersten Erwähnungen der τύχη bis zur Zeit Alexanders des Großen
  • 2.2 τύχη in hellenistischer Zeit
  • 2.3 Die römische ‚fortuna‘-Vorstellung und ihre Beeinflussung durch ‚τύχη‘
  • II. Tyche bei Plutarch – eine Analyse ausgewählter Quellen
  • 1. Analyse der Tyche-Beispiele aus den Parallelbiographien des Plutarch
  • 1.1 Zu den Parallelbiographien
  • 1.2 Aemilius und Timoleon
  • 1.3   Perikles und Fabius Maximus
  • 1.4 Sulla
  • 1.5 Demetrios und Antonius
  • 2.   Erster – diachroner – Ausblick: Tyche in der vorplutarchischen Überlieferung der ausgewählten Helden und Abgleich mit Plutarchs historisch-biographischer Darstellung
  • 2.1   Einführende Überlegungen
  • 2.2   Die vorplutarchische Überlieferung zu den Helden der griechischen Parallelbiographien
  • α   τύχη in der vorplutarchischen Überlieferung zu Timoleon von Korinth
  • β   τύχη in der vorplutarchischen Überlieferung zu Perikles
  • γ   τύχη in der vorplutarchischen Überlieferung zu Demetrios Poliorketes
  • 2.3   Die vorplutarchische Überlieferung zu den Helden der römischen Parallelbiographien
  • α   τύχη in der vorplutarchischen Überlieferung zu L. Aemilius Paullus
  • β   τύχη in der vorplutarchischen Überlieferung zu Q. Fabius Maximus
  • γ   τύχη in der vorplutarchischen Überlieferung zu L. Cornelius Sulla
  • δ   τύχη in der vorplutarchischen Überlieferung zu M. Antonius
  • 3.   Zwischenergebnis: Tyche in den Parallelbiographien – Versuch einer Typologisierung
  • 3.1   Zusammenfassung der Ergebnisse und Aufweis der Typen
  • 3.2   Einordnung des gesamten Parallelbiographienwerks in das Typenfeld
  • α‚Menschenlostyche‘
  • β   ‚Zufall‘
  • γ   ‚Personal- und Herrschertyche‘
  • δ   ‚Allgewaltig-unberechenbare Zufalls-Tyche‘
  • ε   ‚Geschichtsmächtige göttliche Vorsehungstyche‘934
  • σ   ‚Geschichtliche Weltschicksalstyche‘
  • 3.3   Die Coriolanus-Biographie
  • 3.4   Auswertung der Zwischenergebnisse
  • 4.   Analyse der Tyche-Beispiele aus den Moralia-Schriften
  • 4.1   Einführende Hinweise zu den so genannten Moralia des Plutarch
  • 4.2   Alexander der Große und Tyche – zu Plutarchs Alexandros und De Alexandri Magni fortuna aut virtute
  • 4.3   Weitere mit Tyche betitelte Werke und ins Historische ausgreifende Schriften
  • α   De fortuna Romanorum und De fortuna
  • β   Ein Beispiel aus der Gruppe der antiquarischen Schriften: Die Mulierum virtutes
  • 4.4   Philosophische Werke und Trostschriften
  • α   De tranquillitate animi und De Stoicorum repugnantiis
  • β   Exkurs zu Ps.-Plutarch De fato
  • γ   Consolatio ad uxorem, De exilio und Consolatio ad Apollonium
  • 4.5   Religiöse und daimonologische Schriften
  • α   Einführende Hinweise zum Religionsthema und Analyse von De Pythiae oraculis
  • β   De defectu oraculorum und De genio Socratis
  • 5.   Zweiter – synchroner – Ausblick: Tyche in der Zweiten Sophistik und in der frühkaiserzeitlichen Philosophie
  • 5.1   Einführung der Vergleichsperspektive
  • 5.2   Hinweise auf den Tyche-Gedanken in der Zweiten Sophistik
  • 5.3   Die Vorsehung als ein Zentralmotiv der frühkaiserzeitlichen Philosophie
  • III. Die vielgestaltige Tyche-Vorstellung bei Plutarch – ein Systematisierungs- und typologischer Deutungsversuch
  • 1. Typologische Auswertung der Ergebnisse aus den Quellenstudien zu den Parallelbiographien und zu den Moralia-Schriften
  • 1.1 Tyche in den Moralia-Schriften – Prüfung und Präzisierung der in II 3. vorgeschlagenen Typologie
  • 1.2 These zum organischen Zusammenhang der ausgewiesenen Typen von Tyche
  • 2. Folgerungen für den Zusammenhang zwischen Tyche und Mensch sowie Tyche und Geschichte
  • 2.1 Tyche und menschliche Tüchtigkeit
  • 2.2 Tyche und historische Taten
  • 2.3 Tyche und Geschichte
  • IV. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 1. Quellen
  • 1.1 Plutarch von Chaironeia
  • α Historisch-kritische Ausgaben
  • β Weitere genutzte/konsultierte Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare
  • 1) Gesamtausgaben der Parallelbiographien und Moralia-Schriften
  • 2) Ausgaben einzelner Werke oder Werkgruppen
  • 3) Reine Kommentare zu Einzelwerken
  • γ Hilfsmittel: Zitatverzeichnis und Forschungsberichte zu Plutarchs Werk
  • 1.2 Weitere antike Quellen
  • α Griechische Quellen
  • β Lateinische Quellen
  • 2.   Forschungsliteratur
  • 3.   Internet-Links: online-Hilfsmittel

←16 | 17→

I. Einleitung

1. Einführung in Thema, Vorgehensweise und Forschungsstand

Abstract: The introduction contains two chapters. In the first one, starting from a statement in Plutarch’s Sertorius and Eumenes (Sert. 1.1), the reader is given an indication of the various meanings of ‘tyche’ in the works of Plutarch, the intention to analyze the different meanings by interpreting several statements and their contexts and finally an overview of the current state of research.

1.1 Plutarch und Tyche – eine thematische Annäherung

Der kaiserzeitliche griechische Autor Plutarch von Chaironeia (etwa 45 bis 120 n. Chr.)1 lässt seine Parallelbiographie des spätrepublikanischen Römers Sertorius und des frühhellenistischen Griechen Eumenes2 mit dem Satz beginnen:

Verwunderlich ist es vielleicht nicht, dass, während die τύχη [Tyche] in der unendlichen Zeit bald auf diese, bald auf jene Weise dahinfließt, das αὐτόματον [Automaton] häufig zu denselben Begebenheiten hingetrieben wird.

Θαυμαστὸν μὲν ἴσως οὐκ ἔστιν, ἐν ἀπείρῳ τῷ χρόνῳ τῆς τύχης ἄλλοτ’ ἄλλως ῥεούσης, ἐπὶ ταὐτὰ συμπτώματα πολλάκις καταφέρεσθαι τὸ αὐτόματον.3

Die von Plutarch an den Anfang der Parallelbiographie gestellte Äußerung zur ‚τύχη‘ führt unmittelbar zum Thema der vorliegenden Untersuchung, deren Titel Von göttlicher Vorsehung bis Zufall – ‚Tyche‘ im Werk des Plutarch von ←17 | 18→Chaironeia lautet. Der zitierten Äußerung und den sich anschließenden Ausführungen des Plutarch soll im aktuellen Unterkapitel 1.1 der Studie weiter nachgegangen werden, um, auf ein Quellenbeispiel gegründet, im Unterkapitel 1.2 das thematische Feld der Untersuchung anzudeuten und die Fragestellung zu entwickeln. Zu diesem Zweck werden im Folgenden das Prooimion von Plutarchs Sertorius und Eumenes und eine weitere Passage des Sertorius analysiert. Methodisch setzt die Arbeit also bei den Quellen an, deren Auslegung durchgehend im Mittelpunkt dieser Studie stehen wird. Auf die bisherige Forschung zum Thema wird unter 1.3 eingegangen, wenn der Forschungsstand zur konkreten Fragestellung umrissen wird. In einem zweiten Kapitel des einleitenden Teils (I 2) wird die Vorstellung von der τύχη im Altertum skizziert, um eine Folie zu erhalten, vor der Plutarchs Gedanken besser in Erscheinung treten können und deren Eigenständigkeit zu prüfen ist. In Teil II folgt die eigentliche Quellenstudie und in Teil III die Auswertung.

Plutarch spricht in dem zitierten Satz aus Sertorius und Eumenes mit dem Partizip ‚ῥέουσα‘4 die Vorstellungswelt des Wassers an. Er erweckt das Bild von der unendlichen Zeit – und damit auch von der menschlichen Geschichte – als einem Gewässer, dessen Fließen sich verändert. Als dasjenige, das in der Zeit unterschiedlich fließt, wird die τύχη ausgemacht. Der griechische Ausdruck ‚τύχη‘ lässt sich mit „Schicksal“, „Schickung“, „Glück“, „Unglück“ oder aber auch mit „Zufall“ übersetzen; auch kann mit ‚Τύχη‘ eine Göttin angesprochen sein, in deren Gestalt der abstrakte Gehalt von ‚τύχη‘ eine Personifizierung erfährt.5 In der wiedergegebenen Stelle lässt sich das Wort – im ersten Zugang – so auffassen, dass mit ihm das, was sich im Laufe der Zeit ereignet, also ein ‚Geschehen‘, bezeichnet wird. Ob das Geschehen in seinen Veränderungen mehr zufällig oder mehr planhaft, ob es positiv oder negativ ist, erhellt sich nicht unmittelbar. Eine solche vorsichtige Annäherung schließt an die Grundbedeutung von τύχη als eine „vox media“ an, die zunächst „‚Geschehen, Geschick‘ ohne positives und ←18 | 19→negatives Vorzeichen […]“ bedeutet.6 Ob Plutarch τύχη hier als etwas willkürlich von sich aus Zu-Fallendes ansieht oder ob er von etwas Schicksalhaftem, etwas, dem eine wie auch immer geartete Plan- und Zweckhaftigkeit und möglicherweise ein Agens des Schickens – etwa eine göttliche Instanz – unterstellt wird, ausgeht7, bleibt zu prüfen. Deutlich ist, dass er vor dem Hintergrund dieser Vorstellung vom grundsätzlichen Wandel des Geschehens äußert, dass es nicht verwunderlich sein müsse, dass „τὸ αὐτόματον“ („der Zufall“)8 oft zu denselben Begebenheiten führe. Obwohl der Zufall etwas Willkürliches und nicht planhaft sich Ereignendes ist, kann er – ohne dass das Erstaunen erregen muss – gleiche Ereignisse zeitigen.

Die vorliegende Aussage des Plutarch scheint so auszulegen zu sein, dass es zwei Ebenen des Geschehens gibt: einmal die Ebene allgemeinen und umfassenden Geschehens („ἐν ἀπείρῳ τῷ χρόνῳ“), der Geschichte, in der die τύχη wirkt und Wandlungen und Entwicklung vollzieht, und einmal die Ebene der einzelnen Begebenheiten („συμπτώματα“), deren Auftreten vom αὐτόματον abhängt. Die genaue Verbindung zwischen den beiden Ebenen kann – je nach Deutung des Genitivus Absolutus („τῆς τύχης … ῥεούσης“) – temporal, kausal, konzessiv oder konditional aufgefasst werden. Da Plutarch die Wirkkräfte auf beiden Ebenen mit unterschiedlichen Wörtern angibt, ist nicht anzunehmen, dass er sowohl mit τύχη als auch mit αὐτόματον ‚Zufall‘ meint. τύχη wird weniger in ihrem Bedeutungsgehalt ‚Zufall‘ verwandt sein als in der Bedeutung ‚Schicksal‘ oder etwas offener ‚Geschick‘. Zumindest dürfte eine Kraft angesprochen sein, die ihrem Wesen nach plan- und schicksalhaft vorzustellen ist. Dafür spricht das ←19 | 20→Bild des Wassers, dessen Strömungen und Verläufe in der Regel nicht willkürlich wechseln, in der Abfolge von Ebbe und Flut sogar gesetzmäßig verlaufen.9 Plutarch unterscheidet somit Zufallsereignisse, bei denen Gleiches auftreten kann, und Entwicklungsverläufe, über deren Charakter angedeutet wird, dass sie dem Wechsel unterworfen sind, der offenkundig in einer stärker geordneten und planmäßigen und damit in einer schicksalhaften Form vorzustellen ist. Über mögliche Parallelentwicklungen innerhalb dieser Ebene ist in dem zitierten Satz nichts ausgesagt; solche erscheinen dem Wortlaut nach eher unwahrscheinlich.

In den sich an die zitierte Äußerung anschließenden Ausführungen des Plutarch wird jedoch deutlich, dass die Überlegung des wiederkehrenden Gleichen beim Zufall auch auf der Ebene des mit τύχη angesprochenen Geschehens eine Rolle spielt. Denn in der Erörterung der Annahme, dass die Wiederkehr des Gleichen beim Zufall nicht erstaunlich sei, führt er mit ausdrücklichem Verweis auf τύχη weiter aus, dass dann, wenn man „[…] die Unendlichkeit des Stoffes […]“ („… τὴν τῆς ὕλης ἀπειρίαν· …“)10 annehme, gerade in der Mannigfaltigkeit der Gestaltungsraum liege, der eine Hervorbringung „[…] der Gleichheit des Vollbrachten […]“ („… τῆς τῶν ἀποτελουμένων ὁμοιότητος …“)11 erzeuge. Dahinter zu stehen scheint, dass gerade die Vielfalt der tiefer liegenden Gleichartigkeit bedürfe, um eine Ordnung zu finden. Plutarch erörtert auch die Möglichkeit, dass der Stoff begrenzt zu denken ist. In dem Fall bestehe – erst recht, wie sich ergänzen ließe – die „Notwendigkeit, dass das Selbe entsteht“ („ἀνάγκη ταὐτὰ γίνεσθαι“)12, da die Anzahl der möglichen Variationen eingeschränkt sei. Die zweite Möglichkeit wird nicht ausdrücklich auf τύχη bezogen, sie könnte ←20 | 21→somit für das αὐτόματον gelten.13 Ist mit dem Wortgebrauch von τύχη und αὐτόματον also zweierlei angesprochen – wie es nahe liegt –, dann ist anzunehmen, dass Plutarch für den großen schicksalhaften Verlauf der Geschichte eine unbegrenzte Zahl von möglichen Entwicklungen annimmt, die aber doch in wiederkehrenden, einander gleichen – oder zumindest ähnlichen – Grundformen zu ordnen sind; auf der Ebene der einzelnen, vom Zufall gesteuerten Begebenheiten sind hingegen nur wenige Möglichkeiten gegeben, so dass schon nach dem Prinzip des Zufalls sich gleichende Geschehnisse denkbar sind. Diese strukturelle Gleichförmigkeit der beiden Ebenen, die zugleich deutlich voneinander unterschieden werden, legt eine Auflösung des Genitivus Absolutus im Eingangssatz mit einem neutralen temporalen „während“ nahe.

Auf den Unterschied von Zufallsgleichheit bei Einzelelementen und Parallelen bei den übergreifenden Schicksalsentwicklungen oder Konstellationen baut Plutarch das weitere Prooimion der Parallelbiographie Sertorius und Eumenes auf.14 Persiflierend stellt er den Hang, nach bloß „zufällig“ („κατὰ τύχην“)15 auftretenden Äußerlichkeiten, die aus der Geschichte oder aus dem Hörensagen gewonnen werden und „[…] den Werken von Vernunft und Vorsehung gleich ←21 | 22→scheinen […]“ („… λογισμοῦ καὶ προνοίας ἔργοις ἔοικεν …“)16, Entsprechungen vorzuführen und daraus bedeutsame Regeln abzuleiten, bloß. Plutarch erklärt nämlich – nachdem er banale Beispiele aus Mythen und Geschichte für angenommene historische Ähnlichkeiten aufgegriffen hat17 –, dass er es den mit solchen Vergleichen operierenden Leuten gleichtun möchte: Er stellt in entsprechender Weise die These auf – wobei er die bisher allgemein auf geschichtliche Vollzüge bezogenen Ausführungen auf sein biographisches Thema überleitet –, dass die am meisten durch List und Klugheit erfolgreichen Feldherren einäugig gewesen seien. Dafür liefert Plutarch mit Verweis auf Philipp II. von Makedonien, Antigonos Monophthalmos, Hannibal und seinen Protagonisten in der ersten der beiden vorliegenden Lebensbeschreibungen, Sertorius, Beispiele.18 Ausgehend vom ironisch als komplementär unterstellten Verhältnis von militärischer Listigkeit und Einäugigkeit vergleicht Plutarch weiter – um auf lauter Unterschiede im Verhalten und vor allem in den jenem zugrunde liegenden Tugenden (Enthaltsamkeit, Treue und Milde gegen die Feinde) zu kommen; dort überall war Sertorius, so Plutarch, den anderen Genannten überlegen, während er ihnen an Verstandeskraft ebenbürtig war.19 Der Hauptunterschied zwischen Philipp II., Antigonos Monophthalmos und Hannibal auf der einen und Sertorius auf der anderen Seite liegt für Plutarch in der verschiedenartigen Begünstigung durch die τύχη.20 Doch obwohl er an dieser schlimmer als an den Feinden zu leiden gehabt hätte, habe Sertorius es mit den erfahrensten (Metellus), mutigsten (Pompeius), von der τύχη verwöhntesten Gegnern (Sulla) und der gesamten Macht Roms aufgenommen, auch wenn er nur Führer iberischer Barbaren gewesen sei.21

Im Zusammenhang des Vergleichs von Sertorius mit den anderen Feldherren formuliert Plutarch:

Obwohl er [= Sertorius] dieser [= τύχη] für alles viel schlimmer Tribut als den offenen Feinden gezahlt hatte, machte er sich selbst […] der τύχη des Sulla gleich […].

ᾗ πολὺ τῶν ἐμφανῶν πολεμίων χαλεπωτέρᾳ περὶ πάντα χρησάμενος͵ ἐπανίσωσεν ἑαυτὸν … τύχῃ δὲ τῇ Σύλλα …22

←22 | 23→

‚τύχη‘ tritt in diesem Zitat als Attribut des Sulla auf, nachdem sie zuvor als allgemeines Geschick eingeführt worden ist. Unter dem allgemeinen Schicksal hatte Sertorius – so Plutarch – zu leiden, es war sein Hauptfeind; das Leben des Sulla zeichnete sich hingegen durch eine besondere Begünstigung durch das Schicksal aus: Sein Erfolg kam vom Schicksal, er hatte ein gutes ‚persönliches‘ Schicksal, „Glück“.23 Der Erfolg des Sertorius verdankte sich dagegen dessen eigener Leistung gegen die Widrigkeiten des historischen Geschicks. Ein Antagonismus zwischen einer Begünstigung durch das Schicksal und eigener Tüchtigkeit (ἀρετή/Arete) klingt an. Der Ausdruck ‚τύχη‘ wird hier von Plutarch anscheinend auf zwei verschiedenen Ebenen verortet: auf der welthistorischen und auf der persönlichen. Der bei Sulla deutlich werdende persönliche Bezug zum Schicksal zeigt sich indirekt auch bei Sertorius: Seine Niederlage gegen die sich durchsetzende geschichtliche Entwicklung bedingte sein Lebensschicksal – sein ‚Unglück‘. ‚τύχη‘ kann, so zeichnet sich ab, ebenfalls als positives oder negatives Resultat des Geschehens, als ‚Erfolg‘ und ‚Glück‘ oder ‚Misserfolg‘ und ‚Unglück‘, sowie als persönliches Lebensschicksal auftreten.

Eine die historischen Geschicke bestimmende τύχη, das Schicksal24, wird von Plutarch als der Hauptgegner des Sertorius ausgemacht. Gegen dieses wusste Sertorius sich dergestalt zu behaupten, dass er es mit den größten gegnerischen Feldherren aufzunehmen verstand. Dass das Schicksal mit seiner Ausrichtung der historischen Entwicklung in eine bestimmte Richtung letztlich nicht zu bezwingen ist, zeigt sich daran, dass Sertorius am Ende unterliegt.25 In diesem allgemeinen geschichtlichen, aber zugleich für Sertorius existentiell persönlichen Schicksal liegt der Ansatzpunkt, der Plutarch den Gedanken der bedeutsamen Schicksalsparallele gegen die belanglose, im Vorangegangenen entlarvte Zufallsähnlichkeit ausspielen lässt: Nicht in der Gemeinsamkeit irgendwelcher körperlichen Merkmale oder Äußerlichkeiten, sondern in der Wiederkehr eines solchen Lebensganges, der an der zeitgeschichtlichen Entwicklung bei aller persönlichen Größe scheitert, liegt nach Plutarch ein Vergleichspunkt, ←23 | 24→der sinnvoller Weise eine Zusammenschau verschiedener Begebenheiten beziehungsweise Biographien fruchtbar macht. Plutarch beansprucht – und damit ist er am Ziel seiner einleitenden Überlegungen –, mit seiner Zusammensicht der Lebensverläufe und der Charaktereigenschaften des Sertorius und des Eumenes eine solche Schicksalsparallele in den Blick zu rücken. Denn einerseits seien sie einander in ihren durch Listigkeit erzielten Kriegserfolgen und in ihrer Befähigung zu herrschen ähnlich, andererseits hätten sie beide vergleichbare Lebenswege beschritten, da sie beide als Verbannte ihnen fremde Völker anführten.26 Im Zusammenhang mit ihrem Tod nennt Plutarch noch eine Parallele. Er äußert, dass „[…] beide […] am Lebensende einem gewaltsamen und ungerechten Schicksal Tribut zahlten“ („… ἀμφότεροι … τύχῃ δὲ χρησάμενοι βιαίῳ καὶ ἀδίκῳ περὶ τὴν τελευτήν“).27 Neben eher äußerlichen Umständen tritt der durchaus auch mit Blick auf Philipp, Antigonos und Hannibal gültige tiefere Vergleichspunkt von List und Erfolg auf; hinzu treten bei Sertorius und Eumenes jedoch eine Ähnlichkeit im Lebensgang und ein vergleichbares Verhältnis zum Schicksal ihrer Zeit, an dem sie scheiterten und das ihnen einen grausamen und ungerechten Tod bescherte: Sertorius wurde von den eigenen Gefolgsleuten ermordet, während Eumenes von diesen ausgeliefert und in der Folge dieses Verrats ermordet wurde.28 Auf solche tieferen, schicksalhaften Lebensähnlichkeiten im wandelhaften Gang der Geschichte möchte Plutarch den Blick seiner Rezipienten richten und mit ihnen verteidigt er seine Zusammenstellung dieser ←24 | 25→beiden Protagonisten. Sie gelten ihm als insgesamt positiv29 hervorzuhebende, lehrreiche Helden.

Plutarch kommt aber nicht umhin, in der Lebensbeschreibung des Sertorius (Kap. 10) auf die Überlieferung eines schlimmen Verbrechens, das dieser im Alter, als seine Machtstellung unter den Hispaniern zu schwinden begann, begangen hat, hinzuweisen.30 Er habe wehrlose Kinder der Hispanier, die ihm als Geiseln übergeben gewesen seien, umgebracht oder versklavt.31 Plutarch versucht, sich und dem Leser dieses Handeln verständlich zu machen, überlegt, ob das mild erscheinende Wesen des Sertorius nur Fassade war32 und bringt erneut die τύχη ins Spiel:

←25 | 26→

Mir aber scheint irgendeine Schicksalsfügung zwar niemals die reine und gemäß der Vernunft standhaltende Tugend aus der gewöhnlichen Stellung in das Gegenteil bringen zu können; sonst [scheint es] aber nicht unmöglich, dass gute Gesinnungen und rechtschaffene Naturen, nachdem sie wider Verdienst durch große Unglücksschläge schlecht behandelt worden sind, durch den [oder: mit dem] δαίμων [Daimon] den Charakter ändern. Ich glaube, dass dieses auch Sertorius erlitt, dass er sich, nachdem ihn damals das gute Geschick verließ, unter den schlimm werdenden Umständen gegen die, die [ihm] Unrecht taten, erbitterte.

ἐμοὶ δ΄ ἀρετὴν μὲν εἰλικρινῆ καὶ κατὰ λόγον συνεστῶσαν οὐκ ἄν ποτε δοκεῖ τύχη τις ἐκστῆσαι πρὸς τοὐναντίον· ἄλλως δὲ προαιρέσεις καὶ φύσεις χρηστὰς ὑπὸ συμφορῶν μεγάλων παρ΄ ἀξίαν κακωθείσας οὐκ ἀδύνατον τῷ δαίμονι συμμεταβαλεῖν τὸ ἦθος. ὃ καὶ Σερτώριον οἶμαι παθεῖν, ἤδη τῆς τύχης αὐτὸν ἐπιλειπούσης ἐκτραχυνόμενον ὑπὸ τῶν πραγμάτων γινομένων πονηρῶν πρὸς τοὺς ἀδικοῦντας.33

‚τύχη‘ hat Sertorius dazu getrieben, gegen seine gewöhnlichen Vorsätze zu verstoßen und Unrecht zu begehen. Aus der Not heraus ist er grausam geworden.

In der zitierten Passage stoßen zwei Aussagen des Plutarch aufeinander: Einerseits („μὲν“) kann τύχη nach Plutarchs Auffassung einen tugendhaften Menschen niemals aus der Bahn werfen; andererseits aber („ἄλλως δὲ“) will er genau das nicht ausschließen, sieht diese Möglichkeit bei Sertorius sogar ausdrücklich als gegeben an. Entweder liegt auf der Seite der einwirkenden Macht ein Unterschied vor, und das zweimalige τύχη ist unterschiedlich zu verstehen, oder auf der Seite des menschlichen Charakters oder der menschlichen Gesinnung („ἦθος“/Ethos), also der seelischen Verfassung oder der Haltung, mit der der Mensch sich in sein und zu seinem Leben stellt und aus der heraus er handelt34, wird ein Unterschied gemacht. Denkbar ist, dass zwar „irgendein Zufall“ („τύχη τις“) nichts gegen die Tugend ausrichten kann, aber eine Schicksalsverlassenheit („τῆς τύχης αὐτὸν ἐπιλειπούσης“) – also der grundsätzliche Verlust des ←26 | 27→Erfolges – durchaus; ebenso ist möglich, dass zwar die ‚reine Tugend‘ („ἀρετὴν … εἰλικρινῆ“) gegenüber jeder Einwirkung von außen erhaben ist, nicht aber die nur ‚guten Gesinnungen und rechtschaffenen Naturen‘ („προαιρέσεις καὶ φύσεις χρηστὰς“). In dem Fall würde Sertorius nicht die höhere Auszeichnung der reinen Tugend, also einer besonderen seelischen Tüchtigkeit, zukommen.35 Eine Entscheidung zwischen beiden Deutungen fällt schwer, da die Vieldeutigkeit des Ausdrucks ‚τύχη‘ schon zutage getreten ist, aber auch eine graduelle Unterscheidung der menschlichen Haltung als Lösung einleuchtet. Zur Interpretation dieser Stelle scheinen ein Vergleich mit anderen Protagonisten der plutarchischen Schriften, die Misserfolge erlitten haben, und dem dortigen Wortgebrauch und eine grundsätzliche Erörterung der Frage, ob Plutarch annimmt, dass menschliche Haltungen sich ändern können, hilfreich. Diesen Punkten wird abschließend unter III 2.1 nachzugehen sein.

Einzugehen ist noch kurz auf den Ausdruck ‚δαίμων‘, der in Plutarchs zitierter Überlegung auftritt und zwar an einer Stelle, an der eine Wiederholung von τύχη denkbar wäre. Das Wort umfasst die Bedeutungen ‚Gott‘, ‚göttliche Kraft‘, insbesondere zuständig für das Schicksal des Menschen, ‚gutes oder schlechtes Geschick‘, ‚persönlicher Genius‘ und ‚halbgöttliches Wesen‘ – zentraler Gedanke ist eine gute, schützende Schicksalskraft oder eine Schutzwesenheit; auch die Seelen der Menschen aus der ‚goldenen Zeit‘ können als ‚δαίμονες‘ angesprochen werden. Zu ergänzen wäre das verwandte ‚δαιμόνιον‘, das ‚göttliche Macht‘, ‚Gottheit‘, ‚niederes göttliches Wesen‘ oder ‚schlechter Geist‘ meint; hier kann ebenfalls das Schicksalhafte angesprochen sein.36 Der Unterschied zwischen beiden Worten liegt im verschiedenen Grad der Abstraktheit, die beim Neutrum ‚δαιμόνιον‘ gesteigert vorliegt. Auch diese Begrifflichkeit scheint für τύχη zu ←27 | 28→berücksichtigen zu sein, wie überhaupt die religiöse Dimension und Τύχη als Göttin nicht außer Acht gelassen werden dürfen, wie zu zeigen sein wird.

Mit der Untersuchung der die Parallelbiographie des Sertorius und Eumenes einleitenden Gedanken des Plutarch37 und einer weiteren Überlegung aus Sertorius, Kap. 10, konnte eine Vielzahl von Aspekten der Thematik veranschaulicht werden. Eine solche, anhand eines Quellenbeispiels durchgeführte Annäherung an den Problemhorizont erschien sinnvoll, um im Folgenden auf Grundlage dieser vorläufigen Ergebnisse und Vorausverweise in Fragestellung, Zielsetzung und Konzeption der gesamten Untersuchung einzuführen.

1.2 Fragestellung, Zielsetzung und Methode der Untersuchung

Die Frage nach der τύχη im Werk des Plutarch von Chaironeia zeigt an, dass eine Werkanalyse mit begriffs- und mehr noch mit problemgeschichtlicher Fragestellung geplant ist. Untersucht werden soll, in welchen Bedeutungen und Zusammenhängen, mit welchen Zielsetzungen und Funktionen und in welcher Tragweite Plutarch den Ausdruck verwendet. Die einleitend vorgenommene exemplarische Analyse hat Anhaltspunkte dafür gegeben, dass es sich bei ‚τύχη‘ um ein vielschichtiges, schwer zu fassendes Begriffswort handelt und dass seine Verwendung bei Plutarch die Deutung vor Probleme stellt. Bereits der Ansatz, ‚τύχη‘ als ‚Begriff‘ zu fassen, beinhaltet die Gefahr zu verkürzen und zu übersehen, dass neben einer abstrakten Kategorie auch der Eigenname einer – allerdings wenig konkreten – Gottheit gemeint sein kann.38 Wenn von ‚τύχη‘ im Folgenden als Begriff gesprochen wird, ist eine gewisse sprachliche Vereinfachung in ←28 | 29→Rechnung zu stellen. Auf die Schwierigkeiten, die eine Untersuchung des Wortgebrauchs bei Plutarch in den verschiedenen Hinsichten aufwirft, ist zwecks Präzisierung der Fragestellung und Formulierung der Zielsetzung der Studie noch einmal der Blick zu richten.

Das Prooimion zu den in einem Werk vereinten und durch eine Schlussvergleichung (Synkrisis) verbundenen Lebensbeschreibungen des Römers Sertorius und des Griechen Eumenes dient zuallererst einem Einstieg in die Parallelbiographie. Eine Rechtfertigung für die Zusammenstellung des Paares wird gegeben, und über die Exposition mit dem τύχη-Gedanken soll Interesse beim Leser geweckt werden.39 Die Polemik des Plutarch gegen äußerlich-zufällige Parallelen und die Behauptung, selbst vom Kriterium wirklicher Schicksalsähnlichkeit geleitet zu sein, haben eine narrative Funktion. Die Erörterung der τύχη als Prinzip geschichtlicher Entwicklung ist eingebunden in eine erzählerische Absicht und keine eigenständige Abhandlung mit eigener Fragestellung. Auch in der Untersuchung anderer Schriften des Plutarch wird darauf zu achten sein, inwieweit seine Ausführungen zur τύχη einem eigenständigen Gedanken folgen und inwieweit sie in andere Zielsetzungen eingebunden sind. Die Tragweite der plutarchischen Ausführungen zur τύχη ist unterschiedlich einzuschätzen je nach dem, ob sie im Rahmen übergeordneter Erzählabsichten oder einer eigentlichen Auseinandersetzung erscheinen.

Eine weitere Schwierigkeit lässt sich anhand der analysierten Passagen in den Blick nehmen: Der Bedeutungsgehalt von τύχη ist in den Quellen oft erst zu erschließen, da das griechische Begriffswort eine Bedeutungsweite hat, die in der deutschen Sprache begrifflich nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Zufällige und schicksalhafte Begebenheiten und Entwicklungen sind zwar darin verbunden, dass dem Menschen etwas zukommt, über das er keine direkte Macht hat und für das er zumindest nicht unmittelbar verantwortlich ist, aber ob das, was sich ereignet, rein willkürlich oder einem Plan und einer Absicht folgend geschieht, macht für die Deutung einen erheblichen Unterschied.40 Die ←29 | 30→Annahme schicksalhaften Geschehens kann auf ein deterministisches Weltbild ohne Handlungsfreiheit verweisen, während der Zufall Freiräume für ein freies Handeln und ein Beeinflussen des Geschehens eröffnen kann. Die Bedeutung der menschlichen Tüchtigkeit (ἀρετή) wird in Abhängigkeit zur Übersetzung verschieden zu veranschlagen sein. Zwei unterschiedliche Weltansichten können entsprechend mit ‚τύχη‘, je nach Akzentsetzung, angesprochen sein. Dass zur Erschließung der Bedeutung von τύχη in der jeweiligen Erwähnung des Plutarch die Suche nach anderen, im Umfeld gebrauchten Ausdrücken hilfreich sein kann, hat sich in der vorweg gestellten Analyse erwiesen: Der Kontrast mit dem αὐτόματον half, die Akzentuierung des Begriffs ‚τύχη‘ im Prooimion des Sertorius und Eumenes herauszuarbeiten. Durch den Nachweis, dass Plutarch verwandte Ausdrücke benutzt, liegt nahe, dass er auf die mit τύχη angesprochene Thematik von Schicksal und Zufall auch mit anderen Wörtern verweisen kann. Es reicht demnach nicht, in Plutarchs Schriften ausschließlich nach den Stellen zu suchen, in denen ‚τύχη‘ oder ein Ausdruck aus der gleichen Wortfamilie41 vorkommt. Der zur Behandlung anstehende Vorstellungskomplex kann auch auf andere Weise angesprochen sein, so dass auf das ganze semantische Feld zu achten ist. Insofern ist über eine begriffsgeschichtliche Untersuchung im engeren ←30 | 31→Sinne hinauszugehen und das umfassendere gedankliche Problem des Schicksal-Zufallhaften problemgeschichtlich in den Blick zu nehmen.42

In der besprochenen Quelle ist τύχη zuerst auf geschichtliche Entwicklungen und Erscheinungen und auf die Frage ihrer Vergleichbarkeit bezogen. Sertorius und Eumenes sind einer gewissen schicksalhaften Entwicklung ausgeliefert, gegen die sie ankämpfen und der sie unterliegen. Durch die allgemeine historische Entwicklung wird ihre eigene Lebensgeschichte, ihr eigenes Schicksal, bis hin zu den Umständen ihres Todes bedingt. ‚τύχη‘ findet sich folglich neben der weltgeschichtlichen auch auf einer biographischen Ebene. Nicht immer muss Plutarch in seiner Darstellung so stark auf die Verzahnung der beiden Ebenen achten wie im vorliegenden Prooimion; der Ebene des persönlichen Lebensschicksals einer historischen Gestalt wird in der Gattung der Biographie etwa besondere Bedeutung zukommen. Auch ist nicht gesagt, dass die Beziehung zwischen persönlichem und allgemein-historischem Schicksal immer durch ein Konfliktverhältnis bestimmt sein muss, in dem sich ein Aufbegehren eines Einzelnen gegen die historische Entwicklung vollzieht und ein Scheitern den Lebensgang charakterisiert. Das deutet sich darin an, dass der Vergleich des Sertorius mit anderen einäugigen Feldherren in Hinblick auf τύχη von Plutarch so entschieden wird, dass der Lebensweg der anderen mehr im Einklang mit dem allgemeinen Schicksal sich entfaltete.43 Auch auf solche harmonischen Verhältnisse zwischen Einzelnem und geschichtlicher Entwicklung – siehe Sulla – wird zu achten sein, und ‚τύχη‘ als wertende Bezeichnung des Resultats einer Entwicklung (Glück oder Unglück) wird zu berücksichtigen bleiben.

Die Wechselfälle der τύχη können für Plutarch – das ist in der Behandlung von Sertorius, Kap. 10, deutlich geworden – in einem Zusammenhang mit dem ethischen Verhalten der Menschen stehen. Die Position findet sich angedeutet, dass sich unangemessenes Verhalten auf die Einwirkung grausamer Schicksalsschläge ←31 | 32→zurückführen lässt. Ob Plutarch mit dieser Aussage eine Determiniertheit des menschlichen Verhaltens und Handelns seitens einer äußeren Wirkmacht annimmt oder ob er Sertorius in dieser Hinsicht – bei aller sonstigen Hervorhebung – nicht doch als ein kritisch zu sehendes Beispiel einführt, musste offen bleiben. Diese Fragestellung soll weiter verfolgt werden.44 Nachzugehen ist ebenso der Frage, wie Plutarch den Zusammenhang zwischen menschlicher Natur, Ethos und τύχη versteht.

Am Prooimion des Sertorius und Eumenes konnte – so lässt sich festhalten – deutlich gemacht werden, dass 1. Ausführungen des Plutarch zur τύχη im Rahmen einer narrativen Funktion oder allgemeiner im Kontext anderer übergreifender Hinsichten erfolgen können, dass 2. der Ausdruck in seiner begrifflichen Stoßrichtung zu erschließen ist, weil es sich um ein sehr komplexes Begriffswort handelt, dass 3. das Thema der τύχη auch andere Ausdrücke mit sich führen kann und dass 4. τύχη von Plutarch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt wird: auf der biographischen und auf der historischen. An Sertorius, Kap. 10, ist aufgefallen, dass τύχη für die Frage des ethisch angemessenen oder unangemessenen Handelns Bedeutung gewinnen kann. Diese vorläufigen Ergebnisse führen zu einer Verfeinerung der Frage nach der τύχη im Werk des Plutarch und haben für das Vorgehen der geplanten Untersuchung Folgen.

Die Frage danach, wie Plutarch in seinen Schriften die Begriffe ‚Schicksal‘ und ‚Zufall‘ einsetzt, kann und wird die geschichtliche wie die individuelle Ebene zu berücksichtigen haben; für beide ist zu klären, welche Folgen die (unterschiedliche) Verwendung des Begriffsworts ‚τύχη‘ hinsichtlich Plutarchs Einschätzung von Freiheit und Zwangsläufigkeit historischen Geschehens und menschlichen Handelns hat. Die individuelle Dimension lässt sich dabei dort, wo es sich um biographische Darstellung handelt, doppelt befragen: Da es um politisch wirkende Menschen geht, wenn Plutarch etwa in seinen Parallelbiographien die Taten und Haltungen großer historischer und mythisch-historischer Gestalten behandelt, lässt sich der biographisch-ethischen Blickrichtung des Plutarch eine Untersuchung der historiographischen Dimension anschließen. Ziel ist auch hier herauszuarbeiten, welche Bedeutung Plutarch der τύχη in der Geschichte zuweist, auf die er unter anderem in seiner biographischen Darstellung der griechischen und römischen Protagonisten zurückgreift und die er zugleich über die Beschreibung der Lebenstaten seiner Helden deutet und personengeschichtlich aufarbeitet. Neben dem unmittelbaren Nachvollzug von Plutarchs Annahmen zur Wirkung der τύχη auf die Geschichte wird so auch über seine Erklärungen ←32 | 33→von Lebensschicksalen einzelner Menschen die geschichtliche Bedeutung der zu untersuchenden Wirkmacht erschlossen. Den Gesichtspunkten, wie Plutarch historische Entwicklung durch τύχη erklärt und wie er sie als historiographische Kategorie einsetzt, ist in einer althistorisch ausgerichteten Arbeit besonders – wenngleich nicht ausschließlich – nachzugehen.45

Die Studie wird sich jedoch nicht in einem Aufweis von unterschiedlichen Vorstellungen von τύχη im Werk des Plutarch und ihrer verschiedenen Dimensionen erschöpfen, sondern es wird zugleich nach der Möglichkeit einer Rekonstruktion des Zusammenhanges der ermittelten Vorstellungstypen gefragt. Es soll gleichermaßen eine Typologie von τύχη-Typen erstellt wie ihre sachliche Verbindung erforscht werden. Kritisch anzumerken bleibt dabei, dass der analytische Aufweis von unterschiedlichen Typen der τύχη in Plutarchs Werk begrifflichen Kategorien moderner europäischer – vordringlich der deutschen – Sprachen folgt, in denen der mit ‚τύχη‘ angesprochene Vorstellungsbereich durch verschiedene Begriffswörter ausgemessen werden muss mangels einer umfassenden Entsprechung für das vielschichtige griechische Wort. Die Rekonstruktion der Typen wie ihre interpretative Synthese haben somit ihren Ausgangspunkt im modernen, von unserem Sprachgebrauch geprägten Denken. Dass auf diese Weise antikes Denken – mithin die Vorstellungen des Plutarch – nicht zwangsläufig verfehlt werden muss, erhellt sich erstens dadurch, dass die griechische Sprache ebenfalls unterschiedliche Ausdrücke zur Verfügung hat und nutzen kann, und zweitens durch den oben vorgenommenen Nachweis, dass im Kontext der plutarchischen Texte durchaus unterschiedliche Bedeutungsgehalte in der Verwendung des Ausdrucks ‚τύχη‘ aufzeigbar sind.46

Die genannte Zielsetzung der Untersuchung verspricht angemessen verwirklicht werden zu können, wenn die Verwendung des τύχη-Begriffs im Werk des Plutarch an einzelnen, für das Schicksals-Zufallsthema zentralen Schriften untersucht wird. Dieser Zugriff auf den Gegenstand erscheint notwendig, da am Prooimion des Sertorius und Eumenes deutlich geworden ist, dass der Bedeutungsgehalt von τύχη bei Plutarch oft erst im inhaltlichen Kontext oder in einem zusammengehörenden Begriffsfeld zutage tritt. Beispielhaft soll in vertieften Quellenstudien geprüft werden, wie Plutarch in welchen Zusammenhängen ←33 | 34→‚τύχη‘ und andere Ausdrücke des Wortfeldes einsetzt, welcher Bedeutungsaspekt des Zentralbegriffs jeweils gemeint sein könnte und welche Gewichtung er den Begriffen beimisst (Teil II der Arbeit). Die ausgewählten Quellen werden in zwei Blöcken untersucht: zuerst die biographischen (II 1), dann die aus der so genannten Moralia-Sammlung stammenden (II 4). Die exemplarisch gewonnenen Ergebnisse aus den biographischen Fallstudien werden unter II 3 („Zwischenergebnis“) geordnet und typisiert; auf weitere Textstellen aus dem biographischen Werk Plutarchs wird zurückgegriffen (II 3.2). Die ermittelten Typen werden für die weitere Quellenanalyse unter II 4 fruchtbar gemacht. In Teil III werden die Ergebnisse der Fallstudien weiter verdichtet und auf den ihnen innewohnenden Zusammenhang hin befragt; Teil III, Kapitel 2, fasst die Ergebnisse der Quellenanalysen unter den drei angedeuteten Gesichtspunkten der τύχη-Thematisierung bei Plutarch, dem biographischen, dem ‚mittelbar‘ historischen und dem historischen, zusammen. Zentrale Ergebnisse der Studie werden entsprechend nach den Aspekten ‚τύχη und menschliche Tüchtigkeit‘ (III 2.1), ‚τύχη und historische Taten‘ (III 2.2) und ‚τύχη und Geschichte‘ (III 2.3) geordnet.

Im Analyseteil der Arbeit (II) werden aus dem umfangreichen Werk des Plutarch von Chaironeia solche Schriften für die Untersuchung herangezogen, die historische Geschehnisse und Entwicklungen beschreiben, Themen in historischer Perspektive verfolgen oder in denen der Schicksals- oder Zufallsgedanke eine besondere Rolle zu spielen scheint.47 Zentral sind hier die historischen Biographien des Plutarch – berücksichtigt werden nur Parallelbiographien (II 1) – und einige der Schriften aus der Moralia-Sammlung (II 4). Aus dieser Sammlung werden auch philosophische und religionshistorische Werke zu untersuchen sein. In dem bereits behandelten 10. Kapitel des Sertorius fiel das religiös-philosophische Motiv des δαίμων auf, das in engem Bezug zu τύχη auftritt. Besonders auf diese, aber auch auf andere Vorstellungen aus dem religiösen Bereich ist zu achten, sodass entsprechende thematische Schriften einzubeziehen und gebührend zu berücksichtigen sind; gerade die daimonologischen Schriften des Plutarch versprechen, einen besonderen Aufschluss über dessen Ansichten von göttlicher Vorsehung, Schicksalslenkung und Einwirkung auf ←34 | 35→das Weltgeschehen zu geben (s. II 4.5). Unter den Moralia-Texten finden sich zudem solche, die ‚τύχη‘ ausdrücklich zum Thema haben und einen entsprechenden Titel in den heutigen Ausgaben aufweisen. Diese sollen jedoch nicht an den Anfang der Untersuchung gestellt werden, da am Beispiel des Sertorius und Eumenes die Überlegung zu entwickeln war, dass Plutarch möglicherweise an vielen Stellen den Gedanken der τύχη im Rahmen von anderen narrativen Absichten einbringt und nicht streng einem geschlossenen und eng umrissenen Begriffskonzept von τύχη folgt; ein Ausgang von der genannten Schriftengruppe könnte die Offenheit für eine mögliche Vielgestaltigkeit der τύχη-Vorstellung im Gesamtwerk des Plutarch verstellen.48 Mit diesem Vorgehen wird die Kritik von Bernhard Ahlrichs und anderen an Teilen der Forschung zu Plutarchs Biographien aufgegriffen, der gegen die Auffassung, dass es sich bei den Lebensbeschreibungen lediglich um „’theory at work’“ handele, ins Feld führt, dass es „[…] um literarische oder historiographische Werke [geht], die – einmal abgesehen von ihrem literarischen Rang – eine künstlerischen [sic] Eigendynamik besitzen, welche sie zu mehr als zu moralischen Vorführexempeln macht.“49 Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Gedanken des einen Werkteils sich im anderen wieder finden und umgekehrt, und ebenso wenig, dass auch in den Moralia nicht immer strenge und einheitliche Theorien vorliegen, aber dennoch kann der Gattungskontext und der Eigenwert der jeweiligen Quellen nicht unberücksichtigt bleiben. Erst auf Grundlage von nach Gattungen gesonderten Untersuchungen kann in der abschließenden Gesamtdeutung (Teil III) entsprechend differenziert nach der übergeordneten Gemeinsamkeit der Ausführungen zum Vorstellungsfeld der τύχη gefragt werden. Die für das Zufalls-Schicksalsthema aufgrund ihres Titels infrage kommenden Traktate wirken zudem wie ←35 | 36→frühe philosophisch-rhetorische Übungen des Plutarch, die kaum Einblick in sein reifes Denken bieten.50 Der gedankliche Schwerpunkt darauf, wie τύχη im Rahmen der Darstellung historischer Gestalten und der Deutung historischen Geschehens auftritt, legt außerdem nahe, mit der Untersuchung des biographischen Werkteils zu beginnen, da dort ein geschlossenes Corpus ins Geschichtliche ausgreifender Schriften vorliegt.

Bei den Lebensbeschreibungen wird auf die Quellen Plutarchs zu achten und zu prüfen sein, inwieweit die Gestaltung des τύχη-Gedankens von diesen bedingt sein könnte und inwieweit Plutarch eigene Gedanken einbringt (II 2). Im Zusammenhang mit seinen Traktaten sind die philosophischen Traditionen zu berücksichtigen, in denen er steht und von denen die Überzeugungen des das griechische Erbe der Vorväter verehrenden, oft als eklektizistisch eingeschätzten kaiserzeitlichen Autors nicht voreilig zu trennen sind;51 ebenso wird die zeitgenössische Erscheinung der sogenannten Zweiten Sophistik als möglicher Bezugspunkt einzubeziehen sein (II 5). Einer Rückbindung an das Nachdenken über Schicksal und Zufall im Altertum dient ebenfalls eine allgemeine einführende Skizze zur antiken Vorstellung von der τύχη im Rahmen dieses einleitenden Teils (I 2).

Plutarchs Werktitel werden wie gebräuchlich in ihrer lateinischen Form angegeben; eine Übersicht über die verwendeten Werke und die in den Anmerkungen für diese genutzten Kurztitel befindet sich am Anfang dieser Studie. Für den Autornamen wird das Kürzel „Plut.“, für die Schlussvergleiche der Parallelbiograhien, die Synkriseis, „Synkr.“ genutzt. Schriften anderer antiker Autoren werden in den Anmerkungen mit den in der Altertumswissenschaft gebräuchlichen ←36 | 37→Abkürzungen von Autor und Titel angegeben.52 Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt sind alle Übersetzungen der antiken Quellen vom Verfasser der Arbeit vorgenommen worden.53 Forschungsbeiträge werden in den Anmerkungen in gekürzter Form (nur Autor und Titel) angegeben, bei mehrfacher Nennung wird zudem nur der Haupttitel genannt. Weitere Angaben sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Für Belege und Zitate wird ansonsten der allgemeinen Praxis gefolgt.54

Das angekündigte Vorgehen, das Thema zuerst über Analysen von Quellenbeispielen zu bearbeiten, bevor in einer Zusammenschau und Systematisierung größere Gedankenlinien des Plutarch zur τύχη nachzuzeichnen versucht werden, findet seine Begründung auch darin, dass dem τύχη-Thema bei Plutarch bisher wenig über gründliche und eindringliche Quellenstudien nachgegangen worden ist. Darauf wird im nächsten Unterkapitel im Zusammenhang mit einem Ausblick auf den Stand der Forschung eingegangen.

1.3 Forschungsstand (mit Folgerungen für die geplante Untersuchung)

Im Rahmen dieses Unterkapitels kann es nicht um eine Sichtung der – ins Unermessliche ausgreifenden – Forschung zum Werk des Plutarch von Chaironeia allgemein gehen.55 Nur die Forschungsliteratur wird berücksichtigt werden, ←37 | 38→die sich ausführlicher mit der τύχη im Werk des Plutarch befasst und auf sie als ein übergreifendes Thema in seinen Schriften Bezug nimmt.56 In der Forschung zur τύχη bei Plutarch lassen sich zwei Grundrichtungen unterscheiden: Die meisten Forscher sehen einen uneinheitlichen Begriffsgebrauch bei Plutarch und gehen davon aus, dass seine Verwendung des Begriffs davon abhängt, ob er ihn in den Lebensbeschreibungen oder in den Moralia-Schriften verwendet. Eine kleinere Anzahl von Wissenschaftlern sieht eine solche unterschiedliche Verwendung in Abhängigkeit zu den Werkgruppen nicht und löst die vermeintliche Uneinheitlichkeit des Begriffsgebrauchs durch eine Rückbindung an eine übergreifende philosophische Systematik in seinem Werk auf.

Die zuerst erwähnte Position findet sich bereits in der 1891 veröffentlichten Dissertation von Eugen Lassel – der einzigen Monographie zum Thema –, die den Titel De fortunae in Plutarchi operibus notione trägt. Die Untersuchung Lassels zeichnet sich in einem ersten Teil durch eine akribische Anführung der für den Begriff wesentlichen Textstellen bei Plutarch aus.57 Die umfangreichen und insgesamt sehr zurückhaltend kommentierten Zitate werden in sechs Gruppen gegliedert dargeboten. Die erste Zitatengruppe stammt ausschließlich aus den Moralia-Schriften, die weiteren sind dem Gesamtwerk des Plutarch entnommen. Die von Lassel ausgemachten Bedeutungen von τύχη lassen sich wie folgt wiedergeben: τύχη als wirkende Göttin (I) oder als vorherbestimmende abstrakte, aber gleichwohl in die göttliche Sphäre gehörende Macht (II), als Zufall und als Unberechenbarkeit (III und IV) oder ganz entgegengesetzt als eine berechenbare Kraft, die den Menschen entweder fördert (V) oder ihm schadet (VI).58 In ←38 | 39→den ersten vier Bedeutungen erscheint τύχη als eine unbestimmte, in den letzten zwei als eine bestimmte Kraft. Ein Abschnitt über den Begriffsgebrauch in den Moralia-Schriften, die den zur Diskussion stehenden Begriff im Titel tragen, schließt sich als 2. Teil der Untersuchung an.59 Im abschließenden dritten Teil60 fasst der Autor zusammen: Er sieht einen Gegensatz zwischen einer historischen und einer philosophischen Kategorie der τύχη bei Plutarch („de historica eius ratione“ – „ad philosophicam Plutarchi rationem“61). Unter der historischen Perspektive gebrauche Plutarch unterschiedliche Begriffe und vermische sie, so „[…] dass eine sichere Theorie des Begriffs und eine Lehre nicht erkannt werden kann“ („… certam notionis rationem ac disciplinam non posse agnosci“).62 Auch übernehme er oft Gedanken von anderen Autoren und sei von diesen in seinem Begriffsgebrauch abhängig – doch nie so, dass er eine Vorstellung ungeprüft aufnehme. Plutarch folge in seiner Anerkennung der τύχη der eigenen Zeit, doch zugleich halte er daran fest, die Dinge aus ihrer Natur zu erklären und so eine Berechenbarkeit zu schaffen, die den Willen und den Entschluss der Menschen weiterhin ermöglichten; wenn jedoch etwas nicht natürlich zu erklären sei, lasse Plutarch die undurchschaubare τύχη als „Deus ex machina“63 auftreten und erkenne an, dass in der Lebenswirklichkeit mehr von dieser Kraft als dem freien Entschluss des Menschen abhänge. Mit Blick auf die Schriften der Moralia-Sammlung wird zur philosophischen Kategorie der τύχη bei Plutarch betont, dass er Platon folge und einen Mittelweg zwischen dem Zufallsglauben ←39 | 40→der Epikureer und der Vorsehungsüberzeugung der Stoiker wähle und so ein Beharren auf der freien Eigenverantwortung des Menschen mit der Annahme eines Wirkens der τύχη verbinde.64

Die Position Lassels findet sich in der 1977 erschienenen Untersuchung In Mist Apparelled. Religious Themes in Plutarch’s Moralia and Lives von Frederick E. Brenk wieder. Im Rahmen dieser Studie kommt dem δαίμων besondere Bedeutung zu, er wird als ein zentrales Moment des religiösen Denkens bei Plutarch behandelt.65 In die Untersuchung bezieht Brenk den Gedanken der τύχη mit ein, da bei Plutarch – wie allgemein seit dem Hellenimus – „[…] daimon as an equivalent for or a personification of fortune (tyche)“ erscheine.66 Er führt aus, dass Plutarch in den Moralia und in den Parallelbiographien eine unterschiedliche Haltung zur τύχη zeige. In den Schriften der ersten Werkgruppe (außer De fortuna Romanorum) habe er den Gedanken, dass τύχη eine bestimmende Wirkmacht sein könnte, abgelehnt, da er mit ihr den epikureischen Abweis des Gedankens der guten Vorsehung zugunsten einer launischen Zufallsmacht verbunden gesehen habe; in den Lebensbeschreibungen stelle sich seine Haltung hingegen komplexer und spannungsreicher dar: „However, in the Lives he seems to swing back and forth between admitting that tyche decided the course of history, and in asserting that it is no substitute for arete.“67 τύχη könne bei Plutarch im historischen Zusammenhang auch eine enge Bindung mit ‚Vorsehung‘ eingehen.68 Brenk nimmt an, dass Plutarch bei einigen historischen Entwicklungen auf den Begriff einer willkürlichen τύχη angewiesen gewesen sei, da es ihm undenkbar gewesen sei, den römischen Machtaufstieg in Verbindung mit dem Niedergang der Bedeutung der Griechen einer göttlichen Vorsehung zuzuschreiben.69 Er hält die Bedeutung, die Plutarch dem zur Diskussion stehenden ←40 | 41→Begriff in den Lebensbeschreibungen beimisst, für so stark, dass dieser bei einigen seiner Helden durch Glückswechsel charakterliche Veränderungsprozesse angenommen habe.70 Der Einfluss der Quellen auf die schwankende Haltung des Plutarch in den Lebensbeschreibungen wird angesprochen. Eine weitere Beobachtung ist, dass nicht nur nach der kommentierenden Deutung des Plutarch zu fragen ist, sondern auch nach der sich manifestierenden Haltung seiner Protagonisten zur τύχη.71

Dass Plutarch τύχη in Abhängigkeit zum Anliegen einer Schrift und zu ihrer Gattung unterschiedlich verwendet, nehmen auch Aurelio Pérez Jiménez, Simon Swain und in dessen Gefolge Francesca Mestre und Pilar Gómez an. In seinem Aufsatz Actitudes del hombre frente a la tyche en las ‚Vidas Paralelas‘ de Plutarco (1973) zeichnet Pérez Jiménez ein den Moralia-Schriften entnommenes Schema72, wonach die Biographien nach ‚edlen‘ („γενναῖος“) und ‚unedlen‘ („ἀγεννής“) Protagonisten unterteilt werden könnten. Pérez Jiménez kommt zu dem abschließenden Ergebnis, dass eine solche holzschnittartige Einteilung Plutarchs Darstellung der Personen nicht gerecht werde. Plutarch zeige in den Biographien, dass edle Gestalten der Vergangenheit gegenüber der Herausforderung der τύχη versagen und unedle in manchen Fällen über sich selbst hinauswachsen könnten.73 Das Konzept der Moralia-Schriften lasse sich nicht unmittelbar auf die Lebensbeschreibungen übertragen; es bestehe für Plutarch ein Unterschied ←41 | 42→zwischen idealer Theorie und wirklichem Leben, das zu widersprüchlichen Erscheinungen führe, was sich in den Lebensbeschreibungen niederschlage.74 τύχη wird von Pérez Jiménez dabei als eine übermächtig-determinierende und willkürliche – nicht als eine planvoll leitende – Kraft behandelt, an der die plutarchischen Helden sich zu bewähren haben.75 Die Gesichtspunkte der Haltung und Bewährung stehen bei ihm im Vordergrund.76

Details

Seiten
528
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631769799
ISBN (ePUB)
9783631769805
ISBN (MOBI)
9783631769812
ISBN (Hardcover)
9783631769737
DOI
10.3726/b14743
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Plutarch Tyche Vorsehung Schicksal Zufall Daimon Parallelbiographien Moralia-Schriften
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 526 S.

Biographische Angaben

Jens-Frederik Eckholdt (Autor:in)

Jens-Frederik Eckholdt studierte Geschichte, Deutsch und Philosophie auf Lehramt an der Bergischen Universität Wuppertal. 2015 erfolgte die Promotion im Fach Alte Geschichte. Seit 2014 ist er als Lehrer in Hamburg tätig.

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Titel: Von göttlicher Vorsehung bis Zufall
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