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Das preußisch-polnische Verhältnis und der Positivismus

Eine kultursoziologisch-postkoloniale Revision

von Katarzyna Kostrzewska-Adam (Autor:in)
©2020 Dissertation 234 Seiten

Zusammenfassung

Der Positivismus gilt als eine längst erschlossene Epoche. Die Erweiterung der literaturwissenschaftlichen Untersuchung um eine Anlehnung an den theoretischen Ansatz der kulturellen Hegemonie von Antonio Gramsci, die theoretischen Begriffe der Postkolonialen Theorie und das Konzept des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu ermöglichte der Autorin jedoch einen neuen Zugang. Die Analyse fokussiert den Wechsel des Schreibstils vor dem Hintergrund des deutsch-polnischen Nationenkonflikts. Neben der Neubetrachtung der Genese des Positivismus, bietet dieses Buch einen tiefen Einblick in die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehung in ihrem frühen Stadium und zeigt eine große gesellschaftliche Relevanz für das heutige Verhältnis.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Gegenstand der Untersuchung
  • 1.1.1 Der polnische literarische Realismus – der Positivismus
  • 1.1.2 Das preußisch-polnische Verhältnis im preußischen Teilungsgebiet im 19. Jahrhundert
  • 2. Kultursoziologischer Hintergrund
  • 2.1 (Zivil-)gesellschaftliche Verankerung der polnischen Literatur
  • 2.1.1 Preußisch-polnische Strukturen
  • 2.1.2 Preußen und Polen – die Counterparts
  • 2.1.3 Das preußische Vorgehen gegen Polen
  • 2.1.4 Die preußisch-polnische Interaktion
  • 2.1.5 Gesellschaft und Literatur
  • 2.2 Diskursive Repräsentation
  • 2.2.1 Kulturelle Praxis
  • 2.2.1.1 Der deutsche Diskurs über Polen
  • 2.2.1.2 Gegendiskurs
  • 2.2.2 Diskurs und Literatur
  • 2.3 Distinktion der polnischen Literatur
  • 2.3.1 Preußisch-deutsches literarisches Feld
  • 2.3.2 Polnisches literarisches Feld
  • 2.3.2.1 Exkurs: Großpolnischer vs. Warschauer Positivismus
  • 2.3.3 Zwischen dem preußisch-deutschen und dem polnischen literarischen Feld
  • 2.3.4 Distinktion und die Literatur
  • 3. Analyse literarischer Texte
  • 3.1 Manifeste
  • 3.1.1 Eliza Orzeszkowa „Kilka uwag nad powieścią“
  • 3.1.2 Franciszek Krupiński „Romantyzm i jego skutki“
  • 3.1.3 Julian Ochorowicz „O twórczości poetyckiej“
  • 3.1.4 Kazimierz Kaszewski „W sprawie pożytku i piękna“
  • 3.1.5 Stanisław Tarnowski „Z najnowszych powieści polskich“
  • 3.2 Belletristik
  • 3.2.1 Józef Ignacy Kraszewski Stara baśń
  • 3.2.2 Bolesław Prus Powracająca fala
  • 3.2.3 Eliza Orzeszkowa A… B… C…
  • 3.2.4 Bolesław Prus Placówka
  • 3.2.5 Bolesław Prus Lalka
  • 3.2.6 Henryk Sienkiewicz Sachem
  • 3.2.7 Henryk Sienkiewicz Krzyżacy
  • 3.3 Zwischenfazit: Literarische Texte
  • 4. Ergebnisse: Neue Sicht auf die Genese des Positivismus?
  • 5. Resümee
  • Anhang: Zuordnung der erarbeiteten kultursoziologischen Aspekte zu den kultursoziologisch relevanten Verfahren und Themen
  • Tabellenverzeichnis
  • Bibliografie

←6 | 7→

1. Einleitung

In der polonistischen Literaturwissenschaft wurde in den einschlägigen Untersuchungen, die den polnischen Realismus bzw. Positivismus zum Thema haben, der kultursoziologischen Komponente bisher nur begrenzt Aufmerksamkeit geschenkt.1 Es wurde zwar unter anderem erkannt, wie es in der historischen Situation der dreifachen Fremdherrschaft über polnische Gebiete2 dazu kam, dass die polnische Literatur als Medium immer mehr politische Aufgaben übernahm, aber diese Erkenntnisse wurden stark verallgemeinernd auf die Dynamiken im russischen Teilungsgebiet zurückgeführt (Markiewicz 2004: 26). Im russischen Teilungsgebiet bot der Januaraufstand 1863, als ein nicht nur auf einen politischen Umbruch hinweisendes Geschehen, auch für die literarische Welt eine klare Markierung (Miłosz 2010: 329–333). Darüber hinaus fand der literarische Positivismus hier eine institutionelle Basis und Verortung (Borkowska 1999: 32–34). Der kultursoziologische Blick auf die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts soll jedoch erweitert werden, da der Anfang des Positivismus nicht ausschließlich auf die polnische Erfahrung der Fremdherrschaft durch gleich drei Teilungsmächte – Russland, Preußen und Österreich – und mit den damit verbundenen Unabhängigkeitsbestrebungen zurückzuführen ist. Der Anfang des Positivismus erfolgte parallel zum Anbruch eines neuen Zeitalters in Europa, in dem konkurrierende Nationalismen aufkamen und die Industrialisierung begann. Betrachtet werden daher die Dynamiken im preußischen Teilungsgebiet, weil Preußen schon früh ein nationales Bewusstsein erlangte und eine führende Rolle in Bezug auf die Industrialisierung hatte, wodurch die politisch-ökonomischen Aspekte von besonderer Bedeutung für die dort lebende polnische Gemeinschaft wurden. Im Folgenden wird der Fokus auf das preußische Teilungsgebiet gerichtet und die polnische Literatur wird auf ihre soziale Bedingtheit analysiert. Die Letztere wird aber nicht als fester Bezugsrahmen verstanden, sondern als dynamische Interaktion zwischen der Literatur und der Gesellschaft. Als unmittelbarer kultursoziologischer Hintergrund dieser ←7 | 8→Literatur wird das preußisch/deutsch-polnische Verhältnis untersucht, das durch kulturelle Konkurrenz geprägt wurde.3 Diese zwei Nationen, die im 19. Jahrhundert gleichzeitig eine ähnliche Wandlung durchlebten, d.h. zu ihrem nationalen Bewusstsein fanden und gegen ihre Unterdrücker zu kämpfen begannen, lebten zunächst überwiegend in Eintracht. Um die Mitte des Jahrhunderts fingen sie an, die Unterschiede in den Vordergrund zu stellen, woraus ein zunehmend feindlicher Umgang miteinander resultierte (vgl. Hahn 1995). Dabei wird erkennbar, dass der preußische und später deutsche Staat insgesamt aufgrund der objektiven Erfolge auf der internationalen politischen Arena als der vorbildliche galt und die polnische Nation, die staatenlos und politisch weitgehend erfolglos war, in seinem Schatten blieb. Der kultursoziologische Blick lehnt sich an Forschung zum Kulturtransfer an, die Kulturen nicht als voneinander isolierte, in sich geschlossene Phänomene versteht, sondern die Grenzen zwischen ihnen als fließend auffasst und im Falle eines Kulturkontakts die traditionelle Vorstellung des einseitigen Einflusses zwischen zwei klar voneinander abgegrenzten Einheiten hinterfragt.4 Im Zuge der Untersuchung des Kulturkontakts wird nicht, wie es für die sog. Rezeptionsforschung üblich ist, allein das Ergebnis des Kontakts als bloße Aneignung fokussiert, sondern dieser wird auf seine kulturelle Wechselwirkung untersucht, d.h. es werden die Ausgangs- sowie die Zielkultur in ihrem ←8 | 9→reziproken Verhältnis fokussiert, wobei besonders der Prozess der Vermittlung spezielle Aufmerksamkeit erhält.5

Bei der in dieser Arbeit vorgenommenen Erweiterung des Blicks auf den Positivismus um die kultursoziologische Perspektive steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der polnischen Literatur des Positivismus und dem preußisch-polnischen Verhältnis besteht. Folgende Hypothesen liegen der Untersuchung zugrunde6:

Eine kultursoziologische Perspektive eignet sich besonders gut dazu, die Entwicklung der polnischen Literatur im 19. Jahrhundert umfassend zu beleuchten. Eine solche Perspektive ermöglicht es, sowohl den Zusammenhang zwischen dem preußisch-polnischen Verhältnis und der Entwicklung der polnischen Literatur im 19. Jahrhundert als auch die literarischen Artefakte gleichzeitig zu betrachten.

Dadurch, dass die bisherigen Untersuchungen des Positivismus sich vordergründig mit den Dynamiken im russischen Teilungsgebiet beschäftigten und die Entwicklungen im preußischen Teilungsgebiet nicht eingehend behandelten, wurde ein wichtiger Aspekt der Entwicklung der polnischen Literatur hin zum Positivismus, der möglicherweise neue Erkenntnisse birgt, außer Acht gelassen. Die Arbeit stößt in diese Lücke vor und setzt damit neue Akzente für die Erforschung der Genese des Positivismus.

Die Situation der plötzlichen Fremdherrschaft, in der die deutsche und die polnische Nation in einen Raum gebracht wurden, in dem die deutsche dominierte, bewirkte eine Wechselwirkung zwischen beiden Nationen, von der auch ihre Kultur und insbesondere die Literatur der polnischen Nation, ihr wichtigstes Medium der Repräsentation, betroffen wurde.

←9 | 10→

Aus dem Blick auf die polnisch-deutschen Verflechtungen ergeben sich wiederum Rückschlüsse auf die (literarischen) Wechselbeziehungen zwischen Polen und Russland.

Die in der folgenden Untersuchung angenommene interdisziplinäre Perspektive beleuchtet dabei die eingangs erläuterte Fragestellung und die mit ihr verbundenen Hypothesen anders als die Mehrheit der bisherigen Untersuchungen. Sie knüpft stark an Erkenntnisse aus dem Bereich der Kultursoziologie an, über die in der polnischen Literaturwissenschaft präsente Anwendung der postkolonialen Theorie hinaus.7 Für die Untersuchung des preußisch/deutsch-polnischen Verhältnisses als des kultursoziologischen Hintergrunds der polnischen Literatur des Positivismus werden an sich verschiedene aber sich überschneidende und sich gegenseitig ergänzende kulturwissenschaftliche Theorien und theoretische Ansätze herangezogen, die kritisch die Erzeugnisse der Kultur8 betrachten. Sie setzen den Fokus vordergründig nicht auf ästhetische Qualitäten der Literatur und ihren Wert im jeweiligen Kontext, sondern sie fassen sie als Medium zur Vermittlung bestimmter Inhalte im Kontext einer Machteroberung und Machtausübung durch bestimmte Akteure an einem bestimmten Ort auf. Das Instrumentarium, das das Konzept der kulturellen Hegemonie von Antonio Gramsci (1991–2002) liefert, wird aufgegriffen, weil er erkannte, dass eine Herrschaftsbeziehung nicht nur mithilfe von Gewalt, sondern auch scheinbar gewaltlos mithilfe einer überzeugenden Ideologie sowie mit Zugeständnissen und Kompromissen im zivilgesellschaftlichen Bereich erzielt wird. Das Konzept der kulturellen Hegemonie beschäftigt sich zudem mit der Verflechtung der Ideologie der Herrschenden mit der Kultur, und damit auch mit der Literatur, die als ein zivilgesellschaftlicher Apparat verstanden wird. Gramscis Gedanken eignen sich gut dazu, die Funktionsweise der Wechselbeziehungen zwischen der deutschen und der polnischen Gesellschaft zu rekonstruieren und die Bedeutung der Beziehung zwischen Preußen und Polen für die Entwicklung der polnischen Literatur zu erforschen. Im nächsten Schritt wird für diese Untersuchung die ←10 | 11→postkoloniale Perspektive in die Kultursoziologie integriert. Dies ist darin begründet, dass sich die Kultursoziologie nicht im gleichen Ausmaß mit der machtpolitischen Komponente des gesellschaftlichen Wandels kritisch auseinandersetzt wie die postkoloniale Theorie und dass sie zudem den sekundär marginalisierten Gruppen weniger Aufmerksamkeit schenkt. In Vertiefung und analytischer Durchdringung der auf Hegemonie gründenden Wechselbeziehungen wird das Verhältnis zwischen Preußen und Polen im 19. Jahrhundert in Anlehnung an die postkoloniale Definition des sog. kolonialen und antikolonialen Diskurses fokussiert und als ein interkultureller, identitätsverändernder Austausch beleuchtet. Es wird gefragt, wie diese Repräsentation hergestellt, aufgestellt und aufgelöst wird. Die aus der Perspektive der Postcolonial Studies möglichen Haltungen werden ergründet. Zum einen werden die mit dem Kolonialdiskurs verbundenen Konzepte der Distanznahme (othering) und Subalternität (subalternity) sowie zum anderen die mit dem Gegendiskurs verbundenen Phänomene der Anziehung (attraction) und Abstoßung (repulsion) (Ashcroft u.a. 1998) und die von ihnen ausgehende Veränderung der Identität in ihrer Bedeutung für die polnische Literatur differenziert untersucht. Um auch das Miteinander der am preußisch-polnischen Verhältnis Beteiligten in ihrer faktischen literarischen Interaktion zu untersuchen, werden anschließend Pierre Bourdieus (vor allem 1999) theoretische Ausführungen zum literarischen Feld aufgegriffen, die die Wechselbeziehung der Gesellschaft mit der Kultur thematisieren und den Fokus auf die Betrachtung der Literatur legen. Es wird an Bourdieus Erkenntnis angeknüpft, dass die literarischen Entscheidungen der Akteure als gesellschaftliche Entscheidungen gelten können, zumal die konkreten Veränderungen der Literatur im gesellschaftlichen Miteinander eines sozialen Kampfes um die sog. legitime Bedeutung vorgenommen werden. Unter Anwendung dieses Konzeptes werden die Folgen des Aufeinandertreffens der deutschen und der polnischen Gesellschaft sowie ihrer jeweiligen Literatur in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der polnischen Literatur betrachtet. Die Veränderungen in der polnischen literarischen Tätigkeit hin zum Positivismus werden daraufhin untersucht, inwieweit es sich in der deutsch-polnischen (literarischen) Wechselbeziehung um eine gesellschaftlich motivierte Distinktion handelt. Diese Analyse soll zeigen, ob und wie bestimmte Wesensmerkmale der literarischen Tätigkeit des Positivismus und das unmittelbare preußisch-polnische Verhältnis zusammenhängen.9 Für diese Untersuchung wurde bewusst entschieden, den ←11 | 12→methodologischen Zugang auf einer Verbindung dreier Methoden aufzubauen, weil sich durch die Verknüpfung ihrer Untersuchungsschwerpunkte eine neue Blickweise öffnet, die mit den einhergehenden Implikationen bessere Ergebnisse als die einzelnen Methoden erwarten lässt. Anschließend wird auf der kultursoziologischen Einsicht aufgebaut, dass ein enger Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und der literarischen Produktion bestehen kann. In einer Textanalyse werden literarische Werke des Positivismus untersucht, für die der preußisch-deutsche Staat, die Nation, Kultur oder Gesellschaft einen wichtigen inhaltlichen Bestandteil darstellen. Für diese Analyse wurden unter den Werken des Positivismus fünf Manifeste ausgewählt. Dies sind Eliza Orzeszkowas „Kilka uwag nad powieścią“ [Einige Bemerkungen über den Roman]10 (1866), Franciszek Krupińskis „Romantyzm i jego skutki“ [Die Romantik und ihre Folgen] (1876), Julian Ochorowicz’ „O twórczości poetyckiej“ [Über das dichterische Schaffen] (1877), Kazimierz Kaszewskis „W sprawie pożytku i piękna“ [Über Nützlichkeit und Schönheit] (1877) und Stanisław Tarnowskis „Z najnowszych powieści polskich“ [Aus den neuesten polnischen Romanen] (1881). Zudem wurden hierzu sieben belletristische Werke des Positivismus ausgesucht. Dies sind Józef Ignacy Kraszewskis Stara baśń [Die alte Mär] (1876), Bolesław Prus’ Powracająca fala [Die Welle strömt zurück] (1809), Eliza Orzeszkowas A… B… C… (1886), Bolesław Prus’ Placówka [Der Bauer Slimak] (1885–1886) und darüber hinaus Prus’ Lalka [Die Puppe] (1887–1889), Henryk Sienkiewicz’ Sachem (1889) und Krzyżacy [Die Kreuzritter] (1897–1900). Zuerst werden die textinternen Relationen erschlossen. Hierzu werden die im jeweiligen literarischen Text auffindbaren Konstruktionen des Preußischen (beziehungsweise des Deutschen) sowie des Polnischen, des Weiteren die Präsentation des Zusammenstoßes der beiden Kulturen und der Umgang mit den bestehenden Ungleichheiten näher betrachtet. Zudem werden die in positivistischen Texten eingeschriebenen Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, die sich auf das preußisch-polnische Verhältnis beziehen, erfasst. Die Textanalyse dient der Untersuchung des kulturgeschichtlichen Gehalts und der Suche nach den im Vorfeld ausgearbeiteten kultursoziologischen Aspekten. Das Zusammenspiel zwischen der preußisch/deutsch-polnischen Beziehung und der inhaltlich-formalen Textgestaltung soll dabei eine kultursoziologische Klassifizierung erfahren. Ergänzend zu der qualitativen Vorgehensweise der Literaturwissenschaft ←12 | 13→lehne ich mich an Bourdieus Vorgehensweise als empirischer Soziologe und an die quantitative Methode der (Kultur-)Soziologie an. In tabellarischer Form werden Daten aus der durchgeführten Untersuchung erhoben und das Ergebnis im Anhang präsentiert. Die Tabellen dienen nicht lediglich einer zusätzlichen Veranschaulichung der Untersuchungsergebnisse. In einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung, die sich an die (Kultur-)Soziologie anlehnt, stellen sie eine geeignete Ergänzung zu der üblichen Vorgehensweise der Literaturwissenschaft dar. Durch sie lassen sich die untersuchten Sachverhalte ganz konkret fassen und weitere Erkenntnisse in dieser sehr anschaulichen und kompakten Form ableiten. Insgesamt wird hier ein Vorgehen entworfen, durch das sich mit der Untersuchung des kultursoziologischen Hintergrunds beginnend, über die Analyse der literarischen Texte, die kultursoziologische Fundierung des literarischen Paradigmas des Positivismus genau fassen lässt.11

Diese Aufgabenstellung überschneidet sich unter anderem mit Untersuchungen, die in den späten 2000er und den frühen 2010er Jahren die polnische Literatur aus der Perspektive der Postcolonial Studies beleuchteten, wie sie z.B. von Alfred Sproede und Mirja Lecke (2011) zusammengefasst werden oder von Dariusz Skórczewski (2013) referiert werden. Daneben korrespondiert sie auch mit den Untersuchungen, die auch gegenwärtig diese Perspektive einnehmen.12 Wichtig für die vorliegende Arbeit sind auch die Beiträge zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Während einige der Beiträge von Hubert Orłowski (1992, 1995 und 1996) und Andreas Lawaty (2006) sowie Izabela Surynt (2004, 2006, 2007a) die deutschen Stereotypen über Polen untersuchen, widmeten sich andere vielmehr der Erkundung gewisser interkultureller Asymmetrien wie insbesondere das Interakcje-Projekt von Alfred Gall und Izabela Surynt (2015). Unter weiteren Beiträgen, die die deutsch-polnischen Beziehungen beleuchteten, liegen etliche vor, die sich mit dem hier relevanten Zeitraum beschäftigten wie z.B. die Auseinandersetzung mit den deutsch-polnischen Beziehungen zwischen 1806 bis 1918 von Jörg Hackmann und Marta Kopij-Weiß (2014). Thematisiert wurden auch ganz konkret die polnische Rezeption der deutschen Literatur und die deutsche Rezeption der polnischen Literatur z.B. in den Untersuchungen von Tadeusz Namowicz (2001) oder Heinz Kneip (1995). Darunter befinden sich zudem komparatistische Betrachtungen wie in Aneta Mazurs (2001) ←13 | 14→Untersuchung. In der Forschung zu der deutsch-polnischen Wechselwirkung in der Literatur wurden auch einzelne Autoren oder Werke fokussiert, wie es Krzysztof Stępnik (1996) tat, der sich mit Ignacy Kraszewski befasste oder wie Ewa Paczoska (2008), die sich mit Bolesław Prus’ Lalka beschäftigte. Nah mit diesen Untersuchungen verwandt sind die (postkolonialen) Beiträge von Dirk Uffelmann (2012, 2014, 2017a) zu Henryk Sienkiewicz, die nachvollziehen lassen, wie in den Briefen, in dem Roman W pustyni i w puszczy [Durch Wüste und Wildnis] und in der Novelle Sachem die polnische Situation der Fremdherrschaft im 19. Jahrhundert mit den afrikanischen Kolonien zur gleichen Zeit parallelisiert wurde. Die Suche nach Beiträgen, die sich der Untersuchung des deutsch-polnischen Kulturtransfers in positivistischen belletristischen Werken oder seiner Bedeutung für die Literatur des Positivismus widmeten, war nicht ergiebig, obwohl ein an dieser Stelle zu untersuchender transkultureller Aspekt, das polnische Fremdbild der Deutschen, in der Sekundärliteratur behandelt wurde. Die schon etwas ältere Untersuchung von Alexander Uschakow über Die Deutschen in ‚Placówka‘ und ‚Lalka‘ (1951), die Auseinandersetzung mit den Deutschen in Prus’ Lalka, Placówka und Powracająca fala von Janina Kulczycka-Saloni (1991), die umfassende Studie von Gustav-Adolf Krampitz (2004) zum Bild der Deutschen im gesamten Lebenswerk Prus’ sowie der Beitrag von Katrin Berwanger (2005), in dem sie sich mit der Darstellung der Deutschen in Powracająca fala auseinandersetzte, lassen einen erweiterten Forschungsbedarf zum deutsch-polnischen Kulturtransfer erkennen. Ein anderer Aspekt des Kulturtransfers wurde von Anna Kołos (2010) behandelt, die der Wechselwirkung zwischen den kolonialen Implikationen der Deutschen und der polnischen Autodefinition in positivistischen Werken nachging. Zu diesem Themenkomplex gehört auch der Sammelband von Jörg Hackmann und Peter Oliver Loew (2018) zu der Auseinandersetzung mit den transnationalen Verflechtungen im Osteuropa. Während in den angeführten Untersuchungen einzelne Aspekte der positivistischen Literatur fokussiert wurden, wird jedoch die Genese des Positivismus nicht oft thematisiert. So richten die beiden führenden universitären Zentren der Positivismusforschung in Polen, die Adam-Mickiewicz-Universität (UAM) in Posen und die Warschauer Universität (UW), stattdessen den Blick auf andere Zusammenhänge und Schwerpunkte. Auch die Tatsache, dass es im letzten Jahrzehnt und darüber hinaus an Publikationen, die diese Zusammenhänge betreffen, in der Polonistik sowie in der polonistischen Literaturwissenschaft weitgehend mangelt, spricht dafür, dass die Genese des Positivismus an diesen Forschungszentren nicht thematisiert wird. In den literaturgeschichtlichen Betrachtungen der letzten zwei Dekaden sind dennoch ein wieder aufkommendes Interesse am Positivismus sowie ein Wandel in der Wertung dieser Epoche zu beobachten, ←14 | 15→nachdem man davon abgerückt ist, den Positivismus als ein starres Gebilde zwischen Romantik und dem Jungen Polen aufzufassen. Neue Aufmerksamkeit bekam er als wichtiger Teil der gesamten kulturellen Formation des 19. Jahrhunderts (XIX-wieczna formacja kulturowa) (vgl. u.a. Maciejewski 2001). Es wird ebenfalls nach der literarischen Bedeutung von Gebieten gefragt, die bisher außer Acht gelassen wurden, wie allen voran in der Schrift von Andrzej Romanowski (2003), der seinen Blick auf Litauen richtete, um sich mit den möglichen Anzeichen und Spuren des Positivismus in diesem Gebiet zu beschäftigen. Hier ist allerdings seit dieser Publikation vorerst eine Forschungspause eingetreten. Die Auseinandersetzung mit vorhandener Forschungsliteratur ließ erkennen, dass mehreren Aspekten des hier zu untersuchenden Themas bereits teilweise Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dass dies aber nur in voneinander getrennten Betrachtungen stattfand. Weiterhin zeigte sich, dass unter kultursoziologischem Blickwinkel keine literaturgeschichtliche Studie zu der Entwicklung der polnischen Literatur zum Positivismus durchgeführt wurde. Ebenso fand ein Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung und der deutsch-polnischen Beziehung nur am Rande Erwähnung.

Die nachstehende Untersuchung soll zeigen, ob eine Erweiterung des Blickes auf diese Epoche um die kultursoziologische Perspektive tatsächlich ertragreich ist und inwieweit das preußisch-polnische Verhältnis und die Entwicklung der polnischen Literatur hin zum Positivismus als kausal miteinander verbunden zu verstehen sind. Es soll überprüft werden, ob dieser Zusammenhang in der Zeit der Teilungen in einem größeren Umfang bestand und bisher lediglich ungenügend erforscht wurde und eine Korrektur daher berechtigt ist. Gleichzeitig soll auch die russisch-polnische literarische Wechselbeziehung dahin gehend überprüft werden, inwieweit die Annahme zutrifft, dass der Positivismus die Antwort auf die russische Politik gegenüber den Polen war. Es wird sich zeigen, inwieweit Antworten auf diese Fragen Bedeutung für die weitere polonistische Literaturwissenschaft haben könnten und welche Forschungslücken hier aufgedeckt und geschlossen werden können.

1.1 Gegenstand der Untersuchung

1.1.1 Der polnische literarische Realismus – der Positivismus

Um das Wesen des polnischen literarischen Positivismus als Stilformation zu verstehen, ist es zunächst wichtig, im Gedächtnis zu haben, dass er stark auf einem gesellschaftlichen Programm aufbaute. Als dessen Grundlage dienten unterschiedliche Konzepte aus dem Bereich der Ökonomie und der gerade erst entstehenden Soziologie. Entscheidend dafür waren die frühen Erkenntnisse ←15 | 16→der großpolnischen Denker der 40er und 50er Jahre des 19. Jahrhunderts wie August Cieszkowski, Karol Libelt und Bronisław Trentowski, die als Väter der polnischen positivistischen Bewegung gelten können. Sie waren gesellschaftlich orientiert und fassten die Gesellschaft als einen Organismus auf, dessen Existenz sie in Abhängigkeit von einer durchdachten Organisation, gemeinsamer Zweckdienlichkeit und dem allgemeinen Wohlbefinden des Ganzen sahen, noch bevor organische Arbeit ein Begriff wurde. Dem einzelnen Menschen schrieben sie als Teil der Gesellschaft und als Arbeiter große Bedeutung zu. Sie schätzten Bildung als Basis für den geistigen und ökonomischen Fortschritt. Diese Sichtweise teilte unter anderen auch der in Galizien tätige Soziologe und Ökonom Józef Supiński, der sich als Erster explizit auf die Philosophie von August Comte bezog, indem er das Attribut positivistisch verwendete. Er ergänzte die Vorstellung des Zusammenhalts der gesamten Gesellschaft um die Auffassung des rechten Maßes. Er distanzierte sich entschieden vom romantischen Idealismus, welcher nach polnischer Geschichtsschreibung zum impulsiven Agieren und zu den in ihren Folgen verheerenden Aufständen führte (vgl. u.a. Davies 2010: 538). Seine Thesen stellte er ausführlich in seinem Hauptwerk Szkoła polska gospodarstwa społecznego [Die Schule der polnischen Nationalökonomie] (1862) dar. Diesen Überzeugungen schlossen sich Warschauer Denker an, allen voran Julian Ochorowicz und Aleksander Świętochowski, die später explizit Positivisten genannt wurden. In Anlehnung an das europäische Gedankengut von u.a. Auguste Comte, Charles Darwin, John Stuart Mill, Herbert Spencer konsolidierten sie diese Konzepte. Sie gingen einen Schritt über die organische Arbeit und die Befürwortung des inneren Gleichgewichts hinaus und entwickelten das Konzept der Arbeit an den Grundlagen (praca u podstaw), das durch gezielte Versorgung und Bildung besonders der schwächsten Glieder der Gesellschaft zur Stärkung der Gesellschaft als Ganzem beitragen soll. Im nächsten Schritt gelangten diese Lehren zu einer sich herausbildenden neuen Gruppe der Literaten um die Warschauer Universität (Szkoła Główna Warszawska), wie Bolesław Prus und Henryk Sienkiewicz, und sie wurden in diesem Umfeld produktiv umgesetzt.13

Das literarische Programm des Positivismus rief, übereinstimmend mit den Prinzipien des Realismus, eine Ablösung der subjektiven Darstellung der metaphysischen Welt durch die objektive Darstellung der dem Verstand zugänglichen Welt aus, und es ließ sich eine pragmatische Ausrichtung der Literatur beobachten, in der es immer öfter zu einer Auseinandersetzung mit aktuellen ←16 | 17→Problemen kam. Literatur wurde zum Werkzeug in und für die Gesellschaft, als Mitvollzug der organischen Arbeit. Die Wende markiert die Anklage, die „die Neuen“, die Positivisten, an die Romantiker richteten, die sie überwiegend als emotionsgeleitete Einzelgänger fernab der Realität gering schätzten. Die Positivisten warfen ihren Vorgängern eine weit ausgreifende Imagination vor, die die konkrete Gesellschaft ins Metaphysische übertrug. Vor dem Hintergrund der sog. positivistischen Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der Stärkung des öffentlichen Lebens sowie der Einrichtung sozialer Institutionen und eines gut funktionierenden wirtschaftlichen Systems wurde eine neue Definition des Schriftstellers entworfen. Im neuen Zeitalter des Szientismus und Utilitarismus wurde er zum Wissenschaftler und ehrenamtlichen Aktivisten in einer Person. Literatur – vor allem Prosa, damals als die zugänglichste Form der Literatur eingestuft – sollte in dieser Zeit der Vermittlung intellektueller Inhalte dienen sowie eine genaue Beobachtung der gegenwärtigen Ereignisse und Zusammenhänge ermöglichen. Neben dem Rückgriff auf eine realitätsnahe Konstruktion der dargestellten Welt wurde demzufolge vor allem in der ersten Phase des Positivismus hauptsächlich Tendenzliteratur (literatura tendencyjna) geschrieben. Sie erhielt eine didaktische und agitatorische Profilierung, die einer Bewusstmachung der patriotischen und gesellschaftlichen Pflichten eines jeden Bürgers sowie der Umgestaltung der gesellschaftlichen Strukturen dienen sollte (vgl. Markiewicz 2004: 99).14 Die Autoren der Tendenzliteratur bedienten sich hauptsächlich eines allwissenden Erzählers, der die Welt erklärte und moralische Maßstäbe deutlich in Schwarz-Weiß malte. Als Themen dienten die dringendsten Probleme der polnischen Nation wie der Kampf um die Sprache, den Boden und die nationale Identität sowie die Missstände der benachteiligten Schichten der Gesellschaft wie Bauern, Arbeiter und Frauen. In der nächsten Phase, der des sog. kritischen Realismus (realizm krytyczny), kamen die Autoren von der reinen Bebilderung der eigenen Thesen und Lösungsvorschläge ab. Stattdessen boten sie mit ihrer Literatur eine genaue Beobachtung der gegenwärtigen Ereignisse und Zusammenhänge, über die der Leser selbst zu urteilen hatte. Der Erzähler trat in den Hintergrund und die Darstellung der Inhalte wurde komplexer, ←17 | 18→das Themenspektrum erweiterte sich auf allgemeinere Fragen wie die nach den (Natur-)Rechten, die das Leben und Funktionsweise in einer Gesellschaft bestimmen.

Details

Seiten
234
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631809013
ISBN (ePUB)
9783631809020
ISBN (MOBI)
9783631809037
ISBN (Hardcover)
9783631797280
DOI
10.3726/b16433
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
Interkulturalität Kulturtransfer Literaturgeschichte Epochenwechsel Hybridität
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, 2020., 234 S., 36 Tab.

Biographische Angaben

Katarzyna Kostrzewska-Adam (Autor:in)

Katarzyna Kostrzewska-Adam studierte Slavische Philologie/Polonistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Deutsche Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik, Turkologie und zirkumbaltische Studien an der Mainzer Universität, wo sie auch promovierte.

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Titel: Das preußisch-polnische Verhältnis und der Positivismus
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