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Sicherheit Denken

Entspannungspolitik auf der Zweiten Ebene 1969-1990

von Sabine Loewe-Hannatzsch (Autor:in)
©2019 Dissertation 310 Seiten

Zusammenfassung

Gerade wegen der Abkühlung des sowjetisch-amerikanischen Verhältnisses entwickelten sich die Beziehungen zwischen ost- und westdeutschen Instituten für Außen- und Sicherheitspolitik in den 1970er und 1980er Jahren beträchtlich weiter. Beide deutsche Staaten blieben sowohl an einem bi- wie multilateralen Entspannungsprozess über die Blockgrenzen hinweg interessiert und führten diesen teils auch gegen die explizit formulierten Erwartungen der jeweiligen Hegemonialmacht fort. Die Analyse greift sowohl den Perzeptionswandel einer deutsch-deutschen epistemic community als auch die sicherheits- und militärpolitischen Aspekte der Beziehungen zwischen Bonn und Ostberlin auf. Die Autorin holt somit die Bedeutung multilateraler Sicherheitspolitik in die Geschichte der Wiedervereinigung zurück und präsentiert eine neue Dimension der gegenseitigen Beeinflussung nicht nur der Institute sondern auch der Politikelite allgemein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1 Ost- und Westdeutsche Politikforschungsinstitute und ihre Aufgaben
  • 1.1 Die Institute der Deutschen Demokratischen Republik
  • 1.1.1 Das Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg
  • 1.1.2 Das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft in Ostberlin
  • 1.2 Die Institute der Bundesrepublik Deutschland
  • 1.2.1 Das Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien in Köln
  • 1.2.2 Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen
  • 1.2.3 Das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg
  • 1.3 Die Verflechtung von Wissenschaft und Politik
  • 1.4 Grenzübergreifende institutionelle Kontakte – Voraussetzung und Wahrnehmung
  • 2 Institutskontakte in der ersten Hälfte der 1970er Jahre: Aufbau und das Ziel einer militärischen Entspannung
  • 2.1 Experten westdeutscher Institute als Vertreter von Willy Brandts Konzept der Neuen Ostpolitik 1968 bis 1970
  • 2.2 Die Nutzung bestehender internationaler Kanäle zum bilateralen Kontaktaufbau
  • 2.3 Inhalt der internationalen Veranstaltungen: Europäische Sicherheit und europäische Sicherheitskonferenz
  • 2.4 Veränderungen der gegenseitigen Perzeption auf internationalen Veranstaltungen
  • 2.5 Ergänzung der politischen Entspannung durch eine militärische Entspannung
  • 3 Ausbau und Inhalte der Kontakte 1977 bis 1983: Die Etablierung eines institutionellen Netzwerkes
  • 3.1 Krise der Entspannung – Suche nach neuen Ansatzpunkten
  • 3.2 Exkurs: Netzwerkanalyse – Der Aufbau eines deutsch-deutschen Netzwerks auf institutioneller Ebene
  • 3.3 Inhalt der institutionellen und persönlichen Kontakte
  • 4 Nutzung der ausgebauten Kontakte 1983 bis 1987: Das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit
  • 4.1 Rahmenbedingungen für den Diskussionsprozess über Gemeinsame Sicherheit
  • 4.2 Expertengespräche zwischen ost- und westdeutschen Instituten
  • 4.3 Gemeinsame und unterschiedliche Standpunkte
  • 4.4 Inhaltliche Ausarbeitungen der Idee Gemeinsame Sicherheit durch die Institute
  • 4.5 Die Modelle der Konventionellen Stabilität und der Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit
  • 4.5.1 Westdeutsche Ansätze: „Anhörungen“ des IFSH über Konventionelle Stabilität und Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit
  • 4.5.2 Ostdeutsche Ansätze
  • 4.5.3 Gemeinsame Auswertungen
  • 5 Neue sicherheits- und militärpolitische Konzepte für Europa und die deutsche Wiedervereinigung 1988–1990
  • 5.1 Wandlungsprozesse im internationalen System
  • 5.2 Abrüstungsvarianten im Rahmen eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems
  • 5.2.1 Das Modell der Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften und die Entmilitarisierung der Sicherheit
  • 5.2.2 Ideen zur Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems
  • 5.3 Abrüstung und Lösung der deutschen Frage im Rahmen der Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses
  • 5.3.1 Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) – Von Abrüstungsverhandlungen zum diplomatischen Forum für eine zukünftige Gestaltung Europas
  • 5.3.2 Neue außenpolitische Konzeptionen der DDR zur Sicherung ihrer Existenz
  • 5.4 Die Idee konföderativer Strukturen zwischen der DDR und der Bundesrepublik
  • Schlussbetrachtung
  • Anhang
  • Quellen- und Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

Jeder der Beteiligten wusste, dass wir – jeder auf seiner Seite – im Vorfeld derer arbeiteten, die die direkte Politik machten. […]. Es ist sicher nie über alles geredet worden, aber der Sinn der Kontakte bestand darin zu verstehen, wie denkt die Gegenseite, was sind deren Probleme, was sind deren Interessen, was sind deren Prioritäten, um das in den jeweiligen Prozess der politischen Strategieentwicklung und Entscheidungsfindung mit einzuspeisen.“

Wolfgang Schwarz, IPW-Mitarbeiter

„Grundlage der Gespräche war ein aufgebautes Vertrauensverhältnis und ein vertraulicher Austausch von Informationen. Der Vertrauensaufbau war ein langwieriger Prozess und basierte auf grundlegenden Prinzipien.“

Eberhard Schneider, BIOst-Mitarbeiter

„Das IPW entwickelte sich zu einem gefragten inoffiziellen Ansprechpartner für Politiker, Parlamentarier, Wissenschaftler aller bedeutenden außenpolitischen Institute, für Vertreter aus der Wirtschaft und später auch für Militärs. Man kann sagen, dass IPW betrieb eine Art Nebenaußenpolitik.“

Max Schmidt, IPW-Direktor

Auf den ersten Blick geben diese Zitate Auskunft über Umfang, Arbeitsweise und Ziele deutsch-deutscher Kontakte auf institutioneller Ebene in den 1970er und 1980er Jahren. Liest man die Aussagen jedoch ein weiteres Mal, zeigen sich die unterschiedlichen Dimensionen des Handelns zwischen ost- und westdeutschen Politikforschungsinstituten oder „think tanks“. Der Terminus Think Tank1 ←13 | 14→entstand während des Zweiten Weltkriegs und charakterisierte einen abhörsicheren Ort, an dem zivile und militärische Experten neue Strategien und Konzepte erarbeiteten. Der Begriff assoziierte einen sicheren Platz zum Nachdenken und entwickelte sich nach 1945 zur allgemeinen Bezeichnung für Politikberatungsinstitutionen. Obwohl es bis heute keine einheitliche und umfassende Definition für den Begriff gibt, können aber auch die Forschungsinstitute für Außen- und Sicherheitspolitik der beiden deutschen Staaten während des Ost-West-Konflikts aufgrund der allgemeinen Charaktereigenschaften und ihrer Aufgaben hier eingeordnet werden. Neben der Präsentation von Forschungsergebnissen und der Forcierung einer öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte stand die Beratung der Politik im Vordergrund.

Aus den oben genannten Zitaten lassen sich mindestens drei Ebenen ableiten. Die Erste ist die der „antagonistischen Kooperation“.2 Es ging dabei um die Beziehung der beiden gegnerischen Systeme und der Kommunikation über Systemgrenzen hinweg. Nach den Krisen in Kuba und Berlin, die fast zum Atomkrieg geführt hätten, änderten sich die Perspektiven in Moskau und Washington und es begann die Entwicklung neuer grenz-, block- und systemübergreifender Kommunikations- und Kooperationsstrukturen.3 Während in den 1950er Jahren konfrontative Verhaltensmuster dominierten, führten die jahrelange Hochrüstung beider Blöcke und neue machtpolitische Konstellationen Ende der 1960er Jahre zu Koexistenz und partieller Kooperation. Die „Ära der Konfrontation“ sollte laut Präsident Nixon durch eine „Ära der Verhandlungen“ ←14 | 15→abgelöst werden.4 Die Ost-West-Konfrontation erfuhr in den 1960er Jahren eine Abschwächung und ging so in eine „antagonistische Kooperation“ über. Durch Gespräche, Verhandlungen, Rüstungskontrollmaßnahmen und wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte gegenseitiges Vertrauen geschaffen werden. Am eigentlichen Systemkonflikt änderte sich aber nichts.

Die zweite Dimension, die Vertrauensbildung, war die „Grundlage der Gespräche“ so der ehemalige Mitarbeiter des Bundesinstituts für Internationale und Osteuropäische Studien (BIOst) Eberhard Schneider. Dieser „langwierige Prozess“, der auf „grundlegenden Prinzipien basierte“, kann mit Rational Choice Ansätzen5 nur bedingt erklärt werden. Darum wird in dieser Arbeit ein akteurszentrierter Ansatz verfolgt, der die Persönlichkeiten und Biographien der Experten6 für Außen- und Sicherheitspolitik der ost- und westdeutschen Institute mit in Betracht zieht, um die Dynamik der deutsch-deutschen Institutsbeziehungen zu analysieren. Andererseits liegt der Fokus auch auf den Inhalten der Gespräche, denn der Konflikt der Gesellschaftssysteme hatte nicht nur den geographischen Schwerpunkt in Europa und besonders im geteilten Deutschland, sondern immer auch eine militärische und sicherheitspolitische Dimension.

←15 | 16→

Im Juli 1985 trafen sich Wolfgang Schwarz und weitere Fachleute des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) mit Vertretern des Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) in Ostberlin, um über die konzeptionelle Ausarbeitung der Idee einer Gemeinsamen Sicherheit zu debattieren. Das Treffen bildete den Auftakt zu einer ganzen Reihe von Diskussionsrunden zwischen beiden Instituten, in denen die ost- und westdeutschen Vertreter Ideen und inhaltliche Präzisierungen verfolgten, um gleiche oder ähnliche Herangehensweisen und Perzeptionen auszuarbeiten. Zwischen 1985 und 1987 fand zwischen den IFSH- und den IPW-Experten so ein reger wissenschaftlicher Austausch über den Inhalt, die Anwendbarkeit und die praktischen Konsequenzen des Konzepts der Gemeinsamen Sicherheit statt.

Dieser äußerst intensive Meinungsaustausch zwischen dem IPW und dem IFSH steht hier stellvertretend für zahlreiche weitere Diskussionsforen in den 1980er Jahren, an denen eine ganze Reihe weiterer wissenschaftlicher Institutionen in Deutschland teilnahmen.7 Bereits Anfang der 1970er Jahre wurden die Voraussetzungen und das Vertrauensverhältnis für derartige Kontakte zwischen ost- und westdeutschen Experten für Außen- und Sicherheitspolitik gelegt. Aufgrund der wenigen Möglichkeiten bis Ende der 1960er Jahre direkte Kontakte der Bundesregierung zur DDR zu realisieren, verlagerte man die deutsch-deutschen Gespräche auf eine semi-offizielle Ebene.

Eine dritte Ebene verdeutlicht die zunehmende Vernetzung zwischen ost- und westdeutschen Instituten. In den frühen 1970er Jahren begann der Aufbau eines Netzwerks, dass in den folgenden Jahren bei der Entwicklung deutsch-deutscher sicherheits- und militärpolitischer Konzepte eine zentrale Rolle spielen sollte. Dass die blockübergreifenden Institutskontakte Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre weiter ausgebaut und voll genutzt werden konnten, basierte auf dem langjährigen Vertrauensaufbau, der mit den Kontaktbemühungen zu Beginn des Jahrzehnts auf internationaler Ebene begonnen hatte. Mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im August 1975 wurde ein System von Verhaltensregeln geschaffen, das eine weitere Intensivierung der Kontakte erst ermöglichte. Die Vertiefung der Kooperation auf Institutsebene sollte sich bald vom einfachen Informationsaustausch Anfang der 1970er Jahre hin zur ←16 | 17→Erarbeitung gemeinsamer Situationsanalysen und sicherheitspolitischer Konzepte in den 1980er Jahren entwickeln.

Trotz der Abkühlung des Verhältnisses zwischen den beiden Großmächten Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre blieben beide deutsche Staaten weiterhin sowohl an einem bi- wie multilateralen Entspannungsprozess über die Blockgrenzen hinweg interessiert – und führten letztlich diesen teils auch gegen die explizit formulierten Erwartungen der jeweiligen Hegemonialmacht fort.8 Die Auswertung des Archivmaterials zeigt, dass sich gerade wegen der Verschlechterung des Verhältnisses der beiden Großmächte die deutsch-deutschen Beziehungen auf institutioneller Ebene in den folgenden Jahren qualitativ und quantitativ beträchtlich weiterentwickelten.9 Neben der Erweiterung der Kontakte zwischen Instituten und Wissenschaftlern veränderten sich auch die Inhalte der Gespräche deutlich. Lag zu Beginn der 1970er Jahre das Hauptaugenmerk auf der Vermittlung der eigenen grundsätzlichen Standpunkte, so rückte zum Ende des Jahrzehnts die Aufrechterhaltung der politischen Entspannung und deren Ergänzung durch eine militärische Entspannung in den Fokus.

Die rapide Verschlechterung der weltpolitischen Atmosphäre stellte beide deutsche Staaten vor enorme Herausforderungen. Die seit Ende Oktober 1973 geführten Gespräche über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa (MBFR) erzielten keine nennenswerten Fortschritte. Das KSZE-Folgetreffen in Belgrad 1977/1978 blieb ergebnislos.10 Die Verhandlungen über das SALT II Abkommen zwischen den USA und der Sowjetunion schienen still zu stehen, und parallel dazu fand ein ungehindertes Wettrüsten zwischen beiden Supermächten statt. Die Modernisierung bestehender Waffensysteme und die Neuentwicklung ganzer Waffengattungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verschärfte das Dilemma in Bonn und Ostberlin.11 Die Verhinderung eines ←17 | 18→militärischen Konflikts stellte eine der Hauptaufgaben der Außen- und Sicherheitspolitik beider deutschen Staaten in den späten 1970er Jahren dar. Daraus resultierte das gemeinsame Interesse zwischen der Bundesrepublik und der DDR einen Krieg und den Einsatz von atomaren Waffen in Zeiten einer sich wieder verschärfenden Blockkonfrontation zu vermeiden.

Details

Seiten
310
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631784754
ISBN (ePUB)
9783631784761
ISBN (MOBI)
9783631784778
ISBN (Hardcover)
9783631779019
DOI
10.3726/b15401
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Sicherheitspolitik Ost-West-Konflikt Politikberatung Epistemic Community Friedens- und Konfliktforschung Abrüstung/ Rüstungskontrolle
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 310 S., 3 s/w Abb.

Biographische Angaben

Sabine Loewe-Hannatzsch (Autor:in)

Sabine Loewe-Hannatzsch studierte Geschichte und Internationale Beziehungen an der University of San Diego. Ihre Promotion erfolgte an der Universität Mannheim.

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