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Facetten des Künstler(tum)s in Literatur und Kultur

Studien und Aufsätze

von Nina Nowara-Matusik (Band-Herausgeber:in)
©2019 Sammelband 266 Seiten

Zusammenfassung

Im Mittelpunkt des Buches steht das vielgestaltige und immer noch aktuelle Phänomen des Künstler(tum)s in der Literatur und Kultur. Die hier versammelten Beiträge sollen sowohl als Interpretationsvorschläge von bekannten und weniger bekannten Texten verstanden werden als auch als Versuch, reale und fiktive Künstlerfiguren aus unterschiedlichen Epochen – von Mittelalter, über die Romantik und Moderne, bis Gegenwart – in den Mittelpunkt der Reflexion zu rücken. Die Autorinnen und Autoren verfolgen unterschiedliche, meist komparatistisch ausgerichtete, Forschungsansätze, wobei sie von einem breit verstandenen Begriff des Künstlers ausgehen und ihn in unterschiedlichen Diskursen kontextualisieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Künstlerverständnis im Schaffen Oswalds von Wolkenstein und in Dieter Kühns Ich Wolkenstein
  • Urkundenfälschung, Klosterflucht und Brandmarkung: Der Prozess des Veit Stoß in der deutschen Prosa des 20. Jahrhunderts
  • „[D];er Wolferl ist der Kayserin auf die Schooß gesprungen“! Verwendung von Anekdoten in der epischen fiktionalen Mozart-Literatur
  • Der Künstler als Genie: Transmedialität und Synästhetik bei Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck
  • Die Krise des genialen Künstlertums in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Jesuiterkirche in G.
  • Ricarda Huchs Suche nach einem künstlerischen Vorbild für ihre Zeit aus dem Erbe der deutschen Frühromantik
  • Künstlerin sein … Die Figur der Schauspielerin bei Helena Orlicz-Garlikowska und L. Andro
  • Das Bild des modernen Künstlers bei Lou Andreas-Salomé
  • „Wie Sterne, die aus unserer Hand geschwebt sind“1 – Der Dichter als Weltenschöpfer und Gottessucher im lyrischen Werk von Rainer Maria Rilke und Oskar Loerke
  • Der Dichter als Unternehmer
  • Kunst als Berufung. Überlegungen zur Künstlerdarstellung im Werk von Alfred Hein
  • „Das Leben auf der Bühne so zu zeigen, dass der Zuschauer nicht nur einer Sache folgte …“ Konrad Swinarskis und Bertolt Brechts Kunstauffassung
  • Franz Fühmann – ein gescheiterter Künstler?
  • Von Die Widmung (1977) bis Herkunft (2014) – zum Wandel ästhetischer und politischer Positionen in Künstlergeschichten von Botho Strauß
  • „Vom Wahnsinn, über Bilder zu sprechen“ – Das Kunstgespräch als Paradigma des Künstlerdiskurses in Friederike Mayröckers Roman brütt oder Die seufzenden Gärten
  • Zwischen Kunst und Terror: Gudrun Ensslin, Bernward Vesper und Andreas Baader in Andres Veiels Wer wenn nicht wir
  • Abbildungsverzeichnis
  • Namensregister
  • Die Autorinnen und Autoren des Bandes

←8 | 9→

Joanna Godlewicz-Adamiec

Künstlerverständnis im Schaffen Oswalds
von Wolkenstein und in Dieter Kühns
Ich Wolkenstein

Abstract: The paper is based on the methodology of comparative studies and constitutes an attempt at addressing the question to what extent the late medieval poet and composer, who described his travels through Europe, Asia and Africa, and performed for knights and the ruling elite, may be perceived as a “free artist”. Those aspects of the artist's life which were most highlighted by Dieter Kühn are also discussed.

Keywords: Middle Ages, name of artist, fictionalized autobiographical material, travel experience, pictures of nature

„Kunst entsteht nicht, sie wird von Menschen gemacht, ist von deren Fähigkeiten und Wünschen, Intentionen und Vorstellungen bestimmt und mit deren Zielen und Aufgaben verbunden“.1

Mit den Begriffen des ‚Künstlertums‘ und des ‚Künstlers‘ verbinden sich Vorstellungen von individuellen und authentischen Ausdrucksformen und von außergewöhnlicher oder genialer Schaffenskraft. Ein Großteil dieser Vorstellungen des Künstlers und der künstlerischen Produktivität hat seinen Ursprung in der Renaissance, die den Beginn des Künstlertums im heutigen Sinne markiert.2 Geschichte braucht Ordnung und Struktur, was auch für die Geschichte der Kunst gilt. In der Kunst scheint die Aufteilung einfacher zu sein als im Bereich der Politik, der Wirtschaft oder des philosophischen und theologischen Denkens, da es die materiellen Fakten gibt, deren äußerer Habitus etwas über die Zeit der Entstehung und den Produzenten verrät.3 Giorgio Vasari, der als einer der ersten Kunsthistoriker gilt, der zeigte, wie durch das Zeitalter Michelangelos ←9 | 10→die Antike durch die Moderne übertroffen wird,4 klassifizierte den Zeitraum von Kaiser Konstantin bis zu dem Maler Cimabue als dunkles Mittelalter.5 In der Künstlerkonzeption der Renaissance liegen auch die Wurzeln des Paradigmas der Autonomie. Der Künstler wird als „freier Schöpfer“ und seine Werke als von ökonomischen Interessen losgelöst vorgestellt. Der Verklärung des Künstlers im 14. und 15. Jahrhundert steht bis auf wenige Ausnahmen die soziale Realität entgegen, denn der Künstler als ‚Hofkünstler‘ und Auftragskünstler blieb meist von seinen Mäzenen, der Kirche oder den Fürstenhöfen abhängig.6 Demnächst kann einerseits die Frage danach gestellt werden, inwieweit Dichter und Komponist des ausgehenden Mittelalters Oswald von Wolkenstein, der seine Reisen in Europa, Asien und Afrika beschreibt7 und seine künstlerischen Auftritte in den Ritter- und Fürstenkreisen mit Erfolg kreiert, als „freier Schöpfer“ einzuschätzen ist, andererseits kann es analysiert werden, welche Aspekte der Künstlerexistenz von dem Schriftsteller Dieter Kühn in Ich Wolkenstein. Die Biographie, einem aus dem Jahr 1977 stammenden Werk, das neben Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg (2003), Der Parzival des Wolfram von Eschenbach (1988) und Neidhart und das Reuental (1996) zum mittelalterlichen Quartett des Schriftstellers zählt, hervorgehoben werden. Der Beitrag bildet einen Versuch, mit den von der Komparatistik herausgearbeiteten Methoden auf diese Fragen Antworten zu finden, ←10 | 11→die das Wissen sowohl über Oswald von Wolkenstein als auch über die Kunst und Künstler im Mittelalter erweitern sollen.8

Künstlergeschichte ohne Namen?

Über die Künstler des Mittelalters kursiert eine Reihe von Vorurteilen – zu den wichtigsten gehört die Überzeugung, dass die Geschichte der mittelalterlichen Kunst eigentlich eine „Kunstgeschichte ohne Namen“ sei. Da die Künstlernamen nur in Ausnahmenfällen überliefert sind, wird es häufig vermutet, dass eigentlich jede künstlerische Leistung nur zum Ruhme Gottes und aus frommer Gesinnung erbracht worden sei. Daraus werden Schlussfolgerungen gezogen, dass die Künstler jener Zeit auf eigenes Renommee verzichtet und ihre Namen demütig verschwiegen hätten und dass es damals an einem Bewusstsein von künstlerischer Leistung fehlte, da es keine Künstler, sondern eher Handwerker gegeben habe.9 Zahlreiche Überlieferungen beweisen jedoch, dass einige Künstler, wie in anderen Epochen, höher als die anderen geschätzt wurden, wovon u.a. weite Reisen der Künstler zeugen, die den Einladungen der Auftraggeber folgten. Beispielsweise bestellte der Krakauer Stadtrat einen Altar für die Marienkirche bei Veit Stoß, der damals in Nürnberg wohnte. Da Werke dieser Zeit meist auf Bestellung entstanden sind, entsteht die Frage, inwieweit ein bestelltes Werk eine selbstständige Schöpfung war. Von den geläufigen Meinungen unabhängig, sind solche Antworten für Mediävisten weder einfach noch eindeutig. Zur Herausbildung des Stereotyps, das im Mittelalter die Individualität des Künstlers nicht besonders hoch geschätzt war, haben zweifelsohne viele Tatsachen beigetragen.10 ←11 | 12→Sowohl Selbstbewusstsein und Ruhmeserwartung als auch namenverschweigendes Künstlertum markieren nicht als epochenspezifische Gegensätze eine Grenze zwischen Renaissance und Mittelalter, sondern sind schon im Mittelalter als konkurrierende Normen und Konzepte anzusehen. Infolge dessen soll das untaugliche Konstrukt durch einen differenzierten Befund ersetzt werden.11 Um die Vorurteile in diesem Bereich zu verifizieren, kann das Augenmerk auf Oswalds von Wolkenstein Schaffen gelegt werden,12 dessen dichterisches Werk eine nur mit wenigen anderen Dichtern dieser Zeit vergleichbare Ausgangsbasis für die Interpretation bildet. In den mediävistischen Kreisen ist er ein Inbegriff eines idealtypischen Vertreters seiner Zeit: Einerseits spiegelt er das steigende Selbstbewusstsein der Künstler des ausgehenden Mittelalters als Dichter und Initiator der Sammlung seiner Lieder wider, andererseits fungiert er durch die zahlreichen historischen Quellen, die überliefert sind, als Kronzeuge spätmittelalterlichen adeligen Lebens als Rechts- und Privatperson.13 Oswald zeigte sich als ein spätmittelalterlicher Adeliger, der alles daran setzte, nicht in Vergessenheit zu geraten, was sich darin zeigte, dass er sein dichterisches Werk sammelte und es mit einem für diese Zeit ungewöhnlich individuell gestalteten Porträt versah.14 ←12 | 13→Das Bildnis, die Wiedergabe des Menschen als einer einmaligen Persönlichkeit durch charakteristische physiognomische Merkmale, gilt stets als Aufgabe, diese Hinwendung wird jedoch als eine Errungenschaft der Neuzeit angesehen, während das Mittelalter eher das Augenmerk auf das Allgemeine und Typische gerichtet habe.15

Oswald hat selbst die Aufzeichnung seiner Lieder in zwei prächtig gestalteten Pergamenthandschriften veranlasst: die Handschrift A (ÖNB Wien, Cod. Vind 2777), die 188 Lieder enthält und die Handschrift B (UB Innsbruck, ohne Signatur), die 117 Lieder umfasst.16 Die Darstellung des ganzfigurigen Dichters17 in der Handschrift A und die um 1432/1438 entstandene Miniatur in der Handschrift B (Fol. 1v) gehören zu den ersten authentischen Porträts eines deutschen Dichters. Dieses Oswald-Bildnis in der Liederhandschrift B zeigt Bruchstück des Dichters, der auf einem teuren Brokat mit Greifenmuster das Seidene Band des Drachenordens mit dem Ordensemblem trägt. Die Darstellung weist autobiographische Züge auf, da der Dichter den Quellen nach in den Orden aufgenommen wurde. Auf die biographischen Ereignisse weist auch das hin, dass eine Ordenskette, die ihm als Zeichen seiner Aufnahme in den Kannen- bzw. Greifenorden von der Königswitwe Margarita de ←13 | 14→Prades verliehen wurde, den pelzverbräumten Kragenrand umläuft.18 Der Dichter wurde während seines Aufenthalts in Perpignan von Margarita de Prades mit zwei Ohrringen und einem Ring für den Bart als Zeichen für wichtige Verdienste geschmückt. Oswald lässt auf seinem Porträt eine weitere Auszeichnung des aragonischen Kannen- und Greifenordens durch Königin Eleonore von Aragonien abbilden.19 Auf dem Bildnis ist der Dichter im Dreiviertelprofil dargestellt. Seinen Blick fixiert er nicht auf den Betrachter, sondern reicht über das Bildfeld hinaus. Besonderes Augenmerk kann darauf gelenkt werden, dass das rechte Auge in der auf der in der Handschrift B dargestellten Figur geschlossen ist,20 was an die bekannte Tatsache erinnert, das er schon als Knabe Unglück hatte und das rechte Auge durch einen Schuss bei einer Fastnachtfeierlichkeit verloren hatte.21 Kühn weist darauf hin, dass die ersten Lebensjahre ein kurzes Kapitel in Oswalds Biographie bilden.22 Der Schriftsteller betont: „Das einzige, was über Oswalds Kindheit berichtet wird: Bei einem Fastnachtstreiben auf der Trostburg sei ihm durch einen Pfeil oder Bolzen versehentlich das rechte Auge ausgeschossen worden. Keine dokumentierte Nachricht – also ein Familienhistörchen?“23 Das Verhältnis zur Biographie lässt sich auch selbst im Oswald’schen Text finden, beispielsweise im Lebenslied 18, in der ‚autobiographischen‘ Ballade („Es fügt sich“), in der auf das Leben aus der Distanz geschaut wird: „ich, Wolkenstein, leb sicher klain vernünftiklich,/das ich der werlt also lang beginn zu hellen,/Und wol bekenn, ich wais nicht, wenn ich sterben sol“).24 Dieter Kühn weist darauf hin, dass in ←14 | 15→der Lebensballade der 38-jährige Oswald „Rückblick und Ausblick“ hält.25 Der Schriftsteller fragt danach, ob der Biograph ablesen kann, dass Oswald in verschiedenen Ländern mehrere Tätigkeiten, Berufe ausübte, wie Laufbursche, Koch, Pferdeknecht. Er beobachtet dabei, dass Oswald kein Berufsdichter, kein fahrender Sänger war und als Adliger keine Einkünfte als Vortragskünstler bezog.26 Bemerkenswert ist, dass für Historiker es eher Routine ist, die Siegel von ‚fahrenden‘ Rittern zu suchen. Im Mittelalter sind Adelige sozusagen berufsmäßig gereist.27 In der Darstellung Oswalds wurde auch auf den hohen gesellschaftlichen und ökonomischen Status hingewiesen, was nicht nur die purpurfarbene Mütze mit Hermelinbesatz am Rand, die das Haupt bedeckt, ohne die in Locken gelegten, braunen vollen Haare zu verdecken, bezeugt, sondern auch das wohlgenährte Aussehen im Doppelkinn.28 Hingegen korreliert eine Federzeichnung des Dichters, die sich in der Wolfenbütteler Handschrift befindet (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 11 Aug.4, Fol. 202v), nicht mit der obigen Beschreibung, denn sie gibt Oswald einen Bart bei, auch zeigt sie ihn von schlanker Statur. Diese Darstellung beansprucht keinerlei Porträtcharakter und der Dichter ist durch die Namenbeischrift und sein Wappen zu identifizieren.29 Namen und ihre Ordnung sind in Oswalds Werk von Bedeutung. Oswalds Name ist beispielsweise im Lied 85 („‚Nu huss!‘ sprach der Michel von Wolkenstain“: „‚Nu huss!‘ sprach der Michel von Wolkenstain/‚so hetzen wir!‘ sprach Oswalt von Wolckenstain,/‚za hürs!‘ sprach her Lienhart von Wolkenstain,/‚si ←15 | 16→müssen alle fliehen von Greiffenstain geleich.‘“) und 122 („Mich fragt ain ritter“: „‚geschriben nach den büchern alt,/und die man teglich bessern tüt,/darinn ist meniklich behüt,/wo man die füret lauter, rain,/beckenn ich, Oswalt Wolckenstain.‘/Anno M CCCC XXXVIII hec fabula completa per me Oswaldum militem”) zu finden. Die Hierarchie der Namensnennung wird von Oswald eingehalten. Stets wird der Ranghöhere, oder bei Verwandtschaftsbeziehungen der Ältere, an der ersten Stelle genannt, ebenso wird eine weibliche Person immer nach der männlichen angeführt. Dieses Prinzip wird in einem einzigen Fall durchbrochen, und zwar im Lied 116, wo Oswald an erster Stelle steht, bevor neben anderen Personen sein älterer Bruder Michael genannt wird (Ich Oswold von Wolkenstein Ich Michael von Wolkenstein sein Brud(er)).30 Jedenfalls war in dem für einen Lyriker des Mittelalters voluminösen Œuvre das häufigste Wort „ich“. Wer jedoch aus Oswalds Werk Details für seine Vita gewinnen möchte, soll den Fragen nachgehen, welche Bedeutung die hohe Frequenz dieses Pronomen hat und inwieweit dieses Ich eigentlich biographische Relevanz beanspruchen kann.31 Oswald von Wolkenstein, der fähig war, die Tradition seiner Zeit einzigartig zu interpretieren und dabei schwer nachahmbar war, war sich seines Wertes als Dichter und Musiker wohl bewusst. In seinen Werken spiegeln sich sowohl sein politischer Rang und die internationale Dimension seines Lebens als auch seine sprachliche Vielfältigkeit.32 Und wenn Peter Rühmkorf auch zu Recht die Ich-Besessenheit Walthers von der Vogelweide statistisch nachgewiesen hat, so bleibt der doch die dreiste Ausnahme,33 während Wolkenstein daraus ←16 | 17→die Regel macht. Es wird als Vorbild und Exempel – auch wenn dieses „Ich“, wie Kühn meint, vor allem geistliche Demut ausdrücken sollte.34 Dieter Kühn, Verfasser einer Biographie unter dem viel bedeutenden Titel Ich Wolkenstein, der ein Zitat aus Oswalds Werk ist, weist darauf hin, dass in dieser Formel sich aber kein Anschwellen von Stolz, sondern eher Demut zeigt. Diese Formel klingt zwar nicht bescheiden, aber sie siegelt, etwa auf Urkunden, eigentlich mehr Oswald von Wolkenstein den Ritter (und nicht den Künstler).35

Autobiographie oder literarische Fiktion?

Oswalds Lyrik enthält ein mehr oder weniger inszeniertes und fiktionalisiertes autobiographisches Material,36 was die früher genannte ‚autobiographische‘ Ballade 18 beweist. Es lässt sich ein rein imaginiertes, fiktives Ich von einem autobiographischen Ich des Typs ich Wolkenstein relativ deutlich trennen. Es kann nicht geleugnet werden, dass er sein Leben in den Liedern stilisiert, dass er – wie jede (auch nichtliterarische) Autobiographie – historische Fakten auf seine subjektive Art und Weise ‚interpretiert‘. Oswald ist jedoch mit anderen mittelalterlichen Lyrikern des Typs Walther von der Vogelweide nicht zu vergleichen. Oswald stilisiert seine Vita, aber er ‚erfindet‘ sie nicht. Man darf wohl eine besondere „biographische Authentizität“ annehmen – dort, wo das lyrische Ich gar mit dem Namen des Autors verbunden erscheint, das heißt, das lyrische Dichter-Ich darf zuweilen – mit der gebotenen Vorsicht – mit dem biographischen Ich des Tiroler Ritters gleichgesetzt werden.37 Eine besondere Authentizität können vor ←17 | 18→allem Passagen beanspruchen, in denen das lyrische Ich (zuweilen in Verschränkung mit dem Namen des Autors) fern von jedem minnesanglichen Anklang bleibt. Viele Interpreten sind überzeugt, dass in solchen Liedern das lyrische Ich weitgehend mit dem biographischen Ich gleichgesetzt wird.38 Wirklich außergewöhnlich sind aber nicht sein zugegebenermaßen ereignisreiches Leben und seine Reisen, sondern die herausragende Qualität seiner Texte und Lieder sowie die Tatsache, dass er als einer der ersten Dichtersänger autobiographische Lieder verfasst und sein eigenes Leben zum Gegenstand vieler seiner Werke gemacht hat. Die ‚autobiographische‘ Lyrik des deutschen Mittelalters beginnt erst mit Oswald von Wolkenstein und seine autobiographische Lyrik erscheint, historisch gesehen, wie aus dem Nichts, weil sie ohne Vorstufen oder Vorläufer entstanden ist. Diese Lyrik weist jedoch wesentliche Unterschiede zu neuzeitlichen Autobiographievorstellungen auf. Für Oswalds Lyrik ist ein subtiles Spiel mit dem eigenen Ich, das heute nur unter Mühen zu entwirren ist, um die Anteile, die sich auf das Autor-Ich, das Rollen-Ich und das biographische Ich beziehen, zu unterscheiden.39 Oswalds Einfluss auf die großen Strömungen der Kultur war interessanterweise relativ gering, obwohl er für seine Qualitäten als Dichter und als einer der Ersten, der Mehrstimmigkeit umfangreich auf deutsche Texte einsetzte, bekannt ist. Es kann damit verbunden werden, dass viele seiner Lieder individuell, persönlich, speziell auf bestimmte Ereignisse und Kreise ausgerichtet waren. Er mag in seinen Liedern übertrieben und mit künstlerischer Freiheit überzeichnet haben, er hat aber weder seine Erlebnisse noch seine Fertigkeiten völlig frei erfunden.40

Dieter Kühn weist darauf hin, dass ein gewisser Grad der Fiktion in der Autobiographie einen integralen Teil bildet. Er beschreibt, dass selbst ein so umfassend gebildeter und weitgereister Mann wie Enea Silvio Piccolomini pseudorealistische Darstellungen purer Fiktionen41 und Wilhelm von Rubruk, ein Franziskaner, der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts eine Missionsreise zu den ←18 | 19→Tataren, den Mongolen unternommen hatte,42 neben nüchternen Angaben auch Märchenhaftes vermitteln.43 In seinem berühmten Lebenslied Es fügt sich irritieren, so meint Kühn, einige Details, vor allem die Angaben, dass er mit drei Pfennigen und ein wenig Brot losgezogen war, die der ökonomischen Lage nicht entsprechen. Wenn man Mayrs Ausführungen folgt, kann es eher bedeuten, dass Oswald keine exakten Angaben macht, weil es vielmehr Glücksgaben der Eltern waren.44

Bei der Interpretation von Oswalds Liedern, was auch Dieter Kühn betont, ist, wie bei jeder Autobiographie, unvermeidliche Mischung von Realität und poetischer Stilisierung zu berücksichtigen. Nach Klaus J. Schönmetzler sei in diesem Fall vom Leben für drei Leben zu sprechen. Oswald war ein fahrender Ritter, bäuerlicher Edelmann, Politiker, Diplomat, aber auch ein virtuoser Dichter, Komponist, Sänger, der in seinen Liedern und in seiner Existenz oft äußerlich brutal, zugleich aber überempfindlich und verwundbar war. Kaum ein Dichter, der in der deutschen Sprache geschrieben hat, hat so bewusst und ausdauernd Ich gesagt und den eigenen Namen ins Werk einbezogen.45

Reiselieder – Reiseerfahrung oder Stilmittel?

Das Werk Oswalds ist so facettenreich wie seine Person: Er war bedeutender Adliger, einflussreicher Politiker auf Reichsebene, der durch ganz Europa reiste und in den höchsten Kreisen verkehrte, was sich auch in seinem Werk niederschlägt. Seine Lieder enthalten viele autobiographische Details, zeichnen sich durch derben Humor und Einflüsse aus Frankreich und Italien aus.46 Eine der Besonderheiten des Werkes von Oswald sind seine Reiselieder, in denen er bekannte Muster überschreitet. Oswald hat die Form der deutschsprachigen Reiselieder ‚erfunden‘, bei ihm findet sich erstmals ein Liedtyp, der als Reiselied bezeichnet wird.47 Darunter ist ein Lied zu verstehen, in dem eine Reise in einem ←19 | 20→Verlauf oder ein wichtiges Ereignis während einer Reise erzählt wird. Oswald hat dabei persönliche Reiseerlebnisse auch in traditionellen Gattungen einmontiert, wie in einem Tage- und Pilger-Abschiedslied (Kl 17), einem Frühlingstanzlied (Nr. 21) oder einem Weihnachtslied (Nr. 35).48 In älteren Beiträgen werden die geographischen Kataloge aufgefasst als Nachvollzug realer Reiserouten, als Selbststilisierung der eigenen Reiseerfahrung oder als Ausdruck selbst gewonnener Kenntnisse. Dem wurde aber entgegengestellt, dass sie nicht in räumlichen und zeitlichen Abfolgen dargestellt wurden und dass Oswald versucht hat, die Tradition des Registers zu überbieten, beispielsweise im Lied 44, in dem eine Anordnung des Wohlklangs erfolgt.49 Oswalds Namenreihungen geben Ausdruck einer dichterischen Faszination und der Beliebtheit dieses Stilmittels bei dem spätmittelalterlichen Publikum.50

Oswald konnte nicht nur Pilgerfahren und Kreuzzüge in weite Teile Europas und ins Heilige Land unternehmen, was für viele christliche Ritter üblich war, sondern er befuhr zu Schiff das Schwarze Meer und – wenn man seinen eigenen Aussagen glaubt – er reiste nach Dänemark, Schweden und Vorderasien.51 Reisen, u.a. nach Frankreich, England, Schweden und Portugal, beschreibt er im Lied 12:

In Frankereich,

Ispanien, Arrigun, Castilie, Engelant,

Tennmark, Sweden, Behem, Ungern dort,

in Püllen und Afferen,

in Cippern und Cecilie,

in Portugal, Granaten, Soldans kron,

←20 | 21→

Die sechzehen künigreich

hab ich umbfaren und versücht, bis das ich vand

mit treuen neur am stäten hort; […].

Es war kein Wunder, dass Oswald die Reise nach England, Schottland und Irland, Portugal und Frankreich, die ihn aus der Enge des Tiroler Raumes und des Kirchendienstes in die große Welt führte, als Höhepunkt seines Lebens betrachtete. Sie wurden in einem seiner bekanntesten Lieder verherrlicht.52 Weitere Reisen werden auch im Lied 44 thematisiert:

Durch Barbarei, Arabia,

durch Hermani in Persia,

durch Tartari in Suria,

durch Romani in Türggia,

Ibernia,

der sprüng han ich vergessen.

Durch Reussen, Preussen, Eiffenlant,

gen Litto, Liffen, übern strant,

gen Tennmarckh, Sweden, in Prabant, […].

durch Flandern, Franckreich, Engelant

und Schottenland

hab ich lang nicht gemessen,

Durch Arragon, Kastilie,

Granaten und Afferen,

aufs Portugal, Ispanie

bis gen dem vinstern steren,

von Profenz gen Marsilie.

In Races vor Saleren, […]

Oswald hat dem scharfen Kontrast zwischen den beiden Welten (Tirol und „weite Welt“) in einem seiner bekannten Lieder (Nr. 44) Ausdruck verliehen, wo er den grauen Familienalltag auf Hauenstein beklagt:53 „das si mich armen Wolckenstein/die wolf nicht lan erzaisen,/gar verwaisen“. Auch wenn sich angesichts der weiten Reisen die Vorstellung von einem frühen ‚Europäer‘ aufdrängt, widerspricht dem jedoch die Tatsache, dass es im Wortschatz des Dichters kein europäisches Gemeinschaftsbewusstsein zu finden ist.54

Der Schriftsteller Dieter Kühn fragt hingegen: „Was könnte den Leit-Ritter in die Provence gelockt, was könnte er in der Region gesucht, vielleicht auch ←21 | 22→gefunden haben? Es lässt sich nicht eruieren, nicht rekonstruieren“.55 Daraus folgt, dass auch wenn vielleicht die Reiseroute zu rekonstruieren ist, Beweggründe und Reiserlebnisse oft geheim bleiben.

Details

Seiten
266
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631786673
ISBN (ePUB)
9783631786680
ISBN (MOBI)
9783631786697
ISBN (Hardcover)
9783631782880
DOI
10.3726/b15480
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Kunst Künstlerin Genie Künstlerexistenz Künstlergeschichte Schöpfer
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 266 S., 4 s/w Abb.

Biographische Angaben

Nina Nowara-Matusik (Band-Herausgeber:in)

Nina Nowara-Matusik ist Literaturwissenschaftlerin, Germanistin und Übersetzerin. Sie arbeitet am Institut für Germanische Philologie der Schlesischen Universität in Katowice (Polen). Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutschsprachige Literatur von Frauen, deutsche Literatur in Schlesien, literarische Phantastik, Künstlerproblematik in der Literatur, das Werk von Eberhard Hilscher und literarische Übersetzung.

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Titel: Facetten des Künstler(tum)s in Literatur und Kultur
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