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Genuss und Arbeit im Angestelltenroman

Von Irmgard Keun bis Elfriede Jelinek

von Lucas Alt (Autor:in)
©2021 Dissertation 466 Seiten

Zusammenfassung

Ist ‚gutes Leben‘ im Kapitalismus möglich? Diese Frage verhandeln Angestelltenromane seit ihrer Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die vorliegende Studie analysiert das Spektrum zwischen Müssen und Muße, Lust und Frust, Arbeit und freier Zeit vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen Verwertungsmoral. Die interdisziplinäre Darstellung verbindet dabei Ergebnisse der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften und ermöglicht einen Einblick in die paradoxen Psychodynamiken moderner Arbeitsverhältnisse.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • This eBook can be cited
  • Vorwort
  • Inhalt
  • 1. Einführung
  • 2. Krisen
  • 2.1 Was ist eine Krise? – Annäherungen an Struktur und Begriff
  • 2.2 Wirkungsweisen von Krisen
  • 2.3 Krisen und kollektives Bewusstsein
  • 2.4 Die Krise und das Ich – Individualität in überindividuellen Krisen
  • 2.4.1 Formen des Umgangs mit Krisen: Anpassung – die Krise als Krise
  • 2.4.2 Formen des Umgangs mit Krisen: Widerstand – die Krise als Katastrophe
  • 2.5 Der Angestellte als Figuration der Krise
  • 3. Arbeit und Freizeit im Angestelltendiskurs des 20. und 21. Jahrhunderts
  • 3.1 Der Aufstieg geistiger Arbeit
  • 3.1.1 Vom Privileg zum Massenphänomen – der Angestelltenstatus als Politikum
  • 3.1.2 „Klassenbewusstsein“ in der linken Ideologie – Die Angestellten als „Stehkragenproletariat“ zwischen den Klassen
  • 3.1.3 Der Schein bestimmt das Bewusstsein – Symbolische Ordnungen der Distinktion
  • 3.1.4 Die Diskursivierung des Angestellten zwischen Klischee und Kritik
  • 3.1.5 Geistige Arbeit im Nationalsozialismus
  • 3.2 Von der Angestelltenrepublik zum Strukturbruch
  • 3.2.1 Die Nachkriegsgesellschaft der BRD als „Angestelltengesellschaft“
  • 3.2.2 Die Angestellten zwischen Fordismus und Postfordismus – die Automation des Büros
  • 3.2.3 Der Sinn der Arbeit an den Grenzen der Moderne
  • 3.2.4 „Erfahrungshunger“ – Entfremdung als hedonistischer Impuls und Revolutionspotential
  • 3.3 Zum Wandel geistiger Arbeit im Postfordismus
  • 3.3.1 Entgrenzte Arbeit
  • 3.3.2 Subjektivierte Wirklichkeiten
  • 3.3.3 Die Ästhetik der Prekarität
  • 3.4 Fazit – Freizeit und Nichtarbeit in Zeiten entgrenzter Arbeit
  • 4. Hedonismus
  • 4.1 Von der Antike zur Gegenwart: Hedonismus als emanzipatorisches Projekt
  • 4.2 Zeitgenössische Elemente hedonistischer Philosophie – Robert Pfallers Theorie des kulturellen Genießens
  • 4.2.1 Asketischer Eigensinn versus humorvolle Lustkompetenz – Verdopplung, Übertretung und das besondere Genussmittel
  • 4.2.2 Bedürfnisarmut in der Überflussgesellschaft – symbolische Ersetzungen als Quellen narzisstischer Lust
  • 4.2.3 Freundschaft, Gesellschaft, Kultur – Hedonismus und Kollektivität
  • 4.3 Fazit – Formen der Lust: solidarisches und narzisstisches Genießen
  • 5. Irmgard Keun: „Gilgi. Eine von uns“ – Sinnlichkeit als Last und Hindernis
  • 5.1 Hinführung
  • 5.2 Figurenanalyse
  • 5.2.1 Gilgi: Die Genussverzichterin
  • 5.2.2 Martin: der Genuss suchende Narzisst
  • 5.2.3 Olga: die hedonistische Genießerin
  • 5.2.4 Pit: der misanthrope Sozialist
  • 5.3 Themengeleitete Analyse
  • 5.3.1 Kontakt mit Welt? – Innerlichkeit versus Äußerlichkeit, Narzissmus versus Solidarität
  • 5.3.2 Kulturelle Genussgebote und die Krise patriarchalen Genießens
  • 5.3.3 Interpassivität
  • 5.4 Fazit
  • 6. Hans Fallada: „Kleiner Mann – was nun?“ – Ideologie des ‚kleinen Glücks‘?
  • 6.1 Hinführung
  • 6.2 Krise und Genuss
  • 6.2.1 Kleinbürgerliches Genießen
  • 6.2.2 Alternatives Genießen
  • 6.3 Soziales Genießen: Die Krise als Spalter und Bindemittel
  • 6.4 Rauschhaftes Schauen – das Kino als problematisches Medium visuellen Genießens
  • 6.5 Fazit
  • 7. Elfriede Jelinek: „Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft“ – die Kritik patriarchalen Genießens als Utopie
  • 7.1 Hinführung
  • 7.2 Gewalt und Lust: Patriarchales Genießen
  • 7.3 Der Mythos von der Arbeit als Freude
  • 7.4 Medialität und Realität: Formen der Hybridität und Verwechslung als (Un-)Lustregime
  • 7.5 Fazit
  • 8. Wilhelm Genazino: „Abschaffel“ – Auf der Suche nach der verlorenen Lust – Entfremdung als hedonistisches Revolutionspotential?
  • 8.1 Hinführung
  • 8.2 Müdigkeit, Entfremdung, Langeweile – die Minimalform des Daseins als ästhetisches Konzept
  • 8.3 Arbeit und Nichtarbeit – Die Welt „als Fortsetzung des Büros“
  • 8.4 Soziales Genießen
  • 8.4.1 Einsamkeit, Isolation und narzisstisches Genießen
  • 8.4.2 Solidarität und Freundschaft
  • 8.4.3 Transformationen sexuellen Genießens
  • 8.4.4 Die Sozialform Familie als antihedonistische Lustökonomie und als Unterdrückungsregime
  • 8.4.5 Soziabilität als Exotismus: Das andere Genießen der „Gastarbeiter“
  • 8.5 Gustatorisches Genießen
  • 8.5.1 Transformationen gustatorischen Genießens
  • 8.5.2 Kulturelle Funktionen gustatorischer Genussmittel
  • 8.6 Fazit
  • 9. Thomas von Steinaecker: „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen.“ – Die Nutzbarmachung der Sinnlichkeit
  • 9.1 Hinführung
  • 9.2 Optimierung und Ökonomisierung des Selbst oder: narzisstisches Genießen
  • 9.3 Interpassivität: Kulturkapitalistische Statusanzeiger und symbolische Ersetzungen
  • 9.4 Mit Emotionen arbeiten – Manipulation und Instrumentalisierung des Sinnlichen…
  • 9.5 Entsolidarisierung in Zeiten entgrenzter Wirtschafts- und Arbeitsverhältnisse
  • 9.6 Illusion und das Bedürfnis nach Authentizität und Unmittelbarkeit
  • 9.7 Fazit
  • 10. Philipp Schönthaler: „Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn“ – Selbstermächtigung und -akkumulation – die Einsamkeit des Daseins
  • 10.1 Hinführung
  • 10.2 Leistungsdiskurse – Arbeitssucht und Faulheitsverzicht
  • 10.3 Die Arbeit am Selbst – das Ethos der Selbstakkumulation
  • 10.4 Materialität als (Un-)Lustpotential – Körperlichkeit zwischen Kränkung und Krankheit
  • 10.5 Fazit
  • 11. Fazit
  • 12. Literatur
  • Reihenübersicht

←12 | 13→

1. Einführung

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.1

Lange Zeit erscheinen Arbeit und Lust als Gegensätze am Horizont des abendländischen Denkens. Während Arbeit im Umfeld von Abhängigkeit, Notwendigkeit und Unterdrückung angesiedelt ist, wird Lust dem Bereich der freien, zwanglosen Muße zugeschlagen.2 Auch das Normalarbeitsverhältnis, wie es sich spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts herausbildet, trägt dieser Grenzziehung in seinen Kategorien von Arbeits- und Freizeit Rechnung. Anfang der 1990er Jahre jedoch wird die Arbeitssoziologie auf einen flächendeckenden gesellschaftlichen Wandel in der Prioritätensetzung bei der Wahl von Arbeitsplatz und Tätigkeit aufmerksam: Immer größere Teile der arbeitenden Bevölkerung treffen ihre arbeits- und karrierebezogenen Entscheidungen nicht mehr allein nach den Maßgaben der ←13 | 14→Existenzsicherung, sondern zunehmend auf der Grundlage individualistischer Luststrategien:

Ob diese „zunehmende normative Subjektivierung der Arbeit“4 ein Grund oder vielmehr das Resultat spätkapitalistischer Zustände ist, kann zwar durchaus diskutiert, hier aber nicht abschließend entschieden werden. Zentral erscheint vielmehr, dass Arbeit zunehmend mit ethischen und ästhetischen Fragen besetzt wird und somit zum positiv konnotierten Gegenstand hedonistischer Lebensführung avanciert.

Diese Beobachtungen über die Entgrenzungen von Arbeit bilden den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Ihr Ziel ist es, Ästhetiken der Lust und des Genießens in literarischen Texten der Arbeitswelt aufzuspüren und nach den Maßgaben hedonistischer Philosophie zu qualifizieren, um dann diskursrelevante Aussagen über das Verhältnis von Arbeit und Lust im vergangenen Jahrhundert treffen zu können. Auf der Makroebene ergibt sich dabei die Frage, ob sich arbeitsbezogene Lust mit einem hedonistisch verstandenen Lustbegriff vereinbaren lässt. Die Arbeit siedelt somit auf einem interdisziplinären Schnittpunkt. Im Rückgriff auf unter anderem philosophische, soziologische, psychologische, psychoanalytische und geschichtswissenschaftliche Theorien und Paradigmata ist sie verortet im Bereich einer literaturwissenschaftlichen Kulturwissenschaft. Im engeren Sinne findet sie ihre Ausgangsbasis in der literarischen Ökonomik. Sie versteht sich als engagierter Beitrag zu einer kritischen wissenschaftlichen Debatte um die Konsequenzen der neueren Arbeitsmarktgestaltung westlicher Politik, ferner als ideologiekritischer Kommentar zur (Un-)Möglichkeit guten Lebens im Kapitalismus der Moderne und Spätmoderne. (Literarische) Texte werden ←14 | 15→dazu mit Aristoteles als Konstrukte möglicher Welten begriffen,5 deren Deutung und Kontextualisierung eine Verbindung zu sozialer, kultureller Realität zulässt.

Hiermit ist im Hinblick auf die bestimmenden gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart auch das Verhältnis von Narration und Kapitalismus angesprochen. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben, wie vor ihnen schon Werner Sombart und Max Weber, festgestellt, dass ein kapitalistisches System seine Legitimation als herrschende Wirtschafts- und Sozialordnung nicht aus sich selbst heraus gewinnen kann. Vielmehr bedarf die Idee, dass Kapitalakkumulation und alle mit ihr verbundenen Implikationen begrüßenswert und im Zweifelsfall moralisch wertvoll sind, externer Sinngebungsverfahren.6 Diese lassen sich als durchsetzungsfähige persuasive Erzählungen deuten, welche in der Lage sein sollen, die Angehörigen eines kapitalistischen Systems möglichst langfristig an dieses zu binden. Ein in dieser Hinsicht zentrales Versprechen kapitalistischer Ideologie besteht seit jeher in der Steigerung kollektiver oder wenigstens partikularer Wohlfahrt. Hier verbinden sich kapitalistische Narrative mit den Implikationen einer populären hedonistischen Weltauffassung: Die Steigerung von Lust scheint über die Akkumulation von Kapital erreichbar.

Wie diese Arbeit ausführlich zeigen wird, entspricht diese These jedoch in mehrfacher Weise einem gedanklichen Kurzschluss. Nicht allein operiert sie mit einem diskursiv bereits stark veränderten Hedonismusbegriff, der sich an kapitalistischen Werten orientiert und unter anderem eine Steigerbarkeit von Lust, analog der Steigerbarkeit von Kapital, annimmt. Auch blendet sie die Kosten von Kapitalakkumulation kategorisch aus, welche ←15 | 16→unter anderem in den Gefahren wachsender Ungleichverteilungen von Kapital und Macht bestehen und somit auch Lust- und Unlustpotentiale zu konzentrieren und zu polarisieren drohen. Überdies setzt die Auffassung, Kapitalismus fördere Hedonismus, das ökonomische Akkumulationsprinzip absolut und verweist so die starke Annahme des Hedonismus, allein Lust sei die Motivation allen lebendigen Daseins und Tuns, auf eine sekundäre Position. Nichtsdestotrotz vermag das kapitalistisch-hedonistische Ideologem insbesondere im vergangenen Jahrhundert persuasiv auf große Bevölkerungsteile (nicht nur) der westlichen Welt zu wirken. Die Installation eines meist oberflächlich verstandenen individualistischen Hedonismus, der alte Traditionen christlich-abendländischer Lustfeindlichkeit allmählich infrage stellt (obwohl er sie tatsächlich vielmehr fortschreibt), gehört zu den großen Erzählungen der okzidentalen Spätmoderne.

Im Kontext der Lebens- und Arbeitswelt westlicher Gesellschaften kommt dabei der Sozialfigur des Angestellten besondere Bedeutung zu. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts übernimmt dieser nicht nur zentrale Funktionen für die voranschreitende Ökonomisierung und Globalisierung westlicher Produktion und Konsumtion (spezifische Formen der Kulturbearbeitung eingeschlossen), sondern fungiert auch als Abstandhalter und Puffer zwischen den verfeindeten Lagern von Bourgeoisie und Proletariat.7 Für das kapitalistische System wird der Angestellte so zur prototypischen Kippfigur. Von seiner politischen Haltung hängen sowohl Aufstieg als auch Fall der antagonistischen Gesellschaftsordnung maßgeblich ab. Nicht umsonst erscheint er daher als hauptsächlicher Adressat der Verlockungen und Verheißungen kapitalistischer Ideologie. Vor allem die Möglichkeiten zu sozialem Aufstieg, Individualismus und symbolischer Distinktion erweisen sich dabei als überzeugende Argumente für die Anpassung an kapitalistische Verhältnisse, die sich, aller Krisen und Kritik zum Trotz (oder vielleicht gerade deswegen8) als erfolgreich durchzusetzen vermögen. Ab Mitte des ←16 | 17→20. Jahrhunderts lässt sich plausibel von „stratifizierten“ Gesellschaften sprechen, deren Gegensätze sich scheinbar entschärft haben. Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt die, ebenfalls in Prozessen geistiger Arbeit organisierte und verwaltete, Globalisierung und räumliche Verlagerung gesellschaftlicher Antagonismen bei.

Die Geschichte der Angestellten lässt sich als Geschichte der modernen Arbeit lesen. Als Agenten und Verwalter eines Kapitals, das sie nicht besitzen, erscheinen die Angestellten als hybride Gestalten zwischen sozialem Auf- und Abstieg. Während ihre Verhältnisse zumeist von Abhängigkeit und nicht selten von Prekarität geprägt sind, pflegen sie ein bürgerliches Selbstverständnis. So vereinen sie in sich die Gegensätze kapitalistischer Ideologie und figurieren zugleich die kapitalistische Krise. Ihre Motivation, als Steigbügelhalter des Kapitalismus zu fungieren, lässt sich hedonistisch erklären: Der Wunsch vom gesellschaftlichen Aufstieg ist lustbezogen, die Abstiegsangst folgt den Maßgaben der Unlustvermeidung. Doch ist auch die resultierende Lusterfahrung, also die Einlösung des kapitalistischen Versprechens, für die Mühen der kapitalistischen Systemstabilisierung ein Mehr an Lust bereitzustellen, tatsächlich hedonistisch?

Dieser Fragestellung um das Verhältnis von Arbeit und Lust im Kapitalismus soll anhand von sechs Angestelltenromanen nachgegangen werden, wohl wissend, dass soziale Realität nicht gleichzusetzen ist mit ihrer literarischen Verarbeitung. Vielmehr werden die analysierten Texte als Diskursfragmente verstanden, die sich mit gesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetzen und auf diese Weise Ideen über gutes Leben (re-)produzieren und aktualisieren, also sowohl kulturverarbeitend als auch -stiftend wirken. Dabei stehen sie jeweils auch in einem bestimmten Verhältnis zu den Sinngebungsverfahren der herrschenden Ideologie und lassen sich in ihrer Eigenschaft, Möglichkeitsräume zu eröffnen, also utopisches Potential zu beherbergen, politisch ausdeuten.

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 18→

Diese Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und in einen analytischen Teil. Den Auftakt der Theorie bildet eine kurze dekonstruktivistische Problematisierung des Krisenbegriffs. Hier wird die Auffassung vertreten, dass Krisen zwar durchaus als fruchtbare Entscheidungszeiträume betrachtet werden können, in ihrer Eigenschaft, dem System kapitalistischer Weiterentwicklung und Expansion anzugehören, immer aber auch eine Gefahr für nicht- oder antikapitalistische Werte darstellen. Konkret wird im Folgenden die Verhandlung über solche Werte im Krisenpanorama anhand des Verhältnisses von (geistiger) Arbeit und Nichtarbeit illustriert. Die zentrale Erkenntnis dieses Kapitels besteht in der zunehmenden gesellschaftlichen Verfemung von Zeiträumen der Nichtarbeit gegenüber einer gestärkten Inwertsetzung von (subjektivierter) Arbeit im Verlauf des zurückliegenden Jahrhunderts. Überdies wird die Sozialfigur des Angestellten in diesem Kontext näher beleuchtet und in ihren Implikationen für die Arbeitsverhältnisse der Moderne erforscht. Prominent erscheint hier zunächst die Arbeit Siegfried Kracauers zu Angestelltenhabitus und -kultur sowie im Weiteren ihre Reflexion und Bearbeitung in der Angestelltensoziologie des vergangenen Jahrhunderts.

Unter dem Eindruck eines übermächtigen Arbeits- und Aktivitätsregimes erscheint die Erforschung von Kontrapunkten hedonistischer Philosophie besonders drängend, versprechen diese doch sinnhafte Alternativen bereitzustellen, denen auch ein ideologiekritischer Wert beigemessen werden kann. Auch die missverständliche Verbindung von Hedonismus und Kapitalismus fordert eine ausführliche Erforschung und Verortung hedonistischer Implikationen. Daher soll nach der umfassenden Entwicklung der Traditionen eines Hedonismus vor allem epikureischer Prägung die Aktualisierung hedonistischer Philosophie unter anderem mithilfe der Genusstheorie Robert Pfallers erfolgen.9 Anhand dieser Ausführungen wird eine Differenzierung von Lust und Genießen erarbeitet, die als maßgebliche Orientierung für die Analyse der Angestelltenromane dienen soll. Verfolgt wird dabei die Frage nach Möglichkeiten des (hedonistischen) Genießens im kapitalistisch durchdrungenen Lebens- und Arbeitskontext. Dabei wird verstärkt darauf ←18 | 19→eingegangen, welche gesellschaftlichen Prototypen (Figuren) unter welchen Umständen und Voraussetzungen auf welche Weise genießen können, dürfen oder müssen.

Für die Literaturanalyse wurden je zwei populäre Romane aus Zeiträumen der Krise ausgewählt, die auf exemplarische Weise die herrschenden Diskurse und Paradigmata zu Arbeit und Lust bearbeiten. Irmgard Keuns „Gilgi. Eine von uns“10 und Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“11 stehen stellvertretend für die Krisenzeit der 1920er und 1930er Jahre,12 die zugleich auch als Hochphase der Angestelltenliteratur bezeichnet werden kann. Aufgrund ihrer Prominenz für diesen Zeitraum erhalten die Romane somit auch prototypischen Charakter. Elfriede Jelineks „Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft“13 sowie Wilhelm Genazinos „Abschaffel“14 erscheinen als Vertreter der Krise der BRD der 1970er Jahre.15 Diese Krisenzeit, im Bewusstsein der Bundesbürger kaum als solche verankert, zeichnet sich durch zahlreiche leichte und schwerere Systemerschütterungen aus. Die vorgestellten Romane üben sich in weitreichender Systemkritik und erscheinen vor allem aufgrund ihrer starken Bezugnahmen zur neusachlichen (Angestellten-)Literatur der Weimarer Republik exemplarisch. Für den Zeitraum der Krise nach 2007 werden in dieser Arbeit Thomas von Steinaeckers „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen“16 sowie Philipp Schönthalers ←19 | 20→„Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn“17 analysiert. Diese Texte fallen vor allem durch ihr postmodernes Programm auf, das Systemkritik mit Mitteln der Ironie und Unabgeschlossenheit leistungsfähig zu halten versucht. Auch sie beziehen sich auf neusachliche Vorgänger sowie auf die gängigen Diskurse aus Angestellten- und zeitgenössischer Arbeitssoziologie.

Die Frage nach der Relevanz dieser Arbeit lässt sich unter mehreren Gesichtspunkten beantworten. Einige sollen im Folgenden kurz erörtert werden. Zunächst bringt die vorliegende Studie weitreichende Erkenntnisse über den Typus des Angestellten als Sozialfigur zwischen den Klassen hervor. Mithilfe hedonistischer Theorie liefert sie Erklärungen für Verhaltensweisen und Gründe der Isolation, Distinktion und Entsolidarisierung geistig Arbeitender im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Überhaupt erscheint Arbeit als zentraler Gegenstand der Kritik dieser Studie. Entgrenzungen von Arbeit werden aufgedeckt, differenziert und in der Analyse exemplarisch besprochen. Ein weiter Arbeitsbegriff bestimmt dabei die Thesen dieser Studie. Insbesondere angesichts utopischer Zukunftsvisionen im Bereich der Digitalisierung, Automatisierung und Robotik wird der Blick auf entgrenzte Arbeitsformen wie die der affektiven, kommunikativen, kooperativen, kreativen, konsumtiven etc. Arbeit18 gelenkt und so dem Glauben an ein heraufziehendes Zeitalter der Nichtarbeit im Kapitalismus eine konsequente Absage erteilt.19 Im Zuge dessen lässt sich die Problematik einer Lust an Arbeit aufzeigen, womit auch kritisch auf die neueren Entwicklungen im Feld der Positiven Psychologie reagiert wird, deren Gegenstand vor allem selbstoptimierende Verfahren sind. In einem in dieser Hinsicht erweiterten Sinne positioniert sich diese Arbeit zudem kritisch zu rezenten Diskursen des ←20 | 21→Trans- oder Posthumanismus, indem sie mit antiken und modernen Mitteln gegen die Bio- und Psychopolitisierung des Daseins und gegen hedonistisch stumpfe Ideologien des Fortschritts argumentiert.

Für eine Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft kann vor allem die Kategorie des Genießens eine wichtige Funktion erfüllen, da sie bestehende Paradigmata zu Macht, Körper, Geschlecht, Nation etc. koppelt, systemisch verarbeitet und auf diese Weise innovative Lesarten ermöglicht. Während so einige der analysierten Texte in ihren Perspektiven beträchtliche Erweiterungen erfahren, werden andere erstmals einer ausführlicheren literaturwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen und somit für die weitere Beforschung fruchtbar gemacht.

Darüber hinaus beteiligt sich die vorliegende Studie an der Rehabilitierung hedonistischer Philosophie als Theorie kluger Seelenführung und als erlernbare Lebenskunst des sozialen Miteinanders – Ziele, die durchaus auch von gesellschaftspolitischer Tragweite sind. Nicht zuletzt schließt sie darin an Diskurse der gegenwärtigen Postwachstumsökonomie an, ohne jedoch die materiellen und kulturellen Grundlagen von Lust und Genießen aus dem Blick zu verlieren. Als (politische) Forderung für ein gutes Leben steht daher auch nicht der unbedingte materielle Verzicht umfassender Askese (wie sie als Technik der individuellen Selbstversicherung in den prekären Überflussgesellschaften des Westens ohnehin zur Mode geworden ist20) im Mittelpunkt der Argumentation, sondern vielmehr eine durchdachte hedonistische Entscheidungskompetenz, die sinnvoll und nachhaltig materielle Ressourcen einzusetzen und zu reklamieren vermag.


1. Marx, K. (1964) [1867]: Das Kapital. Bd. 3. In: Ders./Engels, F.: Werke. Bd. 25. Berlin: 827.

2. Einen knappen Überblick über die Geschichte des Arbeitsbegriffs bietet etwa: Oschmiansky, F. (2010): Der Arbeitsbegriff im Wandel der Zeiten. Bonn. Online: http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/55031/arbeitsbegriff. Zugriff: 18.07.18; etwas ausführlicher: Walther, R. (1990): Arbeit – Ein begriffsgeschichtlicher Überblick von Aristoteles bis Ricardo. In: König, H./Greiff, B. v./Schauer, H. (Hg.): Sozialphilosophie der industriellen Arbeit. Wiesbaden, 3-25. Die Trennung von Arbeit und Lust reicht weit in die Antike zurück und findet sich prominent etwa bei Homer, Aristoteles oder Xenophon. Für letzteren „war Arbeit eine ‚banausische‘ Tätigkeit, die unfähig macht für den Kriegsdienst und nicht die Muße gewährt, die für anspruchsvolle Tätigkeiten, die Pflege sozialer Beziehungen und die Mitwirkung im Gemeinwesen erforderlich sei“ (Oschmiansky [2010]). Dass Lust mit Freiheit und Muße assoziiert ist, wird von Aristoteles unter anderem in der Nikomachischen Ethik behauptet (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik: 1177b). Dabei gilt zu bedenken, dass „die Lage eines freien Mannes so ist, daß er nicht unter dem Zwang eines anderen lebt“ (Aristoteles: Rhetorik: 1367a, zitiert nach: Walther [1990]: 6). Jegliche Arbeit aber impliziert gerade einen solchen Zwang (vgl. ebd.).

3. Baethge, M. (1991): Arbeit, Vergesellschaftung, Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit. In: Soziale Welt 42 (1): 6-19: 7f.

4. Baethge (1991).

5. Vgl. zur Fiktion als Möglichkeitsraum: Klauk, T. (2014): Fiktion und Modallogik. In: Ders./Köppe, T. (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston, 255–276. Nach Aristoteles sei es nicht die Aufgabe des Dichters, „mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“ (Aristoteles: Poetik: 1451a, zitiert nach Klauk [2014]: 255).

6. Vgl. Sombart, W. (1902): Der moderne Kapitalismus. Erster Band. Die Genesis des Kapitalismus. Leipzig, 378ff.; Weber, M. (1920): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen, insbesondere: 17–206; Boltanski, L./Chiapello, È. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: 39ff., insbesondere: 43.

7. Die Grenzlage des Angestellten zwischen den Klassen gibt im vergangenen Jahrhundert Anlass für weitreichende politische wie sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen. Diese Diskursivierung und gesellschaftliche Einbindung dieses Sozialtypus schildert ausführlich Kapitel 3.

8. Das Verhältnis von Kapitalismus und Kritik gestaltet sich, wie unter anderem Boltanski und Chiapello zeigen, häufig paradox. In seiner Eigenschaft, zahlreiche Formen von Kritik konstruktiv anzunehmen und zu verarbeiten, eignet sich das kapitalistische System die positiven Potentiale der ihm entgegenschlagenden Ablehnung an und verhindert so die eigene Vernichtung. Die auf diese Weise entstehenden Kosten werden nachträglich geltend gemacht. Kritik wird auf diese Weise kapitalistisch verwertet. Vgl. zur Kritik als „Motor für die Veränderungen des kapitalistischen Geistes“ ausführlich: Boltanski/Chiapello (2003): 68ff.

9. Zur Anwendung kommt dazu vor allem: Pfaller, R. (2011): Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. Frankfurt am Main.

10. Keun, I. (1948) [1931]: Gilgi. Eine von uns. Düsseldorf.

11. Fallada, H. (2016a) [1932]: Kleiner Mann – was nun? Hamburg.

12. Im engeren Sinne ist natürlich die Zeit nach der Wirtschaftskrise von 1929 gemeint. In einem weiteren Sinne aber auch die „Krise vor der Krise“ (Ritschel [2009]: War 2008 das neue 1931? In: ApuZ vom 11.05.09, 27–32. Online: http://www.bpb.de/system/files/pdf/PQYS6J.pdf. Zugriff: 18.07.18: 28.

13. Jelinek, E. (1987) [1972]: Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft. Reinbek bei Hamburg.

14. Genazino, W. (2002) [1977]: Abschaffel. Roman-Trilogie. Reinbek bei Hamburg.

15. Eine Betrachtung der DDR-Literatur lässt sich mit der Zielsetzung dieser Arbeit, eine kapitalismuskritische Perspektive auf Arbeit und Lust anzulegen, nicht vereinbaren. Vielversprechend wäre eine Betrachtung von DDR-Romanen zum Thema der geistigen Arbeit und ihrer Wirkungen auf Lust und Genießen allemal.

16. Steinaecker, T. v. (2012): Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen. Frankfurt am Main.

17. Schönthaler, P. (2013): Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn. Berlin.

18. Ein wichtiger Impulsgeber für das Feld entgrenzter Arbeit ist seit den 1960er Jahren die neomarxistische Strömung des Operaismus mit der Idee der „immateriellen Arbeit“, vgl. etwa: Hardt, M./Negri, A. (2000): Empire – die neue Weltordnung. Frankfurt am Main.

19. In letzter Zeit bespricht das Feuilleton häufig die sogenannte „Post-Work-Bewegung“, die sich z. B. für Digitalisierung und Automatisierung von Arbeit, Besteuerung von Maschinen und bedingungslose Grundeinkommen einsetzt. Einer von zahlreichen weiteren Artikeln: Haberkorn, T. (2018): Zukunft der Arbeit. In den Maschinenfeierabend. Online: https://www.zeit.de/kultur/2018-02/arbeit-zukunft-automatisierung-digitalisierung-utopie. Zugriff: 18.07.18.

20. Vgl. Pfaller (2011). Situiert in den Überflussgesellschaften des Westens, manifestiert sich die Ethik der Askese in Freizeitgestaltungen und Selbstzuschreibungen wie „Mindfulness“, „Minimalismus“ sowie spezifischen Ernährungsprogrammen usw. Diese tragen zwar häufig den krisenhaften Prognosen globaler Ressourcenknappheit auf individueller Ebene Rechnung, lassen politisches Engagement mit überindividuellem Anspruch aber meist vermissen.

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2. Krisen

2.1 Was ist eine Krise? – Annäherungen an Struktur und Begriff

Begibt man sich in einschlägigen On- und Offline-Enzyklopädien und Wörterbüchern auf die Suche nach einer ersten griffigen Definition für „Krise“, findet man Folgendes: Die Online-Ausgabe des Duden stellt fest: „schwierige Lage, Situation, Zeit [die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt]; Schwierigkeit, kritische Situation; Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins“.21 Der Brockhaus meint ganz ähnlich: „lat. frz., von griech. Krísis, ‚Entscheidung‘, ‚entscheidende Wendung‘ […] allg.: schwierige, gefährl. Lage, Zeit (in der es um Entscheidungen geht).“22 Der Auftakt eines Artikels der Wikipedia lautet: „Die Krise (Alt- und gelehrtes Griechisch κρίσις krísis ursprünglich ‚die Meinung‘, ‚Beurteilung‘, ‚Entscheidung‘, später mehr im Sinne von ‚die Zuspitzung‘) bezeichnet eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation. ‚Krise‘ wird in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen auf sehr unterschiedliche Weise thematisiert.“23

Auf den ersten Blick erscheinen die gegebenen Definitionen über das Wesen von Krisen leider nur knapp und sehr allgemein – sie geben wenig mehr Auskunft, als dem Volksmund ohnehin bekannt ist. Nichtsdestotrotz bilden sie einen interessanten Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Krisenbegriff, denn sie zeigen: Weiterführend und trotzdem allgemeingültig von einer Krise zu sprechen, gestaltet sich offenbar als nicht ganz einfach. Das scheint zum einen darin begründet, dass eine Vielzahl von Definitionen verschiedenster Disziplinen, in denen der Begriff Verwendung findet, existiert und seine Eigenschaften entsprechend vielseitig ausgelegt werden.24 ←23 | 24→Ein anderer, weitaus schwerwiegenderer Grund aber liegt in der spezifischen Struktur des Krisenphänomens verborgen. Das Sprechen und Denken über eine akute Krise gestaltet sich vor allem deshalb als schwierig, weil es immer vorläufig bleiben muss.

Details

Seiten
466
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631826942
ISBN (ePUB)
9783631826959
ISBN (MOBI)
9783631826966
ISBN (Hardcover)
9783631800843
DOI
10.3726/b17647
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Hedonismus Klassenbewusstsein Literarische Ökonomik Entfremdung Interpassivität Entsolidarisierung Entgrenzung von Arbeit Subjektivierung Akkumulation Patriarchales Genießen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 466 S.

Biographische Angaben

Lucas Alt (Autor:in)

Lucas Alt, geb. 1987, ist promovierter Germanist und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Trier.

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Titel: Genuss und Arbeit im Angestelltenroman
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