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Juli Zehs Roman «Spieltrieb»

Intertextuelles Spiel als Ausdruck von Gesellschafts- und Kulturkritik

von Carolin Kull (Autor:in)
©2018 Dissertation 344 Seiten

Zusammenfassung

Juli Zehs Spieltrieb ist in höchstem Maße intertextuell: Bereits der Titel selbst verweist auf den Erzählgegenstand – das sexuelle, so genannte Spiel zweier Schüler mit ihrem Lehrer – sowie auf die äußere Form, die intertextuelle Anlage des Werks.
Mit Bezug auf die anthropologischen Ideen Friedrich Schillers, die mathematische Spieltheorie Robert Axelrods, Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und das Prinzip Hoffnung Ernst Blochs wird der selbstreflexive Umgang mit Literatur thematisiert. Damit verknüpfte Fragestellungen und essayistische Einschübe zu sozialen, moralischen und ethischen Perspektiven der Gegenwart innerhalb der Romanhandlung werden vor diesem Hintergrund diskutiert und mit Blick auf ein darüber transportiertes Moment von Gesellschafts- und Kulturkritik interpretiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Dank
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einführung
  • II. Theoretische und methodische Herangehensweise – Verortung im Intertextualitätsdiskurs
  • 1. Spuren anderer Texte – Intertextualität und deren Funktionsweisen
  • 2. Intertextualität als Zugang zur Textanalyse und -interpretation: Anwendungsorientierte Modelle
  • 3. Dimensionen der Intertextualität in Spieltrieb – Spiel mit Literatur und Literatur als Spiel
  • 4. Intertextualität als Möglichkeit einer Kultur- und Gesellschaftskritik
  • III. Das Sujet des Spiels als Leitmotiv und Ausgangspunkt intertextueller Bezüge
  • 1. Vorbemerkung. Spiel(en) im literarischen Spiel mit Intertexten
  • 2. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ – Von der intertextuellen Referenz auf Schriften Friedrich Schillers
  • 3. Intertextuelle Zugänge über Friedrich Schillers Spieltrieb-Begriff
  • 3.1 Der Titel des Romans Spieltrieb – eine Anlehnung an Friedrich Schillers Trieblehre
  • 3.2 Die Protagonisten Alev und Ada im Spiegel der schillerschen Trieblehre
  • 4. Inszenierung eines Spiels? Zum Spiel(en) in Spieltrieb
  • 4.1 Freiheit durch Spiel
  • 4.2 Das ästhetische Spiel bei Friedrich Schiller als Kontrast wider des strategischen Spiels Alevs und Adas
  • 4.3 Planbarkeit und Vorhersehbarkeit menschlichen Handelns: Die Theorie Evolution of Cooperation als Spielanstoß
  • 4.4 Zwischen strategischem und theatralischem Spiel – Alev als ‚Spieler‘
  • 5. Verwandlung durch Spiel – Metamorphose als literarische Folie
  • 6. Friedrich Schiller Das Lied von der Glocke – eine Chiffre für Kulturmündigkeit?!
  • 7. Die Schaubühne als Lehranstalt, Wegweiser, Schlüssel – Theatermetaphorik im Roman Spieltrieb
  • IV. „Fragmente vom Wesen und Inhalt einer großen Idee“ Robert Musils Werk Der Mann ohne Eigenschaften – Narrative und inhaltliche Integration in Spieltrieb
  • 1. Vorbemerkung. Die Eigenschaft des Eigenschaftslosen – Zum intertextuellen Spiel mit Robert Musils Werk Der Mann ohne Eigenschaften
  • 2. Woraus bemerkenswerter Weise etwas hervorgeht – Vielleicht hat der Mann ohne Eigenschaften damit zu tun.Modifikation der Überschrift des ersten Kapitels Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, S. 9 sowie Auszug aus einem Kapiteltitel Spieltriebs (SpT 157). Analyse der Kapitelüberschriften
  • 3. Beobachtung der Realität, zwei Anschauungen: Literatur und Journalismus
  • 4. Formen des Erzählens – Zum ‚Spiel‘ mit narrativen Elementen
  • 4.1 Auktoriales Erzählen oder der „Wille zur Draufsicht“
  • 4.2 Ich, Sophie – ein eingeschränkter Erzähler-Blick?
  • 4.3 Ada, Ulrich und die Erzählerverbundenheit
  • 4.4 Literarisches Erzählen und Recht
  • 4.5 Literarisches Erzählen und die Frage „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“
  • 4.6 Literarisches Erzählen und Essayismus
  • 5. Der Diskurs des Möglichkeitssinns in Spieltrieb
  • 6. Zur Philosophie Friedrich Nietzsches – eine (un-)mittelbare intertextuelle Referenz
  • 7. „Wer ist schon ›Ich‹?“ – die Frage nach Identität
  • 8. Figurenparallelen
  • 8.1 Ada, Szymon Smutek und der Mann ohne Eigenschaften
  • 8.2 Ada, die Reinkarnation Agathes?
  • 9. Die Lektüre des Romans Der Mann ohne Eigenschaften im Kontext der Handlung von Spieltrieb
  • V. Bildung unter dem Postulat Hoffnung? Veränderung oder Systemerhalt – Das Prinzip Hoffnung als Ausgangspunkt bildungskritischer Reflexion
  • 1. Vorbemerkung. Ernst Bloch als Namensgeber des fiktiven Bonner Gymnasiums in Spieltrieb
  • 2. Denken lernen? Intertextuelle Bezüge zu philosophischen Ansätzen Ernst Blochs als Moment bildungskritischer Reflexion
  • 2.1 „Denken heißt (Ü)Be(r)schreiten “ – die Modifikation eines Zitats
  • 2.2 Gewöhnung dämpft den Menschen. Zur Abgewöhnung des Denkens
  • 3. Ernst-Bloch Gymnasium – Schule als Raum für adoleszente Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse
  • 4. Der Entwurf von Lehrerbildern in Spieltrieb
  • 5. Ernst Bloch als Ausgangspunkt schul- und bildungskritischer Reflexion
  • VI. Fazit und Ausblick
  • VII. Literaturverzeichnis

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I. Einführung

Wissen Sie, was übrig bleibt, wenn man dem Menschen alle Wertvorstellungen nimmt?
[…] Der Spieltrieb bleibt.1

Seit seinem Erscheinen Ende des Jahres 2004 wird dem Roman Spieltrieb eine breite öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Dies zeigt sich in einer Vielzahl an Rezensionen zu dem Text selbst sowie Interviews mit der Autorin und Juristin Juli Zeh, in denen Spieltrieb den zentralen Gesprächsanlass und Gesprächsgegenstand bildet. Dass der Romanstoff auf ein großes Interesse stößt, zeigt Gregor Schnitzlers Verfilmung des Romans im Jahr 2013. Jedoch erfährt das literarische Werk nicht nur Würdigung und positive Kritik, sondern erhält auch Zuschreibungen wie „hoch gesteckte Ambitionen“, „schrill tönender sprachlicher Aufwand“, „gespickt mit grauenvollen Metaphern und funktionslosen Personifizierungen, die […] oft […] kapriziös und überladen wirken“2. Offensichtlich löst die narrative Gestaltung Missbilligung aus, obgleich zum Inhalt des Romans im Kontext dieser Kritik noch gar nichts gesagt ist.

Vielfach wird der Roman auf seine Handlung, die sexuelle Nötigung und Erpressung eines Lehrers an einem Bonner Gymnasium, reduziert und mit dem Vorwurf „sehr konstruiert“3 versehen. Allerdings gibt der Roman auf einer Metaebene Auskunft darüber, dass die Handlung vielmehr als Mittel zum Zweck zu lesen und zu verstehen ist: „Wie immer lag das ←13 | 14→ Eigentliche in der Form, Inhalte waren austauschbar“ (SpT 140). Aber was genau zeichnet den Roman Spieltrieb in seiner Form – seiner literarischen Konzeption – aus? In die Handlung eingewoben sind Fragestellungen und essayistisch anmutende Einschübe zu sozialen, moralischen und ethischen Perspektiven der Gegenwart, worüber zentrale Grundgedanken des gesellschaftlichen Miteinanders angesprochen werden.4 Geprägt wird Juli Zehs Werk dabei mehr oder weniger offensichtlich von intertextuellen Verweisen und Anspielungen.

Bezugnahmen auf vorangegangene Texte gab es in der Literatur zu jeder Zeit; diese reichen von den Epen Homers bis in die Gegenwartsliteratur. Nicht selten fungieren bereits die Titel als Markierung, wie beispielsweise bei Thomas Manns Doktor Faustus oder Christa Wolfs Medea. Stimmen. Diese Strategie des Verweises, die auf einen bestimmten Autor oder einen Prätext aufmerksam macht, gilt als eines der gebräuchlichsten Verfahren der Intertextualität. Es fordert auf, die genannten Texte in die Lektüre einzubeziehen und die Bedeutungsebenen des Prätextes mit dem neuen Text zu verknüpfen, zusammenzulesen und zu interpretieren. Dabei sind im Werkkontext Ort und Funktion sowie der Umfang der Anspielung beziehungsweise Entlehnung zu beachten.

Spieltrieb ist in seiner Anlage in höchstem Maße intertextuell, worauf bereits der Titel in zweifacher Hinsicht hinweist: Dieser deutet auf ein Spiel mit Literatur hin und verbildlicht dieses gleichzeitig in sich, in dem Wort selbst. Selbstreflexiv wird der spielerische Umgang mit Literatur in die Handlung eingewoben, wenn es heißt, dass das Erbe der Postmoderne „ein Haufen übereinander rutschenden Zitatenschutts“ (SpT 134) darstelle. Eine Aussage, die in ihrer metaphorischen Präzision eine kritische Haltung gegenüber der Gegenwartsliteratur und der Gegenwart selbst, der Kultur und Gesellschaft markiert. Das Jetzt wird als ein Zeitalter der Zitate gekennzeichnet, in dem „die Wirklichkeit längst angefangen hatte, ihre Abbilder zu kopieren“ (SpT 136), in dem es „beim Auffüllen der gängigen ←14 | 15→ Muster nur noch so viel Freiraum gab wie beim Malen nach Zahlen“ (SpT 137). Damit wird ein wesentliches Merkmal postmodernen Erzählens in Spieltrieb aufgenommen und reflektiert, welches unter den Begriff der Pluralität5 gefasst werden kann. In Bezug auf Literatur zeigt sich dies in einem Aufbrechen von Strukturen narrativer Kontinuität, erzählerischer Zuverlässigkeit sowie ästhetischer Sprachgestaltung hin zu einer Vervielfältigung der Formen und Funktionen.

Postmoderne Literatur unterläuft Konventionen im Rahmen der Darstellungs- und Gattungsformen sowie inhaltliche und formale Leseerwartungen; dabei bedient sie sich auch des Gestus der Ironie.6 Das, was zunächst so freiheitlich daherkommen mag, scheint allerdings zu einer Art Verpflichtung geworden zu sein. Was zunächst offen und individuell anmutet, gerät zunehmend zu einer Schablone, wie in Spieltrieb an genannter Stelle angedeutet wird. Die Überlegungen zu Literatur und Phänomenen der Gegenwart stehen dabei in engster Verzahnung mit der Handlung, den Dialogen und Gedanken der Protagonisten sowie den Erzählerkommentaren und -reflexionen. So ist mit den Überlegungen zur (postmodernen) Literatur und dem „Zitatenschutt“ das Nachdenken der Protagonistin Ada über Zuneigung, Liebe oder tiefste Verbundenheit mit einem anderen Menschen verflochten, welches sie für sich als ein Erleben jenseits der Norm reklamiert. Entsprechend beansprucht dieses Anderssein analog für das Wesen des Romans in seiner intertextuellen Anlage selbst Geltung, sodass es eben nicht heißt: „Nanu, das war kein Zitat, das lag im Weg!“ (SpT 136f). In diesem Sinne wird angezeigt, dass es nicht um schlichte Reproduktion eines bereits Existierenden geht. Selbstreferentiell gibt der Text seine eigene, eine gewünschte Lesart vor; fokussiert wird die Entfaltung neuer Ideen, durch die Schaffung von Sinnzusammenhängen mittels bereits Bekanntem auf die Gegenwart hin, die sich, obwohl alles in ihr identifizierbar erscheint, als ein verwirrendes Spiegelkabinett entpuppt, in dem man „nur noch zufällig über Wirkliches stolperte“ (SpT 136). Auf der Handlungsebene des Textes wird das Umherirren und Stolpern am Beispiel der beteiligten Figuren aufgezeigt. ←15 | 16→Kunst – und damit Literatur – vermag als Möglichkeitsraum einen Blick für die Welt zu öffnen. Durch die ihr eigene Art der Potentialität hat sie die Fähigkeit, Wahrnehmungen, Überlegungen und Reflexionen anzustoßen oder für erste Anzeichen des Herumirrens zu sensibilisieren. Damit wird der Appell für ein bewusstes Lesen gleichzeitig zu einem Aufruf zu einem bewussten Leben und Handeln in der Welt.

Neben dem im Romantitel, im Wort, enthaltenen Hinweis auf ein Spiel mit Literatur ist dieser selbst zudem ein Begriff, welcher literaturhistorisch und theoretisch vorgeprägt ist: ‚Spieltrieb‘ ist ein von Friedrich Schiller geprägter Terminus im Kontext seiner theoretischen Überlegungen zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Dadurch kann bereits vor einem Einstieg in die Lektüre allein durch ein Wort, durch den Titel, die Vermutung einer intertextuellen Verfasstheit des Werkes angenommen werden und sogar erste Assoziationsansätze beflügelt werden. Entsprechend wird – aufgrund der deutlichen Romanbenennung – angenommen beziehungsweise als für die Analyse vorausgesetzt angesehen, dass die intertextuellen Bezüge nicht um ihrer selbst willen Teil des Romans bilden, sondern von herausragender Relevanz sind, über die sich ein Interpretationsgewinn ergibt.

Mit ‚Spieltrieb‘ wird zum einen der Gegenstand der fiktionalen Erzählung – das sexuelle, so genannte Spiel Alevs und Adas mit ihrem Lehrer Szymon Smutek – erfasst, zum anderen die äußere Form, die intertextuelle Anlage des Werks, in Aussicht gestellt. Gleichzeitig weist der Begriff selbst auf einen literarischen Bezugspunkt beziehungsweise auf den Dichter, der diesen maßgeblich geprägt hat: Friedrich Schiller und dessen philosophisch-theoretische Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Diese für Spieltrieb relevante Dimension der Intertextualität entfaltet sich insbesondere auf der Handlungsebene sowie in der Figurenrede des Romans. Es geht um die Begründung und Ausgestaltung des zentralen Gegenstands des Romans – das Spiel. Dabei beziehen sich die Charaktere auf literarische wie auch Fachtexte und setzen diese zueinander in Relation. Da dieser Rückbezug fortlaufend in den Dialogen vorgenommen wird, sind auf dieser Ebene Prätexte kontinuierlich oder wiederkehrend präsent. Dies gilt in Spieltrieb sowohl für die anthropologischen Ideen Friedrich Schillers in Bezug auf ‚Freiheit und Spiel‘ als auch für die mathematische Spieltheorie Robert Axelrods sowie für Robert Musils Werk Der Mann ohne Eigenschaften oder das Prinzip Hoffnung Ernst Blochs.

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Diese Aussage, die Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, im gleichnamigen Gesellschaftsroman Robert Musils seiner Zwillingsschwester Agathe gegenüber in den Heiligen Gesprächen äußert, enthält wesentliche Gedanken über Bücher und Literatur, die für Juli Zehs Werk Spieltrieb in zweifacher Hinsicht konstitutiv sind. Nicht nur, dass der Roman Musils selbst eine wesentliche Rolle für die Handlung spielt, sondern auch, indem in der narrativen Textgestaltung eine Breite an literarischen Anknüpfungspunkten in Form des Erwähnens, Anzitierens, Paraphrasierens, Variierens verschiedenster Autoren und (literarischer) Texte geboten wird. Gemeinsam bilden diese literarischen Stimmen einen „kakophonen Chor“, in dem Spieltrieb nur ein vorwitziges Solo für wenige Sekunden und Zeilen lang zu spielen vermag (SpT 566). Trotz oder gerade aufgrund der dissonanten Töne werden Zusammenhänge zwischen den angespielten Texten aufgezeigt, die das Werk Spieltrieb in einen über sich hinausweisenden Erkenntniszusammenhang setzen.

Was Literatur als Kunst ausmacht, kann vom Begriff des Spiels her gedacht werden. Es umfasst das sprachlich Formale, das Vermögen des Autors etwas zu schaffen – Fiktionalität und Rezeption.8 Wesentlicher Gegenstand des Zehschen Romans ist das Spiel. Dies bildet den Kern und den roten Faden der Handlung, um das sich alle weiteren (Neben-)Schauplätze ranken. Damit hat das Spiel in Literatur, im Text selbst, seinen Platz. Darüber hinaus kann Literatur als Spiel betrachtet werden, im Sinne eines Möglichkeitsraums, oder eines Spiels mit Literatur, wie bereits angedeutet wurde. Neben dem Umgang, Gebrauch und Genuss literarischer Texte im ←17 | 18→ Rahmen der Erzählung wird Literatur insgesamt zu einem konzeptionellen Moment des Romans, welcher mit dem Begriff der Intertextualität zu fassen ist. Entsprechend dient ein der Analyse und Interpretation des Romans vorgeschaltetes Kapitel einer Verortung im Intertextualitätsdiskurs sowie der Offenlegung der theoretischen und methodischen Grundlage für die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Spieltrieb.9 Skizzenhaft soll die historische Entwicklung des Begriffs Intertextualität nachgezeichnet werden und erläutert werden, welche Funktionen Intertextualität in einem Text einnehmen kann. Dazu werden verschiedene Modelle der Intertextualität vorgestellt. In Abgrenzung vom globalen Modell, das jeden Text als Teil eines universellen Intertextes auffasst, werden insbesondere anwendungsorientierte Modelle zur Diskussion gestellt, die einen operationalisierten Textzugang ermöglichen und damit für die Textanalyse und deren Interpretation nutz- und handhabbar gemacht werden können. In diesem Zusammenhang soll die Dimension von Literatur und Spiel – wie sie in der Einführung schon angeklungen ist – näher betrachtet werden und zur eigentlichen Fragestellung dieser Arbeit überleiten. Neben der Bereicherung des Textes Spieltrieb durch den intertextuellen Bezug zu anderen Werken, Erzählungen, Texten soll vor allem herausgearbeitet werden, inwiefern über die Intertextualität eine gesellschafts- und kulturkritische Perspektive auf gegenwärtige (Lebens-)Verhältnisse, Begebenheiten und Umgebungen eröffnet, unterstützt und bereichert wird.

Der ideale Mensch unserer demokratischen Grundordnung ist ein geistig-sittliches Wesen und gestaltet seine Freiheiten nicht als diejenigen eines isolierten ←18 | 19→ und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums […]. (SpT 550)

Wenn es eben so in Spieltrieb heißt, muss betrachtet werden, welche Art von Gesellschaft im Roman selbst gezeichnet wird. Es ist die Protagonistin Ada, die diese Aussage als eine auswendiggelernte, als eine Positionierung des Bundesverfassungsgerichts kennzeichnet und in ihr eigenes Statement vor Gericht, im Verfahren ihres Mitschülers Alev El Qamar und ihres Deutsch- und Sportlehrers Szymon Smutek, einbettet. In ihrer Rede kommt dadurch nicht nur die Bedeutung von Sprache selbst zum Ausdruck, sondern auch die Kraft der vorgefertigten Sprache, das Nutzen von bereits Vorhandenem, von Zitaten und das Herstellen von Bezügen. Mit Blick auf die Handlungsebene ist dem Gericht bewusst, „dass beim öffentlichen Reden die gelungene Form auf die Wahrheit des Inhalts zurückwirke, […]“ und dass „in dem Maße, wie ein Redner sich selbst überzeugte, […] sich die Welt unter seinem Pinselstrich“ (SpT 539) veränderte. Eine Perspektive, die für literarische Texte selbst gilt. Als Form der kulturellen und gesellschaftlichen Selbstbeobachtung und -thematisierung vermag Literatur als Raum des Potentiellen zu einer kritischen Auseinandersetzung und Diagnose der gegenwärtigen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu werden. Literatur als Spiel(-raum) trifft hier in Spieltrieb auf das Spiel mit Literatur.

In den drei folgenden Hauptteilen findet eine Analyse der Intertextualität und deren Wirkungs- und Funktionsweisen im Werk Juli Zehs statt. Da die Bezüge im Roman äußerst vielfältig und vielgestaltig sind, wird eine Auswahl der erkennbaren Referenzen getroffen, an denen Momente des kritischen Blicks auf die zeitgenössische Gesellschafts- und Kulturgegebenheiten besonders sichtbar werden. Fokussiert werden dazu drei Bereiche, an denen exemplarisch die unterschiedlichen Ebenen und damit die Ausgestaltung sowie die Wirkung von Intertextualität dargelegt werden können: Das Spiel bildet einen Leitgedanken und ein Leitthema des Romans, welches vorrangig im Rekurs auf Friedrich Schiller und Robert Axelrod für den Handlungsverlauf bestimmend ist. Damit werden über den Inhalt des Werks diese als wesentliche intertextuelle Referenzen des Textes angezeigt. Darüber hinaus findet auf der inhaltlichen Ebene eine Auseinandersetzung mit Robert Musils Gesellschaftsroman Der Mann ohne Eigenschaften statt. Dieser wird jedoch nicht nur als Lektüre der Protagonisten eingeführt und ←19 | 20→ als Ausgangspunkt für das Herstellen von Figurenparallelen gesetzt, sondern vielmehr zu einer Folie für das gesamte Erzählen und damit im intertextuellen Sinne insbesondere für die Form des Romans Spieltrieb relevant. Als drittes wird der Aspekt ‚Bildung‘ unter dem Postulat Hoffnung in Anlehnung an den Philosophen Ernst Bloch thematisiert. Hoffnung bildet im Zehschen Roman, insbesondere im Kontext des Handlungsortes Schule, ein Motiv für kritische Reflexion in Bezug auf Bildung und gesellschaftliches Miteinander. Bisher wurde mit Blick auf Spieltrieb zwar dessen intertextuelle Anlage anerkannt und erste Analysen angestoßen, wobei allerdings die Wirkung, das sich darüber entfaltende Moment der Gesellschafts- und Kulturkritik, keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Eine differenzierte intertextuelle Auseinandersetzung mit den Referenzen auf Ernst Bloch und dessen Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung und die narrativen Anlehnungen an den Mann ohne Eigenschaften Robert Musils sind ebenso unbearbeitet, wie Spieltrieb in eine Kausalität zu dem von Friedrich Schiller in der Ästhetischen Erziehung des Menschen geprägten Begriff zu bringen.

Entsprechend steht im ersten Hauptteil das Sujet des Spiels im Vordergrund; da Spiel, wie bereits im Rahmen der Einführung angeklungen ist, ein Leitmotiv des Romans bildet und damit zum Ausgangspunkt von Intertextualität wird. Die spieltheoretischen Annahmen der Protagonisten Alev und Ada rekurrieren – wie zu zeigen ist – auf die Überlegungen Friedrich Schillers zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Um die Dissonanz zwischen dem geplanten, sogenannten Spiel der Protagonisten und den Ausführungen Schillers deutlich zu machen, wird zunächst das Verständnis des Dichters von Spiel und dem Verhältnis von Menschsein und Spiel nachgezeichnet. Anschließend wird die Trieblehre des Dichters, in der der Spieltrieb der Harmonisierung von Form- und Stofftrieb dient, erläutert und ins Verhältnis zum Roman Spieltrieb gesetzt. Dazu wird zum einen der Titel des Werks selbst fokussiert, zum anderen die Protagonisten in den Blick genommen, um zu zeigen, was für Figuren vor welchem Hintergrund, vor welchem Verständnis der Schillerschen Lehren denken und agieren. Ein wesentliches Moment bildet die Argumentation Alevs, dass nur im Spiel dem Menschen echte Freiheit möglich sei. Ein Credo, das der Dichter Schiller in seinen Schriften prägte und verfolgte, wobei die Evolution des einzelnen Menschen durch das Ästhetische im Vordergrund steht. Es soll gezeigt werden, wie die Protagonisten Alev und Ada diese wesentlichen Ausführungen in neue ←20 | 21→ Sinnzusammenhänge, in ein tatsächlich stattfindendes, erpresserisches Spiel mit einem Lehrer übersetzen und damit die Idee von Spiel als freiheitlichem Element ad absurdum führen: „Ex falso quodlibet. […] Aus Falschem folgt Beliebiges“ (SpT 254), fasst die Schülerin Ada dieses Vorgehen zusammen, das darauf zu gründen scheint, dass Inhalte nicht mehr in der Tiefe erfasst oder verstanden werden, sondern lediglich eine oberflächliche, am eigenen Nutzen orientierte Auseinandersetzung mit diesen stattfindet. Vor diesem Hintergrund soll das Zusammendenken Alevs des strategischen Spiels, die Berechenbarkeit menschlichen Handelns, das er mit Evolution of Cooperation seiner Spielplanung zu Grunde legt, mit ästhetischen Spielidealen, derer er sich zur Begründung seines Vorgehens bedient, analysiert werden. Ergänzend wird im Folgenden auf zwei literarische Texte Bezug genommen, die der Protagonist auswendig zu kennen behauptet und damit, so soll gezeigt werden, seine Kulturmündigkeit und Kompetenz zu belegen sucht – die Metamorphosen Ovids sowie Das Lied von der Glocke Friedrich Schillers. Problematisiert wird dabei insbesondere der Aspekt des Auswendiglernens als Kontrast zu einer bewussten und diskursiven Auseinandersetzung mit einem Stoff oder Gegenstand, welches für ein geflissentliches Agieren in Gesellschaft unabdingbar ist.

Diesen ersten Analyseteil zum Sujet des Spiels abschließend, mit einem wesentlichen intertextuellen Schwerpunkt auf den Schriften Friedrich Schillers, wird die Theatermetaphorik im Roman Spieltrieb vor der Folie der Schaubühne als Lehranstalt, Wegweiser und Schlüssel analysiert. Das Kapitel soll zeigen, wie der Roman sich selbst als ein Spiel in Anlehnung an die Form des Theaters inszeniert, und somit die Implikationen dieser Kunstform für sich beansprucht. Als ästhetische Vermittlungsform bietet das Theater die Möglichkeit zu einer distanzierten Betrachtung; Vorstellbares kann fern jeden Entscheidungs- und Handlungsdrucks durchgespielt, durchdacht und anschließend diskutiert und abgewogen werden. So ist der Leser von Spieltrieb dazu aufgefordert, das, was ihm in Gestaltung und Handlung dargeboten wird, als Spiel zu lesen und gleichzeitig mitzudenken, wie dieses im Verhältnis zur Realität steht. Über die intertextuelle Verknüpfung mit der Schaubühnenthematik, die bei Schiller stets die kulturelle Verfasstheit einer Gesellschaft und ihrer systematischen Organisation fokussiert, wird die Perspektive einer Gesellschafts- und Kulturkritik durch Intertextualität unterstrichen.

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Der zweite Hauptteil der Analyse und Interpretation des Romans Spieltrieb steht unter dem Stichwort Eigenschaftslosigkeit. Mit diesem Zug spielt der Text von Beginn an, wenn es heißt: „Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht – erst recht“ (SpT 10). Ob das Folgende unter das Wesen des Spiels zu fassen ist oder nicht, bleibt der Lesart des Rezipienten überlassen, und damit bleibt die Zuschreibung hinsichtlich einer bestimmten Eigenschaft offen. Mit dem Begriff Eigenschaftslosigkeit ist zudem insbesondere der intertextuelle Bezug und Dialog mit einem Werk verknüpft: Der Mann ohne Eigenschaften Robert Musils. Dieser versteht sich als eine kritische Diagnose der Moderne, in der Eigenschaftslosigkeit zunehmend zur Metapher für das Ortloswerden des Subjektiven wird. Durch mehrfache Benennung des konkreten Titels und der Lektüre des Gesellschaftsromans Musils innerhalb der Spieltrieb-Handlung gelangt dieser zu hoher Präsenz im Werk Juli Zehs. Themen des Mann ohne Eigenschaften werden in Spieltrieb aufgegriffen und im intertextuellen Wechselspiel für einen gesellschafts- und kulturkritischen Blick auf die Gegenwart fruchtbar gemacht.

Bereits in der äußeren Form, in der Gestaltung der Kapitelüberschriften des Romans Spieltrieb fällt eine Anlehnung an das Werk Musils auf, deren Funktionen im Folgenden näher zu betrachten sein werden. Ebenso greifen beide Werke den schreibenden Umgang des Journalismus mit Realität im Gegenüber von Literatur auf. Dabei werden die Möglichkeiten, Fähigkeiten und der Wert beider Anschauungen diskutiert. Das Vermögen der Literatur, die Welt mit Worten anders oder neu zu schaffen und damit andere Perspektiven zu eröffnen sowie Lücken, die der Journalismus hinterlässt, zu schließen, ist mit der Art und Weise des Erzählens in und von literarischen Texten verwoben. Entsprechend bildet das Spiel mit Narration, den Formen des Erzählens in Spieltrieb insbesondere vor dem Hintergrund der intertextuellen Referenz Der Mann ohne Eigenschaften einen Schwerpunkt der Erarbeitung. Ausgehend von den philosophisch anmutenden Überlegungen im Kontext des Exordiums von Spieltrieb, wer die Geschichte erzählen soll, soll die auktoriale Erzählweise, die während des Handlungsverlaufs dominiert, sowie die Passagen, die aus der Ich-Perspektive erzählt werden, betrachtet werden. Vor dem Erscheinen von Spieltrieb hat sich die Autorin hinsichtlich der Erzählperspektiven in literarischen Texten in einem Essay geäußert. In diesem Zusammenhang gibt sie ihre offene und positive Haltung in Bezug auf auktoriales Erzählen zu erkennen und nennt Robert ←22 | 23→ Musil und dessen Roman Der Mann ohne Eigenschaften als gelungenes, vorbildhaftes Beispiel. Entsprechend wird fokussiert, inwiefern jenes Werk als Formvorbild für den Zehschen Text fungiert und welche Wirkung durch die Erzählweise erzeugt wird. Für beide Werke gilt ein zeitkritischer Blick auf ihre Gegenwart. Entsprechend ist auszuwerten, wie dieser durch das Erzählen selbst determiniert wird. Neben den Perspektiven des Erzählens spielen in den Texten die Protagonisten – Ada in dem einen, Ulrich in dem anderen – eine wesentliche Rolle. Zwischen der Erzählinstanz und der Protagonistin beziehungsweise dem Protagonisten wird eine Verbundenheit erzeugt. Beide Figuren, mit der Eigenschaft ‚eigenschaftslos‘ belegt, unterstreichen die nicht eindeutigen Erzählformen beider Texte. Die fehlende erzählerische Ordnung wird zum Spiegel der Form- und Existenzprobleme der Protagonisten und weist damit auf gesellschaftliche Komplexität, in der das Subjekt befangen ist. Zudem ist das Erzählen mit entscheidenden Fragen unserer Gegenwart verknüpft. Das Verhältnis von Erzählen und Recht sowie Überlegungen hinsichtlich der Wirklichkeit von Wirklichkeit sollen dazu näher betrachtet werden.

Das Recht, welches sich auf das Wort stützt, des Wortes und der Interpretation bedarf, um anwendbar zu werden – also ein sprachlicher, juristischer Wirklichkeitsraum geschaffen wird, der dann über das Instrument Sprache wiederum beurteilt wird – enthält Parallelen zu literarischem Erzählen. Das, was als wirklich gilt, scheint abhängig von einem bestimmten Blickwinkel und der Sprache – dem Vermögen etwas zu beschreiben. Um das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit in Spieltrieb und dem Mann ohne Eigenschaften weiterführend erläutern zu können, wird zunächst eine Analyse von Erzählen und Essayismus angeschlossen, da der Essay stellvertretend für einen Denkraum steht, der sich zwischen dem Selbstzweck der Kunst und dem unbedingten Erkenntnisstreben der Wissenschaft verstanden wissen will. Sich in Form eines Essays einem Gegenstand zu nähern, heißt diesen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, die Wirklichkeit nicht zu scheuen, wohl aber als Aufgabe und Erfindung zu behandeln10. In beiden literarischen Werken wird der Essay zu einem reflexiven Metatext der jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, was zu zeigen sein wird.

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Darüber hinaus wird im Rahmen dieses Kapitels der intertextuelle Bezug zu Friedrich Nietzsche analysiert. Nietzsche als Vertreter der Strömung des Nihilismus wird in Spieltrieb mit seinen philosophischen Anschauungen zum Vorbild erhoben. Seine Überlegungen, dass keine Wahrheit absolute Gültigkeit besitzt, bildet zudem ein verbindendes Element zwischen Spieltrieb und dem Mann ohne Eigenschaften. Die Widersprüchlichkeit der Moderne und die Philosophie Nietzsches haben bereits Robert Musil und dessen Gesellschaftsroman beeinflusst, weshalb dieser als (un)mittelbare intertextuelle Referenz für Spieltrieb in den Blick genommen werden soll.

Details

Seiten
344
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631775592
ISBN (ePUB)
9783631775608
ISBN (MOBI)
9783631775615
ISBN (Hardcover)
9783631770764
DOI
10.3726/b14968
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Intertextualität Erzählformen Robert Musil Spieltheorie Postmoderne Freiheit
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 342 S.

Biographische Angaben

Carolin Kull (Autor:in)

Carolin Kull promovierte nach einem Studium der Germanistik, Evangelischen Theologie und Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum an der Fakultät für Philologie. Seit 2013 ist sie an der Professional School of Education der Ruhr-Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig.

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Titel: Juli Zehs Roman «Spieltrieb»
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