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Der Orient im kulturellen Gedächtnis der Deutschen

Vergleichende Analyse ausgewählter Reiseberichte des 19. und beginnenden 21. Jahrhunderts

von Zouheir Soukah (Autor:in)
©2019 Dissertation 228 Seiten

Zusammenfassung

Als kollektiver Diskurs mit identitätsstiftenden Funktionen basiert der Orientalismus auf der asymmetrischen Unterscheidung zwischen dem fortschrittlichen «Okzident» und dem rückständigen «Orient». Dabei agiert die Gattung Reisebericht als eines der wichtigsten Medien dieses westlichen Phänomens. Auch im Zeitalter der Digitalisierung scheint diese Gattung noch Träger und Produkt der orientalistischen Beschäftigung mit dem nichtwestlichen «Anderen» zu sein. Auf dieser Basis geht die Untersuchung von den folgenden zwei Thesen aus: erstens, dass der deutsche Orientalismus im 19. Jahrhundert nicht weniger hegemonial als der englische oder französische Orientalismus war, und zweitens, dass eine gegenwärtige Fortsetzung dieser hegemonialen Auseinandersetzung mit dem «Orient» im kulturellen Gedächtnis der Deutschen wahrzunehmen ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zusammenfassung
  • Abstract
  • Einleitung
  • 1 Gegenstand und Ziel der Arbeit2
  • 2 Aufbau der Arbeit
  • Erster Teil: Theoretische Grundlagen
  • 1 „Orient“ und Orientalismus
  • 1.1 Vom „Orient“ zum Orientalismus
  • 1.2 Grundlagen von Saids „Orientalism“
  • 1.2.1 Orientalismus als Diskurs(e)
  • 1.2.1.1 Orientalismus als eurozentrischer Diskurs über das Andere
  • 1.2.1.2 Orientalismus als hegemonialer Diskurs mit kolonialistischen Folgen
  • 1.2.1.3 Orientalismus als identitätsstiftender Selbstdiskurs
  • 1.2.2 Erscheinungsformen des Orientalismus
  • 1.2.2.1 „Latenter“ Orientalismus
  • 1.2.2.2 „Manifestierter“ Orientalismus
  • 1.2.2.3 „Moderner“ Orientalismus
  • 1.2.3 Zentrale Themen des Orientalismus nach Said
  • 1.2.3.1 Die „orientalische“ Bedrohung
  • 1.2.3.2 Die „orientalische“ Irrationalität
  • 1.2.3.3 Die „orientalische“ Rückständigkeit
  • 1.3 Orientalismus-Debatte
  • 1.3.1 Kritik an Saids „Orientalism“
  • 1.3.2 Interdisziplinäre Bestätigungen
  • 1.3.3 Modifizierte Erweiterungen
  • 1.4 Ausblick
  • 2 Orientalismus und Reisebericht
  • 2.1 Zur Gattung „Reisebericht“
  • 2.2 Zu den Gattungsmerkmalen des Reiseberichts
  • 2.2.1 Reisebericht: Von textueller Authentizität zu normativer Fiktionalität
  • 2.2.2 Reisebericht als textuelle und ästhetische Hybridität
  • 2.3 Zur Geschichte der Gattung „Reisebericht“
  • 2.3.1 Reisebericht von der Antike bis zum 19. Jahrhundert: Eine kurze historische Skizze
  • 2.3.2 Orientreiseberichte des 19. Jahrhunderts
  • 2.3.3 Weitere Entwicklung der Gattung „Reisebericht“
  • 2.4 Der Reisebericht als identitätsstiftendes Wahrnehmungs- und Darstellungsmedium
  • 2.5 Ausblick: Der Reisebericht als textuelles Medium des Orientalismus
  • Zweiter Teil: Einzelanalysen der Reisetexte aus dem 19. Jahrhundert
  • 1 Heinrich von Maltzan: „Meine Wallfahrt nach Mekka“
  • 1.1 Auf Spuren von Burton: Maltzans Pilgerreise nach Mekka (1860)
  • 1.2 Maltzans hegemoniale Orientvorstellung
  • 1.2.1 Antiislamischer Diskurs
  • 1.2.1.1 Maltzans Islamvorstellung: Islam als religiöser Fanatismus
  • 1.2.1.2 Dämonisierung des „Mohammedanismus“ trotz seiner „biblischen“ Herkunft
  • 1.2.1.3 Die Darstellung des Islams als fortschrittshemmender Faktor im „Orient“
  • 1.2.1.4 Maltzans Muslim-Bild: Der Mohammedaner als Fanatiker
  • 1.2.1.5 Maltzans entwürdigende Äußerungen über die „Mohammedaner“
  • 1.2.1.6 Bedingt positive Bezeichnungen der „Mohammedaner“
  • 1.2.1.7 Die klägliche Lage der „Orientalinnen“ unter dem „Mohammedanismus“
  • 1.2.1.8 Maltzans entwürdigende Islamkritik
  • 1.2.1.9 Minderwertiger „Mohammedanismus“ versus das „aufgeklärte“, „moderne“ Europa
  • 1.2.2 Maltzans eurozentrischer Diskurs
  • 1.2.2.1 Maltzans europäisches Zivilisationskriterium
  • 1.2.2.2 Die „orientalische“ Stadt als Symbol des verfallenen „Orients“
  • 1.2.2.3 Maltzans verzerrtes Erscheinungsbild der „Orientalen“
  • 1.2.2.4 Das etablierte eurozentrische Denkschema: „Verfallener“ Orient versus „modernes“ Europa
  • 1.2.3 Der latente kolonialistische Diskurs in Maltzans Reisebericht
  • 1.2.3.1 Die türkische Fremdherrschaft im „Orient“ als Faktor für dessen Verfall
  • 1.2.3.2 Die potenzielle Kolonialisierung als Akt der „Zivilisierung“ des „Orients“
  • 2 Fürst Pückler: „Orientalische Reisen“
  • 2.1 Fürst Pücklers Reisen im „Orient“
  • 2.2 Pücklers schweigsamer „Orient“
  • 2.3 Pücklers „romantische“ Orientwelt
  • 2.3.1 Pücklers Natur-Faszination
  • 2.3.2 Der „Orient“ als eine Welt der Ruinen und Beduinen
  • 2.3.3 Orientwürdigung oder Europakritik?
  • 2.3.4 „Orient“ als imaginativer Ort der ewigen Sinnlichkeit
  • 2.4. Pücklers „Orient“ als alltägliche Fremdheit
  • 2.4.1 Pücklers Desinteresse am „orientalischen“ Alltag
  • 2.4.2 Die „hässlichen“ Städte des „Orients“
  • 2.4.3 Pücklers Bild der „Orientalen“
  • 2.4.4 Das Bild der „orientalischen“ Frau
  • 2.4.5 Faktoren für die Verwahrlosung des „Orients“
  • 2.4.6 Pücklers mangelnde Auseinandersetzung mit dem Islam
  • 2.4.7 Unterlegenheit des „Orients“ gleich Überlegenheit Europas
  • 3 Gerhard Rohlfs: „Mein erster Aufenthalt in Marokko“
  • 3.1 Rohlfs’ erste Reise durch Marokko
  • 3.2 Rohlfs’ Orientbild am Beispiel seines Marokko-Reiseberichtes
  • 3.2.1 Rohlfs’ Faszination von der jungfräulichen und vernachlässigten Naturlandschaft Marokkos
  • 3.2.2 Die verfallene „orientalische“ Kulturlandschaft Marokkos
  • 3.2.2.1 Das enttäuschende Erscheinungsbild der marokkanischen Stadt
  • 3.2.2.2 Rohlfs’ Auseinandersetzung mit dem Islam als Grund für den Verfall des „orientalischen“ Landes Marokko
  • 3.2.2.3 Der zweite Grund für den vermeintlichen Verfall des „Orients“: Der despotische Machtapparat Marokkos
  • 3.2.2.4 Der dritte Grund für den Verfall des „Orients“: Die vorherrschende „orientalische“ Mentalität
  • 3.2.2.5 Rohlfs’ Bild von den „Orientalinnen“ Marokkos
  • 3.2.2.6 Rohlfs’ Sympathie für die Juden des „Orients“
  • 3.2.2.7 Rohlfs’ ausgeprägter Kolonisierungswunsch des „Orients“
  • 4 Vergleichendes Zwischenergebnis: Die imaginativen Unterschiede zwischen dem überlegenen Europa und dem unterlegenen „Orient“ aus der Sicht des kolonialistischen Orientalismus des 19. Jahrhunderts
  • 4.1 Der „Orientale“ als Gegenbild zum europäischen Reisenden
  • 4.2 Das Stigma: Die „Orientalin“ als unterdrücktes, hässliches Geschöpf
  • 4.3 Der „Orient“ als partikulare Welt des „Mohammedanismus“
  • 4.4 Das wiederkehrende Stigma der „orientalischen“ Unterlegenheit
  • 4.5 Kolonisation des „Orients“ als zivilisatorische „Wohltat“ der Europäer
  • 5 Zum zweiten, analytischen Teil hinführende Fragestellungen
  • Dritter Teil: Einzelanalysen der Reisetexte aus dem beginnenden 21. Jahrhundert
  • 1 Ramming-Leupolds Orientbild am Beispiel ihres Reiseberichtes „Saudi-Arabien – Im heiligen Land des Islam. Eine ‚Pionierreise‘ “
  • 1.1 Christozentrischer Diskurs
  • 1.1.1 Christentum heilig, Islam nicht?
  • 1.1.2 Christus versus Mohammed: Himmel versus Erde?
  • 1.1.3 Bibel versus Koran: Göttliche Offenbarung und religiöse Plagiate
  • 1.1.4 Der „Orient“: Islamisch oder doch islamisiert?
  • 1.2. Antiislamischer Diskurs
  • 1.2.1 Islamkritik aus Spott, Ironie und Verallgemeinerungen
  • 1.2.2 „Mekka der Intoleranz“: Grenze zwischen Islamkritik und Islamfeindlichkeit
  • 1.2.3 Mangelhaftes Islamwissen
  • 1.2.4 Alarmisierung und Dramatisierung des Islams
  • 1.2.5 Muslimische Verschleierung als „Unfug“
  • 1.3. Eurozentrischer Orientalismus-Diskurs
  • 1.3.1 Ramming-Leupolds „Orient“: Fremdenfeindlich und verachtend?
  • 1.3.2 „Orientalische“ Unterlegenheit als Beweis der „okzidentalischen“ Überlegenheit?
  • 1.3.3 Der ewige „Orient“: Unabhängig und unveränderlich?
  • 2 Rudolf Hufenbachs Orientbild am Beispiel seiner „Reisen in den Orient. Erinnerungen“
  • 2.1 Hufenbachs touristischer „Orient“: Ein unentbehrlicher Erholungsort
  • 2.1.1 Der „Orient“: Ein exotisches Paradies exklusiv für europäische Urlauber
  • 2.1.2 Exotische Schönheit der Natur im touristischen „Orient“
  • 2.1.3 Der touristische „Orient“: Gastfreundlich und arm
  • 2.1.4 Der touristische „Orient“: Gastfreundlich und unberechenbar?
  • 2.1.5 Ist der touristische „Orient“ typisch „schmutzig“?
  • 2.2. Der „Orient“ als bekannter nostalgischer Ort für die Europäer
  • 2.2.1 Der nostalgische „Orient“ als Vergangenheitsort
  • 2.2.2 Der bekannte „Orient“: Eine typisch exotische Gegenwelt
  • 2.2.3 Der nostalgische „Orient“ und seine Frauen aus „Tausendundeiner Nacht“
  • 2.2.4 Die nostalgische Darstellung der „orientalischen“ Wüste und der Beduinen
  • 2.3. Der gegenwärtige „Orient“ als Hybrid?
  • 2.3.1 Der „Orient“ von heute: Modern oder doch typisch „orientalisch“?
  • 2.3.2 Negative Attribute der „orientalischen“ Hybridität
  • 2.3.3 Hybride „orientalische“ Metropole mit verworrener Zukunftsperspektive
  • 3 Andreas Pröves Orientbild am Beispiel seines Reiseberichtes „Meine orientalische Reise“
  • 3.1 Pröves abenteuerlicher „Orient“
  • 3.1.1 Monotone Landschaften eines abenteuerlichen „Orients“
  • 3.1.2 Pröves „Orient“: Abenteuerlich oder monoton?
  • 3.1.3 Gastfreundlichkeit der Beduinen und Nomaden des „Orients“
  • 3.2. Pröves klassischer bekannter „Orient“
  • 3.2.1 Städte aus der Welt der „Tausendundeine Nacht“
  • 3.2.2 Der bekannte „Orient“, alles „schmutzig“?
  • 3.2.3 Pröves bekannter „Orient“ bloß eine klischeehafte Vorstellung?
  • 3.2.4 Der „Orient“: Eine „menschliche“ Gegenwelt in Analogie zum „Westen“?
  • 3.3. Pröves grausamer „Orient“
  • 3.3.1 Der „Orient“: Eine Welt der Diktaturen?
  • 3.3.2 Der Iran als theokratisches Gesicht des grausamen „Orients“
  • 3.4. Pröves irrationaler „Orient“
  • 3.4.1 Der „Orient“ als Ort des Fanatismus?
  • 3.4.2 Schiismus als Ausdruck der irrationalen Religiosität des „Orients“?
  • 3.4.3 Der „Orient“ als frauenfeindliche Welt?
  • 4 Vergleichendes Zwischenergebnis: Die „westliche“ Superiorität über den „Orient“ – eine eurozentrische Kontinuität in der postmodernen Zeit
  • 4.1 Das Standardbild des Islams als Verkörperung des „Orients“
  • 4.2 Das Bild des erwarteten archaischen „Orients“
  • 4.3 Der gegenwärtige alte „Orientale“
  • 4.4 Die orientalistische Alterität als Betonung einer selbstverständlichen Superiorität des Reiseautors
  • Schlussbetrachtung: Der Orientalismus und sein „Orient“ – eine rückständige Beziehung
  • Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Das Phänomen „Orientalismus“ agiert als Verkörperung der konstanten Beschäftigung Europas mit dem „Orient“. Als kollektiver Diskurs mit identitätsstiftenden Funktionen basiert der Orientalismus auf der asymmetrischen Unterscheidung zwischen dem fortschrittlichen „Okzident“ und dem rückständigen „Orient“. Dabei gilt die Gattung Reisebericht als eines der textuellen Medien des Orientalismus. Zugleich funktioniert sie bis heute als Produkt der orientalistischen Auseinandersetzung mit dem nichteuropäischen „Anderen“. Diese Dissertation geht von den folgenden zwei Hauptthesen aus: erstens, dass der deutsche Orientalismus im 19. Jahrhundert nicht weniger kolonialistisch, imperialistisch und hegemonial als der englisch-französische Orientalismus war, und zweitens, dass noch eine gegenwärtige hegemoniale Fortsetzung des orientalistischen Denkens im deutschsprachigen Raum festzustellen ist. Im theoretischen Hauptteil der Dissertation werden die ideologischen Grundideen des Orientalismus und dessen historische Entwicklung dargestellt. Anschließend setzt sich die Abhandlung mit der Gattung des Reiseberichts, mit ihrer Entwicklung, ihren Merkmalen und ihrem Verhältnis zum Orientalismus auseinander. Auf dieser Grundlage analysiert der zweite Hauptteil exemplarisch insgesamt sechs Reisetexte aus dem 19. sowie aus dem beginnenden 21. Jahrhundert.

Abstract

This paper is mainly based on the idea of hegemony which is present in the German Orientalism of the nineteenth century as well as in that of the English and French. The basic ideological characteristics of Orientalism and its historical development are represented in the theoretical part of this paper. The theoretical part also deals with travel literature and it explains the main aspects of this literary genre, its development, and its relationship to Orientalism. The second part approaches six Oriental travel texts from the nineteenth century as well as from the beginning of the twenty-first century. Although the six authors have different points of view vis-à-vis Orientalism, a latent and collective agreement is still ruling over the “Orient” as an image and function at the same time which remains unchanged and obsolete in the consciousness and imagination of the European reader.

Einleitung

Die Reise, die Geschichte, die Fabel, das Klischee, die polemische Konfrontation. Das sind die Linsen, durch die wir den Orient sehen, und sie prägen die Sprache, die Wahrnehmung und die Begegnungen zwischen Ost und West.1

1 Gegenstand und Ziel der Arbeit2

In ihrer Dissertation „Die Darstellung des Islams in der Presse“ stellt sich Sabine Schiffer die folgende Frage:

Wie ist es möglich, dass 1,2 Mrd. Menschen, die in verschiedenen Erdteilen und Ländern der Welt mit unterschiedlichen politischen Systemen leben, die mal regierungspolitisch beteiligt sind, mal einer Minderheit angehören, deren soziokulturelle Umfelder heterogen sind, die auf dem Land leben oder in der Stadt, die reich oder arm sind, die modern ausgerichtet sind oder eher konservativen Werten anhängen, die ihre Religion – den Islam – im Alltag praktizieren oder nicht, deren Bildungsgrad sehr unterschiedlich ist usw., zunehmend als homogene Masse – als aggressiv, frauenfeindlich, rückschrittlich und bedrohlich – wahrgenommen werden?3

Diese Frage bildet eine zentrale Problematik, mit der sich zahlreiche postkoloniale Studien, vor allem seit dem Erscheinen von Edward Saids bahnbrechendem Werk „Orientalism“ (1978) bis heute, immer wieder befassen. Said liefert in seinem Buch eine scharfsinnige Antwort auf diese gewollte Reduzierung des nichteuropäischen Anderen, indem er sich mit der Dekonstruktion der Strukturalität und Funktionalität eines eurozentrischen Phänomens befasst hat, nämlich dem Orientalismus als westlichem kollektiven Diskurs über den imaginativen „Orient“, der dazu dient, ein reduziertes, unveränderliches Zerrbild des minderwertigen „orientalischen“ Anderen und parallel dazu ein ideales und folglich hegemoniales Selbstbild zu reproduzieren. Hier fungiert der „Orient“ mit seiner imaginativen „Orientalität“ bzw. „Islamität“ als Code für die gesamte außereuropäische Welt, der mit der Rolle eines ständigen minuspoligen Anti-Europa ←19 | 20→etikettiert wird. Aufgrund dieser Imaginativität des „Orients“ lässt sich der Orientalismus eher als gesamteuropäischer Selbstmonolog als eine europäische Darstellung eines realen „Orients“ charakterisieren. Hier zeigt sich die identitätsstiftende Funktion des Orientalismus deutlich, die sich in gewissen orientalistischen medialen Werkzeugen nachweislich reproduziert hat. Dabei zeigen sich das Reisen und das Schreiben als „vortreffliche“ mediale Träger des Orientalismus. In diesem Sinne setzt Said den Orientalismus u. a. dem orientalisierten Schrifttum gleich.4

In seiner Orientalismus-Kritik dekonstruiert Said dieses dichotomische Phänomen sowohl als Alteritätsdiskurs als auch als Selbstdiskurs. Zudem betrachtet er es als ausgezeichneten hegemonialen Diskurs, der sich historisch in den imperialistischen und kolonialen Praktiken europäischer Großmächte manifestiert hat. Von diesem kolonialistischen Orientalismus nimmt Said jedoch den deutschen Orientalismus aus, da er ihn im Vergleich zum kolonialistischen franko-britischen Orientalismus eher als akademisch ansieht. In der vorliegenden Arbeit wird allerdings in der ersten Hauptthese davon ausgegangen, dass der deutsche Orientalismus nicht weniger kolonialistisch, imperialistisch und hegemonial als der englische bzw. französische Orientalismus funktioniert. Anhand der Analyse ausgewählter Orientreiseberichte aus dem 19. Jahrhundert wird diese Hegemonialität hervorgehoben. In der zweiten Hauptthese geht die Arbeit von einer hegemonialen Fortsetzung des orientalistischen Denkens in der Zeit des Postkolonialismus im deutschsprachigen Raum aus. Diese wird anhand einer Analyse einer Reihe aktueller deutscher Orientreiseberichte, die Anfang dieses Jahrhunderts erschienen, nachgewiesen. Die Wahl der beiden Zeiträume lässt sich dadurch erklären, dass zunächst das 19. Jahrhundert als Höhepunkt des Orientalismus gilt. Dies wird u. a. durch eine Vielzahl reiseliterarischer Texte über den „Orient“, insbesondere aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bestätigt.5 Der Reisebericht als geeignetes Medium der orientalistischen Auseinandersetzung mit dem nichteuropäischen „Anderen“ erlebte in jener Epoche seine Blütezeit. Dies hat dazu geführt, dass das 19. Jahrhundert sich im Allgemeinen als das Jahrhundert der intensiven kulturellen Beschäftigung Europas mit dem „Orient“ entwickelt hat. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, im Zeitalter der Terrorbekämpfung und der Zuspitzung des Konfliktes zwischen dem „Orient“ und dem „Westen“, gerät der „Orient“ wieder stark in den Fokus des modernen ←20 | 21→Orientalismus. Unter diesen neuen globalen geopolitischen Umständen stehen sich der „Orient“ und der „Westen“ noch immer als Gegenwelten gegenüber. Die Zeit der Orientstereotypen ist also, genau wie in Medien und in Politik, auch in Kunst und (Reise-)Literatur – wie das am Anfang dieser Einleitung angeführte Zitat Schiffers deutlich zeigt – noch nicht vergangen.

Im Vergleich zur Zahl der Arbeiten über das Europa- oder Amerikabild bleibt der Umfang der Studien über das Orientbild und deren ideologischen Gehalt in Bezug auf den Orientalismus – vor allem in neuen deutschen Reiseberichten – gering, trotz des hohen Stellenwerts und der Aktualität dieser Forschungsrichtung einerseits sowie der hohen Anzahl der in den letzten Jahrzehnten veröffentlichten reiseliterarischen Texte über den „Orient“ andererseits. Vor allem sind diese Studien nicht exhaustiv, da sie sich mit dem europäischen Orientbild nur unter bestimmten Kriterien befasst haben.6 Zudem sind insbesondere sehr spezifische Untersuchungen vorzufinden, in denen nur Bilder bestimmter Länder, die von den Reisenden als „orientalisch“ empfunden wurden, erarbeitet wurden – wie beispielsweise Bilder von Marokko, Tunesien, Ägypten und Jemen.7

Mit ihrem methodischen Vorhaben einer vergleichenden Darstellung der Orientbilder in ausgewählten umfangreichen reiseliterarischen Texten aus dem 19. und dem beginnenden 21. Jahrhundert möchte die vorliegende Arbeit diese Forschungslücke schließen, indem sie einen erweiternden Beitrag zum Verhältnis zwischen Orientalismus und dem Reisebericht als Gattung in der postkolonialen Orientbild-Forschung leistet. Die vorliegende Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich vergleichend sowohl mit älteren als auch neueren Reiseberichten über den imaginativen „Orient“ auseinandersetzt. Ihr interdisziplinärer Ansatz, der Elemente der Literaturwissenschaft, der postkolonialen Forschung, der Kulturwissenschaft sowie der Geschichtswissenschaft verbindet, ←21 | 22→erlaubt eine weitaus umfassendere Analyse der Reisetexte, als dies eine rein literaturwissenschaftliche Untersuchungsmethodik gewährleisten könnte. Das der Arbeit zugrunde liegende Textkorpus, dessen Untersuchung einen breiten Raum in dieser Arbeit einnimmt, besteht daher aus sechs deutschen Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert sowie aus dem beginnenden 21. Jahrhundert.

2 Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil liefert ein theoretisches Kapitel zu den ideologischen Grundideen und zur historischen Entwicklung des Orientalismus. Hier werden vor allem Ergebnisse der postkolonialen Orientalismus-Kritik, insbesondere bei Edward Said, dargestellt. Das anschließende Kapitel befasst sich mit der Gattung des Reiseberichts8, mit ihrer Entwicklung, ihren Gattungsmerkmalen und insbesondere ihrem Verhältnis zum Reisen in die „orientalische“ Fremde einerseits und zum Orientalismus andererseits. Die beiden Kapitel bilden den theoretischen Rahmen dieser Arbeit, der den anschließenden analytischen Hauptteil der ausgewählten Reisetexte strukturiert. Hier werden als Hinführung zur Quellenanalyse die zentralen Fragestellungen dieser Arbeit anschaulich formuliert. Vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen folgt der zweite Hauptteil, der sich in zwei umfangreiche analytische Teile gliedern lässt. In diesen zwei Teilen steht die umfassende Untersuchung der Reisetexte im Mittelpunkt. Im ersten Teil werden drei deutsche Reiseberichte aus dem 19. Jahrhundert unter Berücksichtigung des damals herrschenden kolonialistischen Orientdiskurses untersucht, nämlich Fürst Pückler-Muskaus „Orientalische Reisen“ (1838), Gerhard Rohlfs’ „Mein erster Aufenthalt in Marokko“ (1865) und Heinrich Maltzans „Meine Wallfahrt nach Mekka“ (1873). Dabei wird jeder der drei Berichte jeweils in einem eigenständigen Hauptkapitel behandelt. Die Ergebnisse dieser Studie werden in dem dazugehörigen Zwischenresümee dargestellt.

←22 | 23→

Im Rahmen des zweiten Teils stehen drei weitere Orientreiseberichte im Mittelpunkt, allerdings aus dem beginnenden 21. Jahrhundert: Gisela Ramming-Leupolds „Saudi-Arabien. Im Heiligen Land des Islam“ (2001), Andreas Pröves „Meine orientalische Reise“ (2005) und Rudolf Hufenbachs „Reisen in den Orient“ (2011). In diesem Teil werden das Orientbild und seine Funktionalität in jedem dieser neueren Orientreisetexte in separaten Kapiteln detailliert ergründet. Auch die Ergebnisse dieser Analyse der gegenwärtigen Orientvorstellung in der Zeit des Postkolonialismus werden in dem dazugehörigen Zwischenresümee zusammengefasst präsentiert. Die Untersuchungen in diesem Hauptteil verstehen sich keineswegs als vollständige Bestandsaufnahme aller Beobachtungen der sechs Reiseautoren, sondern sie befassen sich überwiegend mit denjenigen textuellen Passagen, welche die Beantwortung der zentralen Fragestellung der Arbeit ermöglichen. Ziel des zweiten Hauptteils, der das Zentrum dieser Arbeit bildet, ist es, zu prüfen, ob es einen möglichen Einfluss des Orientalismus auf die latente sowie manifestierte Orientvorstellung9 der in dieser Arbeit untersuchten Orientreisetexte gibt – und wenn ja, in welchen Textpassagen dieser Einfluss nachgewiesen werden kann. Zudem erlaubt es dieser Teil, genau nachzuweisen, ob eine mögliche latente und/oder manifestierte orientalistische Kontinuität in den neueren Reisetexten in ihrer Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen „Orient“ existiert.

Zuletzt werden diese beiden zentralen Thesen der Arbeit in einer abschließenden Schlussbetrachtung zusammengefasst.

←23 | 24→←24 | 25→

1 Said, Orientalismus, S. 75.

2 Es handelt sich hier um eine überarbeitete Fassung meiner 2017 an der Universitätsbibliothek Düsseldorf online veröffentlichten Dissertation: Der „Orient“ als kulturelle Selbsterfindung der Deutschen.

3 Schiffer, Die Darstellung des Islam in der Presse, S. 13.

Details

Seiten
228
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631783948
ISBN (ePUB)
9783631783955
ISBN (MOBI)
9783631783962
ISBN (Paperback)
9783631781289
DOI
10.3726/b15428
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Orient-Reiseliteratur Fremdwahrnehmung Orientalismus Neo-Orientalismus Deutschland
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 227. S.

Biographische Angaben

Zouheir Soukah (Autor:in)

Zouheir Soukah studierte deutsche Sprache und Literatur an der Universität Casablanca, anschließend neuere deutsche Literaturwissenschaft, germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Düsseldorf und Computerlinguistik an der Universität Duisburg-Essen. Seine Promotion erfolgte im Jahr 2016.

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