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Minderjährige in den Medien

Berichterstattung über Kinder und Jugendliche mit und ohne Einwilligung unter besonderer Berücksichtigung aktueller Gefährdungspotentiale in der digitalen Welt

von Ruth Baumann (Autor:in)
©2019 Dissertation 424 Seiten

Zusammenfassung

Welche rechtlichen Grenzen sollen bei der Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen in den Medien gelten? Diese Frage ist nicht nur Gegenstand einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion, sondern bewegt spätestens seit den «Caroline»-Urteilen auch die juristische Welt. Die Autorin erläutert nicht nur die rechtlichen Grundlagen für minderjährige Akteure in Medien und sozialen Netzwerken, sondern zeigt auch die vorhandenen Schutzlücken auf. Anhand konkreter Maßnahmen empfiehlt Sie, die aktuelle Rechtslage zu reformieren, um dem verfassungsrechtlich garantierten Schutz Minderjähriger, aber auch der Meinungs- und Pressefreiheit, gerecht zu werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Ãœber das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Teil 1: Einführung
  • I. Die Rolle Minderjähriger in der Medienlandschaft
  • II. Risiken der Berichterstattung über Minderjährige
  • III. Chancen und Risiken der Mitwirkung in Medienproduktionen
  • 1. Minderjährige als Schauspieler, Sänger oder Nachwuchstalent
  • 2. Minderjährige in realitätsnahen Produktionen
  • IV. Minderjährige in sozialen Netzwerken
  • V. Fazit
  • VI. Gang der Untersuchung
  • Teil 2: Kurze Einführung in die Systematik und Wirkung der Grundrechte
  • I. Nationales Recht
  • 1. Normenhierarchie
  • 2. Bedeutung der Grundrechte für das Zivilrecht – Mittelbare Drittwirkung
  • II. Europarecht
  • 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze
  • 2. Europäische Charta der Grundrechte
  • III. Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
  • IV. Abgrenzung der Grundrechtskataloge
  • Teil 3: Minderjährigenschutz in den Medien durch Grundrechte
  • I. Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG
  • 1. Bedeutung
  • 2. Internationale Dimension
  • 3. Europarechtliche Dimension
  • 4. Schutzbereich
  • 5. Reformvorschlag: Menschenwürde wahren
  • II. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG
  • 1. Persönlichkeitsrechte auf internationaler Ebene
  • 2. Persönlichkeitsrechte auf europäischer Ebene
  • 3. Verfassungsrechtliches und zivilrechtliches APR
  • 4. Erhöhte Schutzbedürftigkeit Minderjähriger
  • 5. Verfassungsrechtliches APR
  • 6. Zivilrechtliches APR
  • 7. Postmortaler Persönlichkeitsrechtsschutz
  • III. Schutz der Familie, Art. 6 GG
  • 1. Internationale Dimension
  • 2. Europarechtliche Dimension
  • 3. Schutzbereich
  • 4. Kindeswohl als Gut von Verfassungsrang
  • 5. Reformvorschlag: Kindeswohl als Eingriffsberechtigung für Aufsichtsgremien
  • IV. Gegenrechte
  • 1. Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Alt. 1 GG
  • 2. Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG
  • 3. Kunstfreiheit, Art. 5 Abs. 3, Alt. 1 GG
  • 4. Abgrenzungsprobleme bestimmter Werkarten
  • 5. Wahrnehmung berechtigter Interessen, § 193 StGB
  • Teil 4: Unabhängigkeit und Verknüpfung von Wort- und Bildberichterstattung
  • I. Wortberichterstattung über Minderjährige
  • 1. Abstrakte Abwägungsebene
  • 2. Konkrete Abwägungsebene
  • 3. Fallgruppen der Abwägung
  • II. Bildberichterstattung über Minderjährige
  • 1. Bildnis, § 22 KUG
  • 2. Verbreiten und zur Schaustellen eines Bildnisses mit Einwilligung, § 22 KUG
  • 3. Keine Einwilligung erforderlich bei Ausnahmetatbeständen, § 23 Abs. 1 KUG
  • 4. Ausschluss der Abbildungsfreiheit, § 23 Abs. 2 KUG
  • 5. Ausnahmen im öffentlichen Interesse, § 24 KUG
  • 6. Fallgruppen der Abwägung
  • 7. Schutz vor Herstellung von Bildaufnahmen
  • Teil 5: Medienrechtliche Einwilligung Minderjähriger
  • I. Systematik der Einwilligung
  • II. Dogmatische Einordnung
  • 1. Schuldrechtlicher Gestattungsvertrag
  • 2. Negatives Tatbestandsmerkmal
  • 3. Rechtfertigung
  • 4. Fazit
  • III. Rechtsnatur
  • 1. Realakt
  • 2. Rechtsgeschäftsähnliche Handlung
  • 3. Rechtsgeschäftliche Willenserklärung
  • 4. Fazit
  • IV. Umstände und Konsequenzen der Erteilung einer medienrechtlichen Einwilligung
  • 1. Einwilligungsarten, insbesondere die konkludente Einwilligung
  • 2. Reichweite der Einwilligung
  • 3. ‚Digitale Einwilligung‘ als neue Einwilligungskategorie
  • 4. ‚Vorschaubilder‘-Entscheidungen des BGH
  • 5. Digitale Einwilligungen Minderjähriger
  • 6. Weitere Konsequenzen der Einstufung des Uploads als konkludente Einwilligung
  • 7. Fazit
  • V. Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger
  • 1. Geschäftsunfähige
  • 2. Elternzuständigkeit – Anwendbarkeit der §§ 107 ff. BGB
  • 3. Einschränkungen der Elternzuständigkeit
  • 4. Grundrechtsmündigkeit/ Einsichtsfähigkeit
  • 5. Alleinzuständigkeit ab Einsichtsfähigkeit
  • 6. Doppelzuständigkeit ab Einsichtsfähigkeit
  • 7. Einwilligung im Rahmen einer Berufsausübung, § 112 f. BGB
  • 8. Fazit
  • VI. Sittenwidrigkeit der Einwilligung
  • VII. Menschenwürde als Grenze der Dispositionsbefugnis
  • 1. Berührungsmöglichkeiten der Menschenwürde und deren Rechtsfolgen
  • 2. Widerstreit zwischen Autonomie und Paternalismus
  • 3. Menschenwürdeberührung durch Medienproduktionen
  • 4. Paternalismus aus Jugendschutzgründen
  • VIII. Freiwilligkeit der Einwilligung
  • IX. Aufklärung
  • 1. Aufklärungsempfänger
  • 2. Zeitpunkt
  • 3. Kriterien für Aufklärungsintensität
  • 4. Tendenziöse Darstellung von Protagonisten und Überraschungsmomente als Aufklärungsproblem
  • 5. Aufklärungsverzicht
  • 6. Formularaufklärungen
  • 7. Anfechtung der Einwilligung
  • 8. Keine Ausweitung der medienrechtlichen Aufklärungspflicht Minderjähriger
  • X. Widerruf
  • 1. Widerrufsvoraussetzungen
  • 2. Ersatz des Vertrauensschadens
  • 3. Widerrufsberechtigung
  • 4. Gesondertes Widerrufsrecht Minderjähriger
  • XI. Kein Verbot der präventiven Einwilligung
  • Teil 6: Privatsphärenöffnungen durch medienrelevantes Vorverhalten
  • I. Öffentlichkeit und Privatsphäre in einer digitalen Welt
  • 1. Einfluss der Digitalisierung: Von der ‚Religion der Offenheit‘ zu ‚Post-Privacy‘
  • 2. Bedeutung der Separierung von Privatsphäre und Öffentlichkeit
  • 3. Reformbedarf des Privatsphärenbegriffs wegen extensiver Privatsphärenöffnung?
  • 4. Reformbedarf des Öffentlichkeitsbegriffs wegen Dauerbeobachtung?
  • II. Differenzierung zwischen konkludenter Einwilligung und Konsequenzen einer Privatsphärenöffnung
  • III. Umfang und Konsequenzen der Privatsphärenöffnungen Minderjähriger
  • IV. Privatsphärenöffnungen im Web 2.0
  • 1. Upload als Privatsphärenöffnung
  • 2. Einsehbar für jedermann
  • 3. Registrierte Nutzer
  • 4. Bestätigte Kontakte
  • 5. Bestätigte Kontakte zweiten Grades – „Freunde von Freunden“
  • 6. „Gefällt mir“-Button
  • 7. Fazit
  • V. Verjährungsfrist für Privatsphärenöffnungen
  • VI. Recht auf Vergessen?
  • 1. Persistenz des Internets
  • 2. Online-Archive: Konfliktpotential der digitalen Archivierung
  • 3. Höchstrichterliche Rechtsprechung zu Online-Archiven
  • 4. Kritik an der BGH-Rechtsprechung
  • 5. Soziale Netzwerke
  • VII. Reformvorschläge
  • 1. Kurze Verjährungsfrist für Vorverhalten
  • 2. Erhöhte Anforderungen an Fotos von öffentlichen Veranstaltungen
  • 3. Digitale Veröffentlichungen, insbesondere Online-Archive
  • Teil 7: Strafrechtlicher Schutz des Persönlichkeitsrechts Minderjähriger
  • I. Strafrechtlicher Ehrschutz, § 185 ff. StGB
  • 1. Beleidigung, § 185 StGB
  • 2. Üble Nachrede, § 186 StGB
  • 3. Verleumdung, § 187 StGB
  • II. Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, § 201a StGB
  • 1. Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen, § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB
  • 2. Zurschaustellen der Hilflosigkeit einer anderen Person § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB
  • 3. Zugänglichmachung von dem Ansehen erheblich schadenden Bildaufnahmen, § 201a Abs. 2 StGB
  • 4. Entgeltliche Herstellung oder Verbreitung von Nacktfotos Minderjähriger, § 201a Abs. 3 StGB
  • III. Nachstellung, § 238 StGB
  • IV. Strafrechtliche Sanktionen des Rechts am eigenen Bild, § 33 KUG
  • V. Kinder- und Jugendpornographie, § 184 b ff. StGB
  • 1. Schutzgüter – Darstellerschutz und Vermeidung von Anreizeffekten
  • 2. Spannungsfeld mit Kunstfreiheit
  • 3. Pornographieverbot in anderen Vorschriften
  • Teil 8: Neue Instrumente zur Anhebung des Schutzniveaus bei Berichterstattungen ohne oder gegen den Willen der Minderjährigen
  • I. Absolutes Berichterstattungsverbot
  • 1. Schutzlücken
  • 2. Zensurverbot, Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG
  • 3. Legitimer Zweck
  • 4. Geeignetheit
  • 5. Erforderlichkeit
  • 6. Angemessenheit
  • 7. Ausgestaltung
  • 8. Fazit
  • II. Recht auf Vorabinformation
  • 1. Klage vor dem EGMR
  • 2. Vorabinformationspflicht für die Berichterstattung über Minderjährige
  • 3. Ausgestaltung
  • III. Unkenntlichmachung Minderjähriger
  • 1. Keine Identifizierung durch die breite Öffentlichkeit
  • 2. Aktuelle Praxis: Unzureichende Anonymisierung zur Vermeidung eines Geldentschädigungsanspruchs
  • 3. Ausgestaltung
  • 4. Fazit
  • IV. Ergebnis
  • Teil 9: Minderjährigenschutz bei Berichterstattung mit Einwilligung
  • I. Normierungslücke bezüglich minderjähriger Mitwirkender in Medien
  • II. Arbeitsrecht als medienrechtliches Schutzinstrument
  • 1. Programmatische Leitlinien
  • 2. Nationale Normierungen
  • 3. Schutzvorschriften für Minderjährige in Medienproduktionen
  • 4. Eignung arbeitsrechtlicher Vorschriften zum Schutz des Persönlichkeitsrechts
  • III. Reformvorschläge
  • 1. Schutzlücken systematisch schließen
  • 2. Stärkere Betrachtung des Einzelfalls
  • 3. Ausweitung der medienpädagogischen Fachbetreuung
  • 4. Aufrechterhaltung der Produktionsdauer als Kernkriterium der Bewilligung
  • 5. Europäische Harmonisierung
  • 6. Minderjährige in realitätsnahen Produktionen
  • 7. Minderjährige in Castingshows
  • 8. Kennzeichnung beeinflusster Realitätsformate (Scripted Reality)
  • 9. Fazit
  • Teil 10: Minderjährigenschutz in sozialen Netzwerken
  • I. Altersverifikation
  • II. Kein Ausschluss aus sozialen Netzwerken
  • III. Selbstverpflichtung oder Normierung
  • IV. Mögliche Maßnahmen zu verbessertem Persönlichkeitsrechtsschutz minderjähriger Nutzer
  • V. Medienkompetenz als Schlüssel zu effektivem Privatsphärenschutz
  • Teil 11: Konflikt zwischen Eltern- und Kindeswillen bezüglich Medienberichterstattung
  • I. Elternrecht als Elternverantwortung
  • II. Anhörung des Kindeswillens
  • III. Berücksichtigung des Kindeswillens
  • 1. Kindeswohl als Maßstab
  • 2. Kriterien für Berücksichtigung des Kindeswillens
  • 3. Etablierung einer medienrechtlichen Teilmündigkeit
  • 4. Selbstständigkeit als Erziehungsziel
  • IV. Handlungsmöglichkeiten bei einem Konflikt zwischen Eltern und Kind bezüglich Medienberichterstattung
  • 1. Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe
  • 2. Gerichtliche Maßnahmen bei Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB
  • 3. Verfassungsbeschwerde
  • V. Medienberichterstattung gegen den Willen des Minderjährigen
  • 1. Verhinderung der Veranlassung von medienrechtlicher Berichterstattung durch die Erziehungsberechtigten
  • 2. Klageverfahren gegen Medienberichterstattung über einen Minderjährigen gegen den Willen der Eltern
  • VI. Medienberichterstattung gegen den Willen der Eltern
  • Teil 12: Rechtsdurchsetzung
  • I. Zivilrechtliche Ansprüche
  • 1. Aktivlegitimation – Individuelle Betroffenheit
  • 2. Passivlegitimation – Verantwortlichkeit für Berichterstattung
  • 3. Prozessfähigkeit, §§ 51 ff. ZPO
  • 4. Unterlassungsanspruch, § 1004 Abs. 1 BGB analog i. V. m. § 823 Abs. 1 BGB
  • 5. Gegendarstellungsanspruch
  • 6. Widerruf, §§ 1004, 823, 824 BGB
  • 7. Geldentschädigung
  • 8. Sonstige zivilrechtliche Ansprüche
  • II. Reformvorschläge: Vorbeugende Unterlassungsklage und Verbot kerngleicher Berichterstattung
  • 1. Unzulänglichkeit der Rechtsschutzmöglichkeiten
  • 2. Verbot kerngleicher Berichterstattung
  • 3. Genereller Unterlassungsanspruch
  • 4. Fazit
  • III. Berufung auf Grundrechte – Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG
  • 1. Verfahrensfähigkeit
  • 2. Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG
  • IV. Berufung auf Menschenrechte – Individualrechtsbeschwerde vor dem EGMR
  • 1. Prozessfähigkeit
  • 2. Individualrechtsbeschwerde, Art. 34 EMRK
  • V. Strafrecht
  • 1. Offizialdelikte
  • 2. Antragsdelikte, § 77 StGB i. V. m. § 178 StPO
  • 3. Privatklageverfahren, § 374 ff. StPO
  • 4. Nebenklage, §§ 395 ff. StGB
  • 5. Täterschaft
  • VI. Fazit
  • Teil 13: Zusammenfassung der Reformvorschläge
  • I. Menschenwürde wahren
  • II. Kindeswohl als Eingriffskriterium für medienrechtliche Aufsichtsgremien
  • III. Vorwandskontrolle
  • IV. Sperrzonen für Paparazzi
  • V. Kurze Verjährungsfrist für Vorverhalten
  • VI. Erhöhte Anforderungen an Fotos von öffentlichen Veranstaltungen
  • VII. Digitale Veröffentlichungen, insbes. Online-Archive
  • VIII. Schutzlücken systematisch schließen
  • IX. Stärkere Betrachtung des Einzelfalls
  • X. Ausweitung der medienpädagogischen Fachbetreuung
  • XI. Europäische Harmonisierung
  • XII. Minderjährige in realitätsnahen Produktionen
  • XIII. Minderjährige in Castingshows
  • XIV. Minderjährige in sozialen Netzwerken
  • XV. Medienkompetenz als Schlüssel zu Privatsphärenschutz
  • XVI. Prozessuale Reformen: Vorbeugende Unterlassungsklage und Verbot kerngleicher Berichterstattung
  • Literaturverzeichnis

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Teil 1: Einführung

I. Die Rolle Minderjähriger in der Medienlandschaft

Minderjährige sind selbstverständlicher Teil der Medienlandschaft. Schon die Grimm’schen Erzählungen berichten nicht nur von erwachsenen Königinnen und Königen, sondern kennen auch das Märchen der beiden Kinder Hänsel und Gretel. Während die Medienlandschaft sich von der Märchensammlung hin zu Presse, Rundfunk und Internet, wie wir sie heute kennen, entwickelte, blieben Minderjährige stets präsent:

Das Leben einiger Minderjähriger löst schon frühzeitig solch eine Faszination aus, dass sich die Medien mit ihnen beschäftigen, ohne die Einwilligung der Erziehungsberechtigten oder gar der Minderjährigen selbst einzuholen. Als Paradebeispiel sind hierbei die Adelsfamilien zu nennen, deren Nachwuchs von Geburt an von hohem Interesse für Medien und Bevölkerung ist.1

Heutzutage ist das Interesse an einigen Adelsfamilien ungebrochen. Doch daneben sind andere prominente Persönlichkeiten getreten, über die – und über deren minderjährige Kinder – ebenso eingehend berichterstattet wird. Schon vor ihrer Geburt werden Kinder berühmter Eltern in den Medien besprochen. Gerüchte um eine etwaige Schwangerschaft und die Identität des Vaters werden großzügig behandelt. Die ersten Fotos der neugeborenen Babys sind viel Geld wert, obwohl ein Säugling sich äußerlich kaum von anderen Gleichaltrigen unterscheidet.

Im Laufe seines Älterwerdens kann von einem unbelasteten Aufwachsen keine Rede sein. Besonders in Krisensituationen, wenn die Karriere oder die Beziehung der Eltern ins Schlingern gerät, richtet sich das Augenmerk ungefiltert auf die Kinder. In dieser ohnehin schon belastenden Phase werden sie nicht selten rund um die Uhr von Heerscharen von Paparazzi belagert. Die von der Rechtsprechung beschworene ungestörte Eltern-Kind-Beziehung, die auch in der Öffentlichkeit stattfinden soll, ist nur eine theoretische Annahme. In der Realität bedeutet ein prominentes Elternteil eine nicht zu leugnende Belastung für das Kind.2 So sah sich das britische Thronfolgerpaar Catherine und William gezwungen in einem offenen Brief um einen respektvolleren Umgang der Pressevertreter gegenüber ihrem Sohn im Kleinkindalter zu beten.3 Wenn der junge George auch eines der begehrtesten Fotomotive sein mag, so versuchen auch deutsche Prominente unter Inanspruchnahme rechtlicher Hilfe ihre Kinder generell vor Medienberichterstattung zu ←23 | 24→schützen, da alleine schon der berühmte Vater ausreicht, um ein ständiges Medieninteresse am Alltag der Minderjährigen auszulösen.4

Wie diese beiden Beispiele zeigen ist das Interesse an Minderjährigen oftmals lediglich abgeleitet und begründet sich aus der Verwandtschaft zu einem Prominenten, z.B. berühmten Eltern oder Geschwistern.5 Selbst seriösen Medien wie der Tagesschau ist es wert zu berichten und mit entsprechenden Bildern zu zeigen, dass Sigmar Gabriel bei seinem Staatsbesuch in Paris anlässlich der Trauer um die terroristischen Anschläge vom November 2015 von Ehefrau und kleiner Tochter begleitet wird – und auch der Politiker selbst erwähnt dies explizit in seinem Statement an die Medien.6

Aber auch Kinder und Jugendliche ohne berühmte Verwandte können unverhofft ins Licht der Öffentlichkeit geraten. Beispielsweise können aufsehenerregende Ereignisse des realen Lebens, wie Unfälle oder Straftaten, dafür sorgen, dass die Medienöffentlichkeit ihr Augenmerk auf Minderjährige richtet

Auch freiwillig wirken Minderjährige heutzutage in bisher ungeahntem Ausmaß in den Medien mit, wobei kein Ende dieses Trends in Sicht ist.7 Sie übernehmen Rollen im sonntäglichen Tatort; ihre künstlerischen und sportlichen Erfolge werden in Presse und Rundfunk notiert.

Minderjährige als Schauspieler sind, besonders in Kinderfilmen, seit Langem bekannt. Die Entwicklung in der Medienlandschaft hat dazu geführt, dass Kinder und Jugendliche auch in einer Vielzahl realitätsnaher Formate mitwirken, was ganz neue Gefährdungspotentiale mit sich bringt.

II. Risiken der Berichterstattung über Minderjährige

Es wäre falsch anzunehmen, dass eine Berichterstattung in den Medien im Kindesalter automatisch negative Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung oder das spätere Leben eines Minderjährigen haben muss.8 Unzweifelhaft stellt es jedoch eine Herausforderung dar, wenn in jungen Jahren Prominenz erlangt wird.

Medienberichterstattung kann die Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig stören. Zum Einen gestaltet sich die Begründung eines eigenen Selbstbildes schwieriger, wenn es in Konkurrenz zu einem öffentlichen Bild der eigenen Person treten muss, wie es bei minderjährigen Schauspielern oder Popstars der Fall sein kann,9 oder wenn Kinder stets dem öffentlichen Vergleich mit prominenten ←24 | 25→Eltern oder Familienangehörigen ausgesetzt sind.10 Der Schweizer Jugendpsychologe Allan Guggenbühl beschreibt dies im Gespräch mit Sophie Albers Ben Chamo wie folgt: „Eine berühmte Identität [wird] dem Ich einfach übergestülpt […] Die andere, die eigene Identität, droht verloren zu gehen. Sie findet nicht statt“.

Eine weitere Hürde für eine gesunde und altersgerechte Selbstfindung ist, dass die Interaktion mit dem sozialen Umfeld durch Prominenz verfälscht werden kann. Reagiert die Umwelt übersteigert positiv auf einen Minderjährigen, kann dieser eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, ein völlig übersteigertes Ego, entwickeln.11 Das andere Extrem, negative Resonanz und ständige Kritik durch die Medien, kann dem eh schon fragilen Selbstwertgefühl Minderjähriger ebenfalls großen Schaden zufügen.

Selbst einen in seiner Persönlichkeit gefestigten Minderjährigen kann Medienberichterstattung schädigen. Die Wahrnehmung des persönlichen und allgemeinen Umfelds der Minderjährigen ist wesentlich dafür, ob Medienberichterstattung im Nachhinein als persönlicher Fluch oder Segen beurteilt wird.12 Doch es ist unmöglich diese im Vorfeld zu steuern. Die Reaktionen der Umwelt können in völlig unterschiedliche Richtungen gehen: Medienpräsenz verspricht grundsätzlich Popularität und Bewunderung. Gleichzeitig leben wir in einer digitalen Welt, in der ein sogenannter ‚Shitstorm‘, das heißt eine Welle der Entrüstung, die sich in über das Internet anonym geäußerter Kritik und Beleidigungen entlädt, von jeglicher Nichtigkeit ausgelöst werden kann.13 Die Grenzen zwischen positiver und negativer Resonanz liegen eng beieinander und sind nicht immer beeinflussbar. Bilton berichtet, wie der sechszehnjährige Alex aus Texas ohne eigenes Zutun Berühmtheit erlangte, da ein heimlich von ihm aufgenommenes Foto, welches den attraktiven Teenager bei seiner Arbeit als Kassierer zeigte, tausendfach online geteilt wurde. Obwohl der Jugendliche keine polarisierenden oder provozierenden Verhaltensweisen an den Tag legte, brachte seine plötzliche Prominenz ihm nicht nur Bewunderung ein, sondern führte auch zu Morddrohungen gegen ihn und seine Familie.14

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Der Fall von Alex ist so interessant, da er die Schnelligkeit der heutigen Medienlandschaft zeigt. Im Laufe einer einzigen Arbeitsschicht wurde Alex, der von all dem zunächst nichts mitbekam, zu einer nationalen Berühmtheit.15 Hinzu kommt, dass mit der Digitalisierung unserer Welt all das, was die Öffentlichkeit erreicht, sich verselbstständigt und dem Kontext völlig entrissen werden kann. Bilder können nicht mehr kontrolliert werden, sondern werden mit ein paar Mausklicks kopiert und verändert. Eine harmlose Mitwirkung kann den Minderjährigen auch aufgrund solcher Bearbeitungen zur Zielscheibe von Spott machen, der noch jahrelang nachwirkt und nie mehr ganz aus der Welt zu schaffen sein wird.16

Prominenz kann nicht nur der Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch der Gesundheit schaden. Es ist statistisch nachgewiesen, dass prominente Personen nicht nur wesentlich häufiger Alkohol und Drogen missbrauchen, als nicht berühmte Menschen, sondern sich auch deutlich öfter das Leben nehmen.17 Dieses Ergebnis wurde auch im Rahmen einer Studie über ehemalige erfolgreiche Kinderstars bestätigt, bei der unter diesen ein überdurchschnittlich hoher Gebrauch von Alkohol, Drogen und Medikamenten festgestellt wurde.18 Zudem wird von einem Fall berichtet, in dem die ungewöhnlichen Erfahrungen in den Medien psychische Störungen ausgelöst haben.19 Bei dieser Studie ist besonders bemerkenswert, dass ausschließlich erfolgreiche Kinderstars befragt wurden, die die positive Seite des Medienbusiness wie Bewunderung, Erfolgserlebnisse und finanzielle Vorteile genießen durften.20 Ihnen steht ein Großteil nicht prominenter Minderjähriger entgegen, der ähnlichen oder gleichen Belastungen ausgesetzt ist, ohne die angenehme Kehrseite der Medaille genießen zu können und daher diese Phase als weitaus negativer erlebt haben dürfte.21 Wenn durch Medienberichterstattung ←26 | 27→hervorgerufene Prominenz diese Gesundheitsrisiken mit sich bringt, ist die Überlegung gerechtfertigt, ob zumindest Minderjährige davor geschützt werden müssten.

III. Chancen und Risiken der Mitwirkung in Medienproduktionen

Welchen Einfluss die Mitwirkung eines Minderjährigen in Medienproduktionen auf dessen weitere Persönlichkeitsbildung hat, hängt von einer Reihe unterschiedlichster Faktoren ab. So unterschiedlich Kinder und Jugendliche sind, so verschieden können sie auch die Erfolgserlebnisse und Herausforderungen aufnehmen, die eine Mitwirkung mit sich bringt. Insbesondere die Arten der Mitwirkung in den Medien nehmen Einfluss auf die Chancen und Risiken.

1. Minderjährige als Schauspieler, Sänger oder Nachwuchstalent

Viele Minderjährige hegen das Vorhaben, in den Medien mitzuwirken, um berühmt zu werden,22 doch können dies nur jene realisieren, die die erste Hürde des Castings überstehen. Hier zeigt sich schon das erste Konfliktpotential, das selbst Erwachsene nicht unberührt lässt. Denn dem Großteil von Casting-Teilnehmern schlägt unverhohlene und ungeschönte Ablehnung entgegen, die schwer zu verarbeiten sein kann.23

Ist das Casting überstanden, entsteht eine weitere Herausforderung, da Minderjährige in einen Produktionsablauf eingebunden werden, in welchem sie funktionieren müssen wie ein arbeitender Erwachsener. Eben das, was die heutige Gesellschaft sich unter Kindheit vorstellt, nämlich die Unbeschwertheit und Freiheit von Verpflichtungen des Erwachsenenlebens, muss für den Zeitraum eines Engagements in den Medien aufgegeben werden. Denn Medienproduktionen involvieren regelmäßig eine Vielzahl von Personen, sodass eine effektive Arbeitsweise zwingend notwendig ist, um die Kosten möglichst gering zu halten. Selbst wenn versucht wird, Rücksicht auf die Minderjährigen zu nehmen oder das Gesetz hierzu verpflichtet, ist eindeutig, dass sich auch die Kinder und Jugendlichen in einen Arbeitsalltag einfügen müssen, in dem sie unabhängig von der persönlichen momentanen Laune oder auch der momentanen Eignung qualitativ hochwertig eine Aufgabe erfüllen müssen.

Diese zeitliche Einbindung schließt ein, dass der Alltag des Mitwirkenden für die Dauer der Produktion stark verändert wird. Da der Minderjährige weniger Zeit zu Hause oder in seinem gewohnten Schul- oder Freizeitumfeld verbringen wird, werden seine privaten, sozialen und familiären Bindungen verflachen,24 wobei die ←27 | 28→Intensität dieses Effekts von der zeitlichen Intensität des Engagements abhängt. Zwar ist es gut möglich, dass diese Bindungen durch neue Bindungen ersetzt werden, die an der Produktionsstätte entstehen, doch birgt auch diese Wirkung eine Herausforderung, denn nach Abschluss der Arbeiten geht das lieb gewonnene Produktionsteam auseinander, sodass der Minderjährige mit dem Ende dieser besonderen Phase und dem Verlust dieser Bindungen zurechtkommen und wieder in seinen bisherigen Alltag zurückfinden muss.25

Besonders schwierig kann sich dieser Übergang in ein ‚normales‘ Leben gestalten, wenn er nicht freiwillig geschieht, sondern erfolgt, weil keine weiteren Engagements mehr erteilt werden.26 In solchen Situationen muss nicht nur mit der veränderten Umgebung, sondern auch mit der Ablehnung umgegangen werden. Insbesondere dann, wenn Kinder und Jugendliche sich vorrangig als Schauspieler oder sonstiger Star identifiziert haben und hierauf ihr Selbstverständnis gründen, kann der Verlust dieser Rolle eine echte Persönlichkeitskrise auslösen,27 die sich gerade dann potenziert, wenn die Kinder-Karriere endet, da aus dem Kind ein pubertierender junger Erwachsener wird.

Die Bedeutung der eigenen Leistung für das Fortschreiten der Medienproduktion bringt es mit sich, dass die Minderjährigen einem in ihrem Alter sonst nicht vorhandenem Druck ausgesetzt sind. Dieser kann sowohl von innen, von dem Minderjährigen selber kommen, der an sich einen hohen Anspruch hat, den er womöglich nicht immer erfüllen kann. Genau so kann diese Erwartungshaltung aber unausgesprochen oder artikuliert von außen, von Produktionsmitarbeitern, Managern oder Erziehungsberechtigten erzeugt werden. Solch ein Leistungsdruck ist nicht nur negativ besetzt, kann er ja auch zu einem Erfolgserlebnis führen und dem Minderjährigen wichtige Kernkompetenzen wie Disziplin, Durchhaltevermögen und bei Erfolg, Selbstvertrauen, bescheren. Doch handelt es sich bei Minderjährigen um stark beeinflussbare Persönlichkeiten, die durch die beschriebenen Effekte auch über die eigene Belastungsgrenze hinausgehen und dabei Schaden nehmen können.28

Eine Befragung ehemaliger erfolgreicher Kinderstars aus dem Jahre 199829 zeigt auf, dass Minderjährige den Stress und Druck einer Medienproduktion unbeschadet überstehen können, wenn sie von ihren Eltern ausreichend unterstützt werden.30 Ausdrücklich wird darauf verwiesen, dass kein Gewöhnungseffekt eintritt, der dafür sorgt, dass der Druck den Kindern – gegebenenfalls nach einigen ←28 | 29→Engagements – nichts mehr ausmacht.31 Sie bedürfen der elterlichen Begleitung, um die Erfahrungen bewältigen zu können.32

Die Mitwirkung eines Minderjährigen in einer Medienproduktion kann für diesen aber auch bereichernd sein.33 Er bekommt die Gelegenheit, sich kreativ zu betätigen und dabei bestenfalls einem lieb gewonnen Talent nachzugehen, sodass neben einer Menge Spaß und Freude auch ein persönlicher Fortschritt im Sinne einer von der Rechtsprechung angestrebten Persönlichkeitsentfaltung erreicht werden kann.34 Medienschaffende berichten, dass Minderjährige oft enthusiastisch bei der Sache sind und die gesetzlich verhängten Zwangspausen als Strafe empfinden.35

Eine Aufgabe trotz Schwierigkeiten zu bewältigen und sich als Teammitglied zu beweisen, auf das sich andere verlassen können, sind wichtige Kernkompetenzen, von denen ein Minderjähriger ein Leben lang profitieren kann und die nicht zuletzt das Selbstbewusstsein und damit die Persönlichkeit stärken und formen.36 In einer solchen Erfahrung wird sogar die Chance für Befriedigung kindlicher Bedürfnisse und die Lösung von Entwicklungskonflikten gesehen.37

Zudem vermittelt die gestalterische Mitwirkung an Medien eine Grundlage für die differenzierte und kritische Betrachtung von Medieninhalten,38 was unter dem Schlagwort ‚Medienkompetenz‘ in einer visualisierten, von schnelllebigen Medien geprägten Gesellschaft wie unserer, als essentielle Eigenschaft gilt.

Dabei ist es verlockend, aber zu kurz gedacht, die Motivation des Kindes für eine Mitwirkung als Gradmesser für dessen Geeignetheit und Belastbarkeit zu verwenden. Das Klischee eines Kinderstars besagt, dass dieser von seinen überehrgeizigen Eltern angetrieben wird, die ohne Rücksicht auf das Kind eine Medienkarriere für dieses anstreben. Es erscheint einleuchtend, dass solche unter Druck gesetzte Minderjährige weniger Freude bei der Arbeit haben werden, als diejenigen, die die Phase als großes Abenteuer ohne weitere Zukunftsbedeutung ansehen, dem sie sich nur aufgrund ihrer kreativen Lust stellen.

Tatsächlich existiert eine Vielzahl von Gründen, aus denen Eltern ihre Kinder bewusst oder unbewusst in Richtung einer Medienkarriere drängen.39 Alle Eltern von Minderjährigen, die in den Medien tätig sind oder sein sollen, sehen sich dem Vorwurf der Projektion eigener Wünsche und Interessen auf das Kind ausgesetzt. Es ist daher nur natürlich, dass Erziehungsberechtigte sich bei Benennung der ←29 | 30→Motivation stets auf das Interesse des Kindes berufen, um sich selbst von dem Verdacht der Beeinflussung freizuhalten. Kaum ein Elternteil wird offen zugeben, dass er selber das Kind in die Medien drängt. Die Herausarbeitung der Motivationslage ist daher schwierig und ergibt oft kein klares Ergebnis. Eine amerikanische Befragung ehemaliger erfolgreicher Kinderstars kam zu dem Ergebnis, dass das durchschnittliche Verhältnis zwischen Eigen- und Fremdmotivation bei 60 % zu 40 % liegt.40

Es erscheint immer wieder kurios, wenn nachdrücklich versichert wird, eine Vierjährige wolle ‚schon immer Schauspielerin‘ werden, denn junge Kinder haben allerlei Vorstellungen bezüglich ihrer Zukunft, die schnell wechseln und Eltern in der Regel nicht veranlassen ernsthafte Schritte einzuleiten.41 Es ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass der Berufswunsch ‚Prinzessin‘, ‚Tierarzt‘ oder ‚Astronaut‘ zu ernsthaften Auswirkungen auf den Alltag der Kinder führen wird. Erst ab dem Grundschulalter wird angenommen, dass Kinder einen Berufswunsch eigenständig benennen können.42 Selbst wenn Minderjährige konstant einen Berufswunsch artikulieren, der zu der Betätigung in den Medien passt, ist ungeklärt, ob dieser genuin entstand oder das Kind diesbezüglich bewusst oder unterbewusst beeinflusst wurde.

Bei aller Kritik darf man jedoch nicht vergessen, dass wir in einer Mediengesellschaft leben, in der Popularität als marktwirtschaftlicher Wert gelten kann. Die Faszination, die Prominente und Medienpersönlichkeiten ausstrahlen, ist der Nährboden für eine ganze Reihe von Fernsehsendungen, bei denen das Gefühl entsteht, ganz Deutschland wolle Sänger oder Schauspieler werden. Dieser Tendenz können sich Minderjährige, die regelmäßig noch nicht über genügend Abstand und Medienkompetenz verfügen, regelmäßig nicht entziehen.43 Daher erscheint es nicht zu fernliegend, dass außer Medienberufen kein weiterer Traumberuf mehr genannt werden kann und viele Minderjährige auch aus eigenem Antrieb in die Medien drängen.44

Die Ambivalenz dieser Ausführungen zeigt schon, wieso die Motivation des Kindes nicht als taugliches Kriterium dafür dient, ob es zur Mitwirkung geeignet ist. Denn es ist mit praktikablen Mitteln regelmäßig nicht feststellbar, welche Motivationslage gegeben ist und ob diese oktroyiert wurde oder genuin vorliegt.

Darüber hinaus mag eine vorhandene Motivation durch den Minderjährigen zwar einen Indikator darstellen, doch kann auch solch ein Minderjähriger stark motiviert sein, der durch seine Persönlichkeitsstruktur überhaupt nicht geeignet ←30 | 31→ist,45 während eine nicht zu stark ausgeprägte Motivation dazu führen kann, dass der Druck und die Verantwortung, die ein Engagement mit sich bringen, leichter ertragen wird.

Ebenso einleuchtend ist, dass es eine Kontrollinstanz geben sollte, die Minderjährige, die eindeutig kein eigenes Interesse an einer Mitwirkung haben, schon in der Vorbereitungsphase entdeckt und ihre Mitwirkung verhindert.46

Dies wird jedoch regelmäßig schon vonseiten der Medienproduktion aus geschehen, denn sie haben die Auswahl unter vielen interessierten Kandidaten, sodass nicht vorstellbar ist, dass sie freiwillig einen Minderjährigen engagieren, dessen Leistungsniveau ähnlich gering wie sein Interesse ausfallen wird.

Dem Minderjährigenrecht ist es eigen, dass in erster Linie Eltern und Erziehungsberechtigte bestimmen, mit welchen Maßnahmen dem Kindeswohl am besten gedient ist. Leider zeigt sich auch im Bereich des Medienrechts, dass Kontrollmechanismen sinnvoll sind, da nicht immer im besten Interesse der Minderjährigen gehandelt wird.

Dies zeigt ein Versuch von „Stern TV“ aus dem Jahre 2010.47 Bei einem gestellten Casting wurden angeblich Kinder-Schauspieler für eine Verfilmung von „Sindbad“ gesucht. Nach einem kurzen Vorsprechen der Kinder folgte ein heimlich gefilmtes Vier-Augen-Gespräch mit deren Eltern. Den Erziehungsberechtigten wurde dargelegt, welche Risiken ein Filmdreh mit sich bringt. Statt üblicher Risiken wurden den Eltern jedoch immer abstrusere Möglichkeiten der Kindesgefährdung beschrieben. Unter anderem wurde angefragt, ob die Eltern mit einem dreimonatigen Dreh in Bagdad ohne Begleitung durch ein Elternteil oder mit einem mehrstündigen Aussetzen der Kinder in der Wüste einverstanden wären. Von zehn Eltern verweigerte nur eine Testperson ihr Einverständnis. Alle anderen hätten ihre Kinder unumwunden physischen und psychischen Gefährdungen ausgeliefert – der Schauspielkarriere zuliebe.48

2. Minderjährige in realitätsnahen Produktionen

a) Reality-TV

Der Trend des sogenannten Reality-TV, das verspricht, das wahre Leben abzubilden, begann in den neunziger Jahren mit den Talk-Shows. Zwar gab es schon immer Printreportagen und auch filmische Dokumentationen, die keine fiktionalen Elemente enthielten, doch wollten diese Medienprodukte vorrangig informieren. ←31 | 32→Neu an den Reality-Formaten war, dass sie in erster Linie der Unterhaltung dienten und sich dabei der wahren Persönlichkeit oder wahrer Lebensgeschichten bedienten. Im Gegensatz zu fiktiven Produktionen wird bei realitätsnahen Produktionen der Anschein erzeugt, dass das wahre Leben abgebildet wird. Die Protagonisten verfügen daher nicht nur über die üblichen Persönlichkeitsbestandteile, wie das Recht am eigenen Bild, Wort und Stimme, sondern sie offenbaren ihre private Lebensgestaltung, innerste Gedanken und Gefühle, womit sie tiefe Eingriffe in ihr Persönlichkeitsrecht gewähren.

Der weitere Verlauf des Genres ist allgemein bekannt. Da reguläre Geschichten nicht mehr genug Aufsehen erregten, wurden die Darstellungen immer extremer und dramatischer gestaltet. Neben Talkshows verbreitete sich eine Vielzahl weiterer Formate.

Realitätsnahe Produktionen finden sich insbesondere bei einer Vielzahl von Reality-TV-Produktionen, wie Coaching bzw. Helptainment-Formate (‚Die Super Nanny‘; ‚Die strengsten Eltern der Welt‘), aber auch ‚Dokutainment‘-Dokumentationen, die den Alltag berühmter oder nicht-prominenter Menschen unterhaltsam darstellen sollen (‚Die Geissens‘; ‚Die Wollnys‘; ‚Babys – Kleines Wunder, großes Glück‘). Besonders erfolgreich sind Casting-Formate. Die Resonanz Minderjähriger war derart groß, dass ‚Deutschland sucht den Superstar‘ oder ‚The Voice‘ mittlerweile eigene ‚Kids‘-Ausgaben haben.

In Reality-TV-Formaten treten die Protagonisten unter ihrer wahren Identität auf. Ihre Namen und oft sogar die Wohnorte werden gezeigt, wobei die Dreharbeiten nicht selten in den Privatwohnungen stattfinden. Zudem werden oftmals private Eigenschaften, Erlebnisse oder Konflikte problematisiert, da eine größtmögliche Emotionalisierung und Dramatisierung die besten Zuschauerquoten verspricht.

Besonders beliebt sind dabei die sogenannten Helptainment-Formate, in denen ein Experte Protagonisten berät. Wenn Eltern sich von einer Super-Nanny oder einem Schuldnerberater Hilfe bei der Alltagsbewältigung versprechen,49 rücken ihre Kinder automatisch mit ins Rampenlicht. Regelmäßig stehen schwerwiegende Probleme, wie finanzielle Schwierigkeiten oder familiäre Konflikte im Mittelpunkt der Berichterstattung. Die Formate leben davon, dass die Dargestellten der Lächerlichkeit preisgegeben werden, um der Selbsterhöhung der Zuschauer zu dienen.50 Ohne ein gewisses Maß an Drama oder Extremen sind die Episoden nicht interessant genug für das Publikum. Die Gefahren, die sich aus Reality-Formaten für die Persönlichkeit eines Minderjährigen ergeben, sind mannigfaltig. Die Persönlichkeitsöffnung und die Offenbarung privater Probleme stellt ihn vor eine Vielzahl sozialer Herausforderungen. So muss er nicht nur mit der plötzlichen ←32 | 33→Aufmerksamkeit zurechtkommen, sondern auch damit, dass jedermann die geheimsten familiären Probleme kennt. Er macht sich dabei zu einem besonders verletzlichen Ziel für Anfeindungen oder Gespött.51 Hinzu kommt, dass eine Mitwirkung in Reality-Formaten durch das Umfeld regelmäßig nicht mit einem Statusgewinn verbunden ist,52 anders als die Arbeit eines Schauspielers in einem fiktiven Format.

Oftmals erheben die Sendungen den Anspruch, den besuchten Teilnehmern zu helfen.53 Um dieses Engagement zu rechtfertigen, muss zuerst natürlich extensiv dargestellt werden, welche Probleme und Konflikte vorliegen. Die über Jahre erfolgreiche Sendung ‚Super Nanny‘ fokussierte sich beispielsweise auf Erziehungsprobleme. Kinder bis ins Kleinkindalter wurden bei familiären Konflikten, aber auch bei durch Erziehungsschwierigkeiten hervorgerufenem Fehlverhalten gezeigt. Zwar präsentiert die ‚Nanny‘ anschließend Verbesserungsvorschläge und es wird oft ein vermeintliches Happy End gezeigt, doch bis dahin ist der Schaden schon verursacht. Denn der Öffentlichkeit wurden schlecht erzogene Kinder in oft problembeladenen Familien gezeigt. Diese Protagonisten erwartet kein Mitgefühl, sondern Spott und Häme durch ihr Umfeld. Es erklärt sich von selbst, dass ein verhaltensauffälliges Kind, das derart in den Medien präsentiert wurde, ab Ausstrahlung mit Hänseleien und Problemen zu rechnen haben wird.

Reality-Formate filmen nicht das Leben ab. Sie bedürfen der Dramatisierung der Geschichten. Die Teilnehmer müssen gewisse Rollenerwartungen bedienen, die auch durch Auswahl des gesendeten Materials erfüllt werden können. Die Drehbedingungen erfordern die Einhaltung eines strikten Zeitplans, sodass Konflikte provoziert oder inszeniert werden müssen, da man nicht darauf warten kann, bis sie sich von alleine entfalten.54 Gerade diese Szenen, in denen es zu Konfrontationen oder Kritik kommt, können die beteiligten Minderjährigen überfordern. Solch eine Situation, die an sich schon schwer zu verkraften ist, wird nun sogar gefilmt und anschließend veröffentlicht.55 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich diese Sendungen nicht mit harmlosen Benimmtipps beschäftigen, sondern ihre Protagonisten in absoluten Extremsituationen darstellen. Im Rahmen der Sendung „Super Nanny“ wurde sowohl schon gezeigt, wie Eltern Opfer massiver Gewalt ihrer jugendlichen Kinder werden, als auch, wie Eltern ihre schutzlosen Kinder durch Schläge ←33 | 34→misshandeln.56 Letzteres wurde in solch effekthaschender Weise dargestellt, dass die KJM sowie das später damit konfrontierte Verwaltungsgericht Hannover in der Darstellung eine Verletzung der Menschenwürde des misshandelten Kindes gegeben sah.57

Selbst wenn die Produktionsumstände den Teilnehmern ein weitgehend unbeeinflusstes Agieren ermöglichen, wird kein natürliches Leben eingefangen. Sobald die Kameras anwesend sind, „werden aus Privatpersonen augenblicklich Darsteller ihrer selbst“.58 So entstehen „Unterhaltungsfilme mit Laien die sich selbst laienhaft verkörpern.“59

Es liegt auf der Hand, dass negative Reaktionen auf solche realitätsnahen Produktionen eine ganz neue Qualität erreichen. Denn sie lehnen nicht die kreative Leistung eines Protagonisten, sondern sein Lebensbild oder seine Persönlichkeit ab und kritisieren diese explizit, was für das Selbstbild und die Persönlichkeit des Einzelnen verheerende Folgen haben kann. Die persönliche Kritik, die von Bekannten aber auch von Fremden auf die Protagonisten abgeladen wird, verlässt schnell den Bereich des Sachlichen, insbesondere durch die Möglichkeiten der anonymen Meinungsäußerung im Internet. Persönliche Attacken sind schon für Erwachsene schwer zu verkraften. Es ist jedoch offensichtlich, dass Minderjährige in ihrer Persönlichkeitsentwicklung ungleich schwerwiegender beeinflusst werden, wenn sie solch eine Phase der negativen öffentlichen Aufmerksamkeit durchleben müssen.60 Gerade bei Minderjährigen beeinflusst die Meinung anderer, insbesondere der Gleichaltrigen, wesentlich das Selbstbild und das Selbstwertgefühl. Die Mitwirkung in einer Realityshow kann idealen Nährboden für soziale Ausgrenzung und Mobbing darstellen.

Hinzu kommt, dass das Dargestellte meist nur die halbe Wahrheit ist. Denn auch Realitätsfernsehen ist inszeniert und dramatisiert, um in einem zeitlich begrenzten Produktionsablauf das abzubilden, was für die Dramaturgie einer Sendung erforderlich ist. Daher werden Protagonisten oft bewusst in überfordernde Situationen gebracht und zu extremen Verhaltensweisen animiert, die ihrem Alltagsleben nicht entsprechen. Durch gezielte Auswahl von Szenen, Schnitten und Bearbeitungen kann die Persönlichkeit eines Teilnehmers völlig entfremdet werden. Beobachtungen zu der erfolgreichen Castingsendung ‚Germany’s Next Topmodel‘ zeigen beispielsweise, dass in jeder neuen Staffel gewisse Rollen vertreten sind, die den teilweise noch minderjährigen Kandidatinnen zugewiesen werden. Dabei gibt es die ‚Zicke‘, die ‚Ambitionierte‘ und die ‚naive Unschuld‘.61 Ob die Teilnehmerinnen ←34 | 35→diese Wesensmerkmale wirklich aufweisen oder dies nur so präsentiert wird, verschließt sich dem Betrachter des Endprodukts. Dennoch müssen sich die Kandidatinnen nach Ende der Dreharbeiten mit diesem unverhofft verliehenen Image auseinandersetzen.

Durch Exklusivverträge mit den ausstrahlenden TV-Sendern wird den Protagonisten zudem verwehrt, das verursachte Bild öffentlich zu korrigieren.

Die Gefahr, die von der Mitwirkung in Reality-Formaten ausgeht, wird für so massiv erachtet, dass vereinzelt Jugendämter dazu übergegangen sind, den Eltern das Sorgerecht hinsichtlich des Rechts am eigenen Bildes zu entziehen und somit die Einwilligung zur Mitwirkung im Namen der Kinder zu verweigern oder zu widerrufen.62 Hinsichtlich des Gerichtsverfahrens vor dem LG Bochum geschah dieser Sorgerechtsentzug unter Berufung auf eine drohende Gefährdung des Kindeswohls sogar pauschal unter bloßer Kenntnis, für welches Format gedreht wurde. Das beteiligte Jugendamt hatte die betreffende Folge noch nicht einmal gesehen.63

Gleichzeitig soll nicht unberücksichtigt bleiben, dass ein Reality-Format auch eine lohnenswerte Unterstützung für Minderjährige bieten kann, aus der sie wertvolle Fertigkeiten mitnehmen. Zudem kann solch eine Sendung ein soziales Problem in informativer Weise für die Öffentlichkeit wahrnehmbar machen.

Ein Beispiel für ein Reality-TV-Format, in dem Minderjährige im Mittelpunkt stehen, ist die Sendung „Die strengsten Eltern der Welt“. Das Konzept dieser Sendung, die seit vielen Jahren erfolgreich im Privatfernsehen läuft, lehnt sich an jenes der „Super-Nanny“ an. Verzweifelte Eltern rufen das Produktionsteam zur Hilfe, da sie mit ihren Kindern im Jugendalter nicht mehr zurecht kommen. Diese Jugendlichen haben unterschiedliche Probleme, zu denen regelmäßig ein ausgeprägter Alkohol- und/ oder Drogenkonsum gehören. Manche Jugendlichen sind gewaltbereit. Viele gehen keiner Ausbildung oder Berufstätigkeit nach. Die Grundprämisse, die die Sendung aufstellt, ist, dass die verweichlichte westliche Kultur und inkonsequente Eltern diese Probleme mitverursacht haben. Daher werden die Jugendlichen über ein bis zwei Wochen zu Familien geschickt, die vermeintlich bessere, diszipliniertere Erziehungsmaßnahmen verfolgen. Die Gastfamilien leben ausnahmslos in einfachsten, harten Verhältnissen, z.B. Bauern in der ukrainischen Einöde, bei Uiguren in China oder Kaffeebauern in Nepal.64

Dort werden die Jugendlichen nicht nur mit neuen strengen Regeln konfrontiert, sondern vor allem mit fremden Menschen, deren Sprache sie nicht sprechen ←35 | 36→und deren Kultur sie nicht teilen. Was auch schon nicht problembeladene Jugendliche an ihre Grenzen bringen würde, trifft die ausgewählten Jugendlichen natürlich umso stärker. Dabei werden die Jugendlichen auch nicht mit Samthandschuhen angefasst. Sie werden deutlich hilflos in die neue Umgebung ausgesetzt und mit ihrer Alternativlosigkeit zur Mitwirkung erpresst.

Das Jahrbuch 2011/ 2012 der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten (ALM) fasst die Sendung wie folgt zusammen:

In jeder Episode werden verwöhnte deutsche Jugendliche, deren Erziehungsberechtigte mit ihnen aufgrund ihres konfliktträchtigen oder problematischen Verhaltens nicht mehr „fertig werden“, zu einer Gastfamilie in ein exotisches Land geschickt, wo sie unter völlig anderen Umständen zwei Wochen lang leben müssen. Dort werden sie einem Kulturschock ausgesetzt und mit Strenge und Disziplin konfrontiert. Während ihres Aufenthaltes sollen sie Erfahrungen sammeln, die sie in ihrem Leben weiterbringen und ein Umdenken in Bezug auf ihr bisheriges Verhalten bewirken sollen. Die [Kommission für Jugendmedienschutz] KJM sieht ein generelles Problempotenzial des Formats in dem Umstand, dass die Erziehung von „schwierigen“ Jugendlichen zum Thema einer Unterhaltungssendung gemacht und ein antisoziales Verhalten von Jugendlichen gezeigt wird.65

Eine der Episoden wurde von der KJM als entwicklungsbeeinträchtigend für Kinder unter 12 Jahren eingestuft. Dabei reisten zwei Cannabis-abhängige Jugendliche zu einer Gastfamilie nach Peru. Die KJM befand:

Insbesondere das Mädchen wird in extremen Situationen (Steine werfend, in die Kamera schreiend) vorgeführt, was teilweise von polemischen Kommentaren aus dem Off („nun bekommt sie die Quittung“) begleitet wird. Auch körperliche Übergriffe des Gastvaters auf das Mädchen werden gezeigt. Die KJM beanstandet an dem Format generell, speziell jedoch an dieser Folge, dass dem Zuschauer der Eindruck vermittelt wird, eine Verhaltensänderung bei Jugendlichen könne durch Strenge – hier vor allem des Gastvaters – erreicht werden. Besonders fragwürdig ist das in diesem Fall angesichts des Drogenproblems des Mädchens: Es bräuchte eigentlich therapeutische Hilfe, keine Strafe. Kinder bis 12 Jahre kann die Botschaft der Sendung („wenn du nicht brav bist, kommst du zu den strengsten Eltern der Welt“) nachhaltig ängstigen und verunsichern, entschied daher die KJM.66

Daher stellt sich die Frage, wieso die Jugendlichen sich auf dieses ‚Abenteuer‘ einlassen. Die Antwort darauf ist einfach: Weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Die Jugendlichen treten die Reise an, da ihnen ein Partyurlaub unter Begleitung eines Kamerateams versprochen wird. Eltern und Produktionsteam lassen sie absichtlich im Ungewissen, um sie zur Mitreise zu bewegen.67 Der Schock, dass bei der ←36 | 37→Ankunft kein Hotel wartet, gehört zum hämischen Konzept der Sendung. Ebenso regelmäßig rebellieren die Jugendlichen gegen ihren erzwungenen Aufenthaltsort. Sie brechen die Regeln, äußern deutlich wieder nach Hause zu wollen oder rennen einfach weg, was in der Fremde automatisch ein hoffnungsloses Unterfangen ist. Dem Wunsch auf Abbruch des Projekts wird nicht nachgegeben. Dem Jugendlichen bleibt daher nichts anderes übrig, als sich zu fügen und daraufhin als vermeintlich geläutertes Musterbeispiel für den Erfolg der strengen Erziehungsmethoden präsentiert zu werden.

Dieses Sendeformat konfligiert nicht nur mit der Menschenwürde der minderjährigen Protagonisten (s. Teil 3 I. 5). Auch die Wirksamkeit der medienrechtlichen Einwilligungen ist fraglich (s. Teil 5 VIII).

b) Castingshows

Auch die zahlreichen Castingshows sind dem Genre des Reality-TV zu zurechnen, insbesondere da der Trend zu immer stärkerer Personalisierung der Sendungen geht, sodass die persönlichen Verhältnisse der Kandidaten von Anfang an in den Mittelpunkt gerückt werden.68 Minderjährige Teilnehmer sind allgegenwärtig. Beispielsweise waren die Hälfte der Gewinnerinnen der zehn bisher ausgestrahlten Staffeln von Germany’s Next Topmodel zum Zeitpunkt der Teilnahme unter 18 Jahren.69 Während die Bandbreite realitätsnaher Produktionen eine generelle Normierung schwer macht, bietet das Genre der Castingshows bessere Ansatzpunkte, da den Formaten ein einheitliches Muster gleich ist.

Castingshows beschäftigen sich insbesondere mit öffentlichkeitsbezogenem Tätigwerden, wie Singen, Tanzen oder Modeln. Dabei ist allen Sendungen ähnlich, dass nach einer Phase der Vorauswahl eine kleinere Gruppe Teilnehmer in weiteren Sendungen zu sehen ist. Mit jeder weiteren Episode müssen Teilnehmer den Wettbewerb verlassen, bis im Finale ein Sieger gekürt wird, der je nach Show einen Künstlervertrag oder einen Geldpreis erhält. Ein wichtiges Element dieser Sendungen ist dabei die Identifizierung mit den Teilnehmern, die dem Zuschauer durch Einblicke in ihr Privatleben ermöglicht wird. Ein weiteres Kernstück sind die Entscheidungsauftritte vor einer Jury. Bei vielen der Sendungen sind die beleidigenden Kritiken der Juroren ein derart wesentliches Unterhaltungsmerkmal geworden,70 dass sich eine Gegenbewegung an Formaten herausgebildet hat, die damit werben, Teilnehmer respektvoll zu kritisieren und nicht bloßzustellen.71

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Vor allem bei den ersten der Castingformaten bestand der Schwerpunkt der Sendungen aus dem Auswahlverfahren, dem ‚Casting‘, von Tausenden von Kandidaten. Dabei zogen weniger die Begabten, sondern besonders die völlig ungeeigneten Teilnehmer das Augenmerk auf sich. Spott und Häme im Hinblick auf die völlige Selbstüberschätzung der Teilnehmer belustigten Millionen von Fernsehzuschauern. Die Bloßstellung der Kandidaten, an der diese sich freilich freiwillig beteiligten, nahm derartige Züge an, dass schon mehrfach Bußgelder (z.B. gegen den ausstrahlenden Sender RTL) verhängt wurden.72

Hat man die Vorauswahl überstanden, müssen die Kandidaten eine Reihe von Aufgaben bewältigen, an deren Ende stets die Jury-Entscheidung steht. Dabei haben der Gewöhnungseffekt des Publikums und die große Anzahl an Konkurrenzformaten dazu geführt, dass die Wettbewerbe unter immer härteren Bedingungen geführt werden.73 Berechtigtermaßen wird kritisiert, dass die Maxime vermittelt wird, dass nur derjenige erfolgreich ist, der jede Aufgabe annimmt und klaglos meistert, ohne zu hinterfragen, ob diese sinnvoll ist.74 Die Kompetenz der Jury anzuzweifeln, gilt als Todsünde. Gleichzeitig gehen die Formate dazu über, immer mehr von dem Privatleben der Kandidaten zu offenbaren. Dreharbeiten in deren Wohnung und die Schilderung persönlicher Schicksale sind mittlerweile Usus.75

Im Jahre 2013 wurde eine umfassende Befragung ehemaliger Castingshow-Teilnehmer durchgeführt.76 Die hieraus hervorgegangene Studie kam zu folgender Zusammenfassung:

Das „Erlebnis Castingshow-Teilnahme“ geht mit enormen physischen und psychischen Anforderungen einher, die diverse Krisenpotenziale enthalten. An ihnen können die meist jungen und mit dem Mediensystem unerfahrenen KandidatInnen wachsen, aber auch scheitern. Einige gehen nach angemessener Verarbeitungszeit als gereifte und funktionsfähige Menschen aus der Erfahrung hervor und können das „Erlebnis Castingshow-Teilnahme“ zur Formung ihrer individuellen Talente und Klärung ihrer Lebensperspektiven produktiv nutzen. Andere tragen tiefliegende Verletzungen mit sich, die – nach einer angemessenen Vernarbungszeit – vielleicht weniger sichtbar sind, wahrscheinlich aber wieder aufbrechen werden, etwa beim nächsten Krisenereignis in ihrem Leben. In diesem Sinne werden sie die durch das „Erlebnis Castingshow-Teilnahme“ entstandenen psychischen Schäden (z. B. Rufschädigung) noch sehr lange beeinträchtigen.77

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Während es Castingshows gibt, die speziell auf Minderjährige, meist Kinder, ausgerichtet sind und ebenfalls angeben, respektvoll mit den Kandidaten umzugehen sowie deren Eltern stets mit einzubeziehen, laufen Minderjährige bei anderen Castingshows als reguläre Kandidaten mit78 – sie sind daher den oben genannten Risiken voll ausgesetzt. Ihr Aufgabenfeld gleicht dem der erwachsenen Teilnehmer. Sie touren als Mitglied der Show zu Auftritten durch ganz Deutschland (Deutschland sucht den Superstar) oder reisen als Teilnehmer um die Welt, um sich vor exotischer Landschaft der Jury zu präsentieren (Germany’s Next Topmodel).

Minderjährige Teilnehmer setzen sich daher der Gefahr aus, vor einem Millionenpublikum entwürdigt zu werden, weil ihre Leistung als unzureichend eingestuft wird. Schaffen sie es über die erste Runde hinaus, müssen sie sich fernab von Eltern, Familie oder Alltag immer neuen Herausforderungen und damit zusammenhängendem immensem psychischem Druck stellen. Ausnahmesituationen mit Weinkrämpfen und Zusammenbrüchen werden standardmäßig gezeigt, sodass der Eindruck entsteht, dass derjenige, der das Jury-Urteil nicht unter Tränen erwartet, den Erfolg nicht wirklich wolle.

Selbst wenn sie den Wettbewerb gewinnen sollten, wartet keineswegs eine vielversprechende Medienkarriere auf die Teilnehmer. Die Kommentierung gescheiterter Castingshow-Gewinner ist mittlerweile eine Konstante der Medienberichterstattung geworden, weswegen diverse Formate dazu übergegangen sind, den Gewinnern nicht nur einen – regelmäßig bald wieder gekündigten – Künstlervertrag, sondern auch einen Geldpreis in Aussicht zu stellen. Zudem müssen Wettbewerber sich zum Zeitpunkt der Ausstrahlung damit auseinandersetzen, dass sie sich in der Darstellung gar nicht wieder erkennen. Denn die Castingshows zeigen nur vermeintlich die Realität. Tatsächlich ist zu beobachten, wie jedem Teilnehmer eine Rolle zugeschrieben wird, nach der die gezeigten Szenen und die Kommentare ausgewählt werden.79

Durch die Teilnahme in den ‚klassischen‘ Castingshows werden Minderjährige entweder schon in der Vorrunde aussortiert, was als ‚Scheitern‘ präsentiert und durch teilweise entwürdigende Kommentare begleitet wird. Oder sie gehören zu den ‚Glücklichen‘, die diese erste Sortierung überstehen, werden aber dann in bewusst überfordernde Situationen gebracht, denen sie sich während besonders lang andauernden Produktionen stellen müssen, ohne auf den Rückhalt des gewohnten familiären oder sozialen Umfelds zurückgreifen zu können. Ist die Teilnahme beendet, waren sie wochen- oder monatelang aus ihrem Umfeld gerissen, sodass Probleme bei der Wiedereingliederung in Schule oder Ausbildung vorprogrammiert sind.80 Zudem sehen sie sich vor der inneren Konfliktlage, dass die regelmäßig unrealistische Hoffnung auf eine Karriere in den Medien genährt ←39 | 40→wurde, aber durch ihr Ausscheiden auch ein Scheitern statuiert wird, das sich vor aller Augen vollzogen hat. Das soziale, private aber auch das öffentliche Interesse wird erst mit der Ausstrahlung richtig befeuert, wobei die Kandidaten sich mit einem verfremdeten und möglicherweise negativem Image auseinandersetzen müssen, ohne hierauf vorbereitet zu sein.

Den Teilnehmer wird vorgegaukelt, dass diese Sendungen ein Sprungbrett zu einer Medienkarriere sind, bei denen die Fernsehkameras lediglich begleiten. Tatsächlich besteht der Hauptzweck in der Produktion einer Unterhaltungsshow, bei der die hoffnungsvollen Protagonisten die Kandidaten sind und einen wahren Seelenstriptease hinlegen müssen, um dabeibleiben zu dürfen.81 Ob sie im Nachgang tatsächlich erfolgreich oder auch nur für eine Medienkarriere gerüstet sind, interessiert nicht.

c) Scripted Reality

Die im obigen Kapitel an skizzierte Entwicklung des Reality-TV hat als neuestes Ergebnis ‚Scripted Reality‘ hervorgebracht. Damit werden Produktionen bezeichnet, die mit den Mitteln des Reality-TV arbeiten, aber vollfiktive Geschichten erzählen. Man bedient sich Laiendarstellern, Originalschauplätze und geringer technischer Ausstattung mit Handkameras, um den Eindruck einer Dokumentation zu erzeugen. Auch die Nachbearbeitung mit Bauchbinden, die vermeintliche Echtnamen und Kurzbeschreibungen wiedergeben, erweckt diesen Eindruck.

Wie bei vielen Medienphänomenen ist die Abgrenzung zu anderen Genres schwierig und oft fließend. Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass Elemente oder Episoden der oben beschriebenen Helptainment-Formate oder sonstiger Doku-Soaps von Produzentenseite beeinflusst, ‚gescripted‘, sind. Die Besonderheit der ‚Scripted Reality‘ ist jedoch, dass die Geschichten vollständig auf einem Drehbuch basieren. Gleichzeitig lehnt man sich an der Wirklichkeit an. Da es sich um Laiendarsteller mit divergierender Schauspielbegabung handelt, werden oft Menschen ausgesucht, die von ihrer Persönlichkeit her in die jeweilige Rolle passen.

Es gibt daher für den Zuschauer zahlreiche Schwierigkeiten, Realität und Fiktion auseinanderzuhalten. Sicherlich trat mittlerweile ein Gewöhnungseffekt ein, der dazu führt, dass Zuschauer kritischer hinterfragen, um was für ein Format es sich handelt. Doch gerade bei jungen Zuschauer wurde festgestellt, dass diese mit der Einschätzung Probleme haben: Eine Studie aus dem Jahr 2012 zu dem populären Scripted-Reality Nachmittagsformat ‚Familien im Brennpunkt‘ kam zu dem Ergebnis, dass ein „knappes Drittel der Familien-im-Brennpunkt-Seherinnen und -Seher […] die Sendung als Dokumentation [sieht]. Rund die Hälfte meint, die Geschichten seien nach wahren Begebenheiten nachgespielt, ein Fünftel ist sich sicher, dass es von Profis ausgedachte Geschichten sind.“82

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Wenn Minderjährige in diesen Formaten mitwirken, laufen sie nicht wie bei üblichen Reality-Formaten Gefahr, in einem falschen Licht dargestellt zu werden, vielmehr werden sie bewusst mit einer zum Verwechseln ähnlichen, aber fremden Persönlichkeit ausgestattet. Die Gefahr von der Öffentlichkeit und insbesondere dem sozialen Umfeld mit dieser fiktiven Person verwechselt zu werden, ist gerade bei minderjährigen Rezipienten groß. Das Wesen der Scripted Reality-Episoden sind dramatische, schnell erzählte Geschichten, in denen extreme Charaktere extreme Situationen erleben, die in dieser Form in der Realität eben nicht zu finden wären. Eine Zuschreibung der Persönlichkeit der fiktiven Rolle ist daher geeignet, dem minderjährigen Protagonisten erheblichen Schaden und nachteilige Reaktionen zu zufügen.

Details

Seiten
424
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631788219
ISBN (ePUB)
9783631788226
ISBN (MOBI)
9783631788233
ISBN (Paperback)
9783631784259
DOI
10.3726/b15558
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Persönlichkeitsrecht Einwilligung Medienrecht Privatsphäre Reality TV Pressefreiheit Soziale Netzwerke Familienrecht Kindeswohl Arbeitsschutz
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 423 S.

Biographische Angaben

Ruth Baumann (Autor:in)

Ruth Baumann studierte Rechtswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie war als wissenschaftliche Hilfskraft am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht in München (heute: Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb) und als freie Mitarbeiterin beim C.H. Beck-Verlag, München, tätig. Nach mehreren Jahren als Justitiarin bei einem landesweit ausstrahlenden Privatfernsehsender arbeitet sie nun als Staatsanwältin für den Freistaat Bayern.

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Titel: Minderjährige in den Medien
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