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Textimmanente Wahrnehmung bei Gajto Gazdanov

Sinne und Emotion als motivische und strukturelle Schnittstelle zwischen Subjekt und Weltbild

von Ingeborg Jandl (Autor:in)
©2019 Dissertation 566 Seiten
Open Access
Reihe: Slavische Literaturen, Band 52

Zusammenfassung

Sinne und Emotion bilden das Prisma jeder Selbst- und Welterfahrung und prägen die im Individuum verankerte Subjektivität. Der russische Emigrationsschriftsteller Gajto Gazdanov (1903-1971) rückt Wahrnehmungen so stark in den Vordergrund, dass die Handlung oft von einem Übermaß an Deskription in den Hintergrund gedrängt wird. Diese Studie beleuchtet Motive sinnlicher und emotionaler Erfahrung unter Berücksichtigung interdisziplinärer Konzepte aus Psychologie, Psychoanalyse, Philosophie und den Naturwissenschaften und fragt nach der Systematik ihrer motivischen Repräsentation, ihrer Wechselbeziehung sowie eines davon abzuleitenden Weltbilds. Das Forschungsfeld eröffnet Zugang zu Mechanismen der empirischen Realität, was auch für andere Disziplinen neue Perspektiven und Erkenntnisse verspricht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Leben und Werk Gazdanovs
  • 1.2 Textimmanente Wahrnehmung: Forschungsvorhaben und ontologischer Standpunkt
  • 1.3 Textimmanente Wahrnehmung und der ‚emotional turn‘ in der Literaturwissenschaft
  • 1.4 Aufbau der Arbeit
  • 2. Forschungsstand: Textimmanente Wahrnehmung bei Gazdanov
  • Theorieteil: Wahrnehmung in der textimmanenten Motivanalyse
  • I. Narratologische Ausgangspunkte: Wahrnehmung im Weltbild literarischer Texte
  • 1. Narratologie als Ontologie des Textes in Hinblick auf Motive der Wahrnehmung
  • 1.1 Motivanalyse
  • 1.2 Ontologie des Textes
  • 1.3 Literatursoziologie und Wahrnehmung
  • 2. Bachtins Chronotopos
  • 2.1 Subjektzentrierte Weltbilder: Propp, Bremond, Souriau, Greimas, Mauron
  • 2.2 Räumlich strukturierte Weltbilder: Kant, Lotman, Todorov, Doležel, Assmann
  • 2.3 Zeitlich strukturierte Weltbilder: Kant, Genette, Ricœur, Freud, Jung, Fromm, Bachelard
  • 3. Narratologische Ausgangspunkte: Motivanalyse textimmanenter Wahrnehmung
  • II. Ontologische Ausgangspunkte: Sinne und Emotionen als Kategorie des Selbst- und Weltbezugs
  • 1. Wahrnehmung als Schnittstelle zur Außenwelt
  • 1.1 Wahrnehmungsskeptizismus und anthropomorphe Weltbilder der Antike
  • 1.2 Zwei Versuche über den menschlichen Verstand: Locke und Leibniz
  • 1.3 Vierdimensionaler Raum: Leibniz, Locke, Hume, Gedächtnis und die Relativitätstheorie
  • 1.4 Paradoxa der modernen Naturwissenschaft und das Problem der Interpretation
  • 2. Wahrnehmung als Schnittstelle zur Innenwelt
  • 2.1 Innenwelten: Solipsismus, Fremdwahrnehmung und die Grundlage der Gefühle
  • 2.2 Spiegel: Vom Mythos zur Psychoanalyse – Selbsterkenntnis und Differenzerfahrung
  • 2.3 Objektbeziehung und Archetypen: Jungs Anima und Lacans objet a
  • 2.4 Präsenzerfahrung: Subjektive Brennpunkte und effet de réel
  • 3. Ontologische Ausgangspunkte: Selbst- und Weltbezug
  • III. Psychologische Grundlagen: Sinneswahrnehmung und Emotion zwischen Subjekt und Weltbild
  • 1. Sinneseindrücke und Halluzinationen
  • 1.1 Sinneswahrnehmung
  • 1.1.1 Visuelle Wahrnehmung
  • 1.1.2 Klänge und Lautwahrnehmung
  • 1.1.3 Geruchs- und Geschmackssinn
  • 1.1.4 Tastsinn
  • 1.1.5 Schmerz
  • 1.1.6 Erregungszustände
  • 1.2 Synästhesie
  • 1.3 Erinnerung und Gedächtnis
  • 1.4 Schizophrenie und Psychose
  • 2. Motive von Gefühl und Nicht-Gefühl
  • 2.1 Gefühle
  • 2.1.1 Liebe und Sehnsucht
  • 2.1.2 Trauer, Traurigkeit und Depression
  • 2.1.3 Freude, Lebensglück und Neugierde
  • 2.1.4 Angst, Scham und Ekel
  • 2.1.5 Abneigung: Aggression und Herablassung
  • 2.2 Gefühle als Handlungsantrieb: Charaktertypologien und psychische Störungen
  • 2.3 Trauma
  • 2.4 Autismus
  • 3. Psychologische Grundlagen: Sinneswahrnehmung und Emotion als Motive
  • Analyseteil: Textimmanente Wahrnehmung bei Gajto Gazdanov
  • IV. Instanzen textimmanenter Wahrnehmung
  • 1. Die Hauptfiguren: Der Protagonist, seine Muse und der Mörder
  • 1.1 Der Protagonist: Gazdanovs Topos des nenormal’nyj čelovek
  • 1.2 Die unerreichbare Idealfigur im einsamen Traum des Helden
  • 1.3 Gegenspieler: Grenzerfahrung und Psyche
  • 2 Umgebungsfiguren
  • 2.1 Prüfung des Über-Ich: Lehrer, Geistliche, Kameraden, Verwandte
  • 2.2 ‚Zufällige‘ Nebenfiguren: Symmetrien und effet de réel
  • 2.3 Zuhörerfiguren: Gesprächspartner im metatextuellen Dialog
  • 3. Zusammenschau: Instanzen textimmanenter Wahrnehmung
  • V. Sinneswahrnehmungen und Gefühle als Motive
  • 1. Sinneswahrnehmung
  • 1.1 Visuelle Wahrnehmung
  • 1.2 Klänge und Lautwahrnehmung
  • 1.3 Düfte und Gerüche
  • 1.4 Geschmacksempfindung
  • 1.5 Tastsinn: Berührung, Oberflächen, Temperatur
  • 1.6 Krankheit und Schmerz
  • 1.7 Sexuelle Erregung
  • 1.8 Einschränkung der Sinneswahrnehmung und Wahrnehmungstäuschungen
  • 1.9 Synästhesie und ästhetische Wahrnehmung
  • 2. Gefühle
  • 2.1 Sehnsucht
  • 2.2 Liebe
  • 2.3 Trauer, Traurigkeit, Depression
  • 2.4 Freude und Lebensglück
  • 2.5 Neugierde
  • 2.6 Scham
  • 2.7 Angst
  • 2.8 Abneigung: Aggression und Herablassung
  • 2.9 Unempfänglichkeit für Gefühle
  • 3. Zusammenschau: Sinneswahrnehmungen und Gefühle als Motive
  • VI. Subjekt und Weltbild
  • 1. Innenwelt
  • 1.1 Solipsismus
  • 1.2 Schizophrenie
  • 1.3 Dialogizität
  • 1.4 Allegorisches Figurenkonzept
  • 2. Außenwelt
  • 2.1 Emotionale Brennpunkte der Texte
  • 2.2 Vierdimensionaler Raum, Bachtin’sche Welterschaffung und Leibniz’sche Idealordnung
  • 2.3 Motive der Reise
  • 2.4 Paradoxa
  • 3. Zusammenschau: Subjekt und Weltbild
  • VII. Schlusskapitel
  • 1. Sinneswahrnehmungen und Emotionen als Motive
  • 1.1 Visualität vs. Berührung: Distanz, Sehnsucht und erotische Erfahrung
  • 1.2 Musik und Emotion: Tinnitus, ästhetische Erfahrung und Transzendenz
  • 1.3 Riechen und Schmecken zwischen unwillkürlicher Erinnerung und Psychosomatik
  • 1.4 Angst und Gefühlsausdruck: Autismus, Depression und Trauma
  • 1.5 Stoffliche Außenwelt, Trauer und Liebe: Auf der Suche nach den verlorenen Gefühlen
  • 2. Metarealitäten der Wahrnehmung und das moderne Subjekt
  • 2.1 Allegorisches Figurenkonzept zwischen Solipsismus und Schizophrenie
  • 2.2 Räumlich strukturierte Weltbilder: Raumzeitliche Paradoxa und innere Brennpunkte
  • 2.3 Reise, Therapie und Kunstschaffen: Konstruktion eines Chronotopos
  • 3. Ausblick: Textimmanente Wahrnehmung als Forschungsfeld
  • 3.1 Textimmanente Wahrnehmung als Forschungsfeld der Literaturwissenschaft
  • 3.2 Textimmanente Wahrnehmung als interdisziplinäres Forschungsfeld
  • VIII. Bibliografie
  • 1. Primärliteratur
  • 2. Sekundärliteratur zu Gazdanov
  • 3. Sekundärliteratur: Narratologie und Konzepte der Wahrnehmung
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Jänner 2018 als Dissertation an der Universität Graz eingereicht und im Mai 2018 ebendort approbiert. Sie geht auf mein durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) finanziertes DOC-Projekt Wahrnehmungsprozesse als Textstrategie der Subjekt(ab)bildung bei Gajto Gazdanov (01.08.2014–30.09.2016) zurück.

Zu dieser Zeit beschäftigte mich besonders der Zusammenhang zwischen Individuum und Außenwelt; sinnliche und emotionale Wahrnehmung betrachte ich mit Kant als Schnittstelle, an der die Konzeptualisierung sowohl des Subjekts als auch seiner äußeren Realitätserfahrung stattfindet. Trotz unterschiedlicher Terminologie wird Wahrnehmung in allen wissenschaftlichen Disziplinen reflektiert, da sie jenen Ungenauigkeitsfaktor bedingt, der mit Kant die absolute Erkenntnis verhindert. Mein interdisziplinärer Theorieentwurf ergab sich aus meinen Studien der russischen und französischen Philologie sowie der Psychologie und Philosophie. Die scheinbare Unvereinbarkeit dieser Disziplinen, die einander sowohl hinsichtlich ihrer Methodik als auch ihres Erkenntnisinteresses mit einem gewissen Unverständnis gegenüberstehen, bot sich mir seit Langem als Herausforderung dar.

Die unterschiedliche Rezeption von Michail Bachtin als Philosoph oder als Vordenker der Narratologie macht dies auf eindrückliche Weise deutlich, denn während Bachtins Denken textimmanente Strukturen in Analogie zu solchen der Lebenswelt begreift, verwendet die literaturwissenschaftliche Ontologie (Wolf Schmid u.a.) dieselben Quellen mit dem Anliegen, die Trennung zwischen beiden zu verdeutlichen, um sich, im zweiten Schritt, auf Texte zu beschränken. Diese klare Trennung bildet eine wichtige Grundlage für den Wissenschaftlichkeitsanspruch der Narratologie, sind doch die inneren Ordnungen von Texten einsehbar und belegbar, nicht jedoch jene im Denken ihrer UrheberInnen.

Die in dieser Arbeit gewählte ontologische Verbindung von Narratologie und Psychoanalyse gestaltet sich als natürlich, da beide eine textimmanente Vorgehensweise vorsehen; ihre Kombination mit Psychologie und Philosophie bedarf dagegen einer Reflexion, zumal die empirische Psychologie sich nicht an Denksystemen, sondern an materiellen Vorgängen orientiert und die Philosophie, wie zuvor erläutert, je nach DenkerIn auf unterschiedliche Realitätssysteme bezogen werden kann. Gerade unter Rückbeziehung der Narratologie auf ihre slawischen Ursprünge wird die philosophisch praktizierte Vergleichbarkeit unterschiedlicher Realitätssysteme erneut plausibel, da etwa Michail Bachtin, Vladimir Propp und Aleksandra Okopień-Sławińska von Motiven ausgehen, deren Anfänge im menschlichen Denken liegen, und die sie daher auf unterschiedlichen Ebenen (textuell und lebensweltlich) in vergleichbarer Form annehmen und berücksichtigen. Auf dieser Basis können auch neuere Ergebnisse und Theorien der Psychologie und Philosophie als lebensweltliche ‚Motive‘ einer nicht oder nicht ausschließlich textuellen Erkenntnisform in einer Analogiebeziehung zu textuellen Motiven betrachtet werden. ← 15 | 16 →

Bachtins Chronotoposbegriff, der ebenfalls mit der Motiveinheit operiert, bildet sowohl thematisch als auch strukturell ein ontologisches Kernkonzept dieser Arbeit, denn sinnliche und emotionale Erfahrung ist, so meine hier entworfene Argumentation, an ebenjener Einheit von Subjekt, Raum und Zeit zu verorten, da sie an deren Schnittstelle stattfindet und dort sowohl als verbindendes Element als auch als Parameter der wechselseitigen Relation zwischen diesen Kategorien fungiert. Vielmehr noch denn als Kategorie physischer Bewegung interessiert der Chronotopos Bachtin als ‚Moment der Menschwerdung‘. Gerade dieses und seine Veränderungen stehen auch in der vorliegenden Studie im Zentrum, denn die damit konzeptualisierte Qualität innerer Bewegung scheint direkt aus den Interferenzen zwischen sinnlicher Weltwahrnehmung und emotionalem Welterleben ableitbar.

Die in der vorliegenden Studie gewählte Fragestellung ist thematisch in Psychologie und Philosophie zu verorten; besonders wichtig ist mir die oben ansatzweise umrissene methodische Rückbindung an die philologischen Disziplinen. Als Basis dieser interdisziplinären Verbindung wurde eine textimmanent-typologische Vorgehensweise gewählt, da diese sowohl für die Narratologie als auch für die empirischen Wissenschaften charakteristisch ist.

Während Sinneswahrnehmung in der Literaturwissenschaft zumindest bei Erzähltexten bislang auf geringeres Interesse stieß, wurden Emotionen seit dem ‚emotional turn‘ in den 1990er Jahren vielseitig und produktiv interdisziplinär untersucht. Dabei nähern sich textimmanent vorgehende literaturwissenschaftliche Arbeiten Gefühlen schwerpunktmäßig als rhetorischer, ästhetischer oder kultureller Kategorie; daneben verlagerte sich das Interesse auf die Erschließung neuer Bereiche in Rezeptions- und Produktionsästhetik. Einhergehend mit neurologischen Erkenntnissen und kulturtheoretischen Überlegungen wurden Konzepte wie u.a. Empathie, Affekt, Instinkt und sozial erworbene Gefühlsregeln interdisziplinär diskutiert. (vgl. dazu ausführlicher Kap. 1.3) Einschlägige Fragestellungen werden u.a. am Zentrum für Kulturwissenschaften der Universität Graz beforscht, wo ich als assoziiertes Mitglied des Doktoratsprogamms Kultur-Text-Handlung an der Organisation einer Konferenz und der anschließenden Publikation eines Sammelbandes zur Verbindung von emotionalem Empfinden und dem physischen Prozess des Schreibens (Writing Emotions) beteiligt war.

Wesentliche Unterschiede im thematischen Fokus der vorliegenden textimmanenten Studie zu den genannten Ansätzen liegen in ihrer starken Gewichtung der Perzeption – das Projekt nahm bei der sinnlichen Wahrnehmung seinen Ausgang – sowie in ihrem Schwerpunkt auf synästhetischen und psychosomatischen Verbindungen zwischen sinnlicher und emotionaler Erfahrung, die hier stets als miteinander verschränkt betrachtet werden. Während in der textimmanenten Literaturwissenschaft üblicherweise komplexe Handlungsdynamiken untersucht werden, wofür psychologische Figurenkonzeptionen einen geeigneten Ausgangspunkt bilden, interessiert sich die vorliegende Arbeit nicht für konkrete Akteure auf der Figurenebene, sondern für autorspezifisch charakteristische verallgemeinerbare Konstellationen. Im Zentrum der Analyse steht die Repräsentation von Sinneseindrücken und Gefühlen auf Ebene des abstrakten Autors sowie die davon ← 16 | 17 → abzuleitenden textimmanenten Vorstellungen von Subjekt und Weltbild in einem größeren Kontext.

Sinnliche und emotionale Erfahrungen werden hier zudem auf einer außer- oder vorsprachlichen Ebene untersucht. Anders als in der bisherigen Tradition textzentrierter literaturwissenschaftlicher Ansätze, die sich sprachlich reflektierten, rhetorisch konstruierten oder je nach historischem Kontext ästhetisch entworfenen Gefühlen widmen, liegt das Interesse in der vorliegenden Arbeit auf indexikalischen symptomatischen Anzeichen, die aus geschilderten Situationen (aus Sinneinheiten bzw. Motiven) sowie aus deren Verhältnis zum Gesamttext indirekt erschlossen werden können. Diese außersprachliche Ebene schärft den Blick für unterschwellig ausgedrückte Informationen, die etwa im Kontext von Gefühlsunterdrückung, Traumatisierung oder bei nicht-instinktiven Verhaltensweisen, die durch Sozialisierung erworbenen werden, eine zentrale Rolle spielen. Zufällig machte ich gerade am Tag nach der Einreichung dieser Arbeit auf einer Konferenz die Bekanntschaft von Eva Kowollik aus dem interdisziplinären Forschungskreis Empathie – Tabu – Übersetzung in Halle und Heidelberg, wo Fragestellungen behandelt werden, die in Forschungsinteresse und Methodik Anknüpfungspunkte mit dieser Arbeit aufweisen; es bleibt zu hoffen, dass wir diese in der künftigen Zusammenarbeit weiter nutzbar machen werden.

Aufgrund des breiten interdisziplinären Spektrums ihrer theoretischen Grundlagen erhebt die vorliegende Arbeit in keinem Bereich Anspruch auf Vollständigkeit. In der Auswahl der verwendeten Konzepte wurde hauptsächlich auf innerhalb der Ursprungsdisziplinen etablierte und daher prototypische Theorien zurückgegriffen, wobei zugleich die Relevanz für eine interdisziplinäre Erforschung motivischer und struktureller Aspekte von textimmanenten Sinneswahrnehmungen und Emotionen das Hauptkriterium bildete. Strukturelle Zusammenhänge zwischen parallel formulierten Konzepten herzustellen, war mir dabei ein wichtiges Anliegen. In dieser Sichtweise resultieren ähnliche Konzepte nicht zwingend aus einer genuinen Verbindung zueinander; dennoch wurde nach Möglichkeit versucht, ideengeschichtliche Zusammenhänge zu verdeutlichen. ← 17 | 18 →

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1.  Einleitung

Sinne und Emotionen bilden das Prisma jeder Selbst- und Welterfahrung und damit ein unumgängliches Moment der im Individuum verankerten Subjektivität. Dies veranlasste Kant dazu, von einer empirischen Realität zu sprechen, über die die absolute Realität nur indirekt zugänglich sei. Die Psychologie teilt diese Sichtweise und betrachtet Sinne und Emotionen als individuell geprägt. Als kulturelle Konstrukte tragen literarische Texte ebenfalls Spuren einer spezifischen Subjektivität sowie einer daran erkennbar werdenden Individualität.

In den Texten des russischen Emigrationsschriftstellers Gajto Gazdanov (1903–1971) stehen sinnliche Wahrnehmungen so stark im Vordergrund, dass die Handlung von einem Übermaß an vorwiegend räumlich strukturierten deskriptiven Episoden gleichsam in den Hintergrund gedrängt wird. Dieses Merkmal bildete den Anlass für zahlreiche negative Kritiken seiner Zeitgenossen. Posthum zog es das Interesse des ungarisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers László Dienes auf Gazdanovs Werk und führte so zur Wiederentdeckung dieses Autors, der als Angehöriger der ‚unbemerkten Generation’ (nezamečennoe pokolenie) in Vergessenheit geraten war. Da die so bezeichneten AutorInnen im Ausland in ihrer Muttersprache schrieben, in der UdSSR jedoch lange Zeit nicht publiziert wurden, rückten sie mit dem Schwinden ihrer Hauptleserschaft, der zeitgenössischen Emigrantengeneration, aus dem Blickfeld.

1.1  Leben und Werk Gazdanovs

Geboren wurde Gazdanov 1903 in eine ossetische Familie in Sankt Petersburg. Aufgrund der wechselnden Arbeitsplätze seines Vaters, u.a. in Sibirien und Weißrussland, war seine Kindheit durch Diskontinuitäten geprägt. Einschneidende Erfahrungen bildeten die frühen Verluste seiner zwei Schwestern sowie des Vaters. Als Gymnasiast in Charkov schloss er sich 1919 noch vor Ende seiner Schullaufbahn als Freiwilliger der Weißen Armee an und kämpfte bis 1920 im Bürgerkrieg. Über Konstantinopel und Schumen (Bulgarien), wo er 1923 das Gymnasium abschloss, emigrierte er nach Paris und verbrachte dort den überwiegenden Teil seines Lebens.

Die durch Hunger und Armut geprägten schwierigen Lebensumstände im Pariser Exil, wo er sich als Hilfsarbeiter und Taxifahrer verdingte, erhielten ein Gegengewicht in Gazdanovs beständiger Sinnsuche und seinem aktiven Eintreten für soziale und kulturelle Werte. Neben seiner literarischen Tätigkeit zeichnete sich dies in seinem begonnenen Studium der Soziologie an der Sorbonne ab, ebenso in seiner Mitgliedschaft bei den Freimaurern, seinem aktiven Engagement für verfolgte Juden und in der Résistance sowie in der späteren journalistischen Tätigkeit. Tatkräftig mitgetragen wurden seine sozialen Aktivitäten von seiner um elf Jahre älteren Frau Faina Lamzaki, einer griechischstämmigen Odessitin, mit der er seit 1936 liiert war. Mit einer festen Anstellung bei Radio Svoboda (Radio Liberty) ab ← 19 | 20 → 1953 erlangte Gazdanov im Alter von 50 Jahren endlich die langersehnte finanzielle Absicherung. Im Rahmen dieser Tätigkeit übersiedelte er 1967 nach München, wo er 1971 an Lungenkrebs starb. (vgl. V/487–496)1

Am Beginn von Gazdanovs literarischer Laufbahn stehen seine seit 1926 vereinzelt publizierten Erzählungen. Wie die späteren Texte tragen sie sozialkritische Züge und behandeln Alltagsmotive mit Schwerpunkten auf den Themen Liebe, Tod, Bürgerkrieg, Pariser Emigrantenmilieu und Doppelgängertum; manche stellen Vorstufen späterer Romane dar. Intertextuelle Bezüge, besonders zu Puškin, Tolstoj und Poe (dem Lieblingsautor von Gazdanovs Jugendliebe Tat’jana Paškova), sind seit diesen Anfängen präsent. Für den ersten Roman, Večer u Klėr (1929), bildet Proust einen wichtigen Bezugspunkt, etwas später werden Parallelen zu Nabokov und Camus immer deutlicher.

Schlagartige Berühmtheit erlangt Gazdanov zumindest in Emigrantenkreisen mit seinem von Maksim Gor’kij gelobten ersten Roman, in dem sich stilistisch eine deutliche Entwicklung gegenüber den frühen Erzählungen abzeichnet. Während deren Handlung aufgrund ihrer asyndetischen Form mitunter schwer nachvollziehbar und nicht ausreichend logisch motiviert erscheint, ist der Gedankenstrom in Večer u Klėr stringent. Zudem demonstriert Gazdanov hier einen eleganten Stil mit für die russische Literatur unüblich langen Sätzen, der, zusätzlich zu motivischen Analogien, an Proust gemahnt. Seine weiteren Romane fanden bei Kritik und Leserschaft weniger Anklang. Istorija odnogo putešestvija (1934) handelt von der Selbstfindung eines jungen russischen Emigranten in Paris; Polet (1939) erinnert stark an Turgenev und verarbeitet in modifizierter Form die inhaltliche Konstellation von Pervaja ljubov’; Nočnye dorogi (1939) gibt Einblicke in das Pariser Immigrantenmilieu aus der Perspektive eines Nacht-Taxifahrers. Dieser Roman ist Faina Lamzaki gewidmet und bezeichnenderweise ist er der einzige, in dem das emotionale Zentrum nicht eine Figur vom Typus der attraktiven, leicht hysterisch gezeichneten Klėr bildet, sondern eine gütige ältere Freundin des Protagonisten.

Seit den 1930er Jahren entstanden daneben einige höchst eindrucksvolle Erzählungen, denen die Kritik zwar ein Fehlen von Handlung vorwarf, jedoch auch eine besondere stilistische Qualität attestierte. In diesen Erzählungen kommt die Bedeutung von Wahrnehmung und Emotion bei Gazdanov sehr deutlich zum Ausdruck, denn sie geben das Erleben der Protagonisten aus einer passiv-kontemplativen Haltung wieder und reflektieren dabei in sehr konkreter Form synästhetische Prozesse. Gleichsam als Reaktion auf eine Fülle an Sinneseindrücken spüren die Figuren ihren unspezifischen Gefühlsregungen nach, wobei sich die beiden Ebenen verschränken. Affektive und psychotische Erkrankungen scheinen einander zu bedingen, Gefühle werden physisch erfahren und die Protagonisten erleben kleinste Handlungsmomente gleichzeitig aus völlig unterschiedlichen Perspektiven, was zu widersprüchlichen emotionalen Reaktionen führt. ← 20 | 21 →

Der formal avancierteste Roman ist Prizrak Aleksandra Vol’fa (1947), der als einziger schon kurz nach dem Erscheinen in mehrere Fremdsprachen übersetzt wurde. Die bereits in früheren Texten vorliegenden Anzeichen eines Kriegstraumas des Protagonisten bilden hier das Zentrum. Wie ebenfalls bereits in Nočnye dorogi angekündigt und wenig später in Vozvraščenie Buddy (1949) noch deutlicher ausgeführt, enthält Prizrak Aleksandra Vol’fa eine Parallelhandlung aus dem Genre des Detektivromans, die emotionale Ereignisse als assoziative Beifügung symbolisch verdeutlicht.

Alle literarischen Texte Gazdanovs können als Analysen von Emotionen gelesen werden. In Piligrimy (1953) wird mit der Autismus-Thematik ein seit den Anfängen präsenter Aspekt im Detail aufgerollt, was hier erstmals den Versuch des Protagonisten konkret werden lässt, seine emotionale Bindungslosigkeit zu überwinden. Diese Entwicklung vollzieht sich in der fürsorglichen Liebe zu einer Partnerin aus prekären Familienverhältnissen. Daran anschließend nimmt der Protagonist von Probuždenie (1965) eine Traumapatientin in seine Obhut. In der Unempfänglichkeit für Gefühle zeichnen sich symptomatische Analogien zwischen Autismus und Trauma ab, die in diesen Texten auch therapeutisch auf ähnliche Weise überwunden werden. Im letzten Roman, Ėvelina i ee druz’ja (1968), der die wesentlichen Themen von Gazdanovs Œuvre zusammenführt, bringt der Autor schließlich seine Überlegungen zu Ästhetik und Ethik miteinander in Einklang. Der Hauptfigur gelingt über die Verbindung von Kunst und Liebe sowohl ihre künstlerische Selbstverwirklichung als auch die menschliche Reifung mittels sozialer Anteilnahme.

Die poetologische Entwicklung von Gazdanovs Schaffen legt nahe, sein Œuvre anhand der Romane in drei Hauptphasen zu gliedern, denen auch die Erzählungen zuzuordnen sind. Večer u Klėr und Istorija odnogo putešestvija bilden demnach die ‚frühe‘ Schaffensperiode; Polet und Nočnye dorogi kommt eine Sonderstellung zu – sie markieren einen Übergang von der ersten zur zweiten, ‚mittleren‘ Phase, die ihrerseits Prizrak Aleksandra Vol’fa und Vozvraščenie Buddy umfasst; die ‚späte‘ Schaffensperiode repräsentieren schließlich Piligrimy, Probuždenie und Ėvelina i ee druz’ja, wobei der letzte Roman wesentliche poetologische Merkmale aufweist, die bereits für die vorhergehenden Phasen charakteristisch sind.

1.2  Textimmanente Wahrnehmung: Forschungsvorhaben und ontologischer Standpunkt

Die vorliegende Arbeit widmet sich Sinneswahrnehmung und Emotion bei Gazdanov aus textimmanenter Perspektive. Unter Berücksichtigung interdisziplinärer Konzepte aus Psychologie, Psychoanalyse, Philosophie und den Naturwissenschaften fragt sie nach der Systematik von deren motivischer Repräsentation, deren Wechselbeziehung sowie einem davon abzuleitenden Weltbild. Die Spezifik literarischer Repräsentation von Wahrnehmung gegenüber anderen Motiven besteht in ihrer Position an der Schnittstelle zwischen Subjekt, Raum und Zeit, wo die Dimensionen des Bachtin’schen Chronotopos zusammenlaufen. Dementsprechend spiegeln diese Motive spezifische Menschenbilder und ontologische Selbstverortungen des ← 21 | 22 → Subjekts wider, die sich gut für die Verbindung mit den oben genannten interdisziplinären Konzepten eignen.

Die Untersuchung textimmanenter Motive im Kontext historisch-anthropologischer Kategorien verbindet die Ansätze von Michail Bachtin, Vladimir Propp und Aleksandra Okopień-Sławińska, welche die wichtigsten konzeptuellen Bezugspunkte für die vorliegende Arbeit darstellen. Die Qualität dieser Zugänge liegt darin, dass sie von psychologischen Zuschreibungen im Bereich der Produktionsästhetik wegführen und zugleich den Blick auf allgemeinere weltanschauliche Zusammenhänge sowie deren individuelle Spezifik freilegen.

Das zentrale Anliegen dieser Arbeit besteht darin, Sinneswahrnehmung und Emotion als Bestandteile der empirischen Realität im Sinne Kants zu untersuchen. An seine Sichtweise anknüpfend, werden beide als Mechanismen verstanden, die notwendigerweise jede Erfahrung strukturieren und dabei selbst meist unbewusst bleiben. Die Schwierigkeit, Wahrnehmungen an sich zu beschreiben, besteht darüber hinaus darin, dass sie stets an ein wahrnehmendes Subjekt gebunden sind und sich zugleich notwendigerweise auf ein Objekt innerhalb oder außerhalb dieses Subjekts beziehen, weshalb sie in einer reinen, isolierten Form nicht vorkommen. Sinnliche und emotionale Erfahrungen müssen folglich erst indirekt aus den perzipierten Inhalten rekonstruiert werden, wobei zusätzlich die Kategorien von Subjekt und Weltbild als Einheiten des Synkretismus Subjekt-Wahrnehmung-Weltbild ins Blickfeld rücken.

Ein Blick auf die Narratologie, die hier mit Wolf Schmid als Ontologie des Textes verstanden wird, zeigt, dass die Literatur eine geeignete Materialgrundlage für die Erforschung dieser Schnittstelle zwischen Subjekt und empirischer Realität darstellt. Seit den Anfängen dieser Disziplin wird – etwa von Käte Friedemann – die These vertreten, dass jede Handlung erst im Erleben durch (mindestens) ein Bewusstsein eine Struktur erhält, durch die sie erzählbar wird – so fragmentiert diese auch sein mag. Gérard Genette formuliert die hier ebenfalls vertretene Annahme, dass Wahrnehmungen und Ordnungsprozesse ein intuitives Element literarischer Texte darstellen (vgl. Genette 2007: 277f.), das folglich nicht konstruiert ist, sondern aus der subjektiven Erfahrung von empirischer Realität und spezifischen Annahmen über diese entsteht.

Die Bezüge zur Psychoanalyse sind dem gewählten Forschungsfeld eingeschrieben. Ebenfalls ausgehend von den Versprachlichungen eines Individuums, untersucht sie dessen empirische Realität anhand wiederkehrender emotional geprägter Muster der Wahrnehmung, die dessen Denken Struktur verleihen und die subjektive Sicht auf erlebte Inhalte bestimmen. Stärker auf quantitativ erfassbare interindividuelle Erscheinungen bezogen, befassen sich Wahrnehmungs- und Emotionspsychologie mit ähnlichen Zusammenhängen und ergänzen das auf individuelle Aspekte fokussierte Feld der Psychoanalyse so um das Wissen über normative Erscheinungen. In Hinblick auf die textimmanente Untersuchung der empirischen Realität eines Autors erscheint es sinnvoll, beide an sich voneinander unabhängigen Ebenen – die individuellen Ordnungen und das Wissen um allgemeine Tendenzen – zu berücksichtigen, um sie kontrastiv miteinander abzugleichen und damit sowohl ← 22 | 23 → Charakteristika von Wahrnehmung und Emotion an sich als auch deren autorspezifische Besonderheiten ins Sichtfeld zu rücken.

Neben dem Versuch, anhand der konkreten im Textkorpus verankerten empirischen Realität allgemeine Annahmen über Beschaffenheit und Funktionsweise von Wahrnehmung und Gefühlen sowie über diesbezügliche Spezifika im Denken des konkreten Autors abzuleiten, stellt die Arbeit zweitens die Frage nach den sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Konzept von Subjekt und Weltbild. Diese beiden Kategorien liegen interdisziplinär näher bei Philosophie und Naturwissenschaften als bei der Psychologie. Die Schwierigkeit der entsprechenden Modelle besteht darin, dass sowohl die Welt als auch das Subjekt die empirische Realität zwar bedingen, selbst jedoch, wenn man Wittgensteins Beobachtung im Tractatus logico-philosophicus (1921 bzw. 1933) folgt, außerhalb von ihr liegen.

5.632Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.
5.633[…] [N]ichts am Gesichtsfeld läßt darauf schließen, daß es von einem Auge gesehen wird.
[…]
5.634[K]ein Teil unserer Erfahrung [ist] auch a priori […].
Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein.
Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein.
Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori. (Wittgenstein 2006: 68)/

Als Konsequenz daraus wendet sich die Analyse auch hier bewusst subjektiven Kategorien zu und fragt danach, auf welche Subjektvorstellung und auf welches Weltbild die in der empirischen Realität verankerten Zusammenhänge hindeuten. Methodisch bedeutet dies abermals den Abgleich zwischen spezifischen Strukturen und ontologischen Annahmen im Umfeld von Philosophie und Naturwissenschaften, um daraus historisch geprägte und autorspezifische Vorstellungen abzuleiten und in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten.

Die Textanalyse geht von wiederkehrenden Motiven in Gazdanovs Œuvre aus, von denen sich allgemeine, autorspezifisch mitgeprägte Konzepte von Sinneswahrnehmung und Emotion sowie von Subjekt und Weltbild ableiten lassen. Auf die Narratologie rückbezogen, sind diese Einheiten daher jeweils auf Ebene des abstrakten Autors (N3) zu verorten, die nach Okopień-Sławińska und Schmid ontologisch an der Schnittstelle zwischen Textwelt und realer Welt steht und das Bild eines Urhebers zeichnet, das indexikalisch auf den Autor verweist, jedoch keine Schlüsse auf diesen erlaubt.

Die Motivauswahl folgt Genettes Konzept eines ‚offenen Strukturalismus‘ (vgl. Genette 2007: 423f.), was bedeutet, dass sie in enger Bezugnahme auf das Textmaterial getroffen wird. Bestehende Typologien aus den genannten Referenzdisziplinen, prototypische Wahrnehmungen und Emotionen sowie etablierte Weltbilder im Umfeld und außerhalb des Schaffenskontextes bilden lediglich einen Anhaltspunkt und werden an den empirischen Bedarf adaptiert. Weder für die im Theorieteil präsentierten Konzepte noch für die Auswahl der in die Analyse aufgenommenen Ausprägungen wird ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, die ein offener ← 23 | 24 → Strukturalismus auch gar nicht anstrebt. Die gewählten Kategorien versprechen dennoch sowohl für die Analyse textimmanenter Wahrnehmung an sich als auch für deren Vorliegen in Gazdanovs Werk repräsentative Ergebnisse und eröffnen Anknüpfungspunkte für die Rekonstruktion von Wechselbezügen zwischen Welt- und Menschenbild, Gefühlsempfinden und Wahrnehmung.

1.3  Textimmanente Wahrnehmung und der ‚emotional turn‘ in der Literaturwissenschaft

Wie im Vorwort angesprochen, stehen Fragestellung und Herangehensweise der vorliegenden Arbeit aufgrund ihres starken Interesses an der Sinneswahrnehmung sowie ihres Verständnisses von sinnlicher und emotionaler Erfahrung als außer- bzw. vorsprachlicher Kategorie, die sie textimmanent ontologisch zu fassen versucht, nicht in so engem Zusammenhang mit den literaturwissenschaftlichen Forschungen im Rahmen des ‚emotional turn‘, wie ihr Name vermuten lassen könnte. Dennoch bilden die sich in diesem Kontext nun seit fünfundzwanzig Jahren abzeichnenden Entwicklungen einen Teil ihres wissenschaftsgeschichtlichen Entstehungskontextes, der im Folgenden skizziert werden soll.

In der Einleitung des Handbuchs Literatur & Emotion (1016) verorten Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch die literaturwissenschaftliche Forschung im Zeichen des ‚emotional turn‘ als Analyse von sprachlich vermittelter Emotion.

Der Beitrag der Literaturwissenschaft zur Theorie der Emotionen kann nur darin bestehen, die sprachliche und vor allem die textuelle Vermitteltheit menschlicher Emotionen zu verstehen. Denn literarische Texte sind all dies: Spielformen, Laboratorien, Reflexionsmedien sprachlich vermittelter Emotion. (Koppenfels 2016: 17)

Dieser Eingrenzung entsprechend, wurden Emotionen in der jüngeren Forschungstradition um den ‚emotional turn‘ zum einen auf sprachlicher Ebene als eine rhetorische Form und ästhetisch konstruierte Kategorie untersucht; so etwa in dem von Susanne Knaller und Rita Rieger herausgegebenen Sammelband Ästhetische Emotion (2016). Zum anderen öffnete sich die Literaturwissenschaft unter Überwindung der traditionellen Textzentriertheit für Fragen der Rezeptions- und Produktionsästhetik; dies hängt sicherlich damit zusammen, dass in den Anfängen der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung die Hermeneutik im Sinne einer ‚Einfühlungslehre‘ eine wichtige Rolle spielte. (vgl. Müller-Tamm 2016: 83–99; Weber-Guskar 2009) In ähnlicher Form untersucht Sylvia Sasse das Phänomen der ‚Gefühlsübertragung‘ als produktions- und rezeptionsästhetischen Prozess zwischen Autor und Leser in Lev Tolstojs philosophischem Denken, das sich auch textimmanent in seiner literarischen Poetik widerspiegelt, (vgl. Sasse 2016: 481–495) sowie Judith Kasper Trauma und Affektabspaltung in der Holocaust-Literatur. (Kasper 2016: 498–511) Vergleichbare Fragestellungen behandeln außerdem die Beiträge in dem von Susanne Knaller, Sabine Schönfellner, Gudrun Tockner und mir herausgegebenen Sammelband Writing Emotions (2017). ← 24 | 25 →

In Letzterem verfolgen die Beiträge von Vera Nünning zu Emotionsdarstellung und deren rezeptiver Wirkung sowie von Anna Ovaska zur autobiografischen Auseinandersetzung mit Depressionen Ansätze einer Verbindung zwischen textimmanenten Repräsentationen von Emotionen und extratextuellen Komponenten, wobei sie zumindest im Bereich der textimmanenten Phänomene aus einem ähnlichen Blickwinkel argumentieren wie die vorliegende Arbeit in Abschnitt VI zum Verhältnis von Subjekt und Weltbild. Ähnliche Bezüge finden sich zu Sylvia Sasses Beispielen für die textuelle Repräsentation von Tolstojs Philosophie der ‚Gefühlsübertragung‘ sowie zu Robert Stockhammers Auseinandersetzung mit dem Phänomen der ‚Einfühlung‘ bei J. M. Coetzee. (vgl. Stockhammer 2016: 512–528) Aktuelle und anschauliche Analysen zu prototypischen Gefühlen in Literatur und Kultur bietet auch der Sammelband Große Gefühle (2007) von Ottmar Ette und Gertrud Lehnert. Wenngleich ohne explizit vorgebrachte einschlägige theoretische Intention, behandeln diese Analysen Schlüsselkonzepte von autorspezifischen philosophischen Weltbildern, die im Grenzbereich der Interferenz zwischen Sinneswahrnehmung und Emotion zu verorten sind.

Bedeutsam ist außerdem die mit Judith Kaspers Artikel bereits erwähnte literaturwissenschaftliche Forschung zu Traumata. Mit besonderer Relevanz auch für den vorliegenden posttraumatischen Kontext des Kriegstraumas nähert sich die Literatur solchen Grenzerfahrungen häufig anhand mimetischer Darstellungen des traumatischen Erlebens und erzeugt fragmentierte Texte mit brüchiger Zeitstruktur. Die im Rahmen des Forschungskreises Empathie – Tabu – Übersetzung in Halle und Heidelberg entstandenen Sammelbände Empathie im Umgang mit dem Tabu(bruch). Kommunikative und narrative Strategien (2014) sowie Zerreißproben: Trauma – Tabu – EmpathieHürden (2017) führen das Potenzial von Interdisziplinarität in diesem Bereich eindrücklich vor Augen; u.a. Literaturwissenschaftler, Psychologen und Mediziner nähern sich hier ähnlichen Themen jeweils aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Disziplin.

Während rhetorische und ästhetische Besonderheiten textimmanenter Emotionen in der vorliegenden Studie zugunsten ihrer produktionsästhetisch scheinbar weniger bewusst reflektierten vorsprachlichen Merkmale vernachlässigt werden, was aufgrund der gewählten textimmanenten Perspektive auch für rezeptions- und produktionsästhetische Kategorien gilt, die AutorInnen und LeserInnen einschließen würden, erscheint die Berücksichtigung soziologischer Aspekte zumindest wegen der vordergründigen theoretischen Auseinandersetzung mit den Ansätzen der Warschauer StrukturalistInnen-Gruppe eher angebracht. Wie literarische Texte befassen sich Soziologie, Ethnologie und Kultursemiotik, so Schamma Schahadat, mit konstruierten Emotionen – ob und welche emotionalen Muster angeboren oder sozial konstruiert sind, wird dabei ebenfalls diskutiert.

Und die Literaturwissenschaft, die für literarische Emotionen seit jeher auf das Affektrepertoire der Rhetorik zurückgreift, befasst sich ohnehin nicht mit natürlichen, sondern immer bereits codierten Gefühlen. (Schahadat 2016: 122) Soziologische, ethnologische und auch historische Emotionsstudien […] haben ganz ähnliche ← 25 | 26 → Erkenntnisinteressen wie die Literaturwissenschaft auch: All diese Disziplinen wollen herausfinden, wie Emotionen konstruiert, codiert und funktionalisiert werden, wobei sie den Schwerpunkt auf die kulturelle beziehungsweise ästhetische Verankerung oder auch ‚Gemachtheit‘, wie es im russischen Formalismus heißen würde, legen. Es geht um emotionales Management, um emotionale Gemeinschaften (Rosenwein), um die Codierung und den sozialen Sinnhorizont von Gefühlen; Gefühle werden als sinn- und ordnungsstiftend (Hochschild) begriffen oder aber auch als Ordnungsbedrohung (Illouz) beziehungsweise als ästhetisch-emotionaler Freiraum (Wegmann). Dabei sind gerade in einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft die soziologischen und ethnologischen Theorien von eminenter Bedeutung, denn sie legen nicht nur die (kulturelle) Konstruktion von Emotionen frei, sondern auch ihre historische Instabilität […]. (ebd. 138)

In einigen globalen weltanschaulichen Ausgangspunkten liegen solche Überlegungen auch der vorliegenden Arbeit zugrunde; dies gilt etwa für das Verständnis von Gefühlen als sinn- und ordnungsstiftend, was den Grund dafür darstellt, dass sie sowohl als ordnungsbedrohend als auch als ästhetisch-emotionaler Freiraum erlebt werden können. Aufgrund des gewählten Fokus auf einem allgemein-anthropologischen Selbstverständnis und der phänomenologischen Herangehensweise steht in der vorliegenden Studie dabei allerdings nicht die Frage nach kulturspezifischen Aspekten im Zentrum, da dies ihren Rahmen sprengen würde. Die Analyse berücksichtigt Mechanismen der Sinnstiftung oder Bedrohung, da diese die emotionale Ambivalenz des Subjekts erklären können. Kulturelle Hintergründe werden hier in Form intertextueller Zusammenhänge mit den relevanten Nationalliteraturen – der russischen und der französischen – zumindest teilweise ebenfalls einbezogen.

Interdisziplinäre Verbindungen zu Psychoanalyse, Psychologie, Philosophie, Kulturwissenschaft, Geschichte, Ethik, Linguistik, Informatik und sogar Robotertechnologie (vgl. Schiewer 2014, Winko 2003) werden seit den Anfängen des ‚emotional turn‘ mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen verbunden. Es erscheint wenig verwunderlich, dass die meisten der daraus entstandenen Ansätze in sehr unterschiedliche Erkenntnisbereiche führen. So widmet sich etwa Katja Mellmanns Beitrag im Handbuch Literatur & Emotionen rezeptionsästhetischen Ansätzen und geht auf die dabei sinnvolle Nutzbarmachung der Methodik aus der empirischen Emotionsforschung für die Literaturwissenschaft ein. Die Autorin stützt sich auf Studien über neurologische Veränderungen während des Lesens und geht dabei auf primäre Empfindungen wie Lust, Empathie und Spannung ein (Mellmann 2016: 158–175), die im Folgenden aufgrund des textimmanenten Zugangs der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt werden.

Aus der interdisziplinären Bewegung des ‚emotional turn‘ ergeben sich in umgekehrter Richtung auch Annäherungen zwischen ansonsten weniger eng verbundenen Disziplinen. Beispielsweise widmen sich die Beiträge in dem von Agnieszka Będkowska-Kopczyk und Heinrich Pfandl herausgegebenen linguistischen Sammelband Phraseology and (naïve) psychology (2017) psychophysischen Phänomenen, die sich in Redewendungen verankert finden. Sie beziehen sich auf außersprachliche ← 26 | 27 → Konzepte und stehen dem Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit daher näher als manche emotionstheoretischen Weiterentwicklungen der Literaturwissenschaft.2

1.4  Aufbau der Arbeit

Seit Beginn der Gazdanov-Rezeption und -Forschung wurde auf die Bedeutung von Sinneswahrnehmung und Emotion hingewiesen. Die entsprechenden Ergebnisse bisheriger Analysen werden einleitend überblicksmäßig dargestellt. Anschließend verfolgt die Arbeit ein systematisches Vorgehen und widmet sich in jeweils drei Abschnitten theoretischen Grundlagen und analytischen Fragestellungen. Der Theorieteil beginnt mit einer narratologischen Verortung der formalen Kategorien, darauf folgen eine Diskussion zentraler ontologischer Modelle aus Philosophie und Naturwissenschaften sowie eine Darstellung psychologischer und psychoanalytischer Zusammenhänge im Bereich von Sinneswahrnehmung und Emotion. In der Analyse von Gazdanovs Œuvre verbinden sich jeweils Elemente aus unterschiedlichen Theorieteilen, um daran einschlägige motivisch repräsentierte Zusammenhänge in Figurenkonstellation, Wahrnehmung und Weltbild zu erschließen.

Der erste theoretische Abschnitt (Kap. I) nimmt eine Verortung des Gegenstands in der Narratologie vor. Da sich die Analyse jeweils mit Motiven befasst, werden diese zunächst als bildhafte Einheiten verstanden, die ein Moment der Wandlung implizieren. Daran anknüpfend erfolgt ihre ontologische Verortung im Textmaterial als Element der Handlung, das außerdem Träger der werkimmanenten Logik auf der Ebene des abstrakten Autors ist. Die ersten Entwürfe zu literaturontologischen Modellen wurden von der Warschauer StrukturalistInnengruppe aus einer historisch-soziologischen Perspektive erstellt, die einer späteren Rückbindung an interdisziplinäre Modelle konkrete Anknüpfungspunkte offenhielt. Von noch größerer Bedeutung für die vorliegende Fragestellung sind jedoch die hierfür herangezogenen philosophischen Ursprünge in den Arbeiten Michail Bachtins. Sein Blickwinkel auf das Motiv als Einheit, in der sich Subjekt, Raum und Zeit verbinden, und sein Versuch, hieraus jeweils ein Moment der ‚Wandlung‘ als spezifischer Form der ‚Menschwerdung‘ abzuleiten, bestimmen die Herangehensweise der Arbeit wesentlich. Einige Forschungsansätze behandeln, obwohl sie von ihren AutorInnen nicht direkt damit in Verbindung gebracht wurden, ähnliche Fragestellungen. Sie werden in diesem ersten Theorieabschnitt mit Bachtins besonders allgemein definiertem Konzept des Chronotopos zusammengeführt, um an diesem Aspekte zu betonen, die in der Analyse im Zentrum stehen, und zugleich die genuine Verbindung zwischen den Modellen aufzuzeigen. Hervorzuheben sind im Bereich des subjektzentrierten Blickwinkels die philologischen Ansätze von Propp und Greimas sowie jener Souriaus, der stark mit anthropologischen Kategorien operiert. Maurons Versuch, ein ← 27 | 28 → ähnliches Vorgehen als psychoanalytische Methode auszuarbeiten, verweist noch deutlicher auf das Potenzial der auch hier versuchten Verbindung zwischen textimmanenten Motiven und extratextuell definierten Modellen der Wahrnehmung. Wichtige Raummotive der Wandlung bestehen in der Grenzüberschreitung nach Lotman sowie in der Transgression nach Todorov. Von Interesse sind hier außerdem Doležels Ansatz zu möglichen Welten und Assmanns Arbeit zu Erinnerungsräumen. In Hinblick auf Motive der Zeitlichkeit bietet Genette die wichtigsten Impulse; während Zeit insgesamt seltener motivisch erfasst wurde, fallen in psychoanalytischen und philosophischen Ansätzen der Motivanalyse bei Freud, Jung, Fromm und Bachelard höchst unterschiedliche Annahmen über die in Bildelementen vorliegende Einschreibung von Zeitlichkeit ins Auge.

Im zweiten theoretischen Abschnitt (Kap. II) werden historische Weltbilder aus Philosophie, Psychoanalyse und den Naturwissenschaften vorgestellt. Gewählt wurden realitätsabbildende Modelle, die zentrale Eckpunkte im allgemeinen Welt- und Menschenverständnis markieren und bis heute aktuell geblieben sind. So ist etwa der seit der Antike anhand konkreter Sinnestäuschungen argumentierte Wahrnehmungsskeptizismus weiterhin nicht zu widerlegen. Die anthropomorphen Weltbilder, gegen die sich der Skeptizismus zu jener Zeit richtete, sind zwar längst nicht mehr zeitgemäß, als philosophische Modelle verdeutlichen sie jedoch Analogien, die nicht zufällig entdeckt und beschrieben wurden und Phänomene illustrieren, die in Bereichen wie der Synästhesie vorliegen bzw. zum Zweck etwa der psychoanalytischen Modellbildung nach Jung und Lacan bewusst in Gang gesetzt werden. Eine Gegenüberstellung neuzeitlicher Versuche, die Weltordnung und das Subjekt kognitiv zu erfassen, lässt die Subjektivität der empirischen Realität erkennen. Zugleich verdeutlicht der Rückbezug dieser Weltbilder auf andere Wissenschaftsdisziplinen, dass jeweils kontextspezifisch jedes von ihnen in gewissen Bereichen eine geeignete Vorlage der Modellbildung darstellt. Dasselbe gilt für die per se unvereinbaren Weltbilder von Mechanik und Quantenphysik, die einander dennoch ergänzen. Dass die zugänglicher erscheinende Perspektive des Subjekts auf sich selbst und seine direkte Umgebung ebenso ungewiss und schwer zu fassen ist wie Erkenntnisse über die Außenwelt, verdeutlichen die Weltbilder der Moderne: Die Phänomenologie wendet sich dem diskontinuierlichen Konglomerat der wahrnehmbaren Wirklichkeit zu und versucht dieses zu ordnen, das Vorliegen von Fremdbewusstsein steht plötzlich in Frage, ebenso wie die Gewissheit einer vollständigen Einsehbarkeit des Selbst aus der Innenperspektive. Da sich die für diese Probleme verantwortlichen Modelle einer Erschließung der subjektiven Wirklichkeit zuwenden, erhalten erstmals die Gefühle als strukturbestimmende Kategorie Gewicht. Sowohl Psychoanalyse als auch Kunsttheorie und Philosophie suchen nach Anhaltspunkten des Denkens, an denen sich das Individuum bei der Erfahrung von Selbst und Außenwelt orientiert. Auf diese Weise werden etwa in Jungs Archetypenlehre psychische Strukturen erschlossen; Kategorien wie Roland Barthes’ punctum schaffen darüber hinaus Begrifflichkeiten für unspezifischere Formen emotionaler Brennpunkte in der Außenwelt, die die Aufmerksamkeit des Subjekts bündeln, weil sie Gefühle auslösen. ← 28 | 29 →

Der dritte theoretische Abschnitt (Kap. III) beschäftigt sich mit Entstehung und Wirken von Sinneswahrnehmung und Gefühlen im Subjekt und orientiert sich dabei primär an der Wahrnehmungspsychologie, deren naturwissenschaftliche Sichtweise durch Konzepte aus Psychoanalyse und Philosophie ergänzt wird. Zentral ist hier die Feststellung, dass sowohl sinnliche als auch emotionale Erfahrungen erstens auf der subjektiven Interpretation physiologischer Reaktionen sowie des situativen Kontextes beruhen und dass zweitens zwischen ihnen zahlreiche Interferenzen stattfinden. So können etwa vegetative Erregungszustände in Abhängigkeit von Umgebungssituation und emotionaler Grundbefindlichkeit variabel als Anstrengung, Überforderung, Angst, Ärger oder körperliche bzw. emotionale Anziehung empfunden werden. Eine physiologische Quelle für Interferenzen bietet die Synästhesie, d.h. die individuell vorliegende Verknüpfung von Sinneseindrücken und/oder Emotionen, die gemeinhin getrennten Konzepten zugeordnet werden. Die Kleinkindforschung nach Piaget hat gezeigt, dass Wahrnehmungen und Gefühle bei Neugeborenen wenig differenziert werden, da ihre Zuordnung zu getrennten Konzepten erst durch kognitive Prozesse erlernt werden muss. Mit individuellen Unterschieden im Rahmen dieser Aufsplittung wird das Entstehen von Synästhesie erklärt, in der Hinderk Emrich ein Indiz dafür erkennt, dass Wahrnehmung immer eine individuelle Prägung aufweist. Besonders die schwerpunktmäßig heterogenen philosophischen Modelle zu Emotionen deuten darauf hin, dass solche Einteilungen auch kulturhistorisch mitbestimmt sind. Die in diesem Kapitel beschriebenen prototypischen Sinneswahrnehmungen und Gefühle werden vor diesem Hintergrund als disziplinär und kulturell geprägte Konstrukte betrachtet. Das Wissen um eine generelle Offenheit dieser Konzepte ist fundamental, da es in Hinblick auf die Analyse die Sensibilität für allgemeine oder spezifische Interferenzen schärft. Konkrete Fälle eines Zusammenwirkens von sinnlicher und emotionaler Erfahrung liegen etwa bei Erinnerung vor, die stark durch Gefühle bestimmt wird, wie auch im Kontinuum zwischen Psychosomatik und psychischen Störungen. So weisen Schizophrenie und Autismus neben Spezifika im Bereich der Wahrnehmung mit dem Negativismus auch eine affektive Komponente auf, während Traumata sowie Neurosen und Depressionen im Endstadium zu Halluzinationen führen können.

Der erste Analyseabschnitt (Kap. IV) widmet sich der prototypischen Figurenkonstellation in Gazdanovs Œuvre und bezieht sich dabei insbesondere auf Propps Konzept der funktionalen Handlungsträger. In Verbindung mit Greimas’ Ansatz werden jeweils Bezüge zu anderen Figuren im System hergestellt, die, wie bei Souriau noch deutlicher wird, durch Gefühle definiert sind. Das daraus resultierende Weltbild bringt die typische Handlungskonstellation auf den Punkt, in der ein verträumter Protagonist sich nach einer für ihn unerreichbaren Frau sehnt, die er zu einer Idealfigur stilisiert, und dabei seinem Alter Ego begegnet, das als Widersacher auftritt. Die Konflikte einer scheinbar unmöglichen Begegnung sowie einer erfolglosen Flucht vor unterdrückten Komponenten des Selbst verweisen auf die innere Zerrissenheit von Gazdanovs Hauptfiguren, aus der sich in der Suche nach Identität eine umfassend subjektimmanent definierte Handlung entspinnt. Sowohl aus Eigen- als auch aus Fremdperspektive werden Gazdanovs Protagonisten als ‚seltsam‘ ← 29 | 30 → empfunden, sodass sich in Anlehnung an den lišnij čelovek ein Topos herausbildet, den man als nenormal’nyj čelovek bezeichnen kann. Durch eine Vertrauensbeziehung mit Zuhörerfiguren, die als väterlicher Freund oder sexuell nicht anziehende Freundin auftreten, kann die Konfliktsituation in späteren Texten aufgelöst werden. Während die bisher genannten Typen als funktionale Handlungsträger greifbar sind, ist die Darstellung der Nebenfiguren noch stärker schematisiert. Diese bilden für die genannten Zusammenhänge nicht mehr als die Andeutung eines im Hintergrund vorliegenden sozialen Umfelds. Zugleich zeichnen sich deutliche Bezüge zwischen dieser Umgebung und dem inneren Erleben der Hauptfiguren ab, was eine Interpretation der Nebenfiguren als Veräußerlichung innerer Komponenten der Protagonisten nahelegt. Eine besondere Auffälligkeit in Gazdanovs Darstellung von Charakteren liegt außerdem in der ausgeprägten Ähnlichkeit zwischen allen Figuren vor, die sowohl äußere Merkmale als auch emotionale Dispositionen betrifft. Dadurch bildet sich gewissermaßen ein Konflikt mit der Vorstellung von menschlicher Individualität heraus, der sich durch symmetrische Anordnungen in der Figurenkonstellation und das undifferenzierte Selbstkonzept der Protagonisten noch verschärft. Diese Merkmale vermitteln eine Nähe zum Autismus, was auch für die unspezifischen Gefühle der Protagonisten gilt sowie für deren Schwierigkeit, die Gefühle anderer Figuren zu bestimmen.

Im Anschluss daran werden im zweiten Analyseabschnitt (Kap. V) die Motive von Sinneswahrnehmungen und Emotionen untersucht. Wie sich zeigt, erzeugen vielseitige Synästhesien ein Netz aus textinternen Bezügen, das emotionale Komponenten einschließt. Aus den darin verankerten Interferenzen erklärt sich das Unvermögen von Gazdanovs Protagonisten, Gefühle zu erfassen. Betrachtet man die einzelnen Wahrnehmungsmodalitäten für sich, so wird in den Texten eine Vorherrschaft des Gesichtssinns deutlich. In diesen Bereich fallen eine ausgeprägte Detailwahrnehmung und das gute Bildgedächtnis der Hauptfiguren. In der Visualität laufen zudem strukturelle Aspekte zusammen – der besondere Hang zum Träumen und die Vermischung von realen Erlebnissen und Fantasien sowie eine synästhetische Verbindung zwischen Kunstobjekten oder abstrakten Raumumgebungen und emotionaler Erfahrung. Auch insgesamt reagieren die Protagonisten sensibel auf sinnliche Reize, was sich etwa bei Konfrontationen mit unangenehmen Gerüchen und Geschmäcken, aber auch in Situationen intimer Annäherungen zeigt. Häufig leiden sie an Tinnitus oder anderen Sinnestäuschungen, die in fließendem Übergang zu Halluzinationen geschildert werden. Wichtige daraus resultierende Bedeutungskomplexe umfassen etwa die Verbindung zwischen einem starken Fokus auf der visuellen Wahrnehmung und dem Distanzbedürfnis der Figuren. Ihre Distanziertheit steht wiederum mit Bindungslosigkeit in Zusammenhang sowie mit der Schwierigkeit, zwischenmenschliche Gefühle zu empfinden. Starke Gefühlsreaktionen treten dagegen in nicht-sozialen Kontexten ein; sie werden durch Musik und andere ästhetische Eindrücke ausgelöst. Die Symptome der Gefühlsunzugänglichkeit in intimen Situationen präsentieren sich als Kontinuum zwischen sozialer Angst, Autismus, Trauma und Depression, wobei jeweils Verbindungen zu Spezifika der sinnlichen Wahrnehmung vorliegen, da etwa Autismus mit Synästhesie sowie ← 30 | 31 → mit starker visueller Detailwahrnehmung korreliert, während Neurosen im Endstadium psychotische Symptome implizieren können.

Der letzte Analyseabschnitt (Kap. VI) widmet sich dem Verhältnis von Subjekt und Weltwahrnehmung. Sinneswahrnehmung und Emotion spiegeln bei Gazdanov das vom Lebensgefühl der Angst geprägte Weltbild des Existenzialismus wider, in dem Subjekt und Außenwelt als fragmentiert erscheinen. Die hohe Präsenz unkommentierter Wahrnehmungen führt in weiterer Folge dazu, dass jeweils die Hauptfigur ungewöhnlich stark ins Zentrum rückt. In Verbindung mit der symmetrischen Textgestaltung und der von den Protagonisten empfundenen Unzugänglichkeit anderer Menschen entsteht ein solipsistisches Weltbild. Das wichtigste Ziel, das die Hauptfiguren erst im Spätwerk des Autors erreichen, besteht darin, ihre innere Erstarrung zu überwinden, um Gefühle adäquat empfinden und ausdrücken zu können. In früheren Texten illustrieren schizophrene Konstellationen den Versuch der Annäherung an eine Fremdperspektive. Bei näherer Betrachtung erschließt sich die Figurenkonstellation auf dieser Basis als System von Gefühlsallegorien, deren mitunter schematisch erscheinende Gegenüberstellung deshalb von so großer Bedeutung ist, weil sie die analytische Auseinandersetzung mit Emotionen ermöglicht. Die Ähnlichkeit zwischen den Figuren erscheint als notwendige Grundlage für die Auslotung emotionaler Nuancen. Gefühle werden außerdem auf Bereiche der Außenwelt verlagert, die mit den Protagonisten in keiner engen Beziehung stehen. Als Weiterführung der allegorischen Figurensysteme spiegeln zufällig anwesende Unbekannte sowie unbelebte Aspekte der Außenwelt die emotionale Befindlichkeit der Protagonisten wider. Dieses Gefüge erinnert ontologisch an das Blockuniversum als vierdimensionalen Raum, womit die im Kontext der Quantenphysik notwendige Sichtweise gemeint ist, dass Raumzustände unterschiedlicher Zeitpunkte gleichzeitig nebeneinanderstehen. Die in diesem Weltbild verankerte Auflösung der Chronologie liegt den sich in den Texten auftuenden Paradoxa zugrunde. Von außen betrachtet, erscheinen die Handlungen der Texte dementsprechend als diskontinuierlich. Unter Berücksichtigung des starken subjektimmanenten Zentrums in den Gefühlen der Protagonisten zeigt sich jedoch eine schlüssige Kontinuität der Zusammenhänge.

Die wichtigsten Verbindungen zwischen Figurenkonstellation, sinnlicher und emotionaler Wahrnehmung sowie einem spezifischen Weltbild werden im Schlusskapitel zusammengeführt und vertieft. Dabei soll ihre systematische Wechselwirkung beleuchtet werden, um Ergebnisse zu diskutieren, die als potenziell in die Ausgangsdisziplinen rückführbar erscheinen.

2.  Forschungsstand: Textimmanente Wahrnehmung bei Gazdanov

Nach der posthumen Wiederentdeckung Gazdanovs durch den ungarisch-amerikanischen Literaturwissenschaftler László Dienes, der 1982 eine erste Monografie über ihn verfasste (Russian Literature in Exile: The Life and Work of Gajto Gazdanov), ← 31 | 32 → folgte schrittweise die Reintegration dieses russischen Emigrationsautors in den literarischen Kanon. Seit mittlerweile ca. zwanzig Jahren erscheinen in Russland regelmäßig wissenschaftliche Aufsätze zu Gazdanov, darüber hinaus wurden ihm bereits einige Dissertationen, Monografien und Konferenzen3 gewidmet und auf die 1996 erschienene dreibändige Werkausgabe folgte 2009 eine fünfbändige. Obgleich Gazdanovs Wiederentdeckung im Westen erfolgte, ist die Forschungslage in Europa und Amerika bis heute überschaubar. Was die weiterführende Untersuchung zentraler Textmerkmale betrifft, blieb der Artikel von Frank Göbler (1999) über Zeit und Erinnerung in Gazdanovs erstem Roman zunächst ein Einzelfall. Seit wenigen Jahren werden Romane Gazdanovs ins Deutsche übersetzt, was als Indiz für ein wachsendes Interesse gewertet werden kann.4

Zumal sich das Forschungsvorhaben auf textimmanente Aspekte beschränkt, würden genauere biografische Ausführungen den Rahmen der Arbeit sprengen. Es sei stattdessen auf die biografische Sekundärliteratur verwiesen sowie auf einschlägige Artikel, die sich mit einzelnen, teilweise sehr kurzen Stationen von Gazdanovs Leben in Sankt Petersburg, Charkov, auf der Krim, in Schumen, Konstantinopel, Paris und München sowie mit seinen Reisen nach Südfrankreich, Italien und New York befassen. Hier wird auf die ossetischen Wurzeln des Schriftstellers ebenso eingegangen wie auf sein durch Unsicherheiten und Brüche geprägtes Leben als Schüler, Soldat und Emigrant.5

Biografische Aspekte werden auch in Rekonstruktionen des kulturellen Umfelds des nezamečennoe pokolenie (der ‚unbemerkten Generation’) und des Russkij Monparnas behandelt, da Gazdanov zu deren wichtigsten Vertretern zählt.6 Für viele biografische Arbeiten gilt es jedoch zu beachten, dass diese sich in hohem Maße auf das fiktionale Werk des Autors stützen, dem, wenngleich es autobiografische Züge trägt, keinesfalls ein direkter Realitätsbezug zuzuschreiben ist. Aufschlussreiche Hinweise zum Verhältnis zwischen Realität und Fiktion bietet der Artikel von T.V. Fremel’ (2008), einer Nachfahrin von Gazdanovs großer Kindheitsliebe Tat’jana Paškova (genannt Njušečka oder Klėr), die als Prototyp für die Titelheldin von Večer u Klėr diente. Dieser Roman weist sicherlich die stärkste autobiografische Färbung in Gazdanovs Gesamtwerk auf. Anstelle direkter Analogien beruht die literarische Figur laut Fremel’ jedoch auf der Überblendung zweier realer Frauen: Tat’jana Paškova verleihe Klėr die wesentlichen Charakterzüge, während ihre soziale und ← 32 | 33 → geografische Herkunft auf eine Tochter französischer Immigranten verweise. Einen ähnlich freien Umgang mit realen Gegebenheiten stellt die Autorin auch am Beispiel des Weißgardisten ‚Onkel Vitalij‘ fest, der nicht auf einen Onkel des Autors, sondern auf Tat’jana Paškovas Vater zurückzuführen sei.

In poetologischer Hinsicht widmet sich ein Großteil der russischen Arbeiten Fragen der Genrebestimmung und Stilentwicklung7 sowie Gazdanovs Einordnung in die russische und europäische Literaturgeschichte. Vor diesen Hintergründen wurden sowohl intertextuelle Bezüge zu russischen und westeuropäischen AutorInnen8 als auch die Nähe zu philosophischen und religiösen Strömungen9 ausgiebig untersucht.

Der am häufigsten angestellte Vergleich betrifft Vladimir Nabokov, mit dem Gazdanov in der Anfangsphase seines Schaffens eine Art Dioskurenpaar bildete. Gazdanovs Erstlingsroman wurde zunächst sogar mehr Aufmerksamkeit zuteil als Nabokovs russischem Werk, ehe diesem mit dem Wechsel in die englische Sprache der Sprung in die Weltliteratur gelang. In Tjaželyj dym (1935) würdigt Nabokov seinen Rivalen, indem er Večer u Klėr im Bücherregal eines Protagonisten platziert, während er ansonsten die gegenseitige Distanz wahrt. (vgl. Nikonenko 2008: 122) Gazdanovs spätere Texte wurden weiterhin beinahe ausschließlich in Emigrantenkreisen rezipiert und erhielten dort zunehmend schlechte Kritiken. Wie die autobiografisch gefärbten Erinnerungstexte Večer u Klėr (1929) bzw. Mašenka (1926) und Krug (1936) zeigen, betreffen die Parallelen thematische und poetologische Aspekte, wobei der Transfer zwischen den Autoren in beide Richtungen verlief. Hiervon zeugen auch die vieldiskutierten Ähnlichkeiten zwischen der äußerst symmetrischen Romanhandlung von Prizrak Aleksandra Vol’fa (1947) und Nabokovs Schaffen, das sich durch eine besondere Strukturorientiertheit auszeichnet.10 Einen Unterschied zwischen den Autoren sieht Krasavčenko darin, dass in Nabokovs Poetik die Ästhetik vordergründig sei, während Gazdanov ethischen Fragen mehr Aufmerksamkeit schenke.11

Wichtige poetologische Parallelen wurden zu Marcel Proust festgestellt, dessen À la recherche du temps perdu (1913–1927) zur Zeit des Erscheinens von Večer u Klėr in aller Munde war. Laut Gazdanovs eigenen Worten hat er die Recherche erst nach der Publikation seines Romans gelesen. Er spricht Proust nachträglich seine Anerkennung aus, bringt die spezifischen Stilmerkmale jedoch erst in seinem ← 33 | 34 → letzten Roman Ėvelina i ee druz’ja (1968) erneut zur Anwendung.12 Die Analogien betreffen einerseits das inhaltliche Bestreben, eine verlorene Vergangenheit durch Erinnern und Schreiben vor Vergessen und Sinnlosigkeit zu bewahren. Noch weitaus offensichtlicher sind zudem poetologische Ähnlichkeiten, wie die für Proust typischen, für das Russische jedoch unüblichen ausufernd langen Sätze13 sowie die durch sie generierten assoziativen Bezüge und die im erinnernden Subjekt kondensierte Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Lebensabschnitte.14

Gazdanov gilt als der ‚russische Camus‘. (vgl. z.B. Nikonenko 2000) Seine weltanschauliche Nähe zum Existenzialismus sowie insbesondere zu Albert Camus’ wichtigsten Texten L‘Étranger und Le Mythe de Sisyphe – beide erschienen 1942 – ist deutlich erkennbar und prägt in Gazdanovs mittlerer Schaffensperiode die Romane Prizrak Aleksandra Vol’fa (1947) und Vozvraščenie Buddy (1949) sowie in Einzelaspekten sein gesamtes späteres Romanwerk.15 Die Analogien werden in Motiven wie Hitze, soziale Isolation und Gerichtsprozesse ohne Aussicht auf Freispruch deutlich und betreffen inhaltlich besonders die Frage nach dem Sinn des Lebens sowie in späteren Texten die zunehmend differenzierte Auseinandersetzung mit ethischen Fragen. Im Bereich des Existenzialismus16 wird Gazdanov des Weiteren eine besondere Nähe zur Philosophie Martin Heideggers zugeschrieben. Dies betrifft insbesondere dessen Definition des Lebens als ein Zum-Tod-Sein, denn der Tod begleitet alle Texte Gazdanovs als ständiger Referenzpunkt.17 Die meisten Existenzialisten sind darüber hinaus im Umfeld der Phänomenologie zu verorten und ihr Ausgangspunkt in der Welt undifferenzierter Wahrnehmungen steht zu Gazdanovs Texten in besonderem Zusammenhang, in denen es die logischen Bezüge aus umfangreichen deskriptiven Passagen herauszufiltern gilt.

Weitere Arbeiten widmen sich den Bezügen zur klassischen Philosophiegeschichte.18 Dass Gazdanovs Hauptfiguren häufig ihr diesbezügliches Interesse bekunden, scheint allerdings eher eine allgemeine Vorliebe für abstraktes Denken zu illustrieren als konkrete Bezüge zu den philosophischen Inhalten herzustellen. Ähnliches gilt für den Buddhismus, der weniger als religiöses Glaubenssystem in die Texte integriert wird denn als philosophisches System, mit dem transgressive Wahrnehmungen assoziiert werden: Trancezustände, Auflösungen der Hier-Jetzt-Ich-Origo, Sinnestäuschungen oder besonders emotionale Momente des Kunsterlebens. ← 34 | 35 → Eine biografische Inspirationsquelle für einschlägige Motive bot außerdem Gazdanovs Freundschaft mit dem buddhistischen russischen Dichter Aleksandr Ginger. Gazdanov selbst wird in der Sekundärliteratur als Deist dargestellt, der jede institutionalisierte Form der Glaubensausübung zurückwies.19

Obgleich sich die Forschung hauptsächlich auf die bisher genannten Bereiche konzentriert, stellen Sinne und Emotionen seit den Anfängen von Gazdanovs Schaffen eine Kernkategorie in der literaturkritischen Rezeption seiner Arbeit dar. Wenig nachvollziehbare Handlungsbezüge bzw. ein Zurücktreten der Handlung hinter Schilderungen subjektiver Sinneseindrücke werden hier ebenso festgestellt wie ein Übermaß an Emotionalität. Für die poetologische Einordnung dieser formalen Besonderheit erscheint der Begriff der ‚sujetlosen Prosa‘ passend; Frank Göbler verwendet diesen exemplarisch für die Klassifizierung von Večer u Klėr. (Göbler 1999: 83)

Weniger sachlich wurde der Diskurs um diese Merkmale dagegen unter Gazdanovs Zeitgenossen geführt, wo sich die Euphorie der einen und die Ablehnung der anderen Kritiker die Waage halten.

Итак, с самого начала были найдены слова: ни о чем. И этот упрек (или комплимент?) будет повторяться то Ходасевичем, то Адамовичем из рецензии в рецензию. (Nikonenko 2009: 24)

Meist bleibt es nicht bei der objektiven Erfassung stilistischer Besonderheiten dieses Autors. Die festgestellten Merkmale werden häufig als Grundlage für höchst emotional vorgetragene Wertungen herangezogen. Zu Beginn sind diese überwiegend positiv, ab dem zweiten Roman, Istorija odnogo putešestvija (1934), fallen sie jedoch deutlich negativ aus. Inhaltlich zutreffend wird hier festgestellt, dass der Text keine zusammenhängende Handlung aufweise, sondern einzelne novellenhafte Episoden unverbunden aneinanderreihe.

‚История одного путешествия‘ – это рассказ о путешествии молодого человека, ровесника автора, близкого ему по духу и жизненному и душевному опыту, в глубь своих чувств и ощущений. […] Рецензенты упрекали автора в том, что в романе нет стержня, что он рассыпается на новеллы об отдельных героях […], что все эти новеллы органически не связаны между собой. (ebd. 28)

Die suggerierte Nähe des Protagonisten zur Persönlichkeit seines Autors, dessen Weltwahrnehmung und emotionale Konstitution in den genannten Merkmalen zum Ausdruck kämen, ist in der frühen Gazdanov-Rezeption allgegenwärtig. Ungeachtet der Fragwürdigkeit solcher Zuschreibungen scheinen Sinne und Emotionen tatsächlich einen Bereich zu eröffnen, in dem Parallelen zwischen der Erfahrungswelt eines Autors und einer literarisch vermittelten Weltsicht stärker gegeben sind als in anderen. Laut einem Zeitgenossen des Autors scheint dies in Gazdanovs Fall zuzutreffen. Analog zu seiner Persönlichkeit zeige das Weltbild der Texte demnach ← 35 | 36 → eine auf das passive Subjekt einströmende Erfahrungswelt aus unzähligen Details, in der wenig differenzierende Abgrenzungen vorgenommen werden. Solche Abgrenzungen dienen ansonsten dazu, eine spezifische Handlung zu isolieren und erkennbar zu machen. Bei Gazdanov jedoch tritt das räumliche Nebeneinander einer langfristigen Präsenz gleichzeitiger Inhalte an die Stelle zeitlicher Entwicklungen.

Но ‚событий‘ в книге мало, центр рассказа не в них, а в углубленных мироощущениях рассказчика, юноши несколько странного, который ‚не обладал способностью немедленно реагировать на происходящее‘ (существенное свойство самого Газданова; каждое событие воспринималось и запечатлевалось в памяти не просто как данность, реальность, но одновременно как материал для будущего художественного произведения; обладая феноменальной памятью, он спустя десятилетия воспроизводил облик людей, каких когда-то знал, с необычайной точностью деталей […]) […]. (Osorgin 1930; zit.n.: Nikonenko 2009: 17)

Die spezifische Darstellung von Wahrnehmungen und Gefühlen bildet zudem jenes Merkmal, das László Dienes im Rahmen von Gazdanovs Wiederentdeckung auf diesen Autor aufmerksam werden ließ. Dieser schreibt Gazdanovs Prosa eine außergewöhnliche synästhetische Qualität zu.

Достаточно было прочесть несколько страниц – и сразу становилось ясно: здесь звучит музыка, язык звенит, светится, даже пахнет (как о том не раз писал Адамович), это настоящее искусство слова – не эксперимент, не опыты, а достижения, причем небывалые, экстраординарные. Новый голос звучал так прозрачно, с такой невероятной легкостью и кажущейся простотой […]. (Dieneš 2009: 4)

Details

Seiten
566
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631779323
ISBN (ePUB)
9783631779330
ISBN (MOBI)
9783631779347
ISBN (Hardcover)
9783631774243
DOI
10.3726/b15136
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
Synästhesie Psychosomatik Michail Bachtin Warschauer StrukturalistInnengruppe Empirische Realität Subjektivität
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2019. 566 S.

Biographische Angaben

Ingeborg Jandl (Autor:in)

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Titel: Textimmanente Wahrnehmung bei Gajto Gazdanov
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