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Die Beschäftigungsverantwortung des Arbeitgebers gegenüber leistungsgeminderten Arbeitnehmern

von Sabine Großkurth (Autor:in)
©2019 Dissertation 440 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht, ob und unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber bei Minderleistungen zu Anpassungsmaßnahmen verpflichtet ist, damit der Arbeitsvertrag wieder störungsfrei durchgeführt werden kann. Dabei geht es um die leidens- bzw. fähigkeitsgerechte Beschäftigung des Arbeitnehmers sowie um Qualifizierungsmaßnahmen. Wertungsmäßiger Ausgangspunkt sind der allgemeine arbeitsrechtliche Beschäftigungsanspruch und spezialgesetzliche Wertungen aus dem Schwerbehindertenrecht zur Gesundheitsprävention. Formal knüpft der Band an die allgemeinen schuldrechtlichen Rücksichtnahmepflichten an. Außerdem werden die Anpassungsobliegenheiten untersucht, die sich aus dem Kündigungsrecht ergeben. Bei alldem behält die Autorin stets die verfahrensrechtliche Flankierung im Blick.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Ãœber das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • B. Die Grundlagen der arbeitsvertraglichen Anpassungsverantwortung des Arbeitgebers bei Minderleistungen des Arbeitnehmers
  • I. Phänomenologische Betrachtung des Phänomens der Minderleistung
  • 1. Terminologische Vorbemerkung
  • 2. Die Bezugspunkte der Minderleistung
  • 3. Die Ursachen der Minderleistung
  • II. Die Rücksichtnahmepflicht des Arbeitgebers gem. § 241 Abs. 2 BGB als dogmatischer Anknüpfungspunkt der Pflichtenbegründung
  • 1. Der Vertragsanpassungsanspruch gem. § 241 Abs. 2 BGB nach Auffassung des BAG
  • 2. Systematische Verortung der Schutz- und Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers
  • 3. Die persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers als Leitlinie der Pflichtenkonkretisierung
  • 4. Die Treuepflicht im Dauerschuldverhältnis
  • III. Das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers und die Inpflichtnahme des Arbeitgebers zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit des Arbeitnehmers
  • 1. Der Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers
  • 2. Die wertungsmäßige Rechtfertigung des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs
  • 3. Die Beeinträchtigung des Beschäftigungsinteresses durch Minderleistungen
  • 4. Die Minderleistung als Kündigungsgrund und als Anknüpfungspunkt einer Vertragsanpassungspflicht
  • 5. Verfassungsrechtliche Verortung
  • 6. Das weitere Untersuchungsprogramm
  • IV. Das Vorliegen einer Minderleistung in Abhängigkeit vom arbeitsvertraglichen Leistungsmaßstab
  • 1. Die Ermittlung der geschuldeten Leistung mittels normativer Auslegung des Arbeitsvertrags
  • 2. Die einzelnen Bestandteile der Arbeitsleistung und die Bestimmung des Leistungsmaßstabs
  • 3. Der subjektive Leistungsmaßstab
  • 4. Der objektive Leistungsmaßstab
  • 5. Entwicklung eines eigenen Modells: Die fachlichen Anforderungen der Arbeitsaufgabe als Leistungsuntergrenze
  • 6. Folgerungen für die Begründung von Anpassungspflichten: Keine angemessene Berücksichtigung der Dynamik der Leistungsvoraussetzungen
  • V. Das Verhältnis zum Schwerbehinderten- und zum Antidiskriminierungsrecht
  • 1. Rechtsnatur, Inhalt und Regelungskontexts des Beschäftigungsanspruchs aus § 164 Abs. 4 SGB IX
  • 2. Vertragsexterne Wertungen als Rechtfertigung des Beschäftigungsanspruchs schwerbehinderter Arbeitnehmer
  • 3. Elemente von Verteilungsgerechtigkeit im Rahmen der Nebenpflichtenbegründung
  • 4. Positive gesetzliche Vorgaben zum aktiven Umgang mit krankheitsbedingten Eingliederungshindernissen: Das Betriebliche Eingliederungsmanagement
  • 5. Besonderheiten bei der Pflichtenbegründung gegenüber (schwer)behinderten Arbeitnehmern
  • VI. Zusammenfassung und Verdeutlichung anhand des Beispielsfalls
  • C. Die Pflicht des Arbeitgebers zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung des Minderleisters
  • I. Der arbeitsschutzrechtliche Schutz vor Überbeanspruchung
  • 1. Grundsätzliche Überlegungen
  • 2. Die arbeitsschutzrechtliche Verantwortung des Arbeitgebers zur Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten des Arbeitnehmers
  • II. Die Pflicht zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung behinderter und dauerhaft gesundheitlich beeinträchtigter Arbeitnehmer
  • 1. Die zugrundeliegenden Wertungen
  • 2. Der Inhalt der Pflicht zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung
  • 3. Besondere Formen zur Realisierung einer fähigkeitsgerechten Beschäftigung
  • 4. Der Unzumutbarkeitsvorbehalt
  • 5. Verfahrensmäßige Flankierung durch das Betriebliche Eingliederungsmanagement, § 167 Abs. 2 SGB IX
  • 6. Die Durchsetzung der Pflicht zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung
  • III. Zusammenfassung
  • D. Die Pflicht des Arbeitgebers zur Qualifizierung leistungsgeminderter Arbeitnehmer
  • I. Einleitung
  • 1. Der Regelungskontext
  • 2. Terminologie
  • 3. § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB III als spezialgesetzliche Konkretisierungen der Qualifizierungsverantwortung gegenüber leistungsgeminderten Arbeitnehmern
  • II. Begründung einer Pflicht des Arbeitgebers zur Anpassungsqualifizierung bei Minderleistungen gem. § 241 Abs. 2 BGB
  • 1. Das Meinungsspektrum zum Bestehen einer Qualifizierungspflicht des Arbeitgebers auf der Grundlage von § 241 Abs. 2 BGB
  • 2. Die Verantwortung des Arbeitgebers für den Qualifikationserhalt im Rahmen der allgemeinen Beschäftigungspflicht
  • 3. Die Rechtspflicht des Arbeitgebers zur Anpassungsqualifizierung gegenüber Minderleistern
  • III. Der Gegenstand der Qualifizierungspflicht
  • 1. Die Inhaltliche Ausgestaltung der Anpassungsqualifizierung
  • 2. Die Zuordnung der Qualifizierungsmaßnahme zur Arbeitszeit und die Pflicht des Arbeitgebers zur Kostentragung
  • 3. Die Qualifikationserprobung am Arbeitsplatz
  • IV. Der Zumutbarkeitsvorbehalt
  • 1. Vergleichbare Regelungskonstellationen
  • 2. Die Unzumutbarkeit der Qualifizierungsmaßnahme
  • 3. Keine Beteiligung des Arbeitnehmers am zeitlichen oder finanziellen Aufwand der Maßnahme
  • 4. Die Bedeutung der Weiterbeschäftigungsperspektive
  • V. Die Durchsetzung der Qualifizierungspflicht leistungsgeminderter Arbeitnehmer
  • 1. Individuelle Rechte des Arbeitnehmers
  • 2. Die Initiativlast des Arbeitnehmers
  • 3. Verfahrensrechtliche Flankierung: Der Erörterungsanspruch gem. § 81 Abs. 4 Satz 2 BetrVG
  • 4. Betriebliche Mitbestimmung
  • VI. Zusammenfassung
  • E. Die kündigungsrechtlichen Anpassungsobliegenheiten des Arbeitgebers
  • I. Einleitung
  • 1. Die anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit in der Kündigungssituation
  • 2. Das kündigungsrechtliche ultima-ratio-Prinzip
  • 3. Das Prüfungsschema des kündigungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips
  • 4. Die Trennung von Kündigungsgrund und Weiterbeschäftigungsobliegenheit
  • II. Der Inhalt der gesetzlichen Weiterbeschäftigungsobliegenheiten
  • 1. Die Weiterbeschäftigung an einem anderen Arbeitsplatz zu unveränderten Arbeitsbedingungen
  • 2. Der sog. Vorrang der Änderungskündigung
  • 3. Die Darlegungs- und Beweislast
  • III. Einzelfragen zum Umfang der anderweitigen Beschäftigung in der Kündigungssituation
  • 1. Das Vorhandensein eines freien und vergleichbaren Arbeitsplatzes
  • 2. Die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung für den Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Rahmen des Vorrangs der Änderungskündigung
  • 3. Die Anforderungen an die organisatorischen Bemühungen des Arbeitgebers im Hinblick auf die Schaffung eines freien Arbeitsplatzes
  • 4. Die Probleme bei mehreren in Betracht kommenden anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten
  • 5. Die Obliegenheit zur Umschulung oder Fortbildung, § 1 Abs. 2 Satz 3 KSchG
  • 6. Die Weiterbeschäftigung außerhalb des Arbeitsvertrags im Rahmen der stufenweisen Wiedereingliederung
  • IV. Die Verschärfung der Weiterbeschäftigungsobliegenheiten aufgrund fürsorgerischer Wertungen
  • 1. Die Auswirkungen von § 2 Abs. 2 SGB III auf das ultima-ratio-Prinzip
  • 2. Die kündigungsrechtliche Relevanz der arbeitsschutzrechtlichen Pflichten des Arbeitgebers
  • 3. Die Auswirkungen von § 167 Abs. 2 SGB IX auf das Kündigungsrecht
  • V. Zusammenfassung zu den kündigungsrechtlichen Anpassungsobliegenheiten
  • F. Ergebnisse der Untersuchung
  • I. Die Pflichtenbegründung
  • II. Der Pflichteninhalt
  • III. Die Anpassungspflichten in der Kündigungssituation
  • IV. Die verfahrensrechtliche Dimension
  • V. Zur praktischen Durchsetzbarkeit
  • Literaturverzeichnis

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A. Einleitung

Das Phänomen der Minderleistung wurde bisher im Arbeitsrecht vor allem aus kündigungsrechtlicher Perspektive diskutiert. Aus der Arbeitgeberperspektive scheint es nahe liegend, Leistungsdefizite des Arbeitnehmers zum Anknüpfungspunkt zu nehmen, sich vom Arbeitnehmer durch Kündigung zu trennen bzw. eine einvernehmliche Vertragsauflösung anzustreben. Die Zuordnung einer Kündigung wegen Schlechtleistung zu den einzelnen Kündigungsgründen des § 1 Abs. 2 KSchG und die Voraussetzungen der sozialen Rechtfertigung sind bereits Gegenstand einiger bundesarbeitsgerichtlicher Gerichtsentscheidungen1 gewesen und in der Literatur ausführlich erörtert worden.2 In dieser Untersuchung soll es hingegen vornehmlich darum gehen, inwieweit der Arbeitgeber aufgrund seiner Beschäftigungsverantwortung verpflichtet ist, auf die mit der Minderleistung einhergehende Vertragsstörung anders zu reagieren, nämlich den Arbeitnehmer seinen individuellen Fähigkeiten und seinem Leistungsvermögen entsprechend zu beschäftigen bzw. Qualifizierungsmaßnahmen anzubieten.

Um die praktische Relevanz solcher Anpassungsmaßnahmen zu verdeutlichen, ist ein Blick auf die Strukturen der heutigen Arbeitswelt geboten: Ausgangspunkt ist der Modernisierungsprozess der Industriearbeit, der seit den 1980er Jahren einsetzte. Auslöser und Motor dieser Entwicklung sind die Globalisierung und der zunehmende Standortwettbewerb, dem sich deutsche Unternehmen ausgesetzt sehen und der mit einer Entgrenzung von Kapital- und Finanzströmen und einem Schub neuer Technologien, wie etwa der Informationstechnologie, einhergeht.3 Dies schlägt sich darin nieder, dass Leitlinie in der Arbeitsorganisation nicht mehr allein die tayloristische Arbeitsteilung ist, sondern der Arbeitnehmer die Produktions- bzw. Dienstleistungsprozesse aktiv und kreativ steuern soll. Die Arbeitsstrukturen werden offener, an die Stelle strikter Hierarchien treten Kooperationsformen und Projektarbeit.4 Insoweit wird auch von der Subjektivierung von Erwerbsarbeit gesprochen. Darunter ist zu verstehen, dass die Arbeitnehmer als Individuen mehr ←25 | 26→„Subjektives“ in die Arbeit hineintragen und die Arbeit mehr „Subjektives“ von ihnen fordert.5

Vor diesem Hintergrund wandeln sich auch die Qualifikationsanforderungen und Tätigkeitsstrukturen. Dabei ist letztlich eine Tendenz zur Höherqualifizierung feststellbar.6 Außerdem werden bestimmte soziale und organisatorische Kompetenzen wichtiger.7 Auch der digitale Wandel verändert bestehende Berufsprofile und die Qualifikationsanforderungen. „Sozial-kommunikative und interkulturelle Kompetenzen, systemisches und kreatives Denken, Abstraktionsfähigkeit und die Fähigkeit zur schnellen Informationsverarbeitung und Datenselektion“ spielen nunmehr eine größere Rolle.8 Zugleich findet eine Verlagerung der Verantwortung auf den Arbeitnehmer statt, um das eigene Qualifikationsniveau aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln (Stichwort „lebenslanges Lernen“).9 Diese Entwicklung bietet vielfältige Chancen für die Arbeitnehmer, die unter der Perspektive einer Humanisierung der Arbeit durchaus erstrebenswert sind.10 Der beschriebene Wandel führt aber gleichermaßen dazu, dass die Arbeitskraft ständig durch Entwertung gefährdet ist.11 Der Arbeitnehmer ist insoweit in besonderem Maß darauf angewiesen, seine Qualifikationen zu erhalten und weiter entwickeln zu können.

Die Frage nach einer Pflicht zur Anpassung des Leistungsaustauschs an die persönlichen Defizite des Arbeitnehmers greift diese tatsächliche Ausgangslage in zweifacher Hinsicht auf: Erstens schlägt sich der beschriebene Wandel der Leistungsanforderungen darin nieder, dass auf betrieblicher Ebene tendenziell ein offenerer Umgang mit der Thematik dauerhafter und erheblicher Minderleistungen gepflegt wird, wie an der Vielzahl an praktischen Ratgebern zum Thema deutlich wird.12 Insbesondere sinkt die Neigung, sog. Low Performer mit Einfachtätigkeiten „durchzuschleppen“. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass es an solchen Arbeitsplätzen heute fehlt, weil Arbeitsplätze, die als Schonarbeitsplätze in Betracht kämen, vielfach aus dem Unternehmen ausgelagert wurden.13 Außerdem werden die Leistungen stärker überwacht und Mitarbeiter zunehmend an ihren Ergebnissen und ihrem Einsatz gemessen, was sich etwa in der steigenden Zahl an Zielvereinbarungen niederschlägt, die eine leistungsgerechte Entlohnung sicher stellen sollen.14

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Zweitens hat die Gefahr des Scheiterns für den Arbeitnehmer wesentlich zugenommen.15 Der Arbeitnehmer hat ein Interesse an der Abfederung der Risiken aus den gewachsenen Anforderungen, dem Leistungsdruck und den neuen Formen der Unsicherheit. Der Arbeitgeber kann dem Rechnung tragen, indem er bei der Ausgestaltung des Leistungsaustauschs auf den Wandel der Arbeits- und Qualifikationsanforderungen Rücksicht nimmt und eine Anpassung daran ermöglicht. Letztlich geht es um die Ausrichtung des Arbeitsvertrags auf „gute Arbeit“, definiert als „eine sichere und berufliches Fortkommen ermöglichende Arbeit“.16 Diese arbeitsvertragliche Beschäftigungsverantwortung des Arbeitgebers ist Thema der vorliegenden Untersuchung.

Die Begründung von Anpassungspflichten fußt auf der Prämisse, dass in den Fällen der Minderleistung beim Arbeitnehmer ein ausreichendes Restleistungsvermögen vorhanden ist und dieser bei einer entsprechenden Anpassung der Tätigkeit seine Arbeitsleistung ordnungsgemäß erbringen kann. Zur wirksamen Behebung von Minderleistungen erscheint es am vielversprechendsten, dem Problem frühzeitig genug Aufmerksamkeit zu schenken und als Arbeitgeber mit einer Mischung aus Konfrontation und Unterstützung zu agieren.17 Es stellt sich allerdings die grundlegende Frage, ob der Arbeitgeber rechtlich zu unterstützenden Maßnahmen verpflichtet ist. Mit welchen Wertungen lässt sich dies begründen?

Anknüpfungspunkt der Pflichtenbegründung ist, dass unzureichende Arbeitsleistungen nicht nur die Interessen des Arbeitgebers beeinträchtigen. Auch der Arbeitnehmer kann in den Fällen der Minderleistung ein Interesse daran haben, dass der Leistungsaustausch wieder ordnungsgemäß durchgeführt werden kann. Insoweit geht es grundlegend um die Sicherung seiner Beschäftigungsfähigkeit im Rahmen des jeweiligen Arbeitsverhältnisses. Der Begriff der Beschäftigungsfähigkeit bezieht sich darauf, auf dem bisherigen Niveau beschäftigt zu werden und die Qualifikationen auf dem aktuellen Stand halten zu können.18 Für den Arbeitnehmer ist nicht die mit der Minderleistung einhergehende Leistungsstörung problematisch. Vielmehr geht es um den Erhalt des Status, der mit dem Arbeitsverhältnis verbunden ist. Der Begriff des Status wiederum bezieht sich darauf, die eigene Arbeitskraft praktisch den vorhandenen Qualifikationen entsprechend einsetzen und sich beruflich entfalten zu können. Die Beschäftigungsverantwortung des Arbeitgebers gegenüber leistungsgeminderten Arbeitnehmern ist also maßgeblich auf das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers und auf die Sicherung seiner Beschäftigungsfähigkeit ausgerichtet.

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Diese Grundüberlegung soll in einem konzeptionellen Grundlagenteil vertieft werden (siehe Abschnitt B). Anschließend sollen anhand der folgenden Leitfragen konkrete Untersuchungsergebnisse gewonnen werden.

Leitfrage: Hat der leistungsgeminderte Arbeitnehmer einen Anspruch auf fähigkeitsgerechte Beschäftigung?

Eine Form der Reaktionsmöglichkeit bei Minderleistungen besteht darin, dass der Arbeitnehmer so beschäftigt wird, dass individuellen Beschränkungen im Leistungsvermögen Rechnung getragen wird. Diese Beschäftigung kann auch als fähigkeits- bzw. fähigkeitengerechte Beschäftigung bezeichnet werden. Die Ansprüche auf fähigkeitsgerechte Beschäftigung sollen im Abschnitt C untersucht werden. Der Begriff kommt aus dem Schwerbehindertenrecht und wird zur Bezeichnung der Ansprüche aus § 164 Abs. 4 SGB IX verwendet.19 Dort geht es um eine Beschäftigung, die es dem schwerbehinderten Arbeitnehmer ermöglichen soll, seine Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll zu verwerten und weiterzuentwickeln. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der leidensgerechten Beschäftigung anzutreffen. Dieser Begriff wiederum wird im Kündigungsrecht verwendet, bezogen auf die Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz bzw. zu anderen Arbeitsbedingungen, die als vorrangiges Mittel gegenüber einer krankheitsbedingten Kündigung in Betracht zu ziehen ist.20 Schließlich hat das BAG einen Anspruch aus § 241 Abs. 2 BGB auf Zuweisung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes entwickelt, für den Fall, dass der Arbeitnehmer die bisher zugewiesene vertragliche Tätigkeit aus in seiner Person liegenden Gründen nicht mehr erfüllen kann.21

In terminologischer Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der fähigkeitsgerechten Beschäftigung das Leistungspotenzial des Arbeitnehmers betont, während der Begriff der leidensgerechten Beschäftigung den Fokus auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers legt.22 Außerdem bezieht sich der Begriff der leidensgerechten Beschäftigung dem natürlichen Sprachgebrauch entsprechend vor allem auf gesundheitsbedingte Einschränkungen des Leistungsvermögens. Die Minderleistung kann jedoch auch andere Ursachen haben, insbesondere wenn der Arbeitnehmer nicht die notwendigen fachlichen Qualifikationen ←28 | 29→aufweist. Vor diesem Hintergrund soll in dieser Untersuchung der Begriff der fähigkeitsgerechten Beschäftigung bevorzugt werden.

Das BAG hat bei der Begründung einer Pflicht zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung den Gedanken der Vertragsdurchführung und -erfüllung bei der Entwicklung einer Vertragsanpassungspflicht auf der Grundlage von § 241 Abs. 2 BGB stark gemacht, indem es ausgeführt hat: „Die Vertragspartner können deshalb zur Verwirklichung des Leistungsinteresses zu leistungssichernden Maßnahmen verpflichtet sein. Dazu gehört auch die Pflicht, im Zusammenwirken mit dem Vertragspartner die Voraussetzungen für die Durchführung des Vertrags zu schaffen, Erfüllungshindernisse nicht entstehen zu lassen bzw. zu beseitigen und dem anderen Teil den angestrebten Leistungserfolg zukommen zu lassen […]. Im Rahmen dieser Mitwirkungspflicht kann es auch geboten sein, auf den Wunsch nach Vertragsanpassungen als Reaktion auf unerwartete Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse einzugehen, insbesondere wenn anderenfalls in Dauerschuldverhältnissen Unvermögen des Schuldners droht […].“23

Dieser Ansatz soll aufgegriffen und fortentwickelt werden: Anknüpfungspunkt für die Pflichtenbegründung sind die arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflichten des Arbeitgebers gem. § 241 Abs. 2 BGB. Die Pflicht zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung kann aber nach der hier entwickelten Konzeption nicht allein mit allgemeinen schuldrechtlichen Denkmustern begründet werden. Im Rahmen der Pflichtenbegründung sind vielmehr spezifische arbeitsrechtliche Wertungen aufzugreifen, die früher bei der sog. Fürsorgepflicht des Arbeitgebers verankert wurden. Es ist aufzuzeigen, dass diese Wertungen auch die Beschäftigungsverantwortung des Arbeitgebers gegenüber leistungsgeminderten Arbeitnehmern prägen. Dazu soll insbesondere an die Diskussion zum allgemeinen Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers angeknüpft werden, um begründen zu können, dass ein schutzwürdiges Interesse des Arbeitnehmers an der Sicherung seiner Beschäftigungsfähigkeit besteht.

Eingangs wurde bereits ausgeführt, dass der Begriff der fähigkeitsgerechten Beschäftigung aus dem Schwerbehindertenrecht stammt. In dieser Untersuchung soll demgegenüber und darüber hinaus aufgezeigt werden, dass auch der nicht schwerbehinderte leistungsgeminderte Arbeitnehmer in bestimmten Konstellationen einen Anspruch auf fähigkeitsgerechte Beschäftigung hat. Nichtsdestoweniger ist stellenweise auf Normen und Wertungen des SGB IX zurückzukommen. Dabei wird das SGB IX in der durch Art. 1 des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) verkündeten Form und mit den bis zum 1.1.2018 in Kraft getretenen Änderungen zugrunde gelegt.

Der schwerbehindertenrechtliche Kontext ist in zweifacher Hinsicht von besonderer Bedeutung in dieser Untersuchung. Erstens ist die Verpflichtung zur Durchführung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) gem. § 167 Abs. 2 SGB IX zu nennen. Hieran wird die besondere Verantwortung des Arbeitgebers ←29 | 30→zur Gesundheitsprävention im Arbeitsverhältnis deutlich. Diese Beschäftigungsverantwortung ist auch bei der Pflichtenbegründung auf der Grundlage von § 241 Abs. 2 BGB aufzugreifen. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass § 164 Abs. 4 SGB IX den Arbeitgeber konsequent zur Anpassung des Arbeitsplatzes an die Behinderung und die individuellen Fähigkeiten des schwerbehinderten Arbeitnehmers verpflichtet. Damit stellt diese Regelung gewissermaßen den Prototyp eines Anspruchs auf fähigkeitsgerechte Beschäftigung dar. Die Regelungsprobleme derartiger Ansprüche lassen sich daher gut anhand des Beschäftigungsanspruchs aus § 164 Abs. 4 SGB IX verdeutlichen. Insoweit wird in dieser Untersuchung stellenweise auf die zu § 164 Abs. 4 SGB IX entwickelten Grundsätze zu Anspruchsinhalt und Grenzen zurückzukommen sein. Davon ausgehend bedarf es dann der Überprüfung, ob sich der schwerbehindertenrechtliche Ausgleich zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen auf die vertragliche Nebenpflicht zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung leistungsgeminderter Arbeitnehmer übertragen lässt.

Leitfrage: Hat der leistungsgeminderte Arbeitnehmer einen Anspruch auf Qualifizierung?

Eine Besonderheit dieser Untersuchung besteht darin, dass unter dem Blickwinkel der Anpassung von Leistungsvermögen und Leistungsanforderungen gleichermaßen Qualifizierungspflichten und Pflichten zur fähigkeits- bzw. leidensgerechten Beschäftigung behandelt werden, während diese Fragestellungen bis jetzt isoliert diskutiert wurden. Die fähigkeitsgerechte Beschäftigung des Arbeitnehmers kann nämlich nicht nur bei den Arbeitsbedingungen, sondern auch bei der Anhebung des Leistungsvermögens des Arbeitnehmers ansetzen. Dabei werden nicht die Arbeitsbedingungen an das Leistungsvermögen des Arbeitnehmers angepasst, vielmehr soll umgekehrt der Arbeitnehmer mit seinem Leistungsvermögen an die objektiven Leistungsanforderungen herangeführt werden. Insoweit lässt sich die Untersuchung von Qualifizierungsansprüchen mit dem Schlagwort „Dynamischer Schutz der Beschäftigungsfähigkeit“ beschreiben.24 Schließlich können auch beide Formen der Anpassung miteinander kombiniert werden, wenn der Arbeitgeber sowohl die Arbeitsbedingungen modifiziert als auch auf die Verbesserung des Leistungsvermögens des Arbeitnehmers hinwirkt.

Diese Untersuchung soll im Abschnitt D eine Antwort darauf geben, inwieweit die Beschäftigungsverantwortung des Arbeitgebers auch Ansprüche auf Maßnahmen der Anpassungsqualifizierung begründet. Dazu sollen insbesondere die Mechanismen des Qualifikationserhalts im Rahmen des arbeitsvertraglichen Leistungsaustauschs in den Blick genommen werden. Darüber hinaus soll herausgearbeitet werden, welche Formen die Maßnahmen der Anpassungsqualifizierung annehmen können und wie das Zusammenspiel mit dem Anspruch auf fähigkeitsgerechte Beschäftigung ausgestaltet werden kann. Ein besonderes Augenmerk gilt der arbeitsvertraglichen Verankerung der Qualifizierungspflicht und der Grenze ←30 | 31→der Beschäftigungsverantwortung: Leitlinie ist, dass die Qualifizierungsmaßnahme der Kompensation des mit der Minderleistung einhergehenden Leistungsdefizits dient und nicht etwa allgemeine arbeitsmarktspezifische Risiken ausgeglichen werden sollen.

Leitfrage: Ist der Arbeitgeber in der Kündigungssituation zur Weiterbeschäftigung des leistungsgeminderten Arbeitnehmers auf einem anderen Arbeitsplatz oder zu dessen Qualifizierung verpflichtet?

Darüber hinaus stellt sich im Abschnitt E die Frage nach der Verpflichtung zur Anpassung der Arbeitsbedingungen in der Kündigungssituation. Die Grundlage derartiger Pflichten stellt der kündigungsrechtliche ultima-ratio-Grundsatz dar, wonach eine Beendigungskündigung als äußerstes Mittel nur dann in Betracht kommt, wenn sie zur Beseitigung betrieblicher Belange geeignet und erforderlich ist sowie im Verhältnis zum verfolgten Zweck angemessen erscheint.25 Zu den insoweit geforderten Maßnahmen zählen etwa die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz oder andere zumutbare Maßnahmen, mit denen die Leistungsdefizite am Arbeitsplatz behoben werden. Auch auf dieser Grundlage kann der Arbeitgeber also zu entsprechenden Anpassungsmaßnahmen verpflichtet sein. Kommt es im Vorfeld der Kündigung zu keiner Vertragsanpassung, sind die kündigungsrechtlichen Weiterbeschäftigungsobliegenheiten in den Blick zu nehmen, um ein vollständiges Bild von der Beschäftigungsverantwortung des Arbeitgebers gegenüber leistungsgeminderten Arbeitnehmern zeichnen zu können. In dieser Untersuchung soll auch aufgezeigt werden, in welchen Punkten sich die Anpassungspflichten des Arbeitgebers inner- und außerhalb der Kündigungssituation unterscheiden.

Leitfragen: Wie lässt sich die Verpflichtung des Arbeitgebers zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung und zur Qualifizierung leistungsgeminderter Arbeitnehmer rechtlich durchsetzen? Wie werden die Ansprüche des Arbeitnehmers verfahrensrechtlich flankiert?

Diese Untersuchung geht von der Prämisse aus, dass der Arbeitgeber in rechtlicher Hinsicht unabhängig davon, ob eine konkrete Kündigung droht, bei Minderleistungen zu Anpassungsmaßnahmen verpflichtet sein kann. Diese Pflicht knüpft daran an, dass eine möglichst frühzeitige Intervention geboten ist, um Qualifikationsdefizite und gesundheitliche Leistungsbeeinträchtigungen zu beheben. Bei Anpassungsansprüchen, die ausdrücklich an die Minderleistung des Arbeitnehmers anknüpfen, stellen sich freilich besondere Probleme der rechtlichen und praktischen Durchsetzbarkeit. Hinzu kommt, dass in Anbetracht der vielfältigen möglichen Ursachen von Minderleistungen die Ansatzpunkte für ←31 | 32→eine fähigkeitsgerechte Beschäftigung oder für Qualifizierungsmaßnahmen im Dunkeln liegen können. Es ist komplex, vor dem Hintergrund des individuellen Leistungsvermögens des Arbeitnehmers einerseits und der betrieblich-organisatorischen Ausgangsbedingungen andererseits eine fähigkeitsgerechte Beschäftigung zu finden, die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zumutbar ist. Aus diesem Grund stehen in dieser Untersuchung auch die Fragen nach der rechtstechnischen Durchsetzung der Beschäftigungsverantwortung des Arbeitgebers im Mittelpunkt (siehe insbesondere die Abschnitte C.II.6, D.V).

Dabei kommt der verfahrensmäßigen Flankierung der Anpassungsansprüche eine besondere Bedeutung zu (siehe insbesondere die Abschnitte C.II.5, D.V.3, E.IV.3). Vor allem das bereits angesprochene BEM bietet einen passenden Rahmen, um die Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten zu strukturieren und zu effektivieren. Zugleich können in diesem Verfahren die einzelnen Dimensionen der Beschäftigungsverantwortung des Arbeitgebers aufgegriffen und miteinander verknüpft werden, indem etwa neben Fragen der individuellen Leistungseinschränkungen auch arbeitsschutzrechtliche Faktoren und die Qualifizierungsverantwortung des Arbeitgebers thematisiert werden. Zu guter Letzt hat die Durchführung eines BEM einen zentralen Stellenwert bei der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung. Im Rahmen des BEM können dementsprechend auch in der Kündigungssituation die verschiedenen Ausprägungen der vertraglichen Nebenpflicht zur fähigkeitsgerechten Beschäftigung in den Blick genommen werden. Auch diese verfahrensrechtlichen Mechanismen sollen im Verlauf der Untersuchung herausgearbeitet werden.


1 BAG, 11.12.2003 – 2 AZR 667/02, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 48; 3.6.2004 – 2 AZR 386/03, AP KSchG 1969 § 23 Nr. 33; 17.1.2008 – 2 AZR 536/06, AP KSchG 1969 § 1 Nr. 85.

2 Fahl, Arbeit ist Leistung; Motzer, pVV; Verstege, Kündigung wegen geminderter Leistung; Zaumseil, Minderleistung als Kündigungsgrund.

3 Eichhorst/Kendzia/Schneider/Buhlmann, Anforderungen, S. 6; Rogowski/Schmid, Reflexive Deregulierung, S. 3 ff. mwN; Trinczek, WSI-Mitteilungen 2011, 606 (606 f.).

4 Eichhorst/Kendzia/Schneider/Buhlmann, Anforderungen, S. 6; Voss/Warsewa, SozWelt 2006, 131 (135).

5 Eichhorst/Kendzia/Schneider/Buhlmann, Anforderungen, S. 6; Kleemann/Matuschek/Voss, Subjektivierung, S. 2; Trinczek, WSI-Mitteilungen 2011, 606 (610).

6 Voss, Ansprüche in der betrieblichen Praxis, S. 15.

Details

Seiten
440
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631784037
ISBN (ePUB)
9783631784044
ISBN (MOBI)
9783631784051
ISBN (Hardcover)
9783631783634
DOI
10.3726/b15376
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
low performer leidensgerechte Beschäftigung Beschäftigungspflicht Qualifizierung Betriebliches Eingliederungsmanagement Arbeitsvertrag fähigkeitsgerechte Beschäftigung reflexives Recht
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 439 S.

Biographische Angaben

Sabine Großkurth (Autor:in)

Sabine Großkurth studierte Rechtswissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeitsrecht der Universität Göttingen tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte. Nunmehr ist sie Richterin in der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

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