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300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft

Stand und Perspektiven

von Erol Esen (Band-Herausgeber:in) Fahri Türk (Band-Herausgeber:in) Franziska Trepke (Band-Herausgeber:in)
©2020 Sammelband 314 Seiten

Zusammenfassung

Der Sammelband präsentiert die Ergebnisse eines Symposiums, das vom 18.–20. Oktober 2018 in Antalya (Türkei) stattfand und von der Akdeniz Universität (Antalya, Türkei), der Trakya Universität (Edirne, Türkei), vom Informationszentrum des Deutschen Akademischen Austauschdienstes – DAAD (Ankara) und von der Konrad-Adenauer-Stiftung Derneği (Ankara) gemeinsam durchgeführt wurde. Anlass war das 300-jährige Jubiläum der deutsch-türkischen Beziehungen. Diese wurden durch ein Schreiben des Osmanischen Sultans an den preußischen König Friedrich Wilhelm I. eingeleitet, die in den dreihundert Jahren in vielfältige Kooperationen und ein militärisches Bündnis mündeten. Auf der dreitägigen Veranstaltung diskutierten Wissenschaftler*innen, Expert*innen sowie Praktiker*innen aus Deutschland und der Türkei über unterschiedliche Bereiche und Kooperationsfelder in Geschichte und Gegenwart. In dem Sammelband behandeln insgesamt 20 Beiträge ein breites Spektrum an Themen und Zeitabschnitten, die neben der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit aus der Vorrepublikzeit beider Länder auch die Gegenwartsthemen wie das der europäischen Integration und der Migration und Integration aus beidseitiger Perspektive diskutieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • GLIEDERUNG
  • Vorwort
  • Markus J.T. SCHRIJER: Zusammenfassender Bericht vom Symposium „300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft: Stand und Perspektiven“
  • Kapitel I Der geschichtliche Hintergrund deutsch-türkischer Beziehungen
  • Fahri TÜRK: Die deutsch-türkischen Beziehungen im militärischen Bereich unter besonderer Berücksichtigung des Waffenhandels zwischen 1860 und 1945*
  • Mutlu ER und Max Florian HERTSCH: Die Bagdadbahn: Eine Reise durch die unbekannte Türkei–Lodemanns Dokumentarfilm über die teleologische Kooperation zwischen dem Deutschen und Osmanischen Reich
  • Fahri TÜRK und Sevda ŞANDA: Deutsche Zivilberater*innen in der frührepublikanischen Türkei von 1924 bis 1936*
  • Mehmet ÖCAL: Deutsch-Türkische Beziehungen im militärischen Bereich (1945–2018)
  • Kapitel II Politik, Wirtschaft und Verwaltung
  • Murat ÖNSOY: Eine Bewertung der deutsch-türkischen Beziehungen der letzten Jahre
  • Elif KOCAGÖZ und Orhan KOCAGÖZ: Eine Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen aus der Country Branding-Perspektive
  • Meral AVCI: Die Rolle der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen in der türkischen Kultur
  • Uğur SADİOĞLU: Reformen im Bereich der Kommunalverwaltungen in Deutschland und der Türkei:
  • Kapitel III Deutsch-türkische Zusammenarbeit in Bildung und Hochschule
  • İbrahim S. Canbolat: Überwindung der geschichtlichen Vorurteile zwischen Deutschland und der Türkei anhand der Zusammenarbeit im Bildungsbereich
  • Seldağ GÜNEŞ PESCHKE: Ein Blick auf den Beitrag deutscher Wissenschaftler*innen in der türkischen Hochschulbildung zwischen 1933–1946
  • Nilgün YÜCE: Deutsch-Türkische Hochschulkooperationen in Vergangenheit und Gegenwart
  • Erol ESEN: Mehrsprachige Bildung und Erziehung: Ein neues Kooperationsfeld der deutsch-türkischen Freundschaft
  • Kapitel IV Deutschland und die Türkei in Europa
  • M. Nail ALKAN: Perspektiven eines EU-Beitritts der Türkei unter der Fragestellung „Gehört die Türkei zu Europa?“
  • İsmail ERMAĞAN: Die Positionen der deutschen Parteien hinsichtlich der Vollmitgliedschaft der Türkei zur Europäischen Union
  • Ebru TURHAN: Das deutsch-französische Tandem in der Europäischen Union und die Türkei-Politik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
  • Kapitel V Deutsch-türkische Beziehungen im Blickfeld von Migration und Integration
  • Birgül DEMİRTAŞ: Konstruktionen von Innen- und Außen-Identitäten während der Krise der syrischen Flüchtlinge: Die Fälle der Türkei und Deutschlands
  • Filiz KEKÜLLÜOĞLU: Transnationalität als Türöffner für Bildungskarrieren deutsch-türkischer Akademiker*innen
  • Burak GÜMÜŞ: Über Steinmeiers Symbolpolitik im Integrationsbereich*
  • Dirk TRÖNDLE: Heimat oder Haymatloz – Wertedebatten in Zeiten multipler Identitäten
  • Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Die langjährigen deutsch-türkischen Beziehungen lassen sich auf das Schreiben des Osmanischen Sultans an den Preußischen König Friedrich Wilhelm I. von 1718 zurückführen. Mit anderen Worten: 2018 stand für den 300. Jahrestag der deutsch-türkischen Beziehungen. Der Grundstein für die freundschaftlichen türkisch-deutschen Beziehungen wurde damit bereits in der Zeit des Osmanischen Reiches gelegt, die später in ein Bündnis beider Länder im Ersten Weltkrieg mündeten. Die Bundesrepublik Deutschland spielte nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Industrialisierung sowie der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei eine wichtige Rolle. Insbesondere ab 1961, dem Jahr des Anwerbevertrages für die türkischen Gastarbeiter*innen, erhalten die türkisch-deutschen Beziehungen ein neues Prädikat: Um es mit den Worten des ehemaligen Botschafters von Deutschland in Ankara, Eckart Cuntz, auszudrücken, gilt das deutsch-türkische Verhältnis als „menschenintensivste“ bilaterale Beziehung der Nachkriegszeit. Trotz der in den letzten Jahren entstandenen Probleme sind die Türkei und Deutschland zwei wichtige Akteure in Europa. Insbesondere Deutschland ist der wichtigste Außenhandelspartner der Türkei. Beispielsweise beträgt das Außenhandelsvolumen heute zwischen den beiden Ländern etwa 40 Milliarden US-Dollar.

Andererseits leben in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die nur die deutsche bzw. die Staatsbürgerschaft beider Länder besitzen. Derzeit wirken 11 Abgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund in verschiedenen Fraktionen des Bundestages mit. Weiterhin sind viele türkischstämmige Migrant*innen Mitglied verschiedener Landesparlamente sowie der Gemeindeversammlungen auf lokaler Ebene. In diesem Zusammenhang kann man betonen, dass die türkisch-deutschen Beziehungen eine lange Tradition aufweisen, die sich bisher von konjunkturellen politischen Konflikten wenig beeindrucken ließen. Weiterhin befindet sich eine Vielzahl an Akademikerinnen und Akademikern an türkischen Universitäten, die nach ihrem Studium in Deutschland in die Türkei ausgewandert sind und nun an zahlreichen Hochschulen in Lehre und Forschung tätig sind.

Gegenüber den 3,5 Millionen in Deutschland lebenden türkischstämmigen Migrant*innen leben über 70.000 deutschstämmige Migrant*innen in der Türkei. Schließlich geben die in beiden Ländern befindlichen zahlreichen Kapitalanlagen und die über 5000 in der Türkei operierenden deutschen Unternehmen ←9 | 10→Anlass genug, die deutsch-türkischen Beziehungen zum 300. Jahrestag im Rahmen eines Symposiums zur Diskussion zu stellen, um die weiter vorhandenen Potentiale der deutsch-türkischen freundschaftlichen Beziehungen wachzurufen bzw. zu vertiefen und auszubauen.

Dieser Sammelband umfasst die Ergebnisse eines gemeinsamen Symposiums von deutschen und türkischen Institutionen am 18.–20. Oktober 2018 in Antalya unter dem Titel “300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft: Stand und Perspektiven”. Das von der Akdeniz Universität in Antalya und der Trakya Universität in Edirne entwickelte Konzept des deutsch-türkischen Symposiums wurde in Zusammenarbeit mit dem Informationszentrum des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Ankara und der Auslandsvertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) Türkei durchgeführt. An der Veranstaltung nahmen mehrheitlich Wissenschaftler*innen und Expert*innen teil, die überwiegend in Deutschland studiert oder dort in Lehre und Forschung praktiziert bzw. gelebt haben, darunter eine Vielzahl von DAAD- und KAS-Alumni.

Eine breite Palette von Themen beschäftigte etwa 80 eingeladene Teilnehmer*innen aus Deutschland und der Türkei auf der dreitägigen Tagung in Antalya. Ausgangspunkt war der geschichtliche Hintergrund der deutsch-türkischen Beziehungen, die sich in den letzten 300 Jahren von der militärischen und wirtschaftlichen sowie der Entwicklungszusammenarbeit bis hin zum Hochschulbereich erstrecken. Davon ausgehend berücksichtigten die Diskussionen auch die Themen der Nachkriegszeit wie die Migration und die europäische Integration, zwei Bereiche, die sich für eine Partnerschaft mit Kontinuität besonders eignen. Bezogen auf die Migration und Integration ist eine Zusammenarbeit sogar dringend notwendig, die in ihrer aktuellen Qualität eine neue Herausforderung für die zukünftigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei darstellt.

Wir danken allen Institutionen und deren Vertreter*innen, die zur Durchführung dieser Veranstaltung sowie zur Publikation ihrer Ergebnisse beigetragen haben. Insbesondere gilt unser Dank dem Auslandsbüro der Konrad Adenauer Stiftung (KAS) in Ankara unter der damaligen Leitung von Herrn Sven Irmer und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dass sie sowohl die Tagung als auch die vorliegende Publikation möglich machten. Gefördert wurde diese Publikation vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amtes (AA). Außerdem möchten wir uns bei allen Autor*innen bedanken, die uns ihre wertvollen Beiträge anvertraut und so diese Publikation ermöglicht haben. Des ←10 | 11→Weiteren danken wir den Mitarbeiter*innen der KAS und des DAAD-Informationszentrums in Ankara, die für eine reibungslose Organisation der Veranstaltung sorgten. Außerdem danken wir Markus J. T. Schrijer, da ohne seine Mühe, die Beiträge durchzulesen und zu korrigieren, die Fertigstellung der Publikation kaum möglich gewesen wäre.

Erol Esen
Fahri Türk
Franziska Trepke

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Markus J.T. SCHRIJER*

Zusammenfassender Bericht vom Symposium „300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft: Stand und Perspektiven“

Nach einigen schwierigen Jahren für die deutsch-türkischen Beziehungen widmete sich ein von der Akdeniz Universität (Antalya, Prof. Dr. Erol Esen) und der Trakya Universität (Edirne, Prof. Dr. Fahri Türk) konzipiertes und von der Konrad Adenauer Stiftung (Auslandsbüro Türkei) und dem DAAD getragenes und organisiertes deutsch-türkisches Symposium dem Thema „300 Jahre Deutsch-Türkische Freundschaft: Stand und Perspektiven“. Es fand vom 18–20. Oktober 2018 in Antalya statt. Im Fokus standen die jüngere Geschichte und die Gegenwart der deutsch-türkischen Beziehungen, um aktuelle Probleme und Herausforderungen adressieren und diskutieren zu können. Hierfür waren vorwiegend Vertreter*innen aus Bildungs- und Hochschuleinrichtungen aus Deutschland und aus der Türkei anwesend, darunter eine Vielzahl an DAAD- und KAS-Alumni. Die angestrebte Bestandsaufnahme der Beziehungen sollte es ermöglichen, die Ausrichtung zukünftiger Maßnahmen auszuloten: besonders dringende Problemfelder sollten identifiziert und eine Arbeitsgrundlage für zukünftige Veranstaltungen geschaffen werden, um diese lösungsorientiert konzipieren zu können.

Der folgende Bericht erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen die einzelnen thematisch aufgeteilten Panels mit ihren Beiträgen kurz vorgestellt und danach in wenigen Worten auf die zugehörigen Diskussionsrunden eingegangen werden, um einen Überblick über die Veranstaltung zu verschaffen. Der Verfasser wird die Positionen aus den Beiträgen auf der Basis seines mitgeführten Protokolls und nach bestem Wissen wiedergeben, ohne die korrekte Darstellung in jedem Detail garantieren zu können. Einzelne Begriffe und Wendungen, die wegen ihrer Prägnanz als besonders aussagekräftig in den jeweiligen Ausführungen erschienen, werden jedoch in Anführungsstrichen als wörtliche Übernahmen kenntlich gemacht.

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Grußworte

Mittwochs (17.10.2018) und donnerstags (18.10.2018) trafen die meisten Gäste am Veranstaltungsort ein. Zu Beginn des Programms, Donnerstagmittag, waren nahezu alle Teilnehmer*innen zusammengekommen und blieben das auch mehrheitlich bis zum Ende des Programms am Samstagnachmittag. Nach den Grußworten enthielt das über die drei Tage verteilte Programm insgesamt sieben Panels (mit je 3–5 Expert*innen) und wurde mit einer Abschlussdiskussion abgeschlossen.

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Franziska Trepke (Leiterin des DAAD-Informationszentrums in Ankara), die daran erinnerte, dass das Motto des DAAD (Wandel durch Austausch) mit Leben gefüllt werden müsse – „auch, oder gerade trotz schwieriger Zeiten“. Damit wurde der Grundton der Veranstaltung bereits angestimmt. Auch Sven-Joachim Irmer (Leiter des Auslandsbüros Türkei der Konrad Adenauer Stiftung, Ankara) knüpfte seine kritische Gegenwartsdiagnose an den Appell, dass die deutsch-türkische Freundschaft fortan konstruktiv gestaltet werden könne – schließlich mache auch Streit eine Freundschaft aus. Er wünschte sich, dass Veranstaltungen dieser Art in die Politik wirkten und begrüßte, dass auch Abgeordnete des türkischen Parlaments anwesend waren. Besondere Hoffnung schöpfte er aus der Anwesenheit der zahlreichenden Studierenden, die den Austausch schließlich zukünftig gestalten würden.

Nachfolgend ging der deutsche Konsul in Antalya, Wolfgang Wessel, auf den „besonderen Charakter“ der deutsch-türkischen Freundschaft ein, als deren Motto er „miteinander reden und voneinander lernen“ festlegte. Das Motto ergebe sich aus dem „Dialog zwischen Orient und Okzident“, der seit Jahrhunderten stattfinde. Als Zeichen der engen Verbundenheit der beiden Länder deutete er türkische Migrant*innen in Deutschland, die „in beiden Kulturen zu Hause sind: in ihrer und in unserer“. Zudem äußerte Herr Konsul Wessel seinen Wunsch nach einer friedlichen und partnerschaftlichen Übereinkunft der beiden Länder in der Zukunft.

Die Initiatoren schlossen die Runde der Grußworte ab. Prof. Dr. Fahri Türk (Trakya Universität, Edirne) dankte dem DAAD und der KAS, die die komplette Veranstaltung organisierten und finanzierten. Seine Einführung war eine Erinnerung daran, dass Deutschland und die Türkei für sich genommen zwei wichtige Akteure in Europa darstellen und alleine deshalb schon ein weiterer Ausbau der historisch tief verwurzelten deutsch-türkischen Beziehungen wünschenswert sei. Prof. Dr. Erol Esen (Akdeniz Universität, Antalya) schloss sich mit dem Hinweis auf den „menschenintensiven“ Charakter der Beziehung an und ergänzte, dass mit Blick auf die zahllosen persönlichen Verbindungen auch ←14 | 15→in schweren Zeiten der Dialog zwischen den beiden Ländern fortgeführt werden müsse. Er erinnerte daran, dass die Veranstaltung eigentlich bereits 2017 anberaumt gewesen sei und als Fortsetzung des deutsch-türkischen Wissenschaftsjahres 2014 verstanden werden könne, seit dem der Dialog bezeichnenderweise ausgesetzt worden war. Das Symposium leiste nun einen wichtigen Beitrag, weil es diesen akademischen Dialog wiederaufnehme; zudem aber auch, indem es den Fokus der Zusammenarbeit wieder auf andere Themen als das in den letzten Jahren vorherrschende der „Migration und Flucht“ lenke.

Der geschichtliche Hintergrund der deutsch-türkischen Beziehungen

Das erste Panel wurde von Dr. Lutz Peschke (Bilkent Universität, Ankara) moderiert und nahm eine historische Perspektive auf die deutsch-türkischen Beziehungen ein – wobei der erste Beitrag als zeitgeschichtliche Studie betrachtet werden kann, in der gleich mehrere geläufige Streitpunkte zur Sprache kamen. Assoc. Prof. Dr. Murat Önsoy (Hacettepe Universität, Ankara) analysierte die politischen Beziehungen seit 2002, die ihn pessimistisch stimmten. Er ging sehr kritisch auf eine im Allgemeinen von CDU/CSU geprägte deutsche Haltung gegenüber der Türkei ein, die lediglich von der „goldenen Ära“ Schröder/Fischer unterbrochen gewesen sei, in der alleine eine Beziehung zwischen gleichgestellten Ländern angestrebt worden sei. Abgesehen von dieser Ausnahme sah er die Beziehungen in einer Asymmetrie gefangen, in der sich Deutschland als „Vorgesetzter“ der Türkei darstellen wolle und die das gestiegene Selbstwertgefühl der Türkei seit den 1990er Jahren ignoriere. Die Kanzlerschaft Merkels sei für die Beziehungen durchweg eine schwierige Herausforderung gewesen, da ihr Vorschlag der „Privilegierten Partnerschaft“ von vielen als Hemmnis wahrgenommen werde. Abschließend teilte Dr. Önsoy seine Beobachtung, wonach von den konservativen Parteien in Deutschland gerade vor Wahlen Stimmung gegen die Türkei geschürt werde, worunter das Verhältnis der Bevölkerungen in der jüngsten Vergangenheit stark gelitten habe.

Etwas weiter zurück in die Geschichte ging Assoc. Prof. Dr. Florian Hertsch (Hacettepe Universität, Ankara), der bei der Besprechung der Bagdad-Bahn betonte, dass sich diese berühmte historische Zusammenarbeit eben nicht als Beispiel für die Freundschaft der beiden Länder eigne, sondern neutral als Kooperation bezeichnet werden müsse. Schließlich habe das Osmanische Reich aus der Perspektive des Deutschen Reiches lediglich ein „imperiales Interessengebiet“ dargestellt, letztlich „ein Ort, den es zu durchqueren galt.“ Das deutsche Engagement, etwa der Bau von Bahnhofsgebäuden entlang der Trasse, könne ←15 | 16→als ein „Beispiel imperialen Größenwahns“ angeführt werden. Hierbei von Freundschaft zu sprechen sei demnach unpassend und die Kooperation lediglich zustande gekommen, weil Interessen sich überlappten. In einem in den 1980er vom SWR produzierten Dokumentarfilm über das Projekt werde zudem deutlich, dass die Beziehungen damals wie heute von gegenseitigen Vorurteilen geprägt seien.

Im folgenden Beitrag schlug Dr. Ömer Faruk Demirel in dieselbe Kerbe ein, als er in Bezug auf die freundschaftlichen Beziehungen feststellte, dass diese erst durch das Waffenbündnis ausgeweitet wurden und eigentlich auf eine imperiale Initiative zurückgingen, die die Erweiterung des deutschen Einflussbereichs und der deutschen Sprache zum Ziel hatte. In diesem Licht müsse die Epoche um den Ersten Weltkrieg gesehen werden, wovon etwa eine Denkschrift aus der Türkei an das Auswärtige Amt in Berlin zeuge, in der türkische Professor*innen die arrogante Haltung ihrer deutschen Kolleg*innen beklagten. Eine Änderung der akademischen Beziehungen stellte sich laut Dr. Demirel erst durch die Entwicklungen im Deutschen Reich, besonders im Jahr 1933, ein.

Das Panel abschließend wandte sich Prof. Dr. Seldağ Güneş Peschke (Yıldırım Beyazıt Universität, Ankara) den 1930er und 40er Jahren und damit deutschen Akademiker*innen im Exil zu, die einen großen Einfluss auf das junge türkische Hochschulwesen ausübten. Sie betonte die Bedeutung der Schweiz in diesem Zusammenhang, die zum Sammelpunkt für viele Exilant*innen und so zum Ausgangspunkt zur Überreise in die Türkei wurde. Diese Entwicklung gründete auf dem Bericht des Schweizer Wissenschaftlers Albert Malché (in Zusammenarbeit mit Phillip Schwarz), der 1932 die neu entstehende universitäre Forschungslandschaft in der jungen Türkischen Republik untersuchte. Etwa 300 jüdische und auch nichtjüdische, im Deutschen Reich verfolgte Wissenschaftler*innen fanden laut Prof. Güneş Peschke daraufhin Zuflucht in der Türkei, in der sie mit günstigen Arbeitsverträgen (mit Krankenversicherung und einem hohen Gehalt – bei gleicher Anstellung bis zum siebenfachen ihrer türkischen Kolleg*innen) empfangen wurden.

In der Diskussionsrunde wurde kritisiert, dass die historischen Beiträge weitgehend in der Luft hingen: es wurde moniert, dass sie zu stark an Herrschenden orientiert gewesen seien und dass ihre Anbindung an die Gegenwart gefehlt habe. Auch seien aus der langen Liste an Kritik (z.B. an der deutschen Haltung zur türkischen Vollmitgliedschaft seit 2005) keine Schlüsse gezogen worden, keine Bewertung, wohin diese historischen Entwicklungen im Einzelnen geführt hätten. Zudem wurde den Beiträgen eine relativ einseitige Konzeption ohne historische Perspektive auf Deutschland vorgehalten. Einigkeit herrschte hingegen darüber, dass die Beiträge ein wichtiger Teil der weiterhin erforderlichen ←16 | 17→historischen Aufarbeitung der Beziehungen waren: durch solche Arbeit könne eine dringend notwendige, gemeinsame Sprache für die zukünftige Kommunikation gefunden werden. Teils wurde auch in beschwichtigendem Ton darauf hingewiesen, dass die deutsch-türkische Geschichte einem ständigen Auf und Ab gleiche und dies nun einmal der Dynamik einer Freundschaft entspringe. Die Verantwortung liege nun bei Entscheidungsträger*innen in der Politik, daraus zu lernen und mäßigend zu wirken, da solche Hochs und Tiefs immer individuelle menschliche Schicksale beträfen. Die Runde war sich einig, dass zumindest im wissenschaftlichen Bereich eine gemeinsame, sehr breite Grundlage vorhanden sei, die auch über ihren eigenen Bereich hinaus wirken könne – und solle.

Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen

Das zweite Panel, erneut moderiert von Dr. Peschke, nahm deutsch-türkische Wirtschaftsbeziehungen in den Blick. Dr. Adem Akkaya (Leiter des Büros von NRW Invest in Istanbul) stellte die Wirtschaftsförderungsgesellschaft NRW Invest vor, die auf den wirtschaftlichen Wandel der Türkei seit den 1990er Jahren aufbauend versucht, das Potenzial an wirtschaftlicher Zusammenarbeit weiter zu stärken. Hierzu zählte er vor allem die bürokratische Unterstützung und Vermittlung von türkischen Firmen in NRW. Die Attraktivität dieses Standorts ergab sich für Dr. Akkaya aus dem Zusammenkommen von Innovation, Wissen und Technologie bei einem gleichzeitig hohen Anteil türkischer Staatsbürger*innen unter der Bevölkerung.

Details

Seiten
314
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631807668
ISBN (ePUB)
9783631807675
ISBN (MOBI)
9783631807682
ISBN (Hardcover)
9783631781753
DOI
10.3726/b16381
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Migration Integration Bilaterale Hochschulkooperation Partnerschaft mit Kontinuität
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020., 314 S., 8 s/w Abb., 12 Tab.

Biographische Angaben

Erol Esen (Band-Herausgeber:in) Fahri Türk (Band-Herausgeber:in) Franziska Trepke (Band-Herausgeber:in)

Erol Esen ist Professor für Politische Wissenschaften. Er studierte an der Universität Bonn und wurde mit einer Dissertation über EU-Türkei-Beziehungen promoviert. Er ist Dozent an der Akdeniz Universität in Antalya (Türkei) und hat viele Jahre das Zentrum für Europäische Studien und den Fachbereich für Politische Wissenschaften und Öffentliche Verwaltung geleitet. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a. europäische Integration, Kommunalverwaltungen, Migration und transkulturelle Prozesse. Fahri Türk ist Professor für Politische Wissenschaften. Er studierte an der Freien Universität Berlin und promovierte über deutsche Rüstungsindustrie in ihren Türkeigeschäften 1871–1914. Er ist Dozent am Fachbereich für Politikwissenschaften der Universität Trakya in Edirne. Professor Türk ist Herausgeber einer internationalen Fachzeitschrift sowie Mitautor von zahlreichen Büchern und Sammelbänden. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Zentralasien, Außenpolitik der Türkei und deutsch-türkische Beziehungen. Franziska Trepke leitet seit 2018 das DAAD-Informationszentrum in Ankara und war zuvor als DAAD-Lektorin an der Middle East Technical University in Ankara tätig. Sie studierte Germanistik, Psychologie und Deutsch als Fremdsprache an der Freien Universität in Berlin. Längere Auslandsaufenthalte zu Studien- und Arbeitszwecken führten sie nach Portugal, Indonesien und Aserbaidschan. Vor ihrer Tätigkeit in der Türkei lehrte sie an der Universidade do Estado de Rio de Janeiro (UERJ) in Rio de Janeiro/Brasilien.

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Titel: 300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft
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